Eiskalte Nacht – glutheiße Lust

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Erschöpft betritt Kaya nach der langen Reise das tief verschneite Haus. Sie will nur noch in ihr Bett. Doch darin liegt bereits ein Fremder: der schönste Mann, den sie jemals gesehen hat! Wer ist er? Und was macht er im Haus ihrer verstorbenen Mentorin, die immer wie eine Mutter zu ihr war? Ungläubig erfährt sie, dass Leo deren leiblicher Sohn ist, von dem sie nichts wusste. Er hat das Anwesen geerbt und will es verkaufen. Wie kann er Kayas Feind sein, ihr das Zuhause rauben – und trotzdem ein heißes Verlangen in ihr wecken?


  • Erscheinungstag 29.10.2024
  • Bandnummer 2673
  • ISBN / Artikelnummer 9783751525084
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Kaya war völlig erledigt und durchgefroren, als sie das Haus betrat. Ihre Wangen brannten, und sie hatte seit vierundzwanzig Stunden nicht mehr geschlafen. Alles, was sie wollte, war, sich auf ihr Bett fallen zu lassen und die nächsten hundert Jahre zu schlafen.

Das Licht in der Diele war an.

Warum war das Licht an?

Hatte sie es etwa angelassen, als sie vor zwei Monaten von Kanada aus nach Neuseeland aufgebrochen war? Aber wie war das möglich?

Mrs. Simpson, ihre Nachbarin, hatte die Schlüssel zum Haus. Vielleicht war sie hier gewesen, um nach dem Rechten zu sehen, und hatte vergessen, das Licht auszuschalten?

Vermutlich. Und Kaya war viel zu müde, um sich darüber Gedanken zu machen. Mit einem Seufzen stellte sie ihre Koffer ab, zog ihren Mantel und ihre Schuhe aus und rollte ihre schmerzenden Schultern. Dann ging sie barfuß nach oben.

Kaya kannte dieses Haus wie ihre Westentasche. Sie lebte nun seit drei Jahren hier, was sie allein Julie Annes Großzügigkeit und Güte verdankte.

Während ihres Studiums hatte sie sich finanziell immer knapp mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten können. Doch als sie, ihr hart erarbeitetes Diplom in der Hand, nach Hause zurückgekehrt war, hatte sie feststellen müssen, dass die Lebenshaltungskosten in Kanada ihre Möglichkeiten, zumindest ohne festen Job, bei Weitem überstiegen.

Ihre Mutter hatte sie auf keinen Fall um Hilfe bitten können. Nach zahllosen enttäuschenden Beziehungen mit reichen Männern, die nicht wirklich an ihr als Person interessiert gewesen waren, hatte sie vor sechs Jahren endlich ihren Mister Right gefunden und war mit ihm nach Neuseeland gezogen. Die beiden schwammen selbst nicht gerade im Geld, und Kaya bezweifelte, dass ihr Stiefvater – so freundlich und liebenswert er auch war – großes Interesse daran hatte, sie finanziell zu unterstützen.

Julie Annes Angebot, kostenfrei bei ihr zu wohnen, war also ein Geschenk des Himmels gewesen, und sie würde nie müde werden, ihrem Glücksstern dafür zu danken, dass die ältere Frau sich ihrer angenommen hatte.

Sie ging die Treppe hinauf ins Obergeschoss. Es fiel ihr noch immer schwer zu glauben, dass Julie Anne – ein Mensch, der so lebendig, so gütig und wunderbar war – einfach von einem Tag auf den anderen aus dem Leben gerissen worden war.

Ein Aneurysma, hatten die Ärzte ihr erklärt. Eine genetische Zeitbombe, die irgendwann völlig unvermittelt losgegangen war. Kaya hatte es gerade noch rechtzeitig ins Krankenhaus geschafft, um ihre Hand zu halten und ihr zu sagen, dass sie sie liebte.

Kaya hatte lange gebraucht, um über den Schock und die Trauer hinwegzukommen. Trotz des Altersunterschieds war Julie Anne zugleich ihre Mentorin und beste Freundin gewesen. Sie hatte schon auf Kaya aufgepasst, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war und gerade erst mit ihrer Mutter von Alaska nach Kanada gezogen war, in die Nähe von Whistler, wo ihre Mutter gearbeitet hatte. Kaya konnte sich kaum an die Zeit davor erinnern, denn sie war erst knapp sechs Jahre alt gewesen. Bis dahin hatte sie mit ihrer Mutter in Alaska gelebt, der Heimat ihres Vaters.

Bei seinem Tod waren sie an den Ort in Kanada gezogen, an dem Katherine Hunter gelebt hatte, bis sie ihrem Mann zehn Jahre zuvor nach Alaska gefolgt war. Sie hatte versucht, an alte Kontakte anzuknüpfen, und sich sofort ins gesellschaftliche Leben gestürzt. Und schnell erkannt, dass Julie Anne, ungebunden, beliebt und aktives Mitglied der Gemeinde, die perfekte Babysitterin für Kaya war. Und so wurde Julie Anne schnell Teil ihres Lebens und kümmerte sich rührend um Kaya, wenn Kayas Mutter mit ihren diversen Männerbekanntschaften unterwegs war. Katherine war nie auf den Gedanken gekommen, ihres Kindes wegen auf ihre Vergnügungen zu verzichten, sie war eher ein Kumpel für Kaya als eine Mutter. Diese Rolle übernahm Julie Anne, und so war über die Jahre eine enge Bindung zwischen ihnen entstanden.

Seufzend drängte Kaya die Erinnerungen zurück.

Auf dem Weg ins Schlafzimmer zog sie ihre dicke Strickjacke und das langärmlige Top aus, das sie darunter trug. Sie hatte jetzt nur noch ein T-Shirt und eine bequeme, weite Jogginghose an. Wenn man vierzehn Stunden in der Holzklasse eines Flugzeugs verbrachte, brauchte man Kleidung, in der man sich auf engstem Raum gut bewegen konnte. Besonders, wenn man so hochgewachsen war wie sie.

Es war wärmer als erwartet. Bei ihrer Ankunft hatte es wie verrückt geschneit. Es war ein regelrechter Blizzard, der aus der Busfahrt von Vancouver mit geplanten anderthalb Stunden eine dreistündige Odyssee gemacht hatte. Entsprechend froh war sie, dass das Haus nicht komplett ausgekühlt war.

Sie beschloss, dass die Dusche bis morgen früh warten konnte und sie jetzt wirklich nur noch ins Bett wollte.

Kaya stieß die Tür zum Schlafzimmer auf, wobei sie gähnte und sich die Augen rieb. Ohne das Licht einzuschalten, trat sie ein. Und da fiel ihr auf, dass jemand in ihrem Bett lag.

Und dieser jemand war … ein Mann.

„Was zum Teufel …?“

Leo hatte nicht mitbekommen, dass die Haustür unten geöffnet worden war, doch die Schritte auf der Treppe, die hatte er gehört.

Alarmiert setzte er sich im Bett auf.

Er war gerade erst vor sechsunddreißig Stunden im Ort eingetroffen, aber er bereute schon jetzt, die Reise hierher überhaupt angetreten zu haben. Er könnte jetzt in seinem luxuriösen Büro in New York sitzen. Doch stattdessen war er hier.

Warum? Um ehrlich zu sein, das verstand er selbst nicht so genau. Woher stammte dieses plötzliche Verlangen, die Freuden des Landlebens für sich zu entdecken? Der Wunsch nach Raum und Freiheit?

Nun, die Umgebung war, soweit er das auf dem Weg hierher hatte erfassen können, atemberaubend majestätisch. Doch Leo war ein Stadtmensch durch und durch. Er war im Großstadtdschungel, zwischen Straßen und Wolkenkratzern zu Hause. Dort, wo das große Geld verdient wurde.

Aber wem wollte er eigentlich etwas vormachen? Er war aus Neugierde hergekommen. Doch kaum war er da, hatte der Schneefall eingesetzt, und nun würde er wohl oder übel eine Weile bleiben müssen. Er hatte es gerade noch geschafft, sich mit Vorräten einzudecken, bevor es richtig schlimm geworden war. Seitdem saß er nun hier fest, ohne Internet und mit reichlich Zeit, seine jüngsten Entscheidungen zu bereuen. Und dazu gehörte die, eine Reise in die Vergangenheit zu machen, die ihm verwehrt worden war.

Und nun musste er sich auch noch mit einem Eindringling auseinandersetzen, der vermutlich gehofft hatte, in einem leerstehenden Haus Zuflucht vor dem Sturm finden zu können.

Angespannt wartete er, wie sich die Situation weiter entwickeln würde. Doch mit dem, was er erblickte, als sich die Tür öffnete, hatte er nicht gerechnet.

Er hatte ein paar betrunkene Teenager erwartet. Damit hätte er umgehen können. So wie mit den meisten anderen Szenarien. Seine Kindheit in wechselnden Pflegefamilien hatte ihn darauf vorbereitet, so ziemlich mit allem fertig zu werden. Er hatte schon als kleiner Junge gelernt, sich zu behaupten. Und je älter er wurde, desto besser wurde er darin.

Ihm jagte so schnell nichts Angst ein. Immerhin – was konnte ihm Schlimmeres zustoßen, als das, was ihm schon passiert war? Er war schon als Baby verlassen worden, und in all den Jahren danach war nie jemand gekommen, um ihn zu retten.

Und es würde auch nie jemand kommen.

Seine Sinne waren in Alarmbereitschaft, als er im Licht, das durch die offene Tür fiel, die Gestalt einer Frau sah.

„Wer zum Teufel sind Sie, und was machen Sie in meinem Haus?“, fragte die Gestalt im Türrahmen, bevor Leo auch nur ein einziges Wort sagen konnte.

Die Deckenbeleuchtung wurde eingeschaltet, und für einen Moment war er sprachlos angesichts des wütenden Racheengels, der ihn anfunkelte.

Sie war vergleichsweise groß, mindestens einen Meter achtundsiebzig, schlank und besaß einen olivfarbenen Teint. Ihr Haar, das unter einer Wollmütze hervorkam, war dunkel und sehr lang.

Alles an ihr wirkte exotisch, und er konnte nicht umhin festzustellen, dass sie unglaublich schön war.

„Nun?“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust, wobei sie darauf achtete, genau dort stehen zu bleiben, wo sie war, damit sie im Notfall die Flucht vor ihm ergreifen konnte.

Klug, dachte er anerkennend.

„Ich könnte Sie dasselbe fragen“, entgegnete er.

„Wie sind Sie in dieses Haus gekommen?“, fragte sie wütend.

„Auf legale Weise.“

„Das ist definitiv gelogen. Ich weiß nicht, wer Sie sind, oder was Sie hier tun, aber ich möchte, dass Sie jetzt auf der Stelle gehen.“

Das wurde alles immer absurder. Er starrte sie an. Verdammt, er hasste das Gefühl, auf dem falschen Fuß erwischt zu werden.

„Sie würden einen armen Kerl also mitten in einem Schneesturm vor die Tür setzen?“, fragte er frech.

„Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken!“

„Ich glaube, wir sollten uns unterhalten.“ Er schlug die Decke beiseite.

„Kommen Sie bloß nicht näher!“

„Sonst?“

„Sonst …“

Sie starrten einander an. Kayas Herz hämmerte wie verrückt.

Da war ein Mann in ihrem Bett. Nein, nicht irgendein Mann. Es war der attraktivste Mann, der ihr je im Leben begegnet war.

Seine Haut schimmerte golden, sein Haar war so dunkel wie ihres, und seine Züge waren so klassisch perfekt, dass er fast wie eine griechische Götterbüste wirkte, der Leben eingehaucht worden war.

Sie schluckte hart.

Sein Oberkörper war unbekleidet. Ob er unter der Decke ebenfalls nackt war?

Bei dem Gedanken wurde ihr der Mund trocken.

Seine Kleidung lag überall auf dem Boden verstreut. Dem ersten Eindruck nach zu urteilen handelte es sich definitiv nicht um billige Massenware.

„Nun?“ Leo hob eine Braue. „Okay, lassen wir das. Ich habe keine Ahnung, was hier vor sich geht, aber ich denke wirklich, wir sollten uns unterhalten. Denn ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich habe nicht vor, meine Chance draußen in diesem Schneesturm zu versuchen.“ Er stand auf, und Kaya … starrte.

Sie war ziemlich groß. Größer als viele Männer, die sie kannte. Aber er war definitiv ein gutes Stück größer als sie – und muskulös, mit Waschbrettbauch und einem schmalen Streifen Haar, der unter dem Bund seiner schwarzen Boxershorts verschwand.

Sie leckte sich die Lippen und wandte dann hastig den Blick ab, als ihre Wangen zu brennen begannen.

Ihr war absolut schleierhaft, was sie tun sollte. Er hatte recht, sie konnte ihn nicht mitten in einem Blizzard vor die Tür setzen. Das Taxi, das sie hergebracht hatte, war mit allem ausgerüstet gewesen, um einem solchen Unwetter trotzen zu können. Dennoch hatte der Fahrer den Wagen nur mit Mühe und Not unter Kontrolle halten können.

Sie hatte draußen kein Auto stehen sehen, also war er ebenfalls mit dem Taxi gekommen.

„Es ist spät, und ich bin müde“, sagte sie knapp. „Sie sind in meinem Schlafzimmer, und von dort verschwinden Sie jetzt bitte. Mir ist es völlig gleich, wohin.“

„Ihr Schlafzimmer?“

„Ich kann Sie nicht zwingen zu gehen, weil Sie größer und kräftiger sind als ich. Aber glauben Sie bloß nicht, dass Sie mir in irgendeiner Weise Angst einjagen können.“

„Was? Wie kommen Sie darauf, dass ich …? Und was meinen Sie eigentlich mit Ihr Schlafzimmer?“

„Ich will einfach nur noch schlafen.“ Tränen der Frustration, der Irritation und der Wut brannten in ihren Augen.

Leo schüttelte den Kopf und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.

„Okay“, sagte er schließlich. „Ich überlasse Ihnen das Schlafzimmer, obwohl ich ehrlich gesagt nicht verstehe, warum, angesichts der Tatsache, dass Sie in mein Haus eingebrochen sind.“

Kaya starrte ihn an. „Ich bin in Ihr Haus eingebrochen?“ Die Zahnräder in ihrem Kopf fingen an zu rotieren, und der Schock und die Panik wichen Entsetzen. Nein, das war nicht möglich, oder?

Nicht jetzt schon …

Leo antwortete nicht.

„Wir können uns morgen früh darüber unterhalten.“ Er sammelte seine verstreute Kleidung ein – sein T-Shirt lag auf dem Boden, die Jeans über die Rückenlehne eines Stuhls drapiert – und nahm sein Laptop, denn vielleicht würde er die Gelegenheit nutzen, noch ein paar Berichte zu schreiben. Auch wenn er sie ohne Internetzugang ohnehin nicht verschicken konnte.

„Morgen früh?“

„Wenn ich mich recht erinnere, wollten Sie doch unbedingt schlafen gehen, oder nicht?“

Sie trat auf ihn zu, die Arme vor der Brust verschränkt. „Das hier ist mein Zuhause, und deshalb will ich jetzt, verdammt noch mal, wissen, was Sie hier zu suchen haben!“

Zwischen ihren Schläfen pochte es. Alle Tatsachen deuteten in dieselbe Richtung, aber sie wollte es nicht wahrhaben.

Sie war nach Neuseeland gegangen, um ihre Mum und ihren Stiefvater zu besuchen, aber vor allem, um der Trauer zu entfliehen, die sie nach Julie Annes Tod völlig überwältigt hatte.

Sie war nicht in der Lage gewesen, sich auf irgendetwas zu konzentrieren. Und so hatte sie einfach das Weite gesucht.

Natürlich hatte sie von Neuseeland aus gearbeitet und weiterhin die Buchführung für verschiedene Unternehmen erledigt. Aber davon abgesehen hatte sie sich einfach Zeit zum Ausspannen gegönnt.

Nachdem sie ihre Jugend mehr oder weniger damit verbracht hatte sicherzugehen, dass es ihrer Mutter gut ging, war es ausnahmsweise einmal andersherum gewesen. Und es war ihr überraschend leicht gefallen zu vergessen, was zu Hause in Kanada auf sie wartete.

„Woher kommen Sie?“, fragte Leo, der sie wachsam musterte wie ein Jäger, der wusste, dass die schöne Leopardin ihn bei der geringsten Provokation angreifen konnte. „Nein, fangen wir anders an. Ich sollte Sie wohl zuerst einmal nach Ihrem Namen fragen.“

„Kaya.“

„Hallo, Kaya, ich bin Leo. Wir sollten diese Unterhaltung morgen früh unbedingt fortsetzen. Ich habe das Gefühl, dass da noch so einiges zu klären ist.“

Sie runzelte die Stirn. „Sie sagten, Sie seien auf legalem Weg ins Haus gekommen.“

Er griff in seine Jackentasche und holte einen Schlüssel heraus, den er zwischen Zeigefinger und Daumen baumeln ließ. „Der Schlüssel zum Königreich.“

Mit einem Mal fühlte sie sich schwach. „Ich muss mich hinsetzen.“

„Sie sehen aus, als bräuchten Sie mehr als nur einen Stuhl. Warum gehen wir nicht in die Küche, und ich schenke uns einen Drink ein?“ Beschwichtigend hob er beide Hände. „Ich verspreche hoch und heilig, dass Sie von mir nichts zu befürchten haben. Wir könnten ein paar grundlegende Dinge besprechen, denn Sie sind nicht die Einzige, die Fragen hat. Und danach können Sie von mir aus das Schlafzimmer haben, sich darin einschließen, und wir versuchen beide, ein bisschen runterzukommen.“

Kaya nickte wie benommen.

„Sie werden mir doch hoffentlich nicht ohnmächtig.“

„Nein“, flüsterte sie. „Dafür bin ich nicht der Typ.“

„Ich bin froh, das zu hören.“

Sie verließ das Zimmer. Draußen im Korridor war es kälter, und sie bückte sich, um ihren Pullover aufzuheben. Während sie ihn überstreifte, musste sie immer wieder daran denken, dass er einen Schlüssel zum Haus besaß.

Der legitime Weg …

Natürlich wusste sie, wer er war. Nicht irgendein Fremder, den sie schlafend in ihrem Bett vorgefunden hatte, nein. Er war nicht einfach aus der Kälte hereingestapft, hatte seinen Kaschmirmantel auf den Boden fallen lassen, seine handgefertigten Schuhe abgestreift und war in ihrem Schlafzimmer gelandet.

Dass er Julie Anne nicht ähnelte, bedeutete nicht, dass sie nicht verwandt waren. Aber der Mann, von dem der Anwalt gemeint hatte, dass er kommen würde, sollte eigentlich noch gar nicht hier sein. Es würde noch eine ganze Weile dauern, bis alles geklärt war, hatte es geheißen. Ein derart kompliziertes Nachlassverfahren konnte sich über Jahre hinziehen. Mehr als genug Zeit für sie, sich zu sammeln und eine andere Unterkunft zu suchen.

Der Anwalt hatte ihr die niederschmetternden Neuigkeiten so behutsam wie möglich beigebracht. Aber wie wollte man den Schock mildern, wenn man jemandem mitteilte, dass das Haus, in dem er lebte und als Zuhause bezeichnete, bald in den Besitz einer anderen Person übergehen würde.

Julie Anne hatte ein Testament hinterlassen. All ihr irdischer Besitz würde an ihren Sohn übergehen.

„Aber Julie Anne hat keinen Sohn“, hatte Kaya sofort protestiert.

Sie hatte keine Ahnung gehabt, was ihre Freundin mit ihrem Haus und dem Grundstück vorhatte, ganz zu schweigen von dem Wohnheim in der Stadt. Was das Heim betraf, so hatte sie angenommen, dass es auch ohne sie weiterlaufen würde und dass das Grundstück verkauft und die Erlöse an die wohltätige Stiftung gehen würden, die Julie Anne vor vielen Jahren gegründet hatte.

Aber ein Sohn?

Sie hatte es zuerst kaum glauben wollen, doch anscheinend gab es Beweise, die seine Existenz belegten.

Die Erkenntnis, dass sie ihre beste Freundin gekannt und zugleich auch wieder nicht gekannt hatte, war ein schwerer Schlag für Kaya gewesen. Und ein weiterer Grund, warum sie die Flucht nach Neuseeland angetreten hatte.

Und nun war sie nach Kanada zurückgekehrt, um ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Ihr Plan war es gewesen, längst weg zu sein, bevor ein Fremder in ihr Zuhause einziehen konnte.

Doch das Schicksal hatte es offenbar anders gewollt.

Sie hatte Julie Annes Sohn nicht treffen wollen. Hatte das Wissen um seine Existenz ganz weit von sich geschoben und sich kaum erlaubt, neugierig zu sein. Dabei gab es so viele Fragen, auf die sie keine Antwort wusste. Wer war er? Was hatte er all die Jahre lang gemacht? Wie war es für ihn gewesen, von seiner Erbschaft zu erfahren?

Leo bemerkte die vorsichtige Zurückhaltung in ihrem Blick, als er die Küchentür öffnete. Und da war noch etwas anderes. Etwas, das er nicht recht benennen konnte.

„Wir sind jetzt nun einmal beide hier“, sagte er knapp. „Und es fällt von Sekunde zu Sekunde mehr Schnee, sodass die Wahrscheinlichkeit, dass wir in nächster Zukunft von hier wegkommen, eher gering ist. Ich denke, wir müssen einander vertrauen, denn wir werden für die nächsten Stunden, wenn nicht sogar Tage, in diesem Haus zusammen festsitzen.“ Er seufzte. „Ich sehe keine Weg, wie wir in die Stadt kommen sollten. Oder auch nur zu den nächsten Nachbarn, wo immer die auch sein mögen – auf dem Weg hierher habe ich jedenfalls nicht viele Häuser gesehen.“

Kaya nickte.

Was hatte Leo vor? War er wirklich derjenige, für den sie ihn hielt?

Aber wie könnte er es nicht sein?

Sie spürte seinen Blick auf sich, neugierig und wertend. Natürlich war er neugierig, das war ja auch vollkommen normal. Mehr noch, er hatte recht mit dem, was er gesagt hatte. Sie saßen gemeinsam hier fest und würden erst einmal miteinander auskommen müssen, ob ihnen das nun gefiel oder nicht.

War es unter diesen Umständen nicht klug, sich erst einmal bedeckt zu halten? Sich Zeit zu nehmen, um herauszufinden, mit wem sie es zu tun hatte? Wer er wirklich war? Und sich selbst die Chance geben, sich an diese neue, unerwartete und unerwünschte Situation anzupassen?

Er sah auf jeden Fall nicht aus wie ein armer Schlucker, dem der Zufall ein Haus samt Land in die Hände gespielt hatte. Er wirkte schlau und gerissen und hatte etwas an sich, das ihr Interesse weckte. Doch sie würde ganz sicher nicht den Fehler machen und dem ersten Eindruck vertrauen, so wie es ihre Mutter immer getan hatte.

Wenn es um solche Dinge ging, gab sie nichts auf Äußerlichkeiten. Sie vertraute ihrem Verstand mehr als ihren Augen.

„Also“, sagte Leo, öffnete wie selbstverständlich einen der Schränke und holte zwei bauchige Gläser hervor, in die er aus einer Kristallkaraffe eine bernsteinfarbene Flüssigkeit einschenkte. „Erzählen Sie mir etwas über sich. Wir sollten uns ein bisschen besser kennenlernen, wenn das hier funktionieren soll. Also, wo kommen Sie her? Waren Sie im Urlaub? Beruflich unterwegs? Die Familie besuchen, oder … einen Freund?“

„Ich … war in Neuseeland, um meine Mutter zu besuchen“, erklärte sie, während er ihr gegenüber am Küchentisch Platz nahm. „Sie ist vor ein paar Jahren der Liebe wegen dorthin gezogen. Und ich … Ich musste weg, nachdem Julie Anne plötzlich gestorben war.“

„Julie Anne“, murmelte Leo und runzelte die Stirn. „Und Sie sind hierher zurückgekehrt, weil …?“

„Weil es der Ort ist, an dem ich die letzten dreieinhalb Jahre gewohnt habe.“

„Hier gewohnt?“ Er blinzelte. „Sie haben hier gewohnt?“

„Allerdings.“

Damit hatte Leo nicht gerechnet. Aber vermutlich war es zu erwarten gewesen, dass die Situation nicht so unkompliziert sein würde, wie sie für ihn zunächst ausgesehen hatte.

Der Brief war völlig unerwartet für ihn gekommen und hatte ihm regelrecht den Boden unter den Füßen weggezogen. Die Vergangenheit hatte ihn in Form eines Erbes eingeholt. Von der Frau, die ihn gleich nach seiner Geburt zur Adoption freigegeben hatte.

Leo war versucht gewesen, den Brief durch den Aktenvernichter zu jagen. Er hatte sich in seinem riesigen, luxuriösen New Yorker Apartment umgesehen – eines von mehreren Luxusapartments in den verschiedenen Städten, in denen seine Firma Niederlassungen hatte, und über sein Leben nachgedacht. Er hatte es bis ganz nach oben geschafft, auch ohne die Hilfe seiner leiblichen Eltern, die ihn nicht gewollt hatten.

Mit dem Gedanken waren die Erinnerungen gekommen. An sich selbst als Junge, in dem passablen Heim bei Brooklyn, in dem er nur ein weiteres anonymes Gesicht gewesen war, an die langsam sterbende Hoffnung, dass seine Mum und sein Dad eines Tages kommen würden, um ihn zu retten. Und daran, wie sich stattdessen wilde Entschlossenheit in ihm geformt hatte.

Er würde es hier raus schaffen. Er würde die Welt beherrschen und unantastbar werden.

Und es war ihm gelungen. Er hatte härter und entschlossener gearbeitet als irgendjemand sonst. Er war als Jüngster seines Jahrgangs nach Harvard gegangen, um dort seinen Masterabschluss zu machen. Danach war alles wie von selbst gelaufen. Er hatte sich eine scheiternde Firma mit Potenzial gesucht, sich Anteile daran ausgehandelt und sie dann zum Erfolg geführt.

Damals war er vierundzwanzig gewesen.

Jetzt war er einunddreißig, und sein Vermögen hatte sich in den vergangenen Jahren immer weiter vervielfacht, sodass er jetzt genau dort war, wo er schon immer hingewollt hatte: ganz an der Spitze. 

Er war unberührbar.

Doch all seine Erfolge verblassten im Angesicht dieses unerwarteten Briefes. Seine Mutter war tot, und er erbte alles, was sie besessen hatte. Eine Geste der späten Reue, mit der sie sich vermutlich ein Ticket ins Paradies hatte erkaufen wollen.

Er hatte keine Zeit für so etwas. Das schlechte Gewissen seiner Mutter kam zu spät, und es bedeutete nichts.

„Sie wollen mir also sagen, dass Sie hier mit Julie Anne gelebt haben.“

„So ist es.“

Kaya hörte die Kälte in seiner Stimme und versteifte sich, denn trotz der Geheimnisse, die ihre Freundin vor ihr verborgen hatte, änderte es nichts daran, dass sie ein warmer, großzügiger Mensch gewesen war.

„Wie kam es dazu?“

Kaya zuckte mit den Achseln. „Als ich nach der Uni hierher zurückkehrte, wusste ich nicht, wo ich bleiben sollte, und konnte mir keine eigene Wohnung leisten. Zumindest nicht zu Anfang. Es ist ziemlich teuer hier in der Gegend.“

„Also hat diese Frau Sie einfach bei sich aufgenommen, ohne Fragen zu stellen?“

„Ich kannte sie, seit ich ein kleines Kind war, also, ja, sie hat mich einfach bei sich aufgenommen, ohne eine Gegenleistung zu erwarten.“

„Das war sehr großzügig von ihr.“

„Nun, sie war ein sehr großzügiger Mensch“, entgegnete Kaya. „Sie war freundlich und verständnisvoll.“

Leo musterte sie so durchdringend, dass Kaya sich ermahnen musste, nicht nervös auf ihrem Stuhl herumzurutschen.

Er war hier, um sein Erbe anzutreten – aber was würde er damit anfangen? Sie war auf einmal entschlossen, es herauszufinden. Julie Anne hatte ihr halbes Leben darauf verwendet, das Wohnheim aufzubauen, um Frauen eine Zuflucht zu bieten, die sonst nirgendwohin konnten. Hatte er vor, dieses Vermächtnis zu zerstören?

Der Anwalt hatte ihr gegenüber erklärt, dass Leo zur Adoption freigegeben worden war. Das war für sich genommen schon schockierend, aber sie war sicher, dass Julie Anne gute Gründe für diese Entscheidung gehabt hatte.

„Sie stellen eine Menge Fragen“, sagte sie kühl.

„Dazu habe ich ja wohl jedes Recht. Sie haben mich gefragt, wie ich in dieses Haus gekommen bin.“

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