Eine perfekte Familie?

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Das Wagnis der Liebe will die hübsche junge Witwe Sophie nie wieder eingehen. Doch sie hat nicht damit gerechnet, wie sehr ihre Kinder einen neuen Vater wollen. Im Supermarkt sprechen die drei Kleinen den gut aussehenden Sawyer Abbott an und entscheiden: Er ist perfekt! Und tatsächlich scheint seine einfühlsame, liebevolle Art wie geschaffen, um Sophies lang verschlossenes Herz zu öffnen. Aber ist Sawyer auch bereit, für Sophie seinen gefährlichen Job als Stuntman aufzugeben? Denn sie könnte es niemals ertragen, in ständiger Angst um den geliebten Mann zu leben …


  • Erscheinungstag 12.12.2009
  • Bandnummer 1711
  • ISBN / Artikelnummer 9783862952809
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Anchovis, Pfefferkäse, Cracker, Dörrfleisch, Mixed Pickles, Orangen und Tacos: Sawyer Abbott verglich die Liste mit den Lebensmitteln in seinem Wagen. So schlimm ist Einkaufen gar nicht, dachte er, als er den letzten Eintrag abgehakt hatte.

Er schob den Wagen durch die engen Gänge des urigen kleinen Lebensmittelladens, der sich in den letzten hundertfünfzig Jahren wahrscheinlich kein bisschen verändert hatte. Mit seinem altmodischen Charme kam er gerade bei den Touristen gut an. Am Bücher- und Zeitschriftenständer blieb Sawyer stehen und ging in die Hocke, um nach der Tageszeitung zu suchen.

„Hallo, Mister!“ Die hohe Kinderstimme klang eindringlich. Als er aufschaute, blickte er in das Gesicht eines etwa achtjährigen schmalen Jungen mit zerzaustem Haar. Er wirkte sehr aufgeregt, offenbar hatte er vor irgendetwas Angst. Neben dem Jungen stand ein etwas jüngeres Mädchen. Mit den dunklen Augen und dem wirren Lockenkopf sah die Kleine dem Jungen sehr ähnlich, und auch sie wirkte verängstigt. Beide hatten schmutzige Gesichter und Hände.

„Was ist denn los?“, erkundigte sich Sawyer und legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter.

„Können Sie uns bitte helfen?“ Der Junge sah ihn mit großen Augen an, dann spähte er vorsichtig am Zeitschriftenständer vorbei.

„Was ist passiert?“

„Wir sind entführt worden“, erwiderte der Junge und duckte sich schnell. „Bitte helfen Sie uns!“

Fassungslos starrte Sawyer ihn an. „Entführt? Von wem?“

Das kleine Mädchen zeigte auf eine Frau, die gerade einen Einkaufswagen den Gang entlangschob. Sie trug ein weißes Oberteil und dazu Dreiviertel-Jeans. Das dunkle Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. In diesem Moment blieb sie stehen und untersuchte eine Wassermelone.

Hastig verschwand Sawyer hinter den Zeitungen und betrachtete das kleine Mädchen.

„Sie hat uns in Florida unserer Mutter weggenommen“, erklärte die Kleine mit zitternder Unterlippe.

„Wann war das?“ Eigentlich spielte das keine Rolle, aber Sawyer konnte in dieser Situation nicht klar denken.

„Vor drei Tagen“, antwortete der Junge. „Wir haben seitdem fast nichts gegessen. Und die ganze Fahrt von Florida hierher mussten wir auf dem Rücksitz unter einer Decke liegen.“

Vorsichtig lugte Sawyer ein weiteres Mal hinter dem Zeitschriftenständer hervor. Die Frau war hübsch und wirkte gleichzeitig müde und abgespannt. Gut möglich, dass sie eine mehrtägige Autofahrt hinter sich hatte. Plötzlich blickte sie sich um. „Eddie!“, rief sie. „Emma!“

Rasch versteckte Sawyer sich wieder hinter den Illustrierten, holte sein Handy heraus und wählte die Nummer der Polizei. Erneut spähte er an der Auslage vorbei: Die Frau kam geradewegs auf ihn zu. Er nahm das kleine Mädchen an die Hand und gab dem Jungen mit einer Kopfbewegung zu verstehen, dass er mitkommen solle.

Die Notrufzentrale meldete sich. Sawyer schilderte der Frau am Telefon die Lage, während er die Kinder durch das Geschäft und schließlich hinter die Fleischtheke schob. Er selbst stellte sich in den engen Durchgang zwischen der Fleischtheke und dem Kühltresen mit den Salaten. Als Nächstes gab er eine genaue Beschreibung der Entführerin durch und nannte deutlich seinen Namen und seine Handynummer.

„Ich schicke sofort jemanden vorbei“, versprach die Frau am Telefon.

Im Hintergrund rief die Entführerin weiter nach den Kindern. Ihre Stimme klang mal lauter und mal leiser – offenbar lief sie durch die verschiedenen Gänge. Als sie plötzlich vor seinen Augen auftauchte, wirkte sie ziemlich verzweifelt. Kein Wunder: Schließlich ging ihr eine Menge Lösegeld durch die Lappen, wenn sie die Kinder nicht wiederfand. Es sei denn, sie hatte sie aus einem anderen Grund gekidnappt – etwa aus einem fehlgeleiteten Bedürfnis, ihre Muttergefühle auszuleben.

Den Begriff „Kidnapping“ kannte Sawyer leider nicht nur aus schrecklichen Berichten in Tageszeitungen und Nachrichtensendungen, sondern aus erster Hand. Seine Schwester war als Kleinkind entführt worden und seitdem verschwunden. Das Verbrechen hatte sein Familienleben für immer verändert, und er würde alles dafür tun, um andere Leute vor so etwas zu schützen.

„Hey“, raunte der Junge. „Sind Sie nicht dieser Stuntman?“

Sawyer nickte und legte sich einen Finger auf die Lippen.

„Haben Sie Kinder?“, versuchte das Mädchen zu flüstern, doch konnte seine Stimme kaum dämpfen.

Gerade wollte er auch ihr signalisieren, sich möglichst leise zu verhalten. Da schaltete sich schon wieder der Junge ein: „Mensch, bist du blöd, natürlich nicht! Er ist nicht mal verheiratet!“

„Na und?“ In der Stimme des Mädchens schwang ein triumphierender Unterton mit. „Unsere Mom ist auch nicht verheiratet, und sie hat trotzdem Kinder. Uns nämlich.“

„Pscht!“, zischte Sawyer den beiden zu. Die Frau näherte sich der Fleischtheke und rief die Namen der Kinder.

Entschlossen baute er sich vor ihr auf. Am liebsten hätte er ihr ins Gesicht gesagt, was er von Leuten wie ihr hielt. Aber das wäre unklug gewesen: Womöglich würde sie Reißaus nehmen, bevor die Polizei kam.

„Entschuldigen Sie bitte“, sprach sie ihn zögerlich an. „Sie haben nicht zufällig zwei kleine Kinder gesehen? Einen Jungen und ein Mädchen, ungefähr so groß?“ Sie hielt die Hand erst auf Taillenhöhe, dann ein Stück höher. „Große dunkle Augen, braunes Wuschelhaar – so wie ich, nur jünger?“

Nicht schlecht geschauspielert, dachte er. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich ihr die Rolle der besorgten Mutter glatt abnehmen.

Als er ihr ins Gesicht blickte, fiel ihm auf, dass sie den Kindern wirklich sehr ähnlich sah: Sie hatte die gleichen großen dunklen Augen und ebenfalls dickes lockiges Haar, das allerdings rötlich schimmerte. Und sie hatte ein Grübchen in der rechten Wange, genau wie der kleine Junge.

Auf einmal kam ihm ein schrecklicher Verdacht.

Andererseits: Selbst wenn sie die leibliche Mutter der Kinder war, befand sie sich dadurch noch lange nicht im Recht. Schließlich passierte es ständig, dass Frauen die eigenen Kinder entführten, die das Jugendamt aus gutem Grund Pflegeeltern zugewiesen hatte. Dann müssten die Kinder jedoch wissen, dass diese Frau ihre echte Mutter war – oder nicht?

„Ich verstehe das nicht“, sagte die Frau mit zitternder Stimme. „Die beiden sind sonst so …“

Bevor sie ihren Satz beenden konnte, betraten zwei Polizisten den Laden. Sawyer winkte sie zu sich.

Die Frau hielt inne und drehte sich um. Als sie die Männer entdeckte, zuckte sie zusammen und wandte sich wieder Sawyer zu. Am anderen Ende des Gangs versammelten sich bereits die ersten Schaulustigen.

Einen der Polizisten kannte Sawyer: David Draper, ein großer, kräftiger Mann in den Vierzigern mit markanten Gesichtszügen. Mit ihm zusammen hatte Sawyer schon einige Spendenaktionen für wohltätige Zwecke auf die Beine gestellt.

Draper kam auf sie zu, blieb allerdings auf halbem Weg stehen. Sein jüngerer Begleiter, den Sawyer noch nie gesehen hatte, tat es ihm gleich.

Kopfschüttelnd näherte Draper sich. „Ist das hier Ihre Entführerin?“, erkundigte er sich und wies mit dem Kopf auf die Frau mit dem Einkaufswagen.

Sawyer nickte. „Vor drei Tagen hat sie die Kinder irgendwo in Florida ins Auto gezerrt und ihnen seitdem nichts zu essen gegeben. Und sie mussten während der gesamten Fahrt unter einer Decke liegen.“

Die Frau stieß einen spitzen Schrei aus und schlug sich die Hände vors Gesicht.

Tja, zu spät, dachte Sawyer. Jetzt haben wir dich.

„Die Dame ist mir bekannt“, bemerkte Draper. „Verdammt harte Nuss. Sophie Foster nennt sie sich. Krankenschwester in der Notaufnahme des Losthampton Hospital, singt im Kirchenchor und arbeitet ehrenamtlich im Frauenhaus. So weit, so gut. Aber mit Kindern hat sie ein echtes Problem.“

„Hat sie schon öfter welche entführt?“, erkundigte sich Sawyer verwirrt.

„Nein, sie hat ja nicht mal ihre eigenen im Griff. Die haben es nämlich faustdick hinter den Ohren. Könnte ich mir die beiden … entführten Kinder wohl mal ansehen?“

Oha, dachte Sawyer. Sieht wirklich nicht gut aus für mich. Warum kann ich mich nicht schnell unsichtbar machen?

Stattdessen griff er hinter sich und zog den kleinen Jungen hinter dem Verkaufstresen hervor. Seltsamerweise grinste er über das ganze Gesicht.

„Ich hab ihn gefunden, Mom!“, rief er. „Er ist mutig und hilfsbereit, und verheiratet ist er auch nicht! Er passt also perfekt zu uns!“

Die Frau stöhnte. Dann wandte sie sich an Sawyer und sagte mit bemerkenswert ruhiger Stimme: „Wissen Sie was, Mr. …“

„Abbott“, half Draper ihr weiter, bevor Sawyer den Mund öffnen konnte.

Sie zog die Brauen hoch. „Einer von den Abbotts, denen dieses riesige Anwesen Shepherd’s Knoll gehört?“, wollte sie von Draper wissen.

„Ja, der zweitälteste Sohn.“

„Ach so.“ Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Sawyer.

Er rechnete fest damit, dass sie ihn lange und interessiert mustern und ihn bewundernd anlächeln würde – wie die meisten anderen Frauen. Andererseits hatte er dieser speziellen Frau soeben die Polizei auf den Hals gehetzt. Da brauchte er sich nicht darüber zu wundern, dass sie ihn nur müde ansah.

„Wissen Sie was, Mr. Abbott Nummer zwei? Wenn Ihnen so viel an den beiden hier liegt – warum behalten Sie sie dann nicht einfach? Ich verlange auch absolut nichts dafür.“ Zu Draper sagte sie: „Rein rechtlich ist das doch in Ordnung, oder? Ich verkaufe die Kinder ja nicht, ich überlasse sie ihm nur.“

Eddie lachte Sawyer an. „Sie macht nur Spaß, wissen Sie. Eigentlich hat sie uns nämlich ganz schrecklich lieb.“

„Natürlich hab ich euch schrecklich lieb“, erwiderte sie. „Aber so langsam frage ich mich, ob ihr mich auch gernhabt. Sonst würdet ihr bestimmt nicht so gemein sein und diesem Mann erzählen, ich hätte euch entführt.“

Da stürzte das kleine Mädchen hinter der Theke hervor und schlang ihrer Mutter die Arme um die Hüften. „Wir wollten nicht gemein zu dir sein! Wir haben das nur getan, weil wir einen Daddy für uns finden wollten. Allein schaffst du das doch nicht!“

In diesem Augenblick hätte Sophie sich am liebsten in Luft aufgelöst, um auf der anderen Erdhalbkugel wieder aufzutauchen: ohne Kinder, ohne ihren Job, ohne ihr winziges Haus und ohne ihre wenigen Habseligkeiten. Noch einmal unter völlig neuen Umständen ganz von vorn anzufangen, das wäre bestimmt einfacher als so weiterzumachen wie bisher: Als alleinerziehende Mutter musste sie ständig gegen ihre schrecklichen Erinnerungen ankämpfen. Beinahe glaubte sie, dass sie in einer Welt lebte, in der sich alle zurechtfanden – nur sie nicht.

Jahrelang war sie von ihrem Exmann Bill misshandelt worden, und jetzt konnte sie es nicht mehr aushalten, wenn ein Mann sie bloß sanft berührte. Und trotzdem sehnte sie sich geradezu verzweifelt danach.

Ihr blieb bloß die Hoffnung, dass es irgendwann besser werden würde – obwohl nichts darauf hindeutete. Dazu kam, dass ihre beiden jüngsten Kinder sich von ganzem Herzen einen Vater wünschten. Als Bill noch bei ihnen gewohnt hatte, waren Emma und Eddie sehr klein gewesen. Die beiden hatten seine Wutausbrüche nicht so deutlich mitbekommen wie ihre ältere Schwester, die zehnjährige Gracie. Und für die kam es gar nicht infrage, dass je wieder ein Mann bei ihnen einzog.

„Das tut mir furchtbar leid“, sagte der zweite Abbott-Sohn jetzt, während Draper über Funk Entwarnung gab. „Aber die beiden haben so verängstigt gewirkt und sind auch noch ziemlich schmutzig. Und Sie kamen mir auf den ersten Blick so vor …“ Er zögerte, als wäre es ihm unangenehm, den Gedanken auszusprechen.

Sophie ließ ihn einen Augenblick lang zappeln. Das hatte er verdient, nach allem, was sie seinetwegen durchmachen musste. „Wie eine Kriminelle? Oder eine Psychopathin?“

Schuldbewusst schüttelte er den Kopf. „Nein, Sie haben auf mich sehr müde gewirkt. Und etwas gestresst.“ Vorsichtig legte er Eddie eine Hand auf den Kopf und lächelte. „Inzwischen ist mir auch klar, warum. Normalerweise habe ich nicht viel mit Kindern zu tun. Ich wäre nie darauf gekommen, dass die zwei sich das alles nur ausgedacht haben.“

Das klang glaubwürdig. „Tja, in dem Alter sind Kinder eigentlich immer schmutzig und haben eine blühende Fantasie. Die beiden haben vorhin im Garten gespielt, ich habe sie einfach ins Auto gepackt und bin mit ihnen einkaufen gefahren. Vielleicht hätte ich sie vorher schnell waschen sollen.“

Zum ersten Mal betrachtete Sophie den Mann genauer, der ihr gegenüberstand: Auf seine herbe männliche Art sah er sehr gut aus. Er war bestimmt ein richtiger Frauenschwarm. Das dunkelblonde Haar war zerzaust und stand ihm vom Kopf ab, wodurch er jugendlich und irgendwie lässig wirkte. Dafür blickte er sie sehr wach, intelligent und gleichzeitig sanft aus tiefblauen Augen an. Seine Gesichtszüge waren markant, aber weder grob noch kantig.

Er war groß und durchtrainiert, trug eine schlichte Baumwollhose und dazu ein dunkelblaues Hemd.

Am liebsten hätte sie nichts weiter zu der Lügengeschichte ihrer Kinder gesagt. Andererseits hatte sie den Eindruck, ihm eine Erklärung zu schulden.

„Die beiden wünschen sich einen Vater“, seufzte sie. „Aber ich will auf keinen Fall noch mal heiraten. Dass die zwei die Sache selbst in die Hand nehmen würden, hätte ich nie gedacht.“

„Hm, Sie wollen nicht noch mal heiraten … Heißt das, dass Sie schon verheiratet sind?“

„Ich war verheiratet.“

„Unser Dad ist jetzt im Himmel“, rief Emma so laut, dass das halbe Geschäft mithören konnte.

Sophie beruhigte es, dass ihre jüngste Tochter davon überzeugt war. Sie selbst war sich da nicht so sicher, behielt ihre Zweifel aber für sich.

„Ich hab Sie in der Zeitung gesehen“, meinte Eddie zu Sawyer Abbott und setzte eine triumphierende Miene auf. „Sie sind auf Skiern über Fässer gesprungen, das war richtig gefährlich. Und Sie verschenken immer ganz viel Geld, um damit Kindern zu helfen. Deswegen haben wir Sie auch ausgesucht.“

Sawyer hockte sich vor dem Jungen hin. „Das finde ich sehr schmeichelhaft. Trotzdem war das eurer Mom gegenüber gar nicht nett. Ihr habt Glück, dass Mr. Draper sie so gut kennt. Ein anderer Polizist hätte euch erst mal geglaubt und sie vielleicht ins Gefängnis gesteckt.“

Entsetzt starrte Eddie ihn an. Daran hatte er offenbar nicht gedacht.

„Ich wollte doch bloß rausfinden, ob Sie uns helfen würden“, erklärte der Junge. „Bei einem richtig schwierigen Problem. Viele Dads helfen einem nämlich nicht bei den ganz schwierigen Sachen.“

Offensichtlich hatte Sawyer Abbott wirklich kaum Erfahrung mit Kindern – sicher würde er sich sonst nicht so leicht um den Finger wickeln lassen wie jetzt von Eddie. Als Emma ihm einen Arm um den Nacken legte, erkannte Sophie sofort an Sawyers Gesichtsausdruck, wie gerührt er war.

„Okay, genug jetzt.“ Sie zog beide Kinder von ihm weg. „Wir müssen wahrscheinlich erst mal mit Officer Draper zur Wache. Mr. Abbott darf bestimmt nach Hause, denn er hat ja nichts Schlimmes getan. Er hat es vermutlich ziemlich eil…“

„Ich fürchte, Sie müssen mitkommen, Mr. Abbott“, unterbrach Draper sie und steckte sein Funkgerät weg. „Der Chief will nämlich auch mit Ihnen sprechen.“

„Er hat doch nur …“, setzte Sophie an.

„Ja, ich weiß, aber wir müssen seine Aussage trotzdem aufnehmen.“ Draper sah bedeutungsvoll zu den beiden Kindern hinüber.

„Das tut mir echt leid“, seufzte Sophie.

Sawyer lächelte, und Sophie bewunderte ihn insgeheim. Diesen Mann konnte offenbar nichts aus der Ruhe bringen.

„Kein Problem“, sagte er zu ihr und wandte sich dann an Draper: „Wir sehen uns auf der Wache.“

2. KAPITEL

Vor der kleinen Polizeiwache parkte Sawyer seinen Wagen direkt neben einer der kugelrunden Laternen, die noch aus dem späten neunzehnten Jahrhundert stammten. Auch Sophie Foster war gerade erst eingetroffen: Hinter ihren Kindern und den beiden Polizisten ging sie die Treppe zum Eingang hinauf. Sawyer lief zu ihr und nahm ihren Ellbogen. Wahrscheinlich war sie mit den Nerven am Ende.

Sie zuckte zusammen und riss ihm den Arm weg. „Nicht!“ Ihre Pupillen waren vor Angst geweitet, die Lippen kniff sie fest zusammen.

Bestürzt ließ er die Hand sinken. Soweit er sich erinnern konnte, hatte er noch nie jemandem Angst eingejagt.

„Hey, tut mir leid“, sagte er schnell. „Ich wollte Sie nicht erschrecken.“

Sie atmete hörbar aus und wirkte sofort entspannter. „Schon gut“, gab sie zurück und klang, als hätte sie ein schlechtes Gewissen. „Ich lasse mich nur nicht so gern … anfassen.“

Er nickte. „Und ich wollte bloß den Gentleman spielen und Ihnen die Stufen hinaufhelfen. Meine Stiefmutter kommt nämlich aus Frankreich und hat viel Wert auf höfliches Benehmen gelegt. Sie hat meinen Brüdern und mir beigebracht, dass man einer Dame die Tür aufhält, immer auf der Straßenseite des Bürgersteiges geht und einer Frau auf der Treppe den Arm reicht.“

Versonnen lächelte Sophie vor sich hin – wahrscheinlich fand sie so etwas reichlich seltsam. „Das ist zwar sehr nett“, erwiderte sie, „aber ich bin noch ziemlich fit und brauche keine Gehhilfe.“

„Prima, dann denke ich in Zukunft daran.“

„Es tut mir wirklich leid, dass wir Sie hier aufhalten und Sie nicht gleich nach Hause zu Ihrer Familie können.“

Er lächelte. „Kein Problem, ich habe angerufen und Bescheid gesagt. Komisch übrigens, dass wir zwei uns nie begegnet sind. Ich bin nämlich ständig in dem Krankenhaus, in dem Sie arbeiten. Sind Sie vielleicht erst vor Kurzem hierher nach Losthampton gezogen?“

„Hm … vor ein paar Monaten.“ Sie musterte ihn skeptisch. „Und zuerst bin ich nur hin und wieder für jemanden eingesprungen. Zum Glück ist meine Nachbarin jederzeit bereit, auf die Kinder aufzupassen. Und Sie? Sind Sie Dauerpatient im Krankenhaus, oder schauen Sie dort aus einem anderen Grund so oft vorbei?“

„Na ja, ich bin schon manchmal als Patient da.“ Er lachte leise. „Ich bin sozusagen der Superstuntman von Long Island. Meine Brüder nennen mich auch den ‚abschreckenden Abbott‘.“

Sophie Foster lachte und zeigte dabei ihre strahlend weißen Zähne. Ihm fiel auf, dass der linke untere Schneidezahn ein Stück weiter vorstand als sein rechter Nachbar. Die junge Frau wirkte freundlich und warmherzig, trotzdem hatte Sawyer den Eindruck, als würde sie nicht sehr häufig lächeln.

„Der abschreckende Abbott“, wiederholte sie. „Kein guter Beiname für eine Berühmtheit.“

Schließlich führte Draper sie in ein Wartezimmer. Sophie setzte sich auf einen der Holzstühle, Eddie und Emma nahmen neben ihr Platz.

Aufmerksam musterte Sawyer sie. Bis eben hatte er den Zwischenfall als willkommene Abwechslung an einem eher langweiligen Nachmittag empfunden. Gut, die zwei Kids hatten Sophie einen ziemlichen Schrecken eingejagt und ihn bis auf die Knochen blamiert, aber das war zu verkraften. Er mochte Kinder, und er hatte auch gern mit attraktiven Frauen zu tun – hin und wieder und ohne Verpflichtungen. Eine feste Beziehung wollte er nicht eingehen, denn dafür müsste er auf zu vieles verzichten.

Im Moment war es ihm am wichtigsten, sich mit gemeinnütziger Arbeit zu beschäftigen: Zum Familienunternehmen, der Modefirma Abbott Mills, gehörte eine Stiftung. Außerdem ging es auf dem Privatanwesen Shepherd’s Knoll gerade drunter und drüber. Allein im letzten Monat waren viele einschneidende Dinge passiert: Sein Bruder Killian hatte seine Frau nach einer dreimonatigen Trennung zurückerobert. Sawyer selbst hatte sich mehrere Rippen gebrochen, als er für einen Stunt trainiert hatte, dessen Erlös krebskranken Kindern zugute kommen sollte. Und als wäre das nicht genug, war am Tag des Unfalls auch noch China Grant aufgetaucht: Sie behauptete, Sawyers Halbschwester Abigail zu sein, die vor zwanzig Jahren entführt worden war.

Kurz: In Sawyers Familie war so viel los, dass er kaum klar denken konnte. Trotzdem versuchte er sich in diesem Moment auf Sophie und ihre Kinder zu konzentrieren. Sie war eine außerordentlich hübsche Frau und wirkte so zart und zerbrechlich. Gleichzeitig sah sie aus, als hätte sie eine harte Zeit hinter sich.

In diesem Augenblick ging eine Bürotür auf, und der Chief erschien im Rahmen. Seine ernste Miene entspannte sich, als er die Kinder entdeckte. „Edward und Emmaline Foster?“, erkundigte er sich mit ruhiger fester Stimme.

Eddie hob die Hand.

„Kommt bitte rein“, forderte er die beiden auf. „Eure Mutter und Mr. Abbott sollen euch begleiten.“

Chief Albert Weston war ein mittelgroßer, kräftiger Mann mit Halbglatze, der seinen Job hervorragend ausübte. Er schob vier Stühle vor seinem Schreibtisch zurecht und bedeutete den Kindern, sich auf die mittleren beiden zu setzen. Bisher war Eddie bei allem fröhlich und unbeschwert gewesen. Jetzt bekam er es offenbar doch mit der Angst zu tun. Emma kletterte schnell auf Sophies Schoß.

„Wisst ihr“, begann Weston und blätterte einen Stapel Papiere durch, „meine Leute haben immer eine Menge zu tun. Allein heute haben die sechs Polizisten, die hier ihren Dienst leisten, dreiundsechzig Fälle bearbeitet. Das macht wie viele Fälle pro Person, Eddie?“

Eddie richtete sich kerzengerade auf. „Ähm … zehn“, gab er zurück, „und drei bleiben übrig.“

Der Chief versuchte, ein Lächeln zu verbergen. „Ganz genau. Wir hatten einen Autodiebstahl dabei, einen Touristen, der auf einer Klippe festsaß, zwei Verkehrsunfälle, einen Herzinfarkt, einen Fall von häuslicher Gewal…“ Der Chief unterbrach sich. „Na, das sagt euch wohl nichts. Jedenfalls sind das alles wichtige Aufgaben, die sehr viel Zeit …“

„Ich weiß, was häusliche Gewalt ist“, fiel Eddie ihm ins Wort. „Das ist, wenn ein Dad eine Mom schlägt. Das hatten wir zu Hause auch ein paarmal.“ Besorgt schaute er zu Sophie, als befürchtete er, etwas Schlimmes gesagt zu haben.

Sie wurde kreidebleich. Dann atmete sie tief durch und legte Eddie eine Hand auf die Schulter. „Schon gut. Du sollst Chief Weston ja die Wahrheit sagen. Er wollte euch eben nur erklären, dass die Polizei unheimlich viel zu tun hat und ihr sie nicht mit euren Spielchen von den wirklich wichtigen Dingen abhalten sollt.“

In Sawyers Gedanken wiederholten sich die Worte des kleinen Jungen. Sie machten ihn wütend und gleichzeitig sehr traurig. Auch der Chief wirkte erschrocken.

Eddie nickte. „Darüber habe ich nicht nachgedacht, als ich Sawyer im Supermarkt gesehen habe. Da dachte ich nur, dass du einen Mann haben sollst, der einfach nett zu dir ist und kein bisschen gemein, Mom. Und dass Emma und ich so gern einen Dad hätten, der uns richtig mag. Also haben wir ihn getestet.“

Ein Schimmern trat in Sophies Augen. Sawyer reichte ihr sein blütenweißes Leinentaschentuch mit dem grauen Monogramm. Kaum hatte sie es genommen, lief ihr bereits die erste Träne über die Wange.

„Ihr habt ihn … getestet?“, hakte der Chief nach.

„Klar. Unser Dad hat immer nur rumgeschrien. Als mein Fahrrad kaputt war, hat Mom es repariert. Und als Emma weg war, hat Mom sie gesucht. Und als Gracie Probleme in der Schule hatte …“

Sophie legte ihm eine Hand aufs Knie. „Chief Weston weiß, was du meinst, Eddie.“

„Wer ist denn Gracie?“, erkundigte sich Weston.

„Unsere große Schwester“, antwortete Eddie. „Die ist schon zehn. Und sie ist nicht mitgekommen, weil sie bei ihrer Freundin Kayla Spoonby Fernsehen guckt. Die wohnt bei uns gegenüber. Da läuft so eine Sendung mit Jennifer Lopez.“

Der Chief nickte. „Verstehe. Und für euren Test musstet ihr Mr. Abbott erzählen, ihr wärt entführt worden?“

„Ja. Ich hab nämlich mal gehört, dass Mom zu Grandma Berry gesagt hat, sie will nie wieder heiraten. Nur wenn sie jemanden findet, der wirklich für die Kinder sorgt. Also wollten wir rausfinden, ob Mr. Abbott sich Sorgen um uns macht, wenn er denkt, dass wir in Gefahr sind.“

Weston öffnete den Mund, schloss ihn jedoch sofort wieder. Offenbar hatte der Junge das Gehörte völlig missverstanden und seine eigenen Schlüsse daraus gezogen.

Leise stöhnte Sophie auf und drückte sich weiterhin Sawyers Taschentuch gegen die Augen. Dann nahm sie die Hand ihres Sohnes. „Ich meinte das etwas anders“, erklärte sie ihm. „Ich meinte damit, dass ihr vielleicht jemanden braucht, der für euch sorgt. Jemand, der mit dir zu Baseballspielen geht, der Emma huckepack nimmt und Gracie sagt, dass sie wunderschön ist.“

„Sie ist aber hässlich“, sagte Eddie mit ernster Stimme.

Als Sophie lachte, entspannte sich die Atmosphäre.

Sogar der Chief wirkte erleichtert. Er räusperte sich. „Tja. Jetzt verstehe ich, warum ihr das alles gemacht habt. Trotzdem müsst ihr mir etwas versprechen: Wenn ihr das nächste Mal so eine Idee habt, überlegt euch das Ganze lieber zweimal. Versteht ihr, wie ich das meine?“

„Ich glaube schon“, entgegnete Eddie und zog die Stirn kraus. „Wenn wir nämlich zweimal hintereinander über das Gleiche nachdenken … merken wir auf jeden Fall, wenn etwas nicht stimmt.“

„Ja, genauso habe ich das gemeint“, lobte der Chief ihn. „Eure Mom hat schon genug Sorgen. Da dürft ihr euch nicht Geschichten ausdenken, die ihr noch mehr Angst machen. Versteht ihr?“

„Klar“, sagte Eddie.

Jetzt betrachtete Weston Emma. „Du auch, Emmaline?“

Sie nickte. „Wir wollen Mommy keine Angst mehr machen.“

„Also gut.“ Der Chief stand auf und schüttelte seinen Besuchern die Hände. „Dann lasse ich Sie jetzt von einem meiner Leute zu Ihrem Auto fahren.“

„Wir sind zu Fuß zum Supermarkt gegangen“, erklärte Sophie. „Könnte uns vielleicht jemand nach Hause fahren?“

„Das tue ich gern“, bot Sawyer an. „Ich wollte später sowieso noch bei meinem Bruder vorbeifahren.“

„Mr. Abbott, ich glaube, es ist besser …“ Weiter kam sie nicht. Die Kinder waren schon begeistert aufgesprungen und liefen hinter ihm aus dem Büro. Sophie blieb nichts anderes übrig, als sich ihnen anzuschließen.

„Wollen wir vorher irgendwo Pizza essen? Oder Burger?“, schlug Sawyer im Wagen vor. „Es ist nach sieben, und Sie wollen bestimmt nicht mehr kochen, oder?“

„Oh, ja! Bitte, Mommy, bitte, bitte, bitte“, sangen Eddie und Emma im Chor.

Sawyer hätten sie damit sofort rumgekriegt, doch Sophie war offenbar härter im Nehmen.

Autor

Muriel Jensen

So lange Muriel Jensen zurückdenken kann, wollte sie nie etwas andere als Autorin sein. Sie wuchs in einer Industriestadt im Südosten von Massachusetts auf und hat die Menschen dort als sehr liebevoll und aufmerksam empfunden. Noch heute verwendet sie in ihren Romances Charaktere, die sie an Bekannte von damals erinnern....

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