Eine Traumfrau für Dr. O'Halloran

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Dr. Devlin O’Halloran ist tief berührt: Obwohl die junge Frau hochschwanger ist, hilft sie ihm nach einem Schulbusunfall, die verletzten Kinder zu versorgen. Noch nie zuvor hat er sich so stark zu einer Frau hingezogen gefühlt wie zu der liebevollen Emma. Doch dann erfährt er, wem er so spontan sein Herz geschenkt hat ...


  • Erscheinungstag 06.08.2021
  • Bandnummer 4
  • ISBN / Artikelnummer 9783751506212
  • Seitenanzahl 128
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Er war hier. Auch wenn sein Gesicht sonnengebräunt und nicht mehr so blass und schmal war. In den Augenwinkeln entdeckte sie Lachfältchen.

Was für ein beeindruckendes Gesicht, dachte sie benommen, während sie langsam wieder das volle Bewusstsein erlangte. Markant, wie aus Stein gemeißelt. In die tief liegenden grauen Augen hatte sie sich auf Anhieb verliebt, als er sie das erste Mal anlächelte. Und dieser sinnliche Mund. Was waren das für Küsse gewesen, bevor … bevor …

Der Nebel in ihrem Kopf löste sich auf. Unmöglich, er konnte nicht hier sein.

Aber er war es. Er lächelte nicht, doch das war auch nicht zu erwarten. Nicht mehr. Sie erinnerte sich kaum an Zeiten, in denen nicht diese Verzweiflung in seinen Augen gelegen hatte.

Trotzdem war irgendetwas anders. Er sah sie voller Besorgnis an – so als wäre er dazu noch fähig.

Dabei hatte sie sich um ihn Sorgen gemacht. Ihn verzweifelt geliebt.

Und ihn verloren.

Wie durch ein Wunder war er hier. Behutsam hatte er sie an den Schultern gepackt, als wollte er sie dazu bringen, ihn anzusehen. Deutlich fühlte sie seine Wärme. Seine Stärke.

Stärke?

„Corey“, flüsterte sie. Seine Miene blieb unverändert.

„Alles in Ordnung? Oder haben Sie beim Atmen Schmerzen?“

Es war nicht Corey. Seine Stimme klang anders. Viel tiefer.

Wer trieb solche grausamen Scherze mit ihr?

„Lass mich“, murmelte sie. „Mir geht es gut, Corey. Mir geht es immer gut.“

Hinter ihr rief jemand etwas. Eine andere Stimme, die sie nicht kannte. Laut, männlich und angsterfüllt.

„Kommen Sie schnell, Doc!“

Corey, ihr Corey, legte ihr die Hand auf die Stirn und strich ihr die Locken aus dem Gesicht.

„Bleiben Sie ruhig liegen“, sagte er. „Hilfe ist unterwegs.“

Sicher, dachte sie.

Es war ein Albtraum, eine Katastrophe, wie jeder Arzt sie fürchtete.

Dr. Devlin O’Halloran trat einen Schritt von der Frau zurück, die er kurz untersucht hatte. Sie war benommen, aber sie atmete normal. Mehr hatte er auch nicht überprüfen können. Alles andere musste warten.

Die Verletzten mussten der Reihe nach behandelt werden. Er hatte Prioritäten zu setzen. Leider gab es außer ihm hier keinen Arzt. Bei einem solchen Unfall hätte er mehr als nur ein paar Kollegen gebrauchen können.

Der Karington-Nationalpark, paradiesisch im australischen Queensland gelegen, galt als einer der schönsten der Welt. Der Regenwald grenzte ans Meer, und die grandiose Landschaft zog immer wieder Touristen an. Aber gegen Ende der Regenzeit waren die unbefestigten Seitenstreifen durchweicht, wodurch die Straßen an den steilen Kliffs besonders gefährlich waren. Der Holztransporter war mit zu hoher Geschwindigkeit in die Kurve gefahren und gegen einen voll besetzten Schulbus geprallt. Zu allem Unglück war auch eine Schwangere in ihrem Kleinwagen in den Unfall verwickelt worden.

Ein Lkw hätte diese Strecke gar nicht benutzen dürfen, dachte Devlin zornig.

So wie es aussah, hatte der Lastwagenfahrer vergeblich versucht, dem Bus auszuweichen, ihn dann vorn erwischt, bevor er mit seinem Transporter gegen den Hang geprallt war. Die ungenügend gesicherten Baumstämme waren von der Ladefläche gerollt, gegen den Bus gekracht und hatten ihn Richtung Straßenrand geschoben.

Dort ging es zehn Meter steil bergab. Am Fuß der Klippe brandete das Meer gegen scharfkantige Felsen.

Jetzt lag der Schulbus auf der Seite, direkt am Abgrund, und Devlin konnte nicht beurteilen, ob er nicht doch noch weiterrutschen und in die Tiefe stürzen würde.

Welch ein Chaos!

Wie sollte er allein damit fertig werden?

Als der Anruf ihn erreichte, hatte Devlin gerade einen Hausbesuch erledigt. Eine Notrufeinrichtung im Bus war direkt mit seinem Handy verbunden, da eins der Kinder schwer asthmakrank war. Jake, der Fahrer, hatte den Knopf gedrückt und gebrüllt, dass Devlin gebraucht würde. Danach riss die Verbindung ab. Devlin wendete seinen Wagen und fuhr die Schulbusroute ab, fluchend, weil Jake ihn im Ungewissen ließ. Anscheinend hatte der Junge einen Anfall erlitten.

Nachdem er die Unglücksstelle erreicht hatte, glaubte Devlin seinen Augen nicht zu trauen.

Apathisch saß der Lastwagenfahrer am Straßenrand. Offensichtlich stand er unter Schock. Fassungslos starrte Jake nur auf den Bus.

Kinder kletterten aus dem geborstenen Heckfenster. Irgendjemand schien ihnen von drinnen dabei zu helfen.

„Jake, packen Sie mit an!“, herrschte Devlin den Fahrer an. „Ich will, dass alle den Bus verlassen – auf der Stelle!“

Es waren ungefähr ein Dutzend Kinder, die dicht gedrängt beieinanderstanden. Einige weinten, andere sahen blass und mit großen Augen auf den Bus.

Es mussten noch mehr da drin sein. Wenn das Gefährt nun die Klippen hinabstürzte …

Devlin rannte zum Fenster, hob weitere Kinder heraus, stellte sie ab und schätzte dabei rasch ihren Zustand ein. Sie hatten Prellungen, bluteten und wimmerten vor sich hin, aber zum Trösten war keine Zeit. Da er förmlich über die junge Frau gefallen war, hatte er sie rasch untersucht. Aber jetzt mussten die Kinder herausgeholt werden.

Die größeren waren schon draußen, aber nun wurden ihm die kleineren angereicht. Vom Lehrer?

„Los, komm, du schaffst es!“

Ja, es war Colin Jeffries Stimme.

„Ich glaube … ich habe alle draußen, denen ich helfen konnte“, rief Colin. „Aber vorn sind noch zwei einklemmt, und ich kann nicht … ich kann nicht … Und Jodie scheint schwer verletzt zu sein.“

„Okay, kommen Sie raus.“

Gleich darauf rutschte Colin ungeschickt rückwärts aus dem Fenster. Sein Anzug war zerrissen und blutbeschmiert. An der Wange hatte er eine klaffende Schnittwunde, während er ein Kind mit sich herauszog.

„Jodie braucht Hilfe“, erklärte er, bevor er das Mädchen auf die Straße setzte, ehe er selbst zu Boden sackte. Aus Jodies Schulterwunde strömte Blut. Devlin presste die Hand darauf, um die Blutung zu stoppen.

Aber da waren auch die vielen Kinder, die um ihn herumstanden und Trost und Hilfe von ihm erwarteten.

„Jake?“

Er antwortete nicht. Auch der Lastwagenfahrer starrte noch immer regungslos auf den umgestürzten Bus.

Devlin blieb keine Zeit, ihn aus seiner Schockstarre zu schütteln.

Er war ganz auf sich allein gestellt. Während er versuchte, Jodies Blutung zu stillen, wandte er sich mit erhobener Stimme an die Kinder. Die meisten von ihnen waren seine Patienten. Er praktizierte seit drei Jahren in der Stadt und kannte sie von klein auf an.

„Katy und Marty, ihr seid die Ältesten – sammelt alle anderen Kinder ein und setzt euch mit ihnen weit genug vom Bus entfernt hin. Aber zuerst läufst du zu meinem Wagen, Marty, und holst mir die Tasche vom Rücksitz, ja?“

Er konnte sich nicht darum kümmern, ob die Kinder gehorchten. Jetzt ging es um Jodie McKechnie. Das zehnjährige, sehr zarte Mädchen befand sich in einer lebensbedrohlichen Lage.

Hellrotes Blut strömte aus der Schulterwunde. Vermutlich war eine Arterie gerissen.

„Jake, mein Handy!“ Er deutete auf seinen Gürtel, aber der Busfahrer starrte ihn verständnislos an. „Jake, nehmen Sie mein Handy, verdammt noch mal!“, fuhr Devlin ihn an.

Jake bewegte sich wie in Trance.

„Rufen Sie das Krankenhaus an! Jede verfügbare Person soll sich auf den Weg hierher machen! Und danach kümmern Sie sich um die Kinder. Colin sagt, es sind noch welche drinnen. Sie müssen sie herausholen. Und zwar so schnell wie möglich.“

Verdammt, er war dabei, Jodie zu verlieren. Er musste die Blutung zum Stillstand bringen.

Wenn er es nicht in den nächsten Minuten schaffte, würde sie sterben.

Plötzlich tauchte Marty mit der Arztasche in der Hand neben ihm auf. Er hatte sie bereits geöffnet. Was für ein großartiger Junge!

„So, und nun hilf Katy“, befahl er ihm.

Er musste sich darauf konzentrieren, Jodies Leben zu retten. Nur darauf. Es lag allein in seiner Hand.

Langsam hob Emma den Kopf. Was um alles in der Welt war geschehen?

Wo war sie?

Fassungslos schaute sie sich um. Sie richtete sich vorsichtig auf, während sie sich wünschte, der Nebel in ihrem Kopf möge sich lichten. Was war nur geschehen?

Es hatte einen Unfall gegeben. Ja, das musste es sein.

An Details konnte sie sich jedoch nicht erinnern. Sie wusste nur noch, wie sie auf der Straße gelegen hatte und nicht glauben mochte, dass sie noch am Leben war.

Bis sie die Stimme gehört und dann das Gesicht über ihr gesehen hatte. Beides versetzte sie an einen anderen Ort, in eine andere Zeit.

Aber Corey war tot.

Nein. Er war nicht tot. Er war hier.

Vielleicht war sie tot.

Nein, rief sie stumm, während sie verzweifelt versuchte, sich an die Fakten zu klammern.

Corey war tot. Sie aber lebte.

Irgendjemand erteilte mit barscher Stimme Befehle. Der Mann, den sie für Corey gehalten hatte?

Ein Kind weinte. Es war ein erbärmliches Schluchzen, das ihr das Herz zerriss. Irgendwo in der Nähe gab es ein verängstigtes Kind. Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich.

Vorsichtig betastete sie ihren Kopf. Als sie die schmerzende Stelle berührte, zuckte sie zusammen. Sie musste einen Schlag an den Kopf bekommen haben und für kurze Zeit bewusstlos gewesen sein. Aber ansonsten war sie okay. Es ging ihr gut.

Sie bewegte den Kopf leicht hin und her. Ihr wurde ein wenig schwindlig. Na schön, es ging ihr einigermaßen gut.

Mein Baby! Angstvoll presste sie die Hand auf ihren gewölbten Bauch. Als hätte das Ungeborene sie verstanden, spürte sie plötzlich eine Bewegung. Es war ein kräftiger Tritt, bei dem sie ein Gefühl von Erleichterung durchströmte.

Emma richtete sich über die Seite auf, bis sie kniete. Ihre Beine waren wie aus Gummi. Sie musste sich an ihrem Wagen abstützen, um aufzustehen.

Das Auto war nur noch ein Schrotthaufen. Ein Wunder, dass sie überlebt hatte!

Das Kind schluchzte noch immer zum Steinerweichen. Was hatte der Professor am Kinderkrankenhaus noch gesagt? Wenn ein Kind kreischend durch die Eingangstür kommt, kann man es normalerweise zuletzt behandeln. Wichtiger sind in der Regel die, die nicht zu hören sind. Die Stillen sollte man sich zuerst ansehen.

Als sie sich umblickte, war sie entsetzt. Überall lagen Baumstämme, mindestens einen halben Meter dick und mehrere Meter lang.

Ein Mann saß am Straßenrand und würgte.

Ein anderer mit kreideweißem Gesicht und zerrissenem Hemd tippte hektisch ein paar Ziffern in sein Handy.

Ein dritter hockte am Lastwagen und hielt sich den Kopf. Seine Hände waren blutbeschmiert.

Und dann waren da noch die Kinder.

Eins von ihnen lag auf der Straße. Ein vierter Mann beugte sich über den leblosen Körper. Neben ihm stand eine offene Arzttasche. Emma konnte sehen, dass er sich bemühte, Aderklemmen anzubringen.

Er sieht Corey so unglaublich ähnlich, dachte sie. Wieder verspürte sie Benommenheit. Wenn es Corey wäre, dann musste er Arzt sein, und das würde erklären …

Aber er war nicht Corey, sondern ein unbekannter Arzt, der verzweifelt um ein junges Leben kämpfte.

Sie konnte helfen. Sie machte einen Schritt auf ihn zu, blieb stehen, doch dann siegte ihr ärztliches Pflichtgefühl.

Nein, es ging nicht nur um dieses Kind. Sie musste Prioritäten setzen.

Irgendwie gelang es ihr, ihre Aufmerksamkeit vom Arzt und seiner kleinen Patientin loszureißen.

Der Mann mit der Kopfwunde sah aus, als hätte er ernsthafte Probleme. Er saß am Bus, als wäre er dort zusammengesackt.

Vielleicht sollte sie ihn zuerst versorgen.

Aber seine Verletzung wirkte nicht lebensbedrohlich.

Wichtig war, sich ein Bild von der Gesamtsituation zu machen.

Die Kinder waren alle auf den Beinen. Es gab zwar eine Menge Blut zu sehen, aber es schienen nur leichte Verletzungen zu sein. Einige Kinder hielten sich den Arm fest. Wahrscheinlich Brüche oder Schnittwunden.

Rasch überflog sie noch einmal die Gruppe. Es war niemand dabei, der zuerst ihre Hilfe brauchte. Damit blieben ihr zwei Möglichkeiten. Entweder kümmerte sie sich um den Mann mit der Kopfverletzung, oder sie half dem Arzt bei der Versorgung der Kleinen.

Ihr Blick fiel auf den Bus, der gefährlich nah am Abgrund lag. So wie es aussah, könnte er jeden Augenblick abstürzen.

War er leer? Wahrscheinlich.

Aber konnte sie sicher sein?

Sie zwang sich, auf den Mann mit dem Handy zuzugehen, auch wenn ihr dabei die Knie zitterten. Offensichtlich versuchte er immer noch, irgendwo anzurufen.

„Ist der Bus leer?“, fragte sie ihn.

Er drehte sich um und starrte sie an, als hätte er sie nicht verstanden. Wortlos kehrte er ihr halb den Rücken zu und machte weiter.

Offenbar schaffte er es nicht, die richtigen Tasten zu drücken. Seine Finger zitterten heftig.

Wahrscheinlich stand er unter Schock.

Wen wollte er anrufen? Den Rettungsdienst? Für behutsame Fragen war keine Zeit. Emma holte tief Luft, bevor sie ihm das Handy aus der Hand nahm.

„Sind alle aus dem Bus heraus?“, verlangte sie zu wissen.

„N…nein …“, flüsterte er. „Ich kann nicht … ich weiß nicht.“

Emma trat einen Schritt zurück und wählte die Notrufnummer. „Auf der Küstenstraße wenige Meilen nördlich von Karington ist ein Schulbus mit einem Holzlaster zusammengestoßen. Er droht in den Abgrund zu stürzen“, erklärte sie möglichst ruhig. „Schicken Sie sofort Rettungswagen, Ärzte und Polizei, dazu schweres Bergungsgerät, um den Bus zu sichern. Es können noch Kinder darin eingeschlossen sein. Wir brauchen hier umgehend Hilfe!“

Sie gab ihm das Handy zurück und zwang sich, zum Bus zu gehen. Ihre Beine wollten sie kaum tragen.

Der Mann im Anzug hielt sich noch immer den Kopf. Aus einer klaffenden Stirnwunde sickerte Blut. Emma kniete sich vor ihn hin und zog sich die Jacke aus.

„Waren Sie im Bus?“, fragte sie. „Sie müssen sich jetzt hinlegen.“ Sie drückte ihn zu Boden. „Haben es alle hinausgeschafft?“

Er stöhnte. „Ich glaube, zwei sind noch drin. Ich … konnte nicht an sie herankommen …“

Seine Stimme schwankte. Blutverlust plus Schock, dachte Emma. Er war kurz davor, bewusstlos zu werden.

„Bleiben Sie still liegen“, befahl sie, presste die zusammengefaltete Jacke auf die Wunde, während sie sich suchend umschaute.

Mit den beiden Fahrern war nichts anzufangen. Sonst waren nur die Kinder da.

Sie führte seine Hände zu der provisorischen Kompresse. „Drücken Sie so kräftig darauf, wie Sie können, und lassen Sie nicht los.“

Emma richtete sich auf. Plötzlich stand ein Kind neben ihr, ein Mädchen, das ihr höchstens bis zur Schulter reichte. Es war dünn, hatte Zöpfe und trug eine Brille mit dicken Gläsern. Sie schätzte es auf elf, zwölf Jahre.

„Was sollen wir tun?“

Emma hätte sie küssen können. „Wie heißt du?“

„Katy.“

„Katy, du bist großartig“, lobte sie. „Ich brauche jemand, der hier das Kommando übernimmt. Bring die Großen dazu, sich um die Kleinen zu kümmern. Sag ihnen, sie sollen sie trösten und ein wenig streicheln, wenn sie Schmerzen haben, damit sie sich beruhigen. Wenn ich noch mehr Kinder im Bus finde, schicke ich sie zu dir, okay?“

„Ja. Marty und ich machen das schon“, sagte Katy. „Soll auch jemand Mr. Jeffries helfen?“

Wenn Emma eine Medaille dabeigehabt hätte, sie hätte sie Katy auf der Stelle an die Brust geheftet.

„Ja“, erwiderte sie.

„Ich rufe Chrissy Martin, dass sie das übernehmen soll“, versprach Katy. „Sie will nämlich Ärztin werden und fällt nicht gleich um, wenn sie Blut sieht.“

„Sind alle Kinder aus dem Bus?“

„Zwei sind noch drin. Kyle Connor und Suzy Larkin. Ich wollte gerade hingehen und nach ihnen sehen.“ Besorgt schaute sie hinüber. „Ist es auch nicht gefährlich, da reinzukrabbeln?“

„Das werde ich tun.“ Emma musste sich zwingen, nicht so mutlos zu klingen, wie sie sich fühlte. „Du hast andere Dinge zu erledigen.“

Kyle und Suzy. Zwei Kinder, die noch im Bus lagen.

Wenn er nun über die Klippe rutschte? Wie könnte man ihn sichern?

Vorerst gar nicht.

Ein Blick zu den anderen Erwachsenen zeigte ihr, dass von ihnen keine Hilfe zu erwarten war.

Auch nicht vom Arzt.

Emma schluckte, bevor sie zum Bus ging, sich am Fensterrahmen festhielt und mühsam hochzog.

Überall lagen Glasscherben, verdrehte Metallstreben und aus der Verankerung gerissene Sitze, dazwischen Schulranzen, Bücher und Hefte …

„Ist da jemand?“, rief sie, während sie ihre Bestürzung unter Kontrolle zu halten versuchte.

Keine Antwort.

Vielleicht hatte Katy sich geirrt. Emma hoffte es inständig.

Sie biss sich auf die Lippen und kletterte in den Bus. Ihr sträubten sich die Nackenhärchen bei der Vorstellung, dass sie zehn Meter über dem Abgrund hing. Rasch verdrängte sie den Gedanken.

Langsam arbeitete sie sich durch die Sitzreihen voran und suchte …

Gott sei Dank hatte sie vernünftige Kleidung an. Jeans, Windjacke und Sneakers schützten sie einigermaßen vor den Glasscherben. In Sommerkleid und Sandalen würde jetzt schon Blut fließen …

Wo waren bloß die Kinder?

Katy hatte gesagt, zwei wären noch drinnen. Und sie machte einen vernünftigen Eindruck.

Da entdeckte sie das erste Kind.

Beinahe hätte sie es übersehen. Einer der Baumstämme hatte die Scheibe durchstoßen und das Kind gegen die andere Busseite gedrückt. Als der Bus umkippte, musste der Stamm zurückgerollt sein, aber der Junge lag immer noch an derselben Stelle.

Er muss sofort tot gewesen sein, dachte Emma entsetzt. Ein kleiner Junge, sieben oder acht, mit kupferrotem Haar …

Sie musste schlucken, und dann liefen ihr die Tränen übers Gesicht.

„Kyle“, flüsterte sie und berührte sanft das Gesicht des Jungen, das beinahe unverletzt war. Aber der Rest … Sie suchte nach einem Puls, doch es war sinnlos.

Ärzte sollten Tod und Verlust gewohnt sein.

Nein, an so etwas gewöhnte man sich nie.

Zwei Kinder. Katy hatte von zwei Kindern gesprochen. Sie wischte sich die Tränen ab und suchte weiter.

War das andere Kind vielleicht hinausgeschleudert worden?

„Suzy?“

Nichts.

Doch dann hörte sie ein Keuchen. Leise nur, rasselnd, aber es war ein Lebenszeichen.

Emma wagte sich weiter vor in die Richtung, aus der das Geräusch kam.

Schließlich fand sie das Mädchen und erstarrte.

Irgendetwas musste Suzy am Kopf getroffen haben. Gesicht und Hals waren monströs geschwollen. Angsterfüllte Augen starrten Emma Hilfe suchend an. Eingeklemmt zwischen zwei Sitzen, konnte das Mädchen nicht um Hilfe rufen.

Lange würde es nicht mehr durchhalten.

„Schon gut, Suzy, alles wird gut“, beruhigte Emma die Kleine und nahm ihre Hände. „Ich bin Ärztin. Ich bin hier, um dir beim Atmen zu helfen.“

Das Kind starrte sie mit wildem Blick an, in seinen Augen spiegelte sich der Horror, den Emma empfand.

Und dann, als hätte sie lange genug durchgehalten, rang Suzy ein letztes Mal verzweifelt nach Luft und wurde ohnmächtig.

Nein!

Bewusstlosigkeit bedeutet Tod, dachte Emma verzweifelt. Sie schob einen Finger in den Mund des kleinen Mädchens und suchte nach einem losen Zahn oder etwas anderem, das die Luftröhre versperrte. Doch was sie fühlte, ließ sie die Hand frustriert zurückziehen. Die Verletzung war schwerwiegend. Das Kind konnte nicht mehr durch den Mund oder die Nase atmen.

Was nun?

Der Arzt draußen hatte eine Arzttasche dabei. Er hätte auch ein Skalpell und einen Tubus …

Leider würde es zu lange dauern. Bis dahin würde ihr das Kind unter den Händen wegsterben.

Ihr blieben nur noch Sekunden.

Suzy atmete rasselnd, pfeifend, und ihr Körper zuckte, während sie nach Luft rang.

Verzweifelt schaute Emma sich um. Sie musste etwas tun!

Eine Federmappe …

Sie riss den Reißverschluss so heftig auf, dass die Naht platzte.

Ein Bleistiftanspitzer. Ein Kugelschreiber.

Sie fischte beides heraus.

Mit dem Fingernagel gelang es ihr, die winzige Schraube des Anspitzers zu lösen, und gleich darauf hielt sie die schmale Klinge in der Hand.

Hoffentlich war sie scharf genug.

Sie durfte nicht lange überlegen. Jetzt oder nie. Suzys Zeit lief ab.

Los.

Innerhalb weniger Sekunden war es getan. Der gröbste, fürchterlichste Luftröhrenschnitt, den Emma je gesehen, geschweige denn ausgeführt hatte.

Mit einem Bleistiftanspitzer Haut und Luftröhre zu durchschneiden und dann eine angekaute, tintenbefleckte Kugelschreiberhülse als Tubus einzuführen – eigentlich unmöglich.

Aber wie durch ein Wunder gelang es. Sekunden danach atmete Suzy durch die dünne Kunststoffröhre.

Allmählich hörte das schreckliche Keuchen auf.

Für einen Moment entspannte Emma sich. Sie hatte es geschafft.

Doch plötzlich bewegte sich der Bus und ruckte kurz.

Sie würden in den Abgrund stürzen. Was für ein Jammer nach dieser chirurgischen Meisterleistung, war ihr erster Gedanke.

Suzy hatte eine Chance, am Leben zu bleiben. Sie durften nicht abstürzen, jetzt nicht mehr!

Trotzdem blieb ihr nichts anderes übrig, als sitzen zu bleiben und den behelfsmäßigen Tubus genau in derselben Position zu halten. Sonst würde Suzy keine Luft mehr bekommen und sterben.

Da flatterten die Augen des kleinen Mädchens und öffneten sich. Emma legte ihr rasch die Hand auf die Stirn, damit sie ruhig liegen blieb.

„Suzy, es ist alles in Ordnung. Du darfst dich aber auf keinen Fall bewegen“, sagte sie sanft. „Wir beide sitzen hier im Bus fest, bis jemand kommt und uns herausholt. Aber ich habe dir noch gar nicht gesagt, wer ich bin. Ich heiße Emma O’Halloran und bin Ärztin aus England. Ich bin nach Australien gekommen, um die Familie meines Babys kennenzulernen. Sie wissen noch nicht, dass es mich gibt. Meinst du, sie werden sich freuen, wenn sie von meinen Baby erfahren?“

Zuerst waren die Sirenen nur schwach zu hören, aber sie kamen schnell näher. Schließlich waren sie so laut, dass man meinen könnte, sämtliche Rettungsdienste des Bezirks seien auf dem Weg hierher.

Devlin hatte Jodies Blutung endlich stillen können. Jetzt machte er sich daran, einen intravenösen Zugang zu legen. Da sie sehr viel Blut verloren hatte, drohte Jodie ein Herzstillstand, wenn der Flüssigkeitsverlust nicht ausgeglichen wurde.

Er hatte seine Jacke ausgezogen und das Mädchen damit zugedeckt. Nun schloss er den Beutel mit Kochsalzlösung und Blutplasma an und stellte die Tropfgeschwindigkeit auf Maximum. Gott sei Dank hatte er diese Beutel immer im Wagen. Ansonsten waren seine Mittel beschränkt, weshalb er unbeschreiblich erleichtert war, als die Sanitäter kamen.

Zuerst erreichte der lokale Krankenwagen die Unfallstelle. Helen und Don sprangen heraus und rannten auf ihn zu.

Keiner hielt sich lange mit Begrüßungen auf.

„Ich brauche noch mehr Plasma“, erklärte Devlin knapp. „Unsere kleine Patientin muss warm gehalten werden. Haben Sie Decken im Wagen?“

Helen warf einen Blick auf Jodie und nickte.

„Ja. Aber so wie es aussieht, haben Sie bereits entscheidende Hilfe geleistet.“ Sie kniete sich neben Jodie, setzte ihr das Stethoskop auf die Brust und horchte. Devlin hatte keine Zeit dazu gehabt. „Das Herz schlägt regelmäßig“, verkündete sie zufrieden. „Don, kannst du hier übernehmen? Devlin, was gibt es sonst noch?“

„Der Bus …“, setzte er an, unterbrach sich aber, da das Fahrzeug erzitterte, als würde es sich in Bewegung setzen – weiter auf den Abgrund zu.

Helen sprang auf und wollte losmarschieren, aber Devlin hielt sie zurück.

Autor

Marion Lennox
Marion wuchs in einer ländlichen Gemeinde in einer Gegend Australiens auf, wo es das ganze Jahr über keine Dürre gibt. Da es auf der abgelegenen Farm kaum Abwechslung gab, war es kein Wunder, dass sie sich die Zeit mit lesen und schreiben vertrieb. Statt ihren Wunschberuf Liebesromanautorin zu ergreifen, entschied...
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