Emily – so schön und so geheimnisvoll

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Eine Flut kastanienroter Locken, ein betörendes Lächeln und ein unergründlicher Blick aus meergrünen Augen: Die bezaubernde Emily, deren geheimnisvolle Vergangenheit ihren Reiz nur erhöht, hat Dominics Herz in Flammen gesetzt. Aber noch fühlt sich der attraktive Viscount gebunden. Denn vor sechs Jahren verschwand seine unscheinbare, aber äußerst vermögende Ehefrau und kehrte nie mehr zurück. Jetzt, nachdem er seine wahre Liebe gefunden hat, macht Dominic sich auf die Suche nach der Vermissten. Er muss wissen, ob er frei ist, bevor er seiner Herzdame einen Antrag macht. Endlich stößt er auf eine heiße Spur - und die führt geradewegs zu Emily…


  • Erscheinungstag 18.11.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733754136
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Dominic Carlton, Viscount Linford, zuckte beim laut bis in die Bibliothek dröhnenden Pochen des Türklopfers zusammen und fühlte sich in seiner Ruhe gestört. Verärgert verengte er die blauen Augen und dachte daran, dass er nur eine Person kannte, die derart ungestüm Einlass begehrte. Wenn er sich nicht sehr irrte, wurde er jetzt von seiner amüsantesten Verwandten heimgesucht.

Gleich darauf wurde an die Bibliothekstür geklopft, und auf sein Geheiß erschien der Butler, der in beinahe entschuldigendem Ton verkündete, Lady Henrietta Barnsdale wünsche Seine Lordschaft zu sprechen. „Bitten Sie meine Tante herein, Peplow“, erwiderte Dominic und erhob sich aus seinem Lieblingssessel.

Mit wehenden Hutfedern und raschelnden Röcken rauschte sie in den Raum.

„Wie reizend, dich zu sehen, Tante Henrietta“, begrüßte Dominic sie herzlich.

„Lüg nicht so dreist, Dominic!“, erwiderte sie lächelnd. „Wärst du gewillt gewesen, mich zu sehen, hättest du dir die Mühe gemacht, mir deine Ankunft mitzuteilen. Gib mir bitte ein Gläschen Madeira.“

„Irgendwie bringst du es immer fertig, meinen Aufenthaltsort herauszufinden, Tante, ohne dass ich dich benachrichtigen muss“, entgegnete er trocken, schenkte ihr ein und wartete, bis sie sich gesetzt hatte. Dann goss er sich selbst ein Glas Wein ein, nahm ihr gegenüber Platz und fuhr schmunzelnd fort: „Deine Spione waren heute bemerkenswert fleißig. Ich bin erst vor knapp drei Stunden eingetroffen.“

„Das weiß ich“, äußerte sie belustigt. „Amy hat dich in deiner Karriole ankommen sehen.“ Sie trank einen Schluck und schaute einen Moment lang prüfend den Neffen an. „Ein ziemlich seltsamer Zeitpunkt, um sich jetzt hier einzufinden“, sagte sie erstaunt. „Die Saison ist zur Hälfte vorbei. Warum bist du hergekommen? Oder sollte ich dich das besser nicht fragen?“

„Nein“, antwortete Dominic. „Es wäre mir jedoch neu, würdest du deine Neugier einmal zügeln.“

Henrietta überging die Spitze und schnaubte abfällig. „Ich wette, du protegierst eine neue Errungenschaft. Ich weiß alles über dein französisches Liebchen, mit dem du im vergangenen Jahr zusammen warst.“

Er blickte auf die Wand hinter der Tante und hatte jäh in Gedanken ein höchst erfreuliches Bild vor sich. „Die Dame war entzückend“, gestand er versonnen. „Nur leider hat sie bald ihren Reiz verloren, wie das auch bei meinen anderen Amouren der Fall war.“

Henrietta schüttelte den Kopf. „Denkst du, das wüsste ich nicht? Keine dieser Affären hat dir das Mindeste bedeutet. Daher war ich sehr erstaunt, als du Rebecca Standish kampflos aufgegeben hast. Du hättest sie heiraten können, denn sie hat dich sehr gemocht.“

„Sie liebte Edmond“, erwiderte Dominic. „Falls du jedoch glaubst, ich sei im letzten Jahr ins Ausland gereist, weil ich an gebrochenem Herzen litt, dann täuschst du dich sehr.“

„Warum bist du dann so plötzlich abgereist?“, wunderte sich Henrietta. Zu ihrer Verwunderung furchte er die Stirn, und einen Augenblick lang war sie sicher, dass er ihre Wissbegierde nicht befriedigen werde.

„Ich habe mich nicht in Rebecca verliebt, obwohl sie ein Schatz ist“, äußerte Dominic ruhig. „Das hätte jedoch leicht der Fall sein können. Sie hat mich indes dazu gebracht, über meine Lage nachzudenken. Die Situation kann nicht so bleiben, wie sie ist. Was hätte ich Rebecca offerieren können?“, fügte er hinzu und zog eine Augenbraue hoch. „Hätte ich ihr anbieten sollen, meine Mätresse zu werden?“

Nachdenklich betrachtete Henrietta den Neffen. Das unerklärliche Verschwinden seiner Gattin war eine ständige Belastung für ihn. In der Öffentlichkeit verbarg er seinen Kummer und seine Schuldgefühle hinter aufgesetztem Zynismus und geheucheltem Gleichmut. Vor Henrietta hatte er seine Beunruhigung jedoch nie verheimlichen können.

„Die Sache ist jetzt sechs Jahre her, Dominic“, sagte sie weich. „Du nimmst doch nicht an, dass du nach all der Zeit herausfinden kannst, was aus Emily geworden ist, selbst wenn sie noch am Leben sein sollte, was ich bezweifele. Schließlich hast du in dieser Hinsicht bereits alles Menschenmögliche getan und keinen Erfolg gehabt.“

„Du hast recht, aber ich kann nicht einfach die Hände in den Schoß legen“, entgegnete Dominic ernst. „Sollte sich herausstellen, dass Emily tot ist, kann ich zumindest dafür sorgen, dass sie in der Familiengruft bestattet wird. Sollte sie wider Erwarten noch leben … Nun, dann werde ich ihr die Entscheidung überlassen, ob sie zu mir zurückkehrt oder nicht. Zumindest könnte ich dann sicherstellen, dass es ihr an nichts fehlt.“

„Aller Wahrscheinlichkeit wird sie den größten Wert darauf legen, wieder in Gnaden von dir aufgenommen zu werden“, vermutete Henrietta.

„Wenn dem so wäre, warum ist sie dann inzwischen nicht zu mir zurückgekommen?“

„Falls sie noch lebt, kann ich mir keinen Grund für ihr Verhalten denken“, antwortete Henrietta ehrlich. „Sollte sie jemals zurückkehren, kann es unmöglich deine Absicht sein, dich wieder mit dieser verrückten Person einzulassen.“

Befremdet schaute er die Tante an und fragte irritiert: „Wie kommst du auf den absonderlichen Gedanken, dass sie nicht bei Verstand ist? Sie ist, oder war, sehr intelligent. Sie war nur immer sehr zurückhaltend und schüchtern.“

Henrietta war verblüfft, erholte sich indes schnell von der Überraschung. „Du kannst nicht leugnen, dass Emily sich seltsam aufgeführt hat“, hielt sie ihm vor. „Gewiss, ich war nach eurer Hochzeit nur einige Tage bei euch, aber in dieser Zeit hat Emily nur einige Worte mit mir gewechselt. Und dauernd hatte sie diese Puppe bei sich! Mit sechzehn Jahren, Dominic! Das ist doch nicht normal!“

„Gut, ich kann mir vorstellen, dass du das eigenartig gefunden hast. Ich gebe zu, auch ich habe mich darüber gewundert. Erst nach ihrem Verschwinden habe ich langsam begriffen, dass sie in ihrem kurzen Leben schreckliche Erfahrungen gemacht haben muss.“

Fragend schaute Henrietta den Neffen an. „Ich entsinne mich, dass du erwähnt hast, ihr Vater sei ein Eigenbrötler. Hatte sie eine so furchtbare Kindheit und Jugend?“

„Ja“, bestätigte Dominic. „Sie hat ein elendes Dasein gehabt.“ Er stand auf, ging durch den Raum und blieb vor dem Kamin stehen.

In angespannter Haltung starrte er vor sich hin. Henrietta neigte nicht zu Rührseligkeit, doch in diesem Moment fühlte sie sich den Tränen nahe. Sie wusste zu gut, dass ihr dummer Eigensinn Dominic über Jahre hinweg unnötigen Schmerz bereitet hatte.

Sie hatte ihn zum Ebenbild seines Vaters, ihres älteren Bruders Alfred, heranwachsen sehen. Trotz dessen charakterlicher Schwächen hatte sie ihn vergöttert. Alfred hatte ein Vermögen für seine hübsche, flatterhafte Gattin ausgegeben und nach deren Tod den Sohn nach Strich und Faden verwöhnt. Dominic war von seinem ihn abgöttisch liebenden Vater restlos verzogen worden und hätte Selbstdisziplin und Zurückhaltung lernen müssen. Allerdings hatte er es nicht verdient, dass sein verschwenderischer Vater ihm einen solchen Schuldenberg hinterließ.

Leise seufzend lehnte Henrietta sich zurück. Sie war imstande und gewillt gewesen, dem Neffen zu helfen, vorausgesetzt, er hätte seinen Lebensstil geändert. Es war ihr ein Herzensanliegen gewesen, ihn sesshaft werden und heiraten zu sehen.

Er hatte sich vermählt, aber nicht mit einer der hübschen Debütantinnen, die Jahr für Jahr in die Gesellschaft eingeführt wurden. Stattdessen hatte er Emily Weston, die Tochter eines reichen Kaufmanns, geehelicht, eine unansehnliche, verschlossene Person, die meistens schwieg.

„Wäre ich doch nur nicht so halsstarrig gewesen!“, murmelte sie und sah den Neffen sie verdutzt anstarren. „Hätte ich dir das Geld an dem Tag, als du mich darum gebeten hast, geliehen, dann wären dir viele sorgenvolle Jahre erspart geblieben.“„Nein, Tante Hetta“, erwiderte er und lächelte zärtlich. „Du darfst dir keine Vorwürfe machen. Du hattest recht, dich zu weigern. Hättest du meinem Ansinnen entsprochen, wäre ich der leichtfertige, sich nur um sein Vergnügen und sonst um nichts und niemanden kümmernde Narr geblieben, der ich damals war.“ Unwillkürlich dachte er an den kalten Februartag vor sechs Jahren. „Als ich das Schreiben von Emilys Vater gelesen hatte, hielt ich es für ein Gottesgeschenk. Ehe ich Roderick Weston aufsuchte, hatte ich ihn vielleicht ein halbes Dutzend Mal gesehen. Er hat mir auf dem Krankenlager versichert, er werde meine gesamten Schulden übernehmen, wenn ich Emily heirate.“ Dominic lachte verbittert auf. „Sie war bei dem Gespräch dabei, hat sich jedoch nicht zu diesem Vorschlag geäußert. Ich hatte sie zwar nur flüchtig zur Kenntnis genommen, war indes sofort einverstanden. Drei Wochen später sind wir in demselben Raum getraut worden. Als ich dann mit meiner sechzehnjährigen Gattin und der schriftlichen Zusage ihres Vaters in der Tasche in der Kutsche saß, wusste ich sehr gut, was von beidem mir mehr bedeutete. Mein Schwiegervater hatte mir versprochen, dass die Übernahme der Schulden nur Teil der Zuwendungen sein würde, die ich von ihm erhielte, wenn ich mich mit Emily vermählte. Glaub mir, Tante Hetta, das allein hat mir genügt. Kaum ein halbes Jahr nach der Trauung ist er dann verstorben, und seine Anwälte haben mich hier aufgesucht. Mein Schwiegervater hinterließ ein Vermögen von einer halben Million. Ja, Tante Hetta“, setzte er angesichts ihrer erstaunten Miene lächelnd hinzu. „Dennoch hat der alte Knauser nie einen Penny für die Instandhaltung seines Besitzes oder für die arme Emily ausgegeben.“

„So ein Geizkragen!“, rief Henrietta entrüstet aus.

„Es kommt noch schlimmer“, fuhr Dominic fort. „Erst nach Emilys Verschwinden habe ich Kenntnis von dem elenden Leben erhalten, das sie geführt hat. Von dem Tag an, da ihre Mutter mit ihrem Liebhaber durchgebrannt ist, war das arme Kind praktisch eine Gefangene, die das Grundstück nicht verlassen durfte. Vom vierten Lebensjahr an hatte sie nur Umgang mit ihren wechselnden Gouvernanten, der Haushälterin und dem Vikar, der sie zweimal in der Woche in Latein und Griechisch unterrichtete. Es ist kaum überraschend, dass sie nicht sehr redselig war. Aber einfältig war sie ganz gewiss nicht.“

„Du lieber Himmel, Dominic!“, äußerte Henrietta betroffen. „Von all dem hatte ich keine Ahnung. Das arme Kind!“

„Und was hat ihr dieser Handel eingebracht?“, fragte er und verzog abschätzig die Lippen. „Ich habe es nicht erwarten können, sie wieder zu verlassen. Kaum war Matilda hier eingetroffen, um sich um sie zu kümmern, bin ich auf und davon und habe mein vorheriges Leben wieder aufgenommen.“

„Allerdings!“ Unbehaglich regte sich Henrietta. „Aber es hat wenig Sinn, jetzt darüber nachzugrübeln, was unter anderen Umständen hätte sein können. Was geschehen ist, können wir nicht rückgängig machen. Wir müssen überlegen …“ Sie hielt inne, weil jemand den Klopfer an der Haustür betätigt hatte. „Ich vermute, das ist Charles“, fuhr sie fort. „Ich habe ihn gebeten, mich hier abzuholen. Wir fahren später zu Mr. und Mrs. Barrington.“

Die Bibliothekstür wurde geöffnet, und der hochgewachsene, sehr stattliche Charles Cheffingham wurde von Peplow in den Raum gebeten.

„Wie schön, dich nach deinen Reisen wiederzusehen, Dominic!“, sagte er breit lächelnd, ging zum Viscount und schüttelte ihm die Hand.

Henrietta wartete, bis ihr langjähriger Freund sich neben ihr auf dem Sofa niedergelassen hatte, und fuhr dann fort: „Ich bin froh, dass du früher gekommen bist, Charles. Vielleicht kannst du Dominic behilflich sein. Er hat vor, einen neuen Versuch zu unternehmen, um herauszufinden, was aus seiner Frau geworden ist. Wie er das jedoch anstellen will, entzieht sich meinem Vorstellungsvermögen. Beabsichtigst du, Dominic“, wandte sie sich dann an ihn, „nochmals die Konstabler einzuschalten?“

„Nein“, antwortete er und schüttelte leicht den Kopf. „Das würde jetzt nichts mehr bringen. Ich bezweifele, dass sie nach all den Jahren noch Interesse an diesem Fall haben. Ich habe von einem Mann gehört, der solche Aufgaben übernimmt, nach Vermissten forscht oder verschwundenem Eigentum. Er wird mich morgen aufsuchen.“

Charles atmete tief durch. „Ich weiß zwar nicht, wie ich behilflich sein könnte, werde mich aber nach Kräften bemühen.“

„Mir wäre es lieb, wenn ihr an Emily zurückdenkt und mir alles berichtet, was in diesem Zusammenhang für mich von Bedeutung sein könnte. Leider muss ich zugeben, dass ich mich kaum an sie erinnere, jedenfalls nicht so gut, um Mr. Stubbs eine detaillierte Beschreibung von ihr geben zu können. Ich weiß nur, dass sie grüne Augen hat.“

„Und sehr ausdrucksvolle, mit hübschen langen Wimpern“, warf Charles ein. „Ihre Augenfarbe passte wunderbar zu ihrem roten Haar.“

„Rot?“, äußerte Henrietta befremdet. „Es war irgendwie schmutzigbraun! Mich hat es immer an Spülwasser erinnert.“

„Was für ein unpassender Vergleich!“, murmelte Dominic stirnrunzelnd. Er nahm wieder Platz und bereute beinahe, dass er die Bitte, ihm etwas über seine Gattin zu erzählen, vorgebracht hatte. „Also, einigen wir uns bei der Haarfarbe auf rotbraun. An was erinnert ihr euch noch?“

Henrietta zuckte mit den Schultern. Wie er hatte sie nur geringe Erinnerungen an seine Frau.

„Deine Gattin, Dominic, war ein kluges kleines Ding“, warf Charles ein. „Ich entsinne mich noch gut des Tages nach unserer Ankunft hier. Damals warst du mit Hetta irgendwo hingefahren. Ich kam in die Bibliothek und traf dort Emily an. Sie las in einem Buch über einen griechischen Gott oder so etwas, der die leidige Angewohnheit hatte, plötzlich hinter jemandem aufzutauchen, wenn derjenige es am allerwenigsten erwartete. Ich glaube, es war der Schicksalsgott.“

„Den gibt es nicht, dafür drei Schicksalsgöttinnen, nämlich die Parzen Klotho, Lachesis und Atropos“, erklärte Dominic. „Du meinst jedoch Nemesis, die Göttin der Vergeltung.“

„Das mag sein“, räumte Charles ein. „Ja, ich glaube, es ging um diese Nemesis. Jedenfalls hat Emily mir einiges über sie erzählt. Es ist so schade um sie“, fügte er bedauernd hinzu. „Ich fand sie bezaubernd, wenn sie aus sich herausging. Wäre sie besser gekleidet gewesen, hätte sie sehr hübsch ausgesehen. Sie hatte eine verlockend gerundete Figur, genauso, wie ich es mag, ganz anders als deine neue Freundin Emily, Hetta, die dürr wie eine Bohnenstange ist.“

„Das ist sie nicht!“, widersprach Henrietta erbost. „Zugegeben, sie ist schlank, hat jedoch eine sehr gute Figur.“

„Ja, sie hat etwas fürs Auge zu bieten“, stimmte Charles zu. „Und ihr Haar! Sie hat das schönste rote Haar, das ich je gesehen habe.“

Henrietta sah den Neffen an und äußerte leichthin: „Wie du weißt, komme ich nicht gut mit Frauen aus. Männliche Gesellschaft habe ich stets vorgezogen. Aber irgendwie ist Emily anders als die meisten Frauen. Ich habe sie vom ersten Augenblick an gemocht. Ich möchte, dass du sie kennen lernst, Dominic.“

Dominic hatte nur mit halben Ohr zugehört, aber keinesfalls die Absicht, sich mit einer der angejahrten Freundinnen der Tante abzugeben. „Ich bin nicht hergekommen, Tante Henrietta, um gesellschaftlichen Umgang zu pflegen. Ich gedenke, nur einige Wochen zu bleiben, höchstens drei. Daher ist es unwahrscheinlich, dass ich deiner Freundin begegnen werde. Außerdem kann ich rotes Haar nicht ausstehen. Wie du weißt, ziehe ich blondes oder braunes in mancherlei Schattierungen vor.“

Henrietta leerte das Weinglas, stand auf und erwiderte: „Wie du willst, Dominic. Solltest du jedoch anderen Sinnes werden, kannst du Emily heute Abend auf Edmonds Ball treffen. Ich werde mit ihr dort sein. Und das erinnert mich daran, dass Rebecca mich gebeten hat, dich einzuladen, solltest du in der Stadt sein. Sie hat eine Schwäche für dich, du Gauner. Komm jetzt, Charles“, fügte sie hinzu. „Sonst verspäten wir uns. Ich möchte genügend Zeit zum Umkleiden für den Ball haben.“

Dominic begleitete die Besucher zur Haustür und verabschiedete sich von ihnen. Er ging jedoch nicht davon aus, dass er sie abends noch einmal sehen würde.

Dominic speiste im Club und spielte nach dem Essen mit einigen Bekannten Karten. Nach einiger Zeit begann er, sich zu langweilen, obwohl er gewann, und beschloss, das Etablissement zu verlassen.

Er lehnte das Angebot des Hausdieners ab, ihm eine Droschke zu rufen, setzte den Zylinder auf und machte sich gedankenverloren auf den Weg. Das nachmittags mit der Tante und Charles geführte Gespräch hatte ihm jäh zu Bewusstsein gebracht, welch ungeheuer schwierige Aufgabe es sein würde, herauszufinden, was aus seiner jungen Gattin geworden war.

Er rechnete kaum damit, dass diesmal die Nachforschungen Erfolg haben würden, war aber dennoch entschlossen, einen weiteren Versuch zu unternehmen. Mr. Stubbs war ihm wärmstens empfohlen worden. Offenbar war es dem Agenten häufig gelungen, auch schwierige Fälle aufzuklären, und daher hoffte Dominic, dass der ehemalige Gendarm auch diesen Auftrag erfolgreich ausführen würde.

Vergebens versuchte er, sich das Bild seiner jungen Gemahlin in Erinnerung zu rufen, und war so in Gedanken versunken, dass er unwillkürlich zusammenzuckte, als plötzlich ein Bekannter aus einer vorbeifahrenden Kutsche ihm einen Gruß zurief. In diesem Moment erkannte er, dass er gleich am Berkeley Square sein würde, wo der mit ihm befreundete Earl of Rayne wohnte. Er überlegte, ob er zu ihm gehen solle, und beschloss nach kurzer Unschlüssigkeit, ihn aufzusuchen.

Kurz darauf betrat er die Residenz, ließ sich von einem Lakaien Hut, Handschuhe und Mantel abnehmen und stieg dann die Freitreppe hinauf. Zunehmend lauter werdende Musik, Gelächter und Stimmengewirr drangen ihm entgegen. Auf dem Treppenabsatz hielt er an und fragte sich stirnrunzelnd, warum er überhaupt hergekommen war. Er konnte nicht mehr ganz bei Trost sein, denn ihm stand der Sinn keineswegs nach oberflächlichem Geplauder mit Leuten, die er nicht sehen wollte, zu denen er jedoch höflich sein musste.

Er machte kehrt und war bereits im Begriff, die Stufen hinunterzugehen, als ein schriller Schrei ihn jäh innehalten ließ. Verwundert drehte er sich um und sah die hübsche Dame des Hauses auf sich zukommen.

„Wie schön, dich wiederzusehen, Dominic!“, sagte Rebecca herzlich, hakte sich bei ihm ein und ließ ihm dadurch keine andere Wahl, als sie in den großen, hell erleuchteten Ballsaal zu begleiten. „Henrietta hat mir gesagt, dass du in der Stadt bist. Es freut mich, dass du dir die Zeit nimmst, an meinem kleinen Fest teilzuhaben.“

Erneut fand er sie bezaubernd. Edmond konnte sich ungemein glücklich schätzen, sie zur Frau zu haben. „Auch ich freue mich“, erwiderte er und lächelte sie an. „Ich meine jedoch, es ist an der Zeit, dass Edmond dir besseres Benehmen beibringt. Es schickt sich wirklich nicht, meine Liebe, vor Entzücken so laut zu quietschen.“

Rebecca war nicht im Mindesten gekränkt. Schelmisch schaute sie Dominic an und äußerte belustigt: „Du erinnerst mich immer an Edmond, wenn du mich tadelst. Wahrscheinlich habe ich dich deswegen so gern. Entschuldige mich jetzt bitte“, fügte sie hinzu, löste sich von ihm und mischte sich unter die Gäste.

Im gleichen Moment sah Dominic ihren Mann auf sich zukommen. Edmonds Lächeln wirkte leicht verkrampft.

„Hast du schon wieder mit Rebecca geschäkert, Dominic?“, fragte Edmond etwas unwirsch. „Wie gut für dich, dass wir Freunde sind, denn sonst fühlte ich mich versucht, dir meine Sekundanten zu schicken.“

„Letztes Jahr um diese Zeit hättest du mich noch nicht als deinen Freund bezeichnet“, erwiderte Dominic trocken. „Im Gegenteil! Wenn du ehrlich bist, musst du zugeben, dass du froh warst, mich nicht mehr zu sehen.“

Lachend klopfte Edmond ihm auf den Rücken. „Dann muss mein Urteilsvermögen sich in den vergangenen zwölf Monaten sehr verbessert haben“, meinte er schmunzelnd. „Ich kann nicht leugnen, dass wir dich auf unserer Hochzeitsreise auf Rebeccas Drängen hin in Paris besucht haben. Ich war dann derjenige, der darauf gedrungen hat, dass du im Winter zu uns aufs Land kommst.“

„Deine Frau ist ein Schatz, Edmond“, sagte Dominic herzlich. „Ich habe nie versucht, meine Wertschätzung für sie zu verheimlichen, und werde es auch in Zukunft nicht tun. Ich finde indes, du müsstest mittlerweile erkannt haben, dass ich zu keiner Zeit eine Bedrohung für deine Ehe gewesen bin. Wie denn auch?“, fügte er mit verbittertem Lächeln hinzu. „So gebunden, wie ich immer noch bin?“

Ernst schaute Edmond den Freund an, der sich ihm während des Besuches auf dem Landsitz anvertraut hatte. Dass Dominic versuchte, unbedingt den Verbleib seiner Gattin ausfindig zu machen, konnte er gut verstehen, und deshalb hatte er ihm Mr. Stubbs empfohlen. „Inzwischen hast du dich bestimmt mit Mr. Stubbs in Verbindung gesetzt, nicht wahr, Dominic?“, fragte er. „Ich hoffe, seine Nachforschungen tragen Früchte. Falls nicht, dann solltest du die Vergangenheit auf sich beruhen lassen. Du kannst nicht mit dieser schweren seelischen Belastung weiterleben.“

„Das Schuldgefühl wird mich vermutlich nie verlassen“, sagte Dominic seufzend, „ganz gleich, welche Ergebnisse die Spurensuche zeitigen wird. Sollte sie indes nichts erbringen, werde ich meine Anwälte veranlassen, die Ehe annullieren zu lassen. Und dann werde ich mich wohl nach einer zweiten Ehefrau umsehen“, fügte er nicht sonderlich begeistert hinzu.

Edmond schaute in die Runde und ließ den Blick über die tanzenden Paare sowie die Mauerblümchen schweifen, die neben ihren Anstandsdamen saßen und darauf hofften, von einem Kavalier zum Tanzen aufgefordert zu werden. „Nun, unter den hier Anwesenden wirst du gewiss keine Nachfolgerin für Emily finden“, meinte Edmond, „es sei denn, dein Geschmack hat sich verschlechtert. Aber im Verlauf des Abends solltest du in den Spielsalon gehen.“

„Warum?“, wunderte sich Dominic und fragte sich, weshalb der Freund ihn so verschmitzt ansah. „Vielleicht befolge ich deinen Rat. Ist meine Tante bereits da?“

„Ja“, bestätigte Edmond. „Ich glaube, sie ist jetzt dort. Und das erinnert mich. Du hast noch nicht …“ Er unterbrach sich, weil er sah, dass Rebecca ihm mit einer Geste bedeutete, zu ihm zu kommen. „Entschuldige mich, bitte. Die Pflicht ruft. Wir reden später weiter. Noch besser wäre es, wenn du morgen Abend mit uns dinierst.“

„Ich gebe dir noch Bescheid“, erwiderte Dominic und schlenderte durch die Menschenmenge. Er beachtete die hoffnungsvollen Blicke nicht, die ältere Damen mit ledigen Töchtern ihm zuwarfen, und plauderte hin und wieder mit Bekannten. Nach geraumer Weile betrat er das an den Ballsaal grenzende Spielkabinett, hielt das Lorgnon vors Auge und nahm zur Kenntnis, wer an den Tischen saß. Keine der anwesenden jungen Damen war jedoch einen zweiten Blick wert. Offenbar hatte Edmond sich einen befremdlichen Scherz erlaubt.

Unvermittelt bemerkte Dominic die an einem Ecktisch sitzende Tante und begab sich zu ihr.

„Ach, du hast dich also doch entschlossen, herzukommen“, begrüßte Henrietta ihn. „Nun, da du hier bist, möchte ich dir Mrs. Stowen vorstellen. Emily, das ist Viscount Linford, mein ungeratener Neffe.“

Da Mrs. Stowen mit dem Rücken zur Tür saß, hatte Dominic ihr Gesicht noch nicht gesehen. Nach der wenig schmeichelhaften Einführung durch die Tante schaute er sie, als sie sich ihm zuwandte, betreten an, sprach jedoch die höfliche, ihm auf der Zunge liegende Bemerkung nicht aus. Vor ihm saß eine der schönsten Frauen, die er je getroffen hatte.

Sie hatte große grüne, von langen, gebogenen Wimpern umgebene mandelförmige Augen, in denen er flüchtig einen leicht verächtlichen Ausdruck zu erkennen wähnte. Er wunderte sich darüber, kam jedoch zu dem Schluss, er müsse sich getäuscht haben.

Lächelnd legte sie ihr Blatt verdeckt ab und reichte Henriettas Neffen die Hand. „Sehr erfreut, Mylord. Ihre Tante spricht so oft von Ihnen, dass ich den Eindruck habe, Sie seit langem zu kennen.“

„Und ich sage nichts Gutes über dich“, warf Henrietta ein, während Dominic Mrs. Stowen galant die Hand küsste. „Aber wie du weißt, sage ich immer die Wahrheit.“

„Ich kann stets davon ausgehen, Tante Henrietta, dass du mich irgendwie herabsetzt“, sagte er trocken und ließ widerstrebend die Hand der hinreißend gut aussehenden Mrs. Stowen los. „Sind Sie zum ersten Mal in der Stadt, Madam?“, erkundigte er sich neugierig.

„Nein, Mylord. Vor vielen Jahren war ich schon einige Male in London. Diesmal halte ich mich länger hier auf.“

„Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, Madam, dass wir uns bereits einmal irgendwo begegnet sind“, meinte Dominic und furchte leicht die Stirn.

Emily zuckte kurz mit den Schultern. „Das wäre denkbar“, räumte sie ein, „falls Sie häufig in Somerset sind. Ich führe dort in Bishops Lydeard, ganz in der Nähe von Taunton, ein sehr zurückgezogenes Leben.“

„Wie bedauerlich, nicht wahr, Dominic?“, schaltete Henrietta sich ein und lächelte ihn an. Im Stillen war sie sehr darüber erfreut, dass er ihre neue Freundin offensichtlich so anziehend fand. Im gleichen Moment nahm sie aus dem Augenwinkel die ihr zuwinkende Lady Somerville wahr. „Entschuldigt mich ein Weilchen“, fuhr sie rasch fort. „Lady Somerville möchte offensichtlich mit mir sprechen. In Gesellschaft meines Neffen hast du nichts zu befürchten, Emily. Rothaarige Frauen kann er nämlich nicht ausstehen“, setzte sie boshaft hinzu und schmunzelte, als er ihr einen erbosten Blick zuwarf.

Nachdem sie sich entfernt hatte, erkundigte er sich: „Gestatten Sie mir, Mrs. Stowen, Ihnen so lange Gesellschaft zu leisten, bis meine unverbesserliche Tante zurück ist?“

Emily nickte zustimmend.

Er setzte sich ihr gegenüber hin und war nicht fähig, den Blick von ihr zu wenden. Zwar war sie nicht die schönste Frau, die er je zu Gesicht bekommen hatte, sah jedoch mit ihrem schimmernd kastanienrotem, zu Locken frisiertem Haar überwältigend gut aus. Einen kleinen Makel hatte ihr Gesicht, den Dominic indes nicht als sehr störend empfand. Ihre Lippen waren leicht nach unten gebogen, so dass ihr Mund wie der eines schmollenden Kindes wirkte.

„Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie meine Tante noch nicht sehr lange kennen?“, erkundigte er sich leichthin.

„Ich bin ihr vor mehr als sechs Wochen zum ersten Mal begegnet“, antwortete Emily und trank einen Schluck Wein.

„Finden Sie ihre Scharfzüngigkeit und ihre bissigen Bemerkungen nicht irritierend?“

„Nein, denn auch ich drücke mich in der Regel ziemlich freimütig aus.“

Dominic war verdutzt und zog, während er Mrs. Stowen verwundert anschaute, erstaunt eine Augenbraue hoch. Es war verständlich, wenn jemand, der diese einen zerbrechlichen Eindruck machende Frau sah, auf den Gedanken kam, ein einziges harsches Wort könne sie einschüchtern. Das bewies wieder einmal, dass man nicht nach dem Äußeren urteilen durfte. „Wenn dem so ist, haben Sie sehr viel mit meiner Tante gemein“, erwiderte Dominic trocken.

„Es wäre richtiger zu sagen, dass sie und ich nur in bestimmten Dingen übereinstimmen“, entgegnete Emily gleichmütig, nippte wieder am Wein und musterte ihn dabei unverblümt. „Ihre Tante hat Sie sehr gern, Sir“, fuhr sie lächelnd fort. „Es vergeht kaum eine Stunde, in der sie nicht Ihren Namen im Munde führt.“

„Das muss schrecklich ermüdend für Sie sein!“

„Überhaupt nicht“, widersprach Emily. „Ich finde das, was sie mir über Sie berichtet, äußerst … erhellend. Wie ich schmunzelnd von ihr erfuhr, waren Sie vor kurzem im Ausland, nicht wahr?“

Mrs. Stowen hatte das Thema so jäh gewechselt, dass Dominic vermutete, die Bemerkung, sie finde die Äußerungen seiner Tante über ihn erhellend, müsse einen Hintersinn haben. Er verdrängte diesen Verdacht jedoch und bestätigte: „Ja, im vergangenen Jahr habe ich einige Monate in Paris gelebt.“

„Ich beneide Sie darum, Sir. Ich war nie außer Landes, würde jedoch sehr gern reisen, um all die Orte zu sehen, über die ich so viel gelesen habe. Und eines Tages werde ich das sicher tun, da ich jetzt nicht mehr verhindert bin.“

Dominic sah die Tante zurückkommen und erhob sich. „Darf ich Sie um die Ehre eines Tanzes bitten, Madam?“, fragte er höflich.

„Ich wäre entzückt“, antwortete Emily. „Zunächst muss ich jedoch so anständig sein, Ihrer Tante die Möglichkeit einzuräumen, ihre Verluste einigermaßen wettzumachen“, fügte sie lächelnd hinzu und wies auf die vor ihr auf dem Tisch liegenden Goldmünzen.

„Nun, dann bis später, Madam“, erwiderte Dominic, verneigte sich und kehrte in den Ballsaal zurück.

Henrietta setzte sich wieder zu Emily und fand, es sei eine glückliche Fügung der Umstände gewesen, dass Lady Somerville sie in einem so vielversprechenden Augenblick zu sich gebeten hatte. Die Situation hätte nicht besser sein können. „Hat mein Neffe dich gut unterhalten, meine Liebe?“, wollte sie wissen.

„Ja, einigermaßen“, antwortete Emily. „Ich glaube, du gibst.“

Henrietta griff nach den Karten, mischte sie und teilte sie aus. „Er ist heute in London eingetroffen“, erklärte sie. „Wenn du mich fragst, so war er bei seinen vermaledeiten Gören.“

Emily schaute von ihrem Blatt auf. „Was meinst du damit?“, fragte sie verständnislos.

„So bezeichne ich sie“, antwortete Henrietta und schnaubte. „Er ist verrückt! Er sammelt sie überall auf, nimmt sie zu sich, ernährt und kleidet sie und lässt sie auch noch erziehen. Man sollte es nicht für möglich halten, aber er nennt sie sogar seine Kinder. Er sollte sie da lassen, wo er sie findet! Aber nein, er doch nicht!“

Verblüfft starrte Emily ihr Gegenüber an. „Willst du mir allen Ernstes zu verstehen geben, dass er seine … dass er fremde Kinder mit nach Hause nimmt?“

„Nein“, antwortete Henrietta verächtlich und schüttelte den Kopf. „Er hat sie nicht bei sich, sondern in der Nähe von Linford Hall untergebracht, und zwar in Weston Manor, auf dem Anwesen, wo seine Gattin aufgewachsen ist.“

Emily war froh, dass Lady Barnsdale in diesem Moment den Blick auf ihr Blatt senkte. Es wäre peinlich gewesen, hätte Ihre Ladyschaft gesehen, dass sie verärgert die Lippen zusammenpresste.

„Ich war ziemlich überrascht, dass Dominic heute Abend hier erschienen ist“, fuhr Henrietta fort. „Als ich ihn nachmittags besuchte, war er sehr nachdenklicher Stimmung. Er hat nämlich beschlossen, einen weiteren Versuch zu unternehmen, um endlich herauszufinden, was aus seiner Gattin geworden ist.“

„Hattest du nicht erwähnt, sie sei tot?“

„Das nehme ich an“, antwortete Henrietta. „Welche Erklärung könnte es sonst dafür geben, dass sie ihn verlassen hat und nicht zu ihm zurückgekehrt ist?“

„Vielleicht liegt ihr nichts mehr an ihm“, erwiderte Emily.

„Wenn dem so ist, dann frage ich mich, was in aller Welt er tun soll, falls er sie ausfindig machen kann.“

„Scheidung wäre da wohl die beste Lösung.“

„Vielleicht“, räumte Henrietta achselzuckend ein. „Ich bin jedoch nicht sicher, ob er diesen Weg beschreiten wird. Aller Voraussicht nach würde er sie wieder zu sich nehmen und versuchen, mit ihr auszukommen.“

Emily lachte auf. „Nun, ich nehme an, zu diesem Punkt wird die fragliche Dame wohl auch etwas zu sagen haben, Henrietta. Ich entsinne mich, dass du mir erzählt hast, sie sei ein einfaches, sehr umgängliches Mädchen gewesen. Die Menschen verändern sich jedoch. Wäre es ihr Wunsch, zu deinem Neffen zurückzukehren, dann hätte sie das bestimmt längst getan. Vermutlich hat sie ein neues Leben begonnen, mit dem sie sehr zufrieden ist.“

„Du magst recht haben, Emily“, gestand Henrietta ihr zu und lächelte sie herzlich an. „Ich werde mich ihr stets verpflichtet fühlen. Nach ihrem Verschwinden hat er sich sehr geändert, beinahe über Nacht. Früher war er ein sorgloser Tunichtgut, und heute ist er einfühlsam und rücksichtsvoll. Emily hat ihn unwissentlich zu dem gemacht, was er jetzt ist, aber das wird sie wahrscheinlich nie erfahren. Leider ist er jedoch noch so eigensinnig und stur wie zuvor, und diese Untugenden sind seit Generationen für die männlichen Carltons charakteristisch. So herzlos das Folgende auch klingen mag, aber ich würde mich viel wohler fühlen, wenn sich herausstellte, dass seine Frau gestorben ist.“

„Ich finde, Hetta, dass du dir unnötig Sorgen machst“, erwiderte Emily. „Offensichtlich hast du den Spaß am Kartenspiel verloren, denn ich habe schon wieder gewonnen. Daher schlage ich vor, dass wir uns in den Ballsaal begeben.“

Dominic hatte sich eine Weile mit Charles unterhalten und bemerkte, dass seine Tante und Mrs. Stowen den Salon verließen.

„Du hast die geheimnisvolle Mrs. Stowen offenbar schon kennen gelernt“, sagte Charles, nachdem ihm aufgefallen war, dass der Freund die hübsche Witwe mit Blicken verfolgte. „Sie ist hinreißend, nicht wahr? Seit sie in der Stadt ist, hat so mancher Mann Herzklopfen bekommen. Sie ist jedoch an keinem interessiert.“

Dominic wandte die Augen von ihr ab und richtete sie auf den Freund. „Wieso bezeichnest du sie als geheimnisvoll?“

„Nun, niemand scheint Genaueres über sie zu wissen, mein Junge“, antwortete Charles. „Mir ist auch der Name Stowen nie irgendwo untergekommen. Ich bin überzeugt, sie hat es faustdick hinter den Ohren. Irgendwie erinnert sie mich an einen Eisberg.“

„Ich finde sie charmant und nicht im Mindesten kalt.“

„Ich rede nicht über Gefühlskälte, Dominic“, entgegnete Charles. „Von Eisbergen sieht man bekanntlich nur die Spitze und weiß nicht, was noch unter der Wasseroberfläche ist. Genau so kommt mir Mrs. Stowen vor.“

„Ihre Wirkung beruht wahrscheinlich darauf, dass sie verwitwet ist und sich für verwundbar hält. Daher gibt sie sich Fremden gegenüber zurückhaltend und wachsam.“

„Du könntest recht haben“, räumte Charles ein und schüttelte dann den Kopf. „Ich war jedoch etliche Male mit ihr zusammen und weiß dennoch so gut wie nichts über sie. Und noch etwas“, fügte er rasch hinzu, damit Dominic sie nicht sofort wieder in Schutz nehmen konnte. „Die Art, wie sie mit deiner Tante Bekanntschaft gemacht hat, war höchst seltsam. Als Hetta eines Nachmittags eine Ausfahrt in den Park unternommen hat, ist Mrs. Stowen vor der Kutsche in Ohnmacht gefallen. Das kam und kommt mir ziemlich beabsichtigt vor.“

„Wüsste ich es nicht besser, Charles, würde ich sagen, dass du eifersüchtig auf sie bist“, erwiderte Dominic belustigt. „Befürchtest du vielleicht, du könntest deine Position als bester Freund meiner Tante einbüßen?“

„Keineswegs!“, antwortete Charles vehement. „Hetta und ich sind seit vielen Jahren befreundet, und nur das, ganz gleich, was die Leute über uns reden mögen. Ich habe deine Tante sehr gern und möchte nicht, dass jemand ihr Kummer bereitet. Sie ist verletzbarer, als du wahrscheinlich denkst. Unerklärlicherweise hängt sie sehr an Mrs. Stowen, vielleicht deshalb, weil sie keine Kinder hat. Ich glaube, sie betrachtet sie als eine Art Tochterersatz.“

Diese Äußerungen stimmten Dominic nachdenklich, da auch er nicht wollte, dass jemand die Tante unglücklich machte. Da sie jedoch über eine gute Menschenkenntnis verfügte, hatte er nicht die Absicht, sich in ihre persönlichen Angelegenheiten zu mischen. Außerdem sah er im Gegensatz zu Charles Mrs. Stowen in einem ganz anderen Licht.

Das bedeutete indes nicht, dass er auf ein Paar schöner grüner Augen hereinfallen würde. Schließlich war er vernünftig und hatte zudem hinreichend Erfahrung mit Frauen.

Einige Minuten später, als die Tante sich zu Charles und ihm gesellte und ihnen mitteilte, Mrs. Stowen habe Kopfschmerzen bekommen und sei nach Hause gefahren, fragte er sich indes, warum er plötzlich das Gefühl hatte, vom Rest des Abends nichts mehr erwarten zu können. Es dauerte nicht lange, bis er sich von den Gastgebern verabschiedete und heimbegab.

2. KAPITEL

Befremdet schaute Peplow den schäbig aussehenden Mann an, der die erst vor kurzem gefegte Haustreppe heraufkam. Wäre ihm nicht von Seiner Lordschaft mitgeteilt worden, er erwarte gegen Mittag Besuch, der unverzüglich zu ihm vorgelassen werden solle, dann hätte er diesen Menschen, der offensichtlich niedrigen Standes war, auf der Stelle aufgefordert, den Dienstboteneingang zu benutzen.

Die vielen Jahre, die er im Dienst der Herrschaft stand, hatten indes Spuren hinterlassen, so dass er selbstverständlich Lord Linfords Anweisung befolgte. Er führte Mr. Stubbs, der eine gebrochene Nase zu haben schien, zur Bibliothek, kündigte ihn an und ließ ihn eintreten. Nachdem Seine Lordschaft den Mann begrüßt und ihn zum Platznehmen aufgefordert hatte, servierte Peplow dem Gast ein Glas Cognac und zog sich dann diskret zurück.

Flüchtig musterte Dominic den früheren Konstabler und nahm sogleich dessen scharfsinnigen Blick wahr. Er nahm an, dass der Besucher ihn einer ebenso kurzen, aber intensiven Prüfung unterzog.

„Sie werden meinem Brief entnommen haben, Sir, dass die Aufgabe, die zu übernehmen ich Sie bitte, ein unglaublich schwieriges Unterfangen sein wird“, kam er auf sein Anliegen zu sprechen. „Ich gebe ehrlich zu, dass ich kaum mit einem positiven Ergebnis rechne.“

Schweigend griff Henry Stubbs in die Jackentasche und zog ein Notizbuch heraus. Er öffnete es, blickte auf seine Eintragungen und erwiderte: „Lassen Sie mich die Fakten rekapitulieren, Mylord. Ihre sehr junge Gattin ist vor etwa sechs Jahren gleich nach der Hochzeit spurlos verschwunden. Ihrer Ansicht nach hat sie Ihren Stammsitz abends verlassen. Ihre Abwesenheit wurde jedoch erst am folgenden Nachmittag festgestellt.“

„Ich weiß, es hört sich seltsam an, Mr. Stubbs, aber wenn ich Ihnen sage, dass meine Gemahlin ein sehr introvertiertes Wesen hat und sich meistens in ihrem Boudoir aufhielt, dann werden Sie vielleicht verstehen, warum ihr Verschwinden erst so spät bemerkt wurde. Ihre Zofe hatte sie zwar nicht in ihren Räumen angetroffen, doch da das Bett aussah, als sei darin geschlafen worden, war zunächst niemand alarmiert. Miss Matilda Cartland, eine damals in Linford Hall wohnende entfernte Cousine von ihr, meinte, Emily sei wahrscheinlich nur im Park spazieren gegangen. Als meine Gattin am Spätnachmittag noch nicht im Haus war, wurde Matilda unruhig und hat veranlasst, dass nach Emily gesucht wurde. Ich bin der Meinung, dass meine Frau nicht in ihrem Bett geschlafen, sondern am frühen Abend unbemerkt das Haus verlassen hat. Ich habe keine Ahnung, wo sie die Nacht verbracht hat. Am nächsten Tag wurde sie in der Frühe von einem Fuhrmann kurz hinter Farnborough bis nach London mitgenommen, wo er sie am späten Abend in Holborn abgesetzt hat. Er hat ausgesagt, sie habe an der Straßenecke mit einem Mann gesprochen und sei danach in westlicher Richtung weitergegangen. Seither ist sie nicht mehr gesehen worden.“

„Hatte sie in London lebende Verwandte oder Freunde?“, erkundigte sich Mr. Stubbs.

„Ja, ziemlich viele. Ihr Vater hatte jedoch keinen Kontakt zu seiner Familie. Ich weiß, dass sie keinen ihrer Angehörigen aufgesucht hat. Sie hat auch nicht versucht, sich mit ihrer Mutter in Verbindung zu setzen, die zu jener Zeit in Irland war. Ich habe meiner Schwiegermutter geschrieben, und als sie mir endlich antwortete, versicherte sie mir, sie habe ihre Tochter seit dem Tag vor zwölf Jahren, als sie Weston Manor, das Haus ihres früheren Gatten, verlassen hatte, nicht mehr zu Gesicht bekommen. Emily hat sich auch nicht bei Lady Torrington eingefunden, der damals in London wohnenden, mittlerweile verstorbenen älteren Schwester ihrer Mutter. Es ist unwahrscheinlich, dass meine Gattin überhaupt von der Existenz ihrer Tante wusste, da Lady Torrington, wiewohl ihr ganz im Gegensatz zu ihrer Schwester sehr viel am Wohlergehen ihrer Nichte lag, keinen Umgang mehr mit ihr hatte, seit Emily vier Jahre alt war.“

„Wenn wir berücksichtigen, dass Ihre Gemahlin in den westlichen Teil der Stadt gegangen ist, dürfen wir wohl mit Sicherheit annehmen, Mylord, sie habe Sie hier in Ihrer Residenz aufsuchen wollen“, warf Henry Stubbs ein.

„Natürlich ist mir diese Möglichkeit in den Sinn gekommen“, gab Dominic zu. „Emily ist indes nie hier eingetroffen, falls sie mich tatsächlich aufsuchen wollte. An jenem Abend habe ich das Haus um elf Uhr abends verlassen und bin erst am folgenden Morgen zurückgekehrt. Mein Butler hat mir glaubwürdig versichert, dass in der Zwischenzeit niemand vorstellig geworden sei.“

Henry schaute auf seine Notizen und äußerte nach einem Moment: „Sie haben mir erzählt, dass die Konstabler mit diesem Fall befasst waren, jedoch ergebnislos. Außerdem hätten Sie überall im Land Suchanzeigen in den Zeitungen veröffentlichen und eine hohe Belohnung für Informationen ausloben lassen, die zum Aufenthaltsort Ihrer Gattin führen würden.“

„Das ist richtig“, bestätigte Dominic. „Es gab einige Kontaktaufnahmen, die sich jedoch samt und sonders als verlogen erwiesen. Im Verlauf der weiteren Monate begann ich zu glauben, Emily müsse tot sein, und dennoch kann ich mich mit diesem Gedanken nicht abfinden. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist sie nicht mehr am Leben, aber dafür möchte ich einen stichhaltigen Beweis haben. Ich bin ein Einzelkind und möchte, um den Fortbestand meines Namens zu sichern, einen Stammhalter haben.“

„Das ist verständlich, Mylord. Wie Sie sagten, wird es nach all diesen Jahren keine einfache Aufgabe sein, Ihre Gemahlin ausfindig zu machen. Herausforderungen dieser Art reizen mich jedoch sehr. Ich werde zu meinen früheren Kameraden ins Hauptquartier gehen und in Erfahrung bringen, ob einer von ihnen sich an diesen Fall erinnert. Zunächst möchte ich mir indes einige Einzelheiten notieren. Wie alt war Ihre Gattin bei ihrem Verschwinden, Sir?“

Autor

Anne Ashley
Die Engländerin schreibt historical romances und entspannt sich gerne in ihrem Garten. Diesen hat sie bereits öfter zugunsten des Fondes der Kirche in ihrem Dorf der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
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