Emma - Endlich vom Glück umarmt

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Emma fällt ein Stein vom Herzen. Auf dem illustren Ball von Lady Jersey umschwärmen die Gentlemen ihre bildhübsche Schwester. Wenn sie eine gute Partie macht, ist ihre Familie vor dem Ruin gerettet. Doch ausgerechnet der Frauenheld Charles Hawthorne umwirbt die junge Unschuld. Das kann Emma nicht zulassen! Beherzt stellt sie sich ihm in den Weg - und landet selbst in den Armen des unwiderstehlichen Verführers ...


  • Erscheinungstag 11.05.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733767112
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL
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Interessiert blickte sich Ms. Emma Stockton in Lady Jerseys Ballsaal um, in dem sich die Gäste drängten. Viele tanzten, noch mehr unterhielten sich. Jeder, der im ton eine Rolle spielte, war anwesend. Es war eine illustre Gesellschaft.

Amy, ihre jüngere Schwester, die neben ihr stand, sagte lebhaft: „Schau, Emma, da ist Ms. Julia. Kann ich zu ihr gehen? Sie ist mit ihrer Mutter hier.“

Mit einem Blick in die angegebene Richtung antwortete sie: „Ja, Amy, nur vergiss nicht, wenn ein Herr dich zum Tanz bittet, darfst du ihm nicht mehr als zwei Tänze gewähren, und die nicht hintereinander. Und auf keinen Fall Walzer.“

Amy zog einen Schmollmund, nickte jedoch im Fortgehen.

Bekümmert sah Emma ihr nach. Mittlerweile hatte sie den Eindruck, als könnten sie nicht ein einziges Mal ausgehen, ohne dass ihre Schwester die gesellschaftlichen Regeln des ton missachtete.

Die Luft im Saal war erstickend. Seufzend wedelte Emma mit dem zierlichen Fächer aus Elfenbein und lavendelblauer Seide, der einst ihrer Mutter gehört hatte. Sie beschloss, eine Erfrischung zu sich zu nehmen, und schlenderte ein wenig weiter in den Saal hinein. Plötzlich entdeckte sie ihn – den Ehrenwerten Charles Hawthorne. Obwohl ihrer Ansicht nach nichts Ehrenwertes an ihm war.

Er bewegte sich mit einer nur wenigen Männern eigenen eleganten Geschmeidigkeit. Seine dunkelblauen Augen zeigten meistens einen maliziösen Ausdruck. Er hatte pechschwarzes, glänzendes Haar, das er kurz geschnitten trug, was seine maskuline Ausstrahlung betonte. Der hervorragend sitzende Abendfrack betonte seine breiten Schultern. Er war der Traum jeder jungen Dame.

Ein Jammer nur, dass er ein Frauenheld der schlimmsten Sorte war. Und noch schlimmer, er stellte Amy derart nach, dass deren Ruf garantiert ruiniert sein würde, ehe noch ein passender junger Mann um sie anhalten konnte – was unbedingt notwendig war, denn ihrer beider Bruder, ebenso wie ihr Vater, verspielten das wenige, was vom Familienvermögen noch vorhanden war, und verkauften, ständig von Gläubigern verfolgt, ein Stück Land nach dem anderen. Gewiss wäre die Lage anders, hätte sie, Emma, ihr Verlöbnis mit Lord George Hawthorne, dem älteren Bruder Charles Hawthornes, nicht gelöst.

Während sie ihn noch betrachtete, wandte Charles Hawthorne sich um, als habe er ihre Aufmerksamkeit gespürt, und sah ihr ins Gesicht. Emma rann ein leichter Schauer über den Rücken – düstere Vorahnung, sagte sie sich, nichts sonst.

Als sie sah, dass er auf sie zukam, verharrte sie eisern, wenn sie auch lieber die Flucht ergriffen hätte, um der Faszination zu entgehen, die er auf sie ausübte. Emma besaß jedoch eine innere Stärke, die sie zu verharren und sich ihm entgegenzustellen zwang. Sie wollte die Gelegenheit nutzen, dem Mann endlich deutlich zu sagen, dass er sich ihrer Schwester nicht mehr nähern möge. Ehe sie sich völlig gefasst hatte, stand er schon vor ihr.

„Ms. Stockton“, murmelte er gedehnt, während er sich elegant vor ihr verbeugte. „Welch eine Freude, Sie hier zu sehen.“

Sie verzog das Gesicht, doch es gelang ihr, hoheitsvoll den Kopf zu neigen. Ihr wurde die Kehle eng – ob wegen seiner Anziehungskraft oder aus Abneigung, war ihr nicht klar –, und sie brachte es nicht über sich, mehr zu entgegnen als nur ein kühles „Mr. Hawthorne“.

Als könne er ihre Abneigung verstehen, verzog er spöttisch lächelnd den schönen Mund. „Ich hoffe, Ms. Amy ist auch hier?“

Röte stieg ihr vom Hals bis in die von Sommersprossen übersäten Wangen und verriet so ihren Ärger. Emma verwünschte ihren hellen Teint. „Amy ist hier, unter meinem Schutz. Ich wünsche nicht, dass Sie sich ihr nähern.“

Sein Lächeln wurde berechnend. „Natürlich nicht, das dachte ich mir.“

„Sie würden wohl nicht erwägen, die Gesellschaft zu verlassen?“ Im selben Moment bereute sie die Worte. Sie ließen sie schwach erscheinen, so, als traute sie sich nicht zu, ihre Schwester zu zügeln.

„Ich könnte, aber ich will nicht – noch nicht. Später vielleicht. Es gibt Etablissements, in denen meine Gegenwart höher geschätzt wird.“

Vor Entrüstung verschlug es ihr fast die Sprache. „Ein Gentleman würde solche Andeutungen in Gegenwart einer Dame nicht machen.“

„Ganz sicher halten Sie mich nicht für einen Gentleman.“

„Nein, gewiss nicht.“

„Dann verstehen wir uns ja.“

Sie setzte zu einer schneidenden Antwort an, doch in dem Moment gesellte sich Lady Jersey zu ihnen. „Hier sind Sie also, Charles.“ Sie schenkte Emma ein huldvolles Lächeln. „Und Sie, Ms. Stockton. Ich freue mich, dass Sie kommen konnten. Ihre Schwester sah ich drüben bei Julia Thornton.“

„Mylady, ich danke Ihnen für die Einladung.“ Emma knickste höflich vor der Dame, die eine der Patronessen von Almack’s war, dem begehrtesten Heiratsmarkt des ton.

Mit Lady Jersey wollte es sich niemand verderben.

Den Dank mit einer sprechenden Geste abwehrend, bat Lady Jersey: „Wenn Sie uns bitte entschuldigen wollen, Ms. Stockton? Ich muss etwas mit Mr. Hawthorne erörtern.“

Emma zog sich mit einem gezwungen freundlichen Lächeln zurück. Sie hoffte, die Dame würde Charles Hawthorne nicht nur den Zutritt zu Almack’s verwehren, sondern ihn auf der Stelle hinauswerfen. Das wäre besser für Amy, die noch viel zu jung und leichtfertig war, um gegen ihre Wünsche bezüglich dieses elenden Mannes anzukämpfen. Doch ein Blick auf Lady Jerseys heitere Miene belehrte sie, dass sie enttäuscht werden würde. Auch diese Dame, die nicht mehr ganz jung war, schien von dem unwiderstehlichen Charme des Mannes entzückt.

Emma schnaubte angewidert.

Charles ließ sich von Lady Jersey fortziehen, doch hatte er Emma lange genug im Auge behalten, um ihre Reaktion noch zu sehen. Beinahe hätte er gelacht.

„Nun, Charles Hawthorne“, fuhr Lady Jersey fort, „ich hörte, Ihre Geschäfte machten Sie zu einem reichen Mann. Wie lange führen Sie sie nun schon? Ein Jahr? Zwei?“

„Zwei, Mylady, nur sollten Sie das Thema eigentlich nicht ansprechen. Handel ist so unfein.“

Sie schürzte die Lippen, doch ihre Augen lachten. „Wenn ich ein so prüdes Ding wäre wie die kleine Stockton, würde ich es vermutlich Ihnen gegenüber nicht erwähnen – deren jüngerer Schwester stellen Sie im Übrigen sehr unverfroren nach! Wie ich zugeben muss, ermutigt die Kleine Sie allerdings schamlos. Um auf Ihre Einkommensquelle zurückzukommen: Ich kenne die Welt und habe inzwischen gelernt, dass man manchmal, um zu überleben, Dinge tun muss, die der Gesellschaft inakzeptabel erscheinen.“

„Ah, also hat die Erfahrung auch ihre Vorzüge und Freuden.“ Der Blick, den er ihr schenkte, sprach Bände.

Was nur selten jemandem gelang, gelang ihm, er brachte sie zum Erröten. „Sie sind ein loser Vogel, Charles Hawthorne. Aber schrecklich charmant.“ Sie versetzte ihm einen leichten Schlag mit ihrem geschlossenen Fächer. „Ich bringe es einfach nicht über mich, Ihnen unsere Räume zu verschließen – trotz Ihrer unüblichen Methoden, Ihr Nest zu polstern. Aber nehmen Sie sich in Acht, manche Leute sähen Sie nur zu gern draußen vor der Tür. Leute, die nicht bereit sind, die anrüchige Aura des Handels, die Sie umgibt, nur um des guten Namens Ihrer Familie und Ihrer persönlichen Attraktivität willen zu übersehen. Wären Sie eine Frau, wäre ihr Schicksal schon besiegelt.“

„Welch ein Glück für alle Beteiligten, dass ich ein Mann bin“, murmelte er.

Sie schlug ihn abermals mit dem Fächer.

Sich tief verneigend, fuhr er fort: „Aber Sie sind nicht engstirnig, und ich danke Ihnen, dass Sie mir die Stange halten. Wie langweilig wäre das Leben ohne meine Mittwochsbesuche bei Almack’s.“

Lachend entgegnete sie: „Sehen Sie sich vor, mein hübscher junger Mann, dass Ihr Sarkasmus nicht Ihre süßen Worte übertönt.“

„Werde ich“, versprach er, ebenso amüsiert wie sie. „Möchten Sie tanzen? Man spielt gerade einen Walzer.“

Anerkennend blinzelte sie ihn an. „Vielleicht. Es würde mein Ansehen als Frau heben.“

Er hörte den unterschwelligen Zynismus in ihren Worten. „Ihr Ansehen hat das nicht nötig, Lady Jersey. Meines dagegen sehr.“

„Hübsch gesagt.“ Königlich herablassend neigte sie den Kopf. „Ich denke, ich werde Sie nach Kräften unterstützen“, fügte sie hinzu, legte ihre Fingerspitzen auf seinen dargebotenen Arm und ließ sich aufs Parkett führen. Mehrere Leute wandten sich nach ihnen um, einige lächelten billigend, doch er bemerkte, dass Emma Stockton nicht dazugehörte. Wenn schon. Er war nicht auf der Welt, um ihr zu gefallen. Eigentlich war es eher umgekehrt. Sie bereitete ihm immer wieder größtes Vergnügen, wenn sie gereizt wie ein Stier auf sein Benehmen ihrer Schwester gegenüber reagierte. Da alle anderen Frauen ihn anhimmelten, empfand er Emmas Missbilligung nachgerade wie einen frischen Windhauch. Während er Lady Jersey anlächelte, war er in Gedanken bei einer gewissen rotblonden jungen Dame.

Ebendiese Dame staunte gerade über sein Geschick, mit der Weiblichkeit umzugehen. Ohne sichtbare Mühe bezauberte er eine der wichtigsten Frauen der Londoner Gesellschaft. Wie konnte man erwarten, dass die unerfahrene Amy einem Mann widerstand, der eine Frau von Lady Jerseys Alter und Erfahrung um den Finger wickeln konnte?

Als er Lady Jersey zum Tanz führte, wäre Emma beinahe der Mund offen stehen geblieben. Er war wirklich unverfroren. Wenn die Gerüchte stimmten – und Emma hatte feststellen müssen, dass in fast jedem Gerücht ein Körnchen Wahrheit steckte –, ging er mit seinem Geld ebenso sorglos um wie mit Frauen.

Unfähig, den Blick abzuwenden, beobachtete sie das Paar. Was sie auch von dem Mann halten mochte, sie musste sich eingestehen, dass er unwiderstehlich aussah. Ihr entschlüpfte ein Seufzer. Für jemanden wie sie oder ihre Schwester war er nicht bestimmt.

Emma zwang ihre Aufmerksamkeit in eine andere Richtung. Glättend strich sie über ihr lavendelblaues Abendkleid aus schwerer Seide, das sie nach dem Tod ihrer Mutter vor einigen Jahren erworben hatte, weil der schlicht-elegante Schnitt ihrer Halbtrauer angemessen war. Zwar entsprach es nicht der aktuellen Mode, doch glücklicherweise passte der dezente Farbton zu ihrem Teint und dem rotblonden Haar. Mehr Zugeständnisse machte sie allerdings nicht an ihr Aussehen. Bisher hatte sie auch nur einen Heiratsantrag bekommen, die Verlobung jedoch gelöst, als ihr Bräutigam ganz offen mit einer anderen Frau ein Verhältnis begann. Natürlich hielten viele Männer eine Mätresse aus, nur gingen sie üblicherweise diskreter vor als ihr damaliger Verlobter.

Insgeheim hatte Emma längst beschlossen, eine Stellung als Gouvernante anzutreten, sobald Amy respektabel verheiratet war. An Erziehung mangelte es ihr nicht, und sie würde für ihren Lebensunterhalt selbst sorgen müssen, denn bis dahin hatten Vater und Bruder bestimmt den letzten Penny im Glücksspiel verschleudert.

Sie sah sich nach Amy um, und als sie sie inmitten einer Gruppe junger Leute entdeckte, die sich alle außerordentlich zu amüsieren schienen, beschloss sie, sich endlich eine Erfrischung zu gönnen.

Während sie sich ein Glas Punsch einschenkte, hörte sie, dass der Walzer endete. Ohne dass es ihr wirklich bewusst war, hielt sie im Ballsaal nach Charles Hawthorne Ausschau. Gerade verneigte er sich vor Lady Jersey und küsste ihr, die lachend zu ihm aufblickte, die Hand. Dann gesellte er sich der Gruppe um Amy zu. Das junge Mädchen empfing ihn sogleich mit einem strahlenden Lächeln. Amy mit ihren vollen roten Lippen, den blitzenden blauen Augen und den goldenen Locken schien im warmen Glanz der vielen Kerzen förmlich zu glühen. Hawthorne nahm ihre ihm dargebotene Hand und hob sie an seinen Mund.

Einen winzigen Moment hatte Emma die Illusion, als spürte sie den Druck seiner Lippen auf ihrer eigenen Haut, dann schüttelte sie das irritierende Gefühl ab und näherte sich dem Paar. Schließlich übte sie die Pflicht einer Anstandsdame aus. Doch leider musste sie machtlos zusehen, wie die beiden zur Tanzfläche schritten. Wütend biss sie sich auf die Lippe. Nun konnte sie nur noch abwarten – und ein Dankgebet sprechen, dass es zumindest kein Walzer war, der für eine junge Dame in ihrer ersten Saison als zu gewagt galt.

Ungeduldig klopfte sie mit der Fußspitze den Boden, während sie darauf wartete, ihre Schwester wieder in Empfang zu nehmen. Als die Musik dann verstummte, schritt das Paar jedoch zu einer der hohen Fenstertüren, die ins Freie führten. Wenn das nicht typisch Amy war! Oder auch Mr. Hawthorne! Wut flammte in Emma auf, weil ihre Vorschriften immer wieder von den beiden missachtet wurden. Sie würde das Paar nicht rechtzeitig einholen können, es würde viel länger als schicklich dort draußen allein sein. Wer weiß, ob sie es überhaupt fand, denn soweit sie sich erinnerte, war Lady Jerseys wunderschöner Garten sehr weitläufig.

Charles geleitete das kleine Biest hinaus in die kühle Nachtluft. Mit glänzenden Augen schaute Amy durch dichte lange Wimpern zu ihm auf, während ihr Lächeln ein Grübchen in ihre Wange zauberte. Natürlich hätte er ablehnen sollen, sie ohne Anstandsdame zu begleiten, doch Amy Stockton machte ihn neugierig. So erfahren er auch war – und er war außerordentlich erfahren –, gelang es ihr doch immer wieder, ihn mit ihrer ungebändigten Art zu amüsieren. Oft genug überschritt sie die feine Linie zwischen Schicklichkeit und Ungehörigkeit, ohne sich anscheinend etwas aus den Konsequenzen zu machen.

Dann war da noch Emma Stockton. Es erheiterte ihn ungemein, Amys ältere Schwester vor Zorn schäumen zu sehen, wenn sie vergeblich versuchte, diesem Küken die Flügel zu stutzen.

Er führte Amy zu einer hübsch verschnörkelten Bank noch nah genug beim Ballsaal, dass das Licht aus den Fenstern sie beleuchtete. An der steinernen Balustrade dahinter rankten sich Damaszenerrosen empor und verströmten ihren Duft in die warme Sommernacht.

„Was kann ich für Sie tun, Ms. Amy? Anscheinend etwas sehr Geheimes, sonst hätten wir uns nicht hierherbegeben müssen.“

Sie lächelte spitzbübisch. „Also … Sie sind ein Lebemann, und Sie missachten doch ständig die Konventionen …“

Während er nickte, fragte er sich, wohin das führen sollte und ob er sich nicht besser höflich zurückziehen sollte, ehe diese Eskapade ausartete. Nicht einmal er würde ein Mädchen kompromittieren, das gerade aus dem Schulzimmer entlassen war.

„Das stimmt natürlich, aber es heißt nicht, dass ich Ihr Schoßhündchen bin, das hüpft, wenn Sie pfeifen.“

Sie setzte sich und klopfte mit der Hand einladend neben sich auf die Bank, doch er schüttelte den Kopf und stützte einen elegant beschuhten Fuß gegen den Sockel der Balustrade. „Nein danke, besser nicht.“

Schmollend sagte sie: „Aber Sie müssen näher kommen, sonst können Sie mich nicht verstehen.“

„Ihre Kühnheit erstaunt mich, Ms. Amy. Wissen Sie nicht, dass wohlerzogene junge Damen Männern meines Rufes fernbleiben sollten?“

„Ach, pah! Als ob ich mich darum scherte! Ich bin nach London gekommen, um mich zu amüsieren.“

„Und einen passenden Gatten zu finden.“

„Sie kämen dafür hervorragend infrage.“

Er schüttelte den Kopf, während er sich fragte, auf was er sich hier eingelassen hatte. „Ich denke nicht daran, zu heiraten, und schon gar nicht ein so junges Mädchen wie Sie.“

„Sie sind nicht sehr galant!“

„Ich bin nur offen und ehrlich.“

„Und warum folgen Sie jedem meiner Winke?“

Einen Moment überlegte er. „Aus reinem Vergnügen. Wissen Sie, so wie Sie bin ich ebenfalls sehr verzogen und daran gewöhnt, dass alles nach meiner Nase geht.“

„Sehen Sie!“, rief sie triumphierend. „Darum weiß ich auch, dass Sie für das, was ich vorhabe, genau der Richtige sind!“

Er hob fragend eine Braue.

„Es ist nämlich so!“, rief sie aufgeregt. „Heute Nacht gibt es ein Maskenfest, und ich möchte unbedingt hin.“

„Dann gehen Sie doch.“

„Seien Sie nicht dumm. Ich brauche eine Begleitung.“

„Bitten Sie Ihre Schwester.“

„Um was?“, sagte Emma Stockton.

So eisig war ihre Stimme, dass Charles sofort beschloss, zu sehen, wie weit er die junge Dame reizen konnte. Diesen Zeitvertreib genoss er stets nur zu sehr.

Er wandte sich zu ihr um und musterte sie, während sie herankam. Die Stirn düster umwölkt, blieb sie kaum einen Fuß vor ihnen stehen. Zornig presste sie ihren sonst so vollen blassrosa Mund zu einem schmalen Strich zusammen. Charles war entzückt. Immer wieder wunderte er sich darüber, wie er auf sie reagierte. Sie war weder üppig noch eine ausgesprochene Schönheit, aber sie war auffallend, fand er, und aus irgendeinem ihm unbekannten Grund – den er auch gar nicht erforschen wollte – verlangte es ihn immer wieder danach, sie zu reizen und zu provozieren.

„Ihre entzückende Schwester hat Pläne für den späteren Abend, und ich empfahl ihr, sich an Sie zu wenden.“ Er sprach bewusst leise und gelangweilt, denn das würde sie irritieren. Zumindest war es bisher immer so gewesen.

Emma wandte sich an ihre Schwester: „Amy?“

Die Jüngere warf ihr einen wütenden Blick zu, dann sah sie Charles flehend an. „Wirklich, Emma, es ist belanglos. Mr. Hawthorne macht aus einer Mücke einen Elefanten.“

Beinah hätte Charles staunend den Kopf geschüttelt. Stattdessen lachte er. Er konnte einfach nicht anders. Dieses Mädchen war ein kleines Biest, und die Frau, die sie in Zaum halten sollte, war überfordert. Fast musste man Emma Stockton bedauern.

„Was ist so amüsant, Mr. Hawthorne?“, fragte Emma mit gifttriefender Stimme. „Meiner Ansicht nach ist diese Situation an der Grenze des Schicklichen. Aber ich nehme an, das wissen Sie durchaus und tun trotzdem, was Ihnen gefällt. Das muss ein Familienmerkmal sein.“

Ihr Sarkasmus, der ins Schwarze traf, ernüchterte ihn. „Wären Ihre Worte ein Degen, Ms. Stockton, hätten Sie gerade einen ordentlichen Treffer gelandet.“

„Ich weiß.“

„Ach, hackt doch nicht so aufeinander herum“, warf Amy ein. „Ihr verderbt mir den Abend. Eigentlich sollte ich mich vergnügen, aber wenn man euch hört, ist es nur schrecklich.“

Charles konnte den Blick einfach nicht von Emma abwenden. Sie war nahe daran, die Fassung zu verlieren. Ihre Wangen färbten sich dunkel, und ihre grauen Augen schienen zu glühen. Plötzlich machte es ihm keinen Spaß mehr, sie zu provozieren.

Während er sich leicht verneigte, sagte er: „Ich habe noch etwas vor, meine Damen. Genießen Sie den restlichen Abend.“

Ohne sich noch einmal umzusehen, ging er davon, froh, Emma Stocktons Ausbruch nicht mehr sehen zu müssen.

Selbst er, der diese langweilige Saison dadurch aufzulockern suchte, dass er Ms. Stockton reizte und in Zorn brachte, wollte nicht dabei sein, wenn der Vulkan ausbrach.

Dass Charles Hawthorne sich entfernte, löste in Emma unwillkürlich das Gefühl eines Verlustes aus, alle Wärme schien aus ihrem Körper geflohen, nur die kalte Wut auf ihn und ihre Schwester blieb zurück.

„Amy, du weißt, du solltest nicht mit einem Mann wie Hawthorne allein bleiben. Denk an deinen Ruf!“, sagte sie scharf.

Trotzig hielt Amy dem Blick ihrer Schwester stand. „Was war schon dabei? Die Türen zum Saal sind offen, und …“, sie machte eine umfassende Geste über den Garten hin, „… überall auf den Wegen hier draußen spazieren Leute. Es wäre schon nichts passiert.“

Emma überlegte, ob sie selbst je so hartnäckig auf ihren Zielen beharrt hatte, ohne die Folgen zu bedenken. Sie meinte, nein. Immer schon hatte sie sich für die liebe Familie verantwortlich gefühlt und ihrer Mutter stützend zur Seite gestanden. Bei der Erinnerung daran verblasste ihr Ärger.

Sanft sagte sie: „Amy, darum geht es nicht. Es gehört sich einfach nicht. Junge Mädchen verlassen nicht ohne Begleitung mit Männern wie Charles Hawthorne den Saal.“

„Wir wären beinahe Schwager und Schwägerin geworden. Das ändert es doch sicher.“

Vorwurfsvoll entgegnete Emma: „Als wenn du es nicht besser wüsstest! Natürlich, wenn ich Lord Hawthorne geheiratet hätte, sähe es anders aus. Außerdem verzeiht die Gesellschaft einem Mann vieles, was sie einer Frau nie verzeihen würde. Das darfst du nie vergessen.“

„Pah!“

Amy versuchte, ihrer Schwester zu entwischen, doch Emma hielt sie rasch am Arm fest. „Was genau hattest du mit Charles Hawthorne zu besprechen?“

Amy warf den Kopf in den Nacken und versuchte gleichzeitig, sich loszureißen. „Gar nichts.“

Langsam verlor Emma die Geduld. Zwar ließ sie ihre Schwester los, sagte aber mahnend: „Amy!“

„Also gut! Heute Nacht gibt es ein Maskenfest. Mr. Hawthorne sollte mich begleiten, denn du tätest es sowieso nicht.“

Emma keuchte entsetzt auf. „Wie unverfroren bist du nur! Du willst dich wegen ein paar vergnüglicher Stunden ruinieren?“

„Nein, wieso denn? Ich würde eine Maske tragen. Niemand würde mich erkennen.“

„Und wird er dich begleiten?“

Amy wandte sich halb ab und schaute ihre Schwester lauernd aus dem Augenwinkel an. „Und wenn?“

„Reiz mich nicht, Amy! Dazu bin ich nicht in der Stimmung.“ Und das entsprach der Wahrheit. Inzwischen fühlte sie sich versucht, Amy bei Wasser und Brot in ihrem Zimmer einzusperren; nur war Amy kein Kind mehr, obwohl sie sich nicht anders verhielt. Charles Hawthorne übrigens hätte sie am liebsten das verpasst, was ihr Bruder Bertram als schallende Backpfeife bezeichnen würde.

„Für Vergnügungen bist du nie in der Stimmung, Emma. Da liegt das Problem.“ Als sie deren wütenden Blick sah, fügte sie hinzu: „Schon gut! Nein, er hat abgelehnt. Eigentlich staune ich darüber. Sonst ist er kein Spaßverderber.“

Insgeheim seufzte Emma, weil Amy so naiv war. „Er mag ein Leichtfuß sein, aber er ist kein Dummkopf. Wenn man dich nämlich erkennen würde, hieße es, er habe dich ruiniert, und dann könnte man auf den Gedanken kommen, dass er dich heiraten muss – was er ganz bestimmt nicht im Sinn hat!“

Röte breitete sich auf Amys Gesicht aus. „Das hat er allerdings klar genug gemacht.“ Angelegentlich glättete sie den Stoff ihres weißen Musselinkleides. Emmas Blick ausweichend sagte sie: „Aber Männer ändern ihre Meinung … wenn sie etwas besonders heftig begehren.“

„Nein, da irrst du dich gewaltig!“, stieß Emma ärgerlich hervor, als sie diese fatale Fehleinschätzung hörte, die so viele ihres Geschlechts hegten.

„Wie kannst du das wissen? Übrigens bin ich dieses Gespräch leid! Und da er mich nicht zu dem Kostümfest begleitet, kannst du ja völlig zufrieden sein!“

Emma sah das anders, doch sie wusste, es war sinnlos, mit Amy zu streiten. Wenn die Schwester ihren Dickkopf aufsetzte und rücksichtslos ihre Ziele verfolgte, blieb einem nichts übrig, als ihr Steine in den Weg zu legen, denn ihr Predigten zu halten führte nur dazu, dass sie noch störrischer an ihren Plänen festhielt.

2. KAPITEL
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Emma stieg als Erste aus der Mietdroschke, die sie sich bei Bedarf leisteten. Sie wohnten in einem vornehmen, jedoch etwas abgelegenen Teil Londons, von wo aus man schon wegen des leichten Schuhwerks unmöglich zu Fuß zu Veranstaltungen gehen konnte, selbst wenn man auf dem Lande aufgewachsen und an lange Spaziergänge gewöhnt war.

„Sag, Emma, welche Verabredungen haben wir morgen?“, fragte Amy, während sie ihr folgte.

Nachdem sie den Kutscher bezahlt hatte, schritt Emma zur Haustür und zog den Schlüssel aus ihrem Retikül. „Morgen Nachmittag sind wir zu Hause, und da die Abendgesellschaft der Prinzessin Lieven verschoben wurde, haben wir auch am Abend nichts vor.“

„Der Nachmittag ist frei“, murmelte Amy, in einem Tonfall, der unzufrieden und gleichzeitig erregt klang, und Letzteres hatte Emma zu fürchten gelernt. Ohne mehr erfahren zu müssen, wusste sie, ihre Schwester hatte etwas vor oder plante zumindest etwas, das einzig und allein ihr selbst gefiel.

„Warum fragst du?“, erkundigte sich Emma möglichst unschuldig.

„Ach, nur so.“ Zwar winkte Amy abwehrend mit der Hand, doch in ihren blauen Augen funkelte es mutwillig.

Emma schob den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. Kein Lakai erwartete sie. Emma fand es nicht richtig, den alten Butler bis spät in die Nacht auf ihr Kommen warten zu lassen. Er hatte schon genügend andere Aufgaben im Haushalt übernommen, weil sie sich nicht genügend Personal leisten konnten, und von der Haushälterin verlangte sie es ebenso wenig, da die inzwischen auch als Kammerzofe einzuspringen pflegte.

Gedankenvoll schaute Emma ihrer Schwester nach, die flink die Stufen emporhüpfte, voll unterdrückter Energie und Tatendrang. Amy genoss ihre erste Saison außerordentlich.

Emma wünschte, ihre eigene wäre so unbeschwert gewesen. Aber sie war damals schon zwanzig gewesen. Ihr Debüt war aufgeschoben worden, weil sie ihre Mutter gepflegt hatte, und darauf folgte nach deren Tod das Trauerjahr. Als sie dann schließlich nach London gekommen war, hatte sie gewusst, dass sie vor allem anderen eine vorzügliche Heirat ins Auge fassen musste.

Der einzige Mann, der den Rang und den Reichtum hatte, ihrer Familie helfen zu können, war Charles Hawthornes älterer Bruder Lord George Hawthorne. Als er um ihre Hand anhielt, wussten sie beide, dass sie eine Vernunftehe eingingen. Dann jedoch begegnete er einer anderen Frau, mit der er sich so offen und eindeutig einließ, dass Emma nicht anders konnte, als das Verlöbnis zu lösen. Zwar war ihr Herz nicht gebrochen, da von Liebe nie die Rede gewesen war, doch sie fühlte sich zutiefst gedemütigt. Außerdem mochte sie niemandem, der sein Glück gefunden hatte, im Wege stehen. Was sie bei dieser Angelegenheit am meisten bedauerte, war, dass nun Amy das Los zugefallen war, reich heiraten zu müssen. Emma fand, ihre Schwester hätte Besseres verdient.

Eine einzelne Kerze in einem Messinghalter erleuchtete den Vorraum, nichts sonst schmückte das karge Foyer des gemieteten Hauses. Das eigene Silber hatten ihr Vater und ihr Bruder längst für ihre Spielschulden versetzt.

Ein paar Sekunden starrte sie in die flackernde Flamme, dann nahm sie sich zusammen. Was nutzte es, über verschüttete Milch zu jammern? Man konnte nur hoffen, dass Amy eine gute Partie machen würde. Wenn der Mann reich genug war, auch die Schulden von Vater und Bruder zu begleichen, umso besser.

Auf Charles Hawthorne traf das nicht zu, so verheerend gut er auch aussah, und trotz seines teuflischen Charmes, den selbst Emma für fast unwiderstehlich hielt.

Sie musste dankbar sein, dass er sich geweigert hatte, Amy zu dem Maskenfest zu begleiten. Emma wusste zu gut, wie schwer es war, ihre Schwester permanent zu überwachen. Wenn der kleine Tollkopf ihr nicht entwischen sollte, müsste sie schon vor Amys Zimmertür wachen oder sie am Bett festbinden. Der Gedanke zauberte dann doch ein Lächeln auf ihr Gesicht.

Allerdings wird unvermeidlich irgendeine andere Unannehmlichkeit auf mich warten, dachte Emma. Denn Charles Hawthorne würde sein draufgängerisches Verhalten, was Amy betraf, gewiss nicht ändern. Er würde sie rücksichtslos kompromittieren, und Amy würde ganz naiv mitmachen.

Dafür stand jedoch viel zu viel auf dem Spiel. Ich darf Charles Hawthorne nicht gewähren lassen, muss ihn mit allen Mitteln aufhalten, schwor sich Emma. Nicht nur Amys persönliches Glück hing davon ab, dass sie sich gut verheiratete, sondern das Wohlergehen der ganzen Familie Stockton. Wenn sie ernstlich geglaubt hätte, ihre Schwester liebte Mr. Hawthorne, würde sie sich sofort bei ihrem Vater für die beiden verwendet haben. Sie kannte die Jüngere jedoch gut genug, um zu wissen, dass sie die Aufmerksamkeit des notorischen Lebemannes nur deshalb so genoss, weil alle Frauen der Gesellschaft ihn für unerreichbar hielten. Nein, Amy liebte Charles Hawthorne nicht, und er sie auch nicht. Deshalb hatte Emma keine Skrupel, diese Verbindung im Keim zu ersticken.

Nur was konnte sie tun?

Sie fuhr aus ihren Gedanken auf, als sie hörte, wie eine Tür geöffnet wurde. Wer war zu dieser Stunde noch wach? Auf dem bloßen Dielenboden hallten Schritte.

„Wer ist da?“

„Nur dein Bruder!“

Nun sah sie Bertrams hohe, hagere Gestalt, vom Kerzenlicht aus dem Zimmer hinter ihm scharf umrissen, in der Tür stehen. „Wo seid ihr gewesen? Ihr solltet so spät nicht unbegleitet unterwegs sein.“

Sein Tadel machte sie wütend. „Wir haben Lady Jerseys Ball besucht und kamen in einer Mietdroschke zurück, da wir keine eigene besitzen – aus Gründen, die dir sehr wohl bekannt sind. Und ich bin alt genug, um als Anstandsdame für Amy zu fungieren.“ Ihr Ärger wechselte jedoch zu Betroffenheit, als ihr einfiel, welche Auswirkungen Bertrams Anwesenheit haben könnte. „Was machst du überhaupt hier?“

Seine braunen Augen wichen den ihren aus, wie immer, wenn er log. Emma wusste nur zu gut, was ihn nach London trieb, nur würde sie nichts daran ändern können.

„Ich soll auf dich und Amy aufpassen. Vater kamen Gerüchte über Amy und Charles Hawthorne zu Ohren, und nach dieser Geschichte mit dir und dessen Bruder hielt Vater es für besser, mich herzuschicken. Schützende brüderliche Anwesenheit, du weißt schon. Übrigens ist der Bursche in unserer Familie nicht willkommen. Ein Frauenheld und Lebemann erster Güte! Wirklich nicht das, was wir für Amy wünschen.“

„Aber reich!“, sagte Emma mit vor Sarkasmus triefender Stimme. „Und das wäre doch sehr erwünscht.“

Selten nur verspürte Emma Bitterkeit wegen des Leichtsinns, den Bruder und Vater am Spieltisch walten ließen. Da ihr die Hände gebunden waren, versuchte sie einfach, die Schäden, die daraus entstanden, zu beseitigen. Ihre Mutter hätte es so gewollt.

Als Emma einmal mit Bertram wegen seiner Spielschulden gestritten hatte, weil der Familie dadurch so viele Einschränkungen erwuchsen, hatte ihre Mutter gemeint, manches bleibe um des lieben Friedens willen besser ungesagt und harte Worte änderten nichts, sondern machten nur das Zusammenleben zur Pein. Diesen Rat hatte Emma bis heute befolgt, wenn es ihr auch zeitweise sehr schwerfiel, ihren Zorn zu bezähmen.

Sie schloss die Augen kurz und zwang sich zur Ruhe.

„Deine Zunge ist heute Abend recht scharf, Schwester.“

„Ich bin müde und außerdem überrascht, dich hier zu sehen“, erklärte sie, nachdem sie einmal tief eingeatmet hatte. „Da du keine Nachricht schicktest, ist nichts vorbereitet.“

„Mrs. Murphy hat schon alles geregelt.“

„Wann kamst du an?“

„Vor einer Stunde, als ihr noch aus wart.“

„Also hast du sie geweckt?“

„Sicher.“ Er zuckte die Achseln. „Dafür hat man schließlich Bedienstete.“

„Aber nicht mehr viele. Wir mussten sogar schon einmal das Haus wechseln, und uns stehen nun weniger Räume zur Verfügung.“

„Noch dazu recht armselige.“

„Und woran liegt das wohl, lieber Bruder?“, fragte sie aufgebracht.

Zumindest errötete er schamvoll. „Mama kam immer irgendwie zurecht.“

Schuldbewusst dachte Emma daran, wie wunderbar ihre Mutter gewesen war. Sie hatte den Lebensstil der Familie aufrechterhalten, als ob sie immer noch ein beträchtliches Einkommen zur Verfügung hätte, obwohl der Besitz der Familie von mehreren Gütern schließlich auf nur ein Landgut, den Stammsitz der Stocktons, zusammengeschrumpft war. Bei jedem neuen Missgeschick pflegte sie lächelnd zu sagen: „Euer Papa ist eben impulsiv, aber er ist ein so liebevoller, großzügiger Mann.“ Das Gleiche sagte sie über Bertram, was auf ihn sogar in gewissem Maße zutraf. Dann schulterte sie lächelnd auch die nächste Bürde.

Nur die Erinnerung an ihre Mutter, die Gatten und Sohn trotz allem sehr geliebt hatte, brachte Emma dazu, durchzuhalten und nach Möglichkeit den Gläubigern stets einen Schritt voraus zu sein.

Nach Mamas Tod war jedoch alles nur schlimmer geworden. Vater und Sohn spielten völlig bedenkenlos.

„Mama hatte noch mehr Mittel zur Verfügung als ich“, antwortete Emma scharf.

„Wenn George Hawthorne sich dir gegenüber nicht so ehrlos verhalten hätte, wären wir nicht in dieser Lage. Du hättest auf der Heirat bestehen müssen“, jammerte Bertram anklagend.

Emma liebte ihren Bruder trotz seiner Fehler, doch nun sah sie ihn an und fragte sich, wo der muntere Junge geblieben war, der sie Fischen gelehrt und so manch verrücktes Abenteuer mit ihr durchgemacht hatte. Wann war er zu dem schwachen Mann geworden, der stets anderen die Schuld an seiner Situation gab? Bedauern stieg in ihr auf.

„Darüber diskutierten wir schon einmal, Bertram. Ich tat, was meiner Ansicht nach richtig war.“ Sie wollte diese fruchtlose Debatte nicht weiter fortführen. „Ich bin müde, ich gehe zu Bett.“

Noch während er den Mund zu einer Entgegnung öffnete, wandte sie sich ab und stieg hinauf zu ihrem Zimmer. Sie wollte nichts mehr hören. Der Tag morgen würde lang werden, wenn sie Amy die ganze Zeit am Rockzipfel hängen musste, dazu kam die Sorge wegen Bertrams Spielleidenschaft.

Emma saß über ihrer dritten Tasse Schokolade – beinahe der einzige Luxus, den sie sich noch gönnte –, als Gordon den Frühstücksraum betrat. Sie lächelte dem alten Mann zu, der seit vielen Jahren schon im Dienst der Stocktons stand, zuerst als Lakai, später als ihr Butler.

„Ja, Gordon?“

„Ms. Stockton, Sie baten uns, ein Auge auf Ms. Amy zu haben.“

Sorgfältig setzte Emma die Tasse ab und verschränkte die Hände im Schoß. Offensichtlich würde ihr das Folgende nicht gefallen. „Ja?“ Ihre Stimme blieb ruhig, obwohl sie am liebsten laut aufgeschrien hätte.

„Nun, sie hat gerade eines der Küchenmädchen auf eine Besorgung geschickt.“

„Und wissen Sie, worum es geht?“

Der Butler schüttelte sein graues Haupt. „Nein, Miss.“

„Wo ist Amy jetzt?“

„Sie ging wohl zurück in ihr Zimmer.“

„Sicher wieder ins Bett, denn es ist ja noch früh, bedenkt man, wann wir gestern heimkamen.“

Emma stand auf und fegte ein paar Brösel von ihrem schlichten schwarzen Kreppkleid, das sie nach dem Tod ihrer Mutter gekauft hatte. Es schmeichelte ihr zwar nicht, doch war es noch zu gut, um abgelegt zu werden.

„Danke, Gordon.“ Sie hatte schon den kleinen Vorraum durchquert und stieg die Treppe hinauf, blieb aber auf halbem Wege stehen. „Ist mein Bruder daheim?“

„Ja, Miss, ich glaube, er schläft noch.“ Er räusperte sich, ein Geräusch, das er unbewusst machte, wenn er sich verpflichtet fühlte, etwas anzusprechen, das ihm nicht leichtfiel.

Freundlich fragte Emma deshalb: „War mein Bruder bis in den Morgen aus?“

„Ja, Miss“, murmelte Gordon.

Sie war nicht überrascht, sondern hatte sogar erwartet, dass Bertram gestern Nacht noch einmal fortgehen würde.

„Nochmals danke, Gordon.“ Irgendwie gelang es ihr, ihm ein kleines Lächeln zu schenken. Dann erklomm sie die restlichen Stufen, langsam, aber hoch aufgerichtet, obwohl sie sich fühlte, als lastete das Gewicht der ganzen Welt auf ihr. Was sie gerade erfahren hatte, wunderte sie nicht. Bruder wie Schwester verhielten sich, genau wie es von ihnen zu erwarten war, nur was stets daraus folgte, machte ihr das Leben nur noch komplizierter.

Als sie damals Mama versprach, für die Familie einzustehen, hatte sie nicht geglaubt, dass es so schwierig werden würde.

Emma klopfte an Amys Tür und trat, ohne auf Antwort zu warten, ein. Ihre Schwester saß aufrecht im Bett; ihre Wangen waren rosig angehaucht, und ihre Augen funkelten. Zweifellos führte sie etwas im Schilde.

„Guten Morgen, Emma.“ Amy war ganz Unschuld.

„Guten Morgen, Amy. Ich hörte, du warst schon unten in der Küche.“

Das junge Mädchen errötete. „Ich habe mir einen Happen zu essen geholt.“

„Amy, lass doch diese Winkelzüge. Ich weiß, dass du dem Küchenmädchen einen Brief zu besorgen gabst, wahrscheinlich für Charles Hawthorne. Was du ihm auch geschrieben hast, lass dir gesagt sein, man tut so etwas nicht.“

Starrsinn zeigte sich auf Amys Miene. „Du tust, als könnte der Mann mir alle Chancen verderben. Wirklich, du sorgst dich viel zu sehr.“

„Und du sorgst dich nicht genug!“, stieß Emma verärgert hervor.

„Pah! Warum schiltst du mich, wenn du sowieso schon alles weißt? Ich staune nur, dass du ihm nicht gleich in einem weiteren Brief befohlen hast, meine Nachricht nicht zu beachten.“

„Also hast du ihm geschrieben.“

„Du wusstest es nicht?“ Amy fuhr auf.

Emma zuckte mit den Schultern. „Ich hatte es vermutet, und gerade hast du es mir bestätigt. Danke. Und jetzt werde ich ihm eine Mitteilung schicken.“

„Aber, Emma!“ Amy äffte den Tonfall ihrer Schwester nach. „So etwas tut man nicht!“

„Daran hättest du denken sollen, ehe du mich in diese Lage brachtest.“ Emma versuchte gar nicht erst, ihrer Stimme die Schärfe zu nehmen. „Amy, es reicht mir! Wenn du dich nicht benimmst, werde ich Vater schreiben müssen, dass er dich heimbeordern soll.“

Autor

Georgina Devon
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