Emmas pikantes Geheimnis

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Diese himmelblauen Augen! Emma erschauert, als Ned Stratham ihr in einer rauschenden Ballnacht feurige Blicke zuwirft. Einst hat sein Charme sie betört, haben seine Küsse ihr Blut erhitzt. Aber das war in einem anderen Leben, in einen anderen, verruchten Teil von London. Und wenn Ned sie nun enttarnt, ist sie verloren …


  • Erscheinungstag 07.03.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733715878
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

London, August 1811

Emma de Lisle musterte den blonden Mann verstohlen. Wie üblich saß er auf der anderen Seite des Schankraums, mit dem Rücken zur Wand, die Eingangstür im Blickfeld. Auf seinem Tisch standen ein Krug Dunkelbier und ein Teller mit einem fast verspeisten Lammkotelett. Daneben lag ein verbeulter Lederhut.

So wie immer ließ er eine kleine Elfenbeinscheibe über seinen Handrücken gleiten. Es sah so aus, als würde die Scheibe auf magische Weise über seine Finger rutschen, in langsamem Rhythmus, vor und zurück, hin und her. Sichtlich zufrieden nahm er einen Schluck Bier und aß das Kotelett. Anscheinend genügte es ihm, einfach nur die Mahlzeit zu genießen und seine Umgebung zu beobachten – ein Teil des geschäftigen Betriebs im Schankraum des Red Lion Chop-House. Trotzdem gehörte er irgendwie nicht dazu.

„Alles in Ordnung?“, fragte ein kleiner Mann, der am Tisch vorbeiging.

Der Gast nickte, und die Elfenbeinscheibe verschwand in seiner Jackentasche.

Schon öfter war er ihr aufgefallen. Wegen dieser Scheibe und der Narbe, die eine seiner dunkelblonden Brauen durchzog. Wegen seiner Augen, deren Farbe an einen klaren Sommerhimmel erinnerte. Vor allem, weil er sie faszinierte.

Zu seiner alten braunen Lederjacke passten der Hut und die abgewetzten Stiefel. Aber im Gegensatz zu den übrigen Gästen trug er ein frisch gewaschenes weißes Hemd von guter Qualität, seine Fingernägel waren sauber und sorgsam geschnitten, die Wangen und das Kinn glatt rasiert. Immer erschien er allein in der Taverne, wirkte selbstgenügsam, charakterstark und intelligent. Was andere von ihm hielten, schien ihn nicht zu kümmern. Er unterschied sich von den meisten Männern in Whitechapel, diesem rauen Londoner Bezirk, denn er versuchte niemals, irgendwen einzuschüchtern oder mit jemandem Streit anzufangen.

Auf etwas robuste Art wirkt er attraktiv, fand Emma. Allerdings dürfte sie sich nicht für gut aussehende Männer interessieren.

„Drei Teller mit gemischten Bratenscheiben!“, schrie Tom, der Koch, und riss sie aus ihren Gedanken. Ihre kurze Ruhepause war vorbei.

„Ja, Tom, ich komme!“ Hastig wandte sie sich von dem mysteriösen Gast ab, eilte zur Durchreiche und benutzte das Geschirrtuch, das an ihrem Gürtel hing, um die heißen Teller auf ein großes Holztablett zu stellen. Geschickt trug sie es durch den Schankraum. „Hier, meine Herren, unsere besten Bratenstücke.“ Jedem der drei Männer, die erwartungsvoll an einem Ecktisch saßen, servierte sie einen üppig beladenen Teller.

Auf dem Rückweg zum Tresen räumte sie zwei Tische ab, nahm zwei Bestellungen für weitere Bierkrüge entgegen und registrierte die Ankunft neuer Gäste.

„Um diese Jungs kümmere ich mich, Em“, sagte Paulette, das zweite Schankmädchen, als sie sich begegneten.

„Fünf Ales für da drüben, Emma!“, rief Nancy, die Wirtin, und platzierte den letzten der Zinnkrüge so heftig auf der Theke, dass das Bier fast überschwappte. Emma stellte sie auf ihr Tablett, trug sie zu dem Tisch neben dem Eingang und stellte sie darauf.

„Danke, Schätzchen.“ Ein großer schwarzhaariger Mann starrte in den tiefen Ausschnitt der Bluse oberhalb des eng geschnürten Mieders ihres scharlachroten Arbeitskleids, das sie hasste, weil es zu viel enthüllte. Genauso verabscheute sie Gäste wie diesen unverschämten Kerl. Grinsend entblößte er bräunliche Zähne und strich über ihre Hüfte.

„Behalten Sie Ihre Hände bei sich“, mahnte sie frostig und schlug seine Finger weg. Würde sie sich jemals an diesen Nachteil ihrer Tätigkeit gewöhnen?

„Was für ein dreistes Mädchen!“, meinte er und lachte schallend. „Aber ich mag Herausforderungen.“ Seine Hand kehrte zurück. Diesmal beharrlicher, umfasste er ihr Gesäß. Unsanft zog er sie näher zu sich heran. „Auch deine vornehme Redeweise gefällt mir. Beinahe könnte man dich für ’ne Lady halten. Und ich hatte noch nie eine Lady. Komm schon, Schätzchen, ich würd’s dir prima besorgen.“ Sein Gestank nach Ale und fauligen Zähnen war überwältigend. Rings um den Tisch feixten seine Freunde.

Emma warf ihm einen eisigen Blick zu. „Obwohl Sie es nicht glauben werden, muss ich Ihr Angebot ablehnen, Sir. Jetzt lassen Sie mich los und erlauben Sie mir, meine Arbeit zu erledigen. Oder nehmen Sie es mit einer Überzahl hungriger, durstiger Männer auf, die bedient werden wollen?“

Bei diesen Worten grinste er noch breiter. „Für die soll das andere Mädchen sorgen.“ Er zerrte sie näher zu sich heran und entriss ihr das Tablett. Krachend fiel es zu Boden. „Du kümmerst dich um mich, Schätzchen.“

Großer Gott … Beunruhigt erkannte sie, dass er sich nicht mit einem Klaps auf ihre Kehrseite begnügen würde. Stattdessen gehörte er zu jenen widerlichen Gästen, die sie auf ihren Schoß zogen und betatschten. „Lassen Sie mich sofort los, bevor Nancy was merkt und Sie hinauswirft!“

Mit ihrer Gegenwehr beschäftigt, nahm sie die Gestalt, die sich näherte, nur undeutlich wahr. Deshalb erschrak sie genauso wie der Rüpel, als eine Bierkaskade auf seinen Kopf hinabrauschte.

Prompt erlosch sein Grinsen, dann vergaß er sie, ließ sie los und stieß einen ohrenbetäubenden Fluch aus. So schnell wie möglich nutzte sie die Gelegenheit, hob das Tablett auf und wich aus der Gefahrenzone zurück.

Mit großen, tätowierten Händen wischte der attackierte Mann Bierschaum aus seinen Augen. Auf seiner Stirn klebte klatschnasses Haar, das dunkle Ale rann über seine Wangen hinab und befleckte sein schmutziges Hemd noch zusätzlich. Die schäbige braune Wolljacke nahm die Farbe regennasser Erde an. Sogar die graue Hose wurde besudelt.

Im ganzen Schankraum verstummten Stimmengewirr und Gelächter, Besteck hörte zu klirren auf. Neugierig starrten alle Gäste auf den durchnässten Störenfried, die meisten standen auf und drängten sich heran.

Emma folgte dem Blick des schwarzhaarigen Flegels und sah den blonden Mann, den sie früher unauffällig gemustert hatte, vor dem Tisch stehen. Hoch aufgerichtet, ruhig, gleichmütig.

„Tut mir leid, ein Versehen. Ich war zu ungeschickt und verlor das Gleichgewicht, der Krug ist mir ein bisschen aus der Hand gerutscht.“ Obwohl die Worte eine Entschuldigung ausdrückten – der Tonfall bekundete etwas anderes. Er sprach ähnlich dem Londoner East-End-Akzent der meisten Gäste, doch der scharfe Klang seiner Stimme beinhaltete eine gewisse Drohung.

„Oh, das wird Ihnen bald verdammt leidtun!“ Wütend sprang der Schwarzhaarige auf. „Wenn ich mit Ihnen fertig bin, werden Sie sich in die Hose machen!“

Bedeutungsvoll betrachtete der rätselhafte Mann die durchnässte Hose des Rüpels. Dann schaute er ihm in die Augen, ohne seine Belustigung verbergen. „Da sind Sie mir um einiges voraus.“

Ringsum erklang Gelächter, das Gesicht des Grobians lief feuerrot an. Als er eine Hand ballte, knackten seine Fingerknöchel. Wie um einen unausgesprochenen Befehl zu befolgen, standen seine Freunde auf. Atemlose Stille erfüllte den Raum, bis Nancy rief: „Beruhigt euch, Jungs! Ist ja nichts wirklich Schlimmes passiert. Setzt euch wieder und trinkt euer Bier.“

Die Männer rührten sich nicht und wechselten vielsagende Blicke.

„Hier drin wollen wir keinen Ärger haben. Wenn ihr einen Streit beilegen müsst, geht raus.“ Nancy kam hinter der Theke hervor. Aber zwei Stammkunden versperrten ihr den Weg – offenbar, um sie zu beschützen –, und redeten leise auf sie ein.

Doch niemand beachtete sie, weder der Schurke und seine Spießgesellen noch sein sichtlich amüsierter Gegner.

„Jetzt bring ich Sie um!“, knurrte der Schwarzhaarige.

„Und ich dachte, Sie würden mir ein Ale spendieren und mich für meinen Verlust entschädigen“, seufzte der blonde Mann und stellte seinen leeren Zinnkrug auf den Tisch.

„In einer Minute werden Sie wohl kaum noch einen Krug festhalten können.“

Emma griff sich an die Kehle. Sie wusste, was solche Männer einander in Whitechapel immer wieder antaten. Schon mehrmals hatte sie brutale Kämpfe mit ansehen müssen. Angstvoll beobachtete sie das Lächeln des blonden Mannes, das seine kühlen blauen Augen nicht erreichte.

„Fordern Sie mich tatsächlich heraus?“, fragte er verwundert.

„Wenn Sie um Gnade winseln wollen – dafür ist es zu spät.“

„Schade …“

Als der Schwarzhaarige vortrat, erschauerte Emma.

Von solchen Gefühlen offensichtlich unberührt, lächelte der blonde Mann immer noch. Seine Augen zeigten keine Angst. Beinahe erweckte er den Eindruck, er würde willkommen heißen, was nun geschehen würde.

Blut. Gewalt. Fünf Männer gegen einen. Sehnte er sich nach dem Tod?

„Bitte, jemand muss diesen Kampf verhindern“, flehte Emma.

Ein alter Mann zog sie zurück. „Das kann niemand, Mädchen.“

Damit hatte er recht, und sie wusste es so wie alle Anwesenden im Schankraum.

Der schwarzhaarige Rohling schwang die Fäuste hoch, und Emma hielt den Atem an.

Plötzlich sprang der blonde Mann vor, ein blitzschneller Kopfstoß traf die Nase des Angreifers. Ein grausiges knackendes Geräusch. Und Blut. Sehr viel Blut. Stöhnend krümmte sich der Schwarzhaarige zusammen, als wollte er dem Knie des Widersachers ausweichen, das ihn im Schritt traf.

Unglaublich, wie schnell der Blonde sich bewegte! Seine rasante Reaktion erschien Emma ebenso unfassbar wie allen anderen Zuschauern, die ungläubig auf den zu Boden gegangenen Riesen starrten.

Emma schluckte krampfhaft, ihre Herzschläge hatten sich beschleunigt. So etwas hatte sie noch nie gesehen.

„Wenn Sie um Gnade winseln wollen – dafür ist es zu spät“, sagte der Blonde.

Auf eine Hand gestützt, spuckte der Rüpel Blut auf einen der Lederstiefel seines Bezwingers und tastete nach einem Stuhl.

„Falls Sie’s noch nicht begriffen haben …“ Der blutbefleckte Stiefel trat auf die gespreizten Finger, mit denen sich der Riese abstützte. Dann griff der blonde Mann nach der ausgestreckten Hand des Geschlagenen, als wollte er ihm auf die Beine helfen. Stattdessen drehte er das Handgelenk kraftvoll herum. Wieder erklang ein Knacken. Beklommen zuckten Emma und das übrige Publikum zusammen.

Das Gesicht des Schwarzhaarigen färbte sich aschgrau, lautlos sank er in sich zusammen und rührte sich nicht mehr.

Auch alle anderen verharrten reglos, niemand brach das drückende Schweigen.

Schließlich wandte der Blonde sich an die Freunde des Bewusstlosen. „Nun wird er Hilfe brauchen, wenn er seinen Bierkrug festhalten will.“

„Elender Bastard“, stieß einer der Kumpel hervor.

Der blonde Mann lächelte erneut. Diesmal war Emma auf alles gefasst.

Erbost hob der Freund des Schwarzhaarigen die Fäuste. Eine weitere Kopfnuss ließ den Mann taumeln, ein kraftvoller Stoß brachte ihn zu Fall.

Die anderen drei Männer wechselten ausdrucksvolle Blicke, und einer zog eine lange Klinge hervor, die im Kerzenlicht funkelte,

„Planen Sie das wirklich?“, fragte der Blonde.

Das Messer gezückt, täuschte sein Gegner einen Angriff vor, wich zurück und begann ihn zu umkreisen.

„Fürchten Sie sich zu sehr?“, wurde er verspottet.

Statt einer Antwort versuchte er zuzustechen.

Aber der blonde Mann trat ihn zwischen die Beine. Mit einem gellenden Schrei krümmte sich der Angreifer. Klirrend landete das Messer auf dem Boden, sein Besitzer fiel wie ein Stein daneben und rang keuchend nach Luft.

Der blonde Mann musterte die beiden restlichen Strolche.

Nur kurz starrten sie ihn an, bevor sie sich abwandten und aus dem Red Lion stürmten, wie Hasen, die vor einem Jagdhund Reißaus nahmen.

Der Blonde schaute ihnen nach, und Emma konnte ihren Blick nicht von ihm losreißen. Auf seiner Stirn bildete sich ein blauer Fleck, das Blut aus der Nase des Schwarzhaarigen beschmutzte sein weißes Hemd, das dunkle Halstuch war verrutscht. Er musste nicht einmal Atem schöpfen. Ruhig und lässig stand er da.

In der Stille echote das Krachen der Eingangstür, als sie hinter den Flüchtenden ins Schloss fiel.

Niemand sprach, niemand bewegte sich, niemand außer dem blonden Mann. Er glättete sein zerzaustes Haar, ordnete sein Halstuch und ging zwischen den Zuschauern, die ihm respektvoll Platz machten, zu seinem Tisch.

Ehrfürchtig beobachteten sie ihn. Dann erklangen leise Stimmen voller Bewunderung. Wer so erfolgreich kämpfen und sich gegen eine Übermacht behaupten konnte, erlangte hier in Whitechapel höchstes Ansehen. Und ein so starker, unbezwingbarer, gefährlicher Mann würde seinesgleichen suchen.

Ein paar Stammkunden schafften die Verletzten aus dem Schankraum. Halb trugen, halb schleiften sie die Schurken davon.

An seinem Tisch angekommen, setzte der Blonde sich nicht. Er legte mehr Münzen neben den leeren Teller, als die Zeche betrug, und ergriff seinen Hut. Quer durch den Raum warf er Emma einen Blick zu.

Noch immer hämmerte ihr Herz heftig gegen die Rippen. Er nickte ihr zu. Dann verließ er den Red Lion, ohne die gaffenden Gäste zu beachten. Emma starrte die Tür an, die er hinter sich geschlossen hatte, als könnte sie durch das Holz spähen und seinen Weg verfolgen. Seit sechs Monaten lebte sie in Whitechapel, und in dieser Zeit hatte sie niemals einen so imposanten, eisenharten, machtvollen Mann gesehen.

„Vorerst wird er keine Schwierigkeiten haben“, meinte Nancy, die neben ihr stand, ein Spültuch in der Hand.

„Wer ist er?“, murmelte Emma verstört.

„Er heißt Ned Stratham. Zumindest hat er das gesagt.“

Ehe Emma weitere Fragen stellen konnte, kehrte Nancy zum Tresen zurück und wandte sich mit durchdringender Stimme an die Gäste.

„Setzt euch wieder, Leute, bevor eure Koteletts kalt und eure Ale-Krüge warm werden.“

Emma betrachtete wieder die Tür, durch die der Mann soeben verschwunden war.

Ned Stratham.

Nur wegen eines verschütteten Biers ein so erbarmungsloser Kampf? Nein, so leicht wie die anderen Zuschauer ließ sie sich nicht täuschen. Ned Stratham wusste nichts über sie – nur, dass sie ihm schon öfter ein Bier und ein Dinner serviert hatte. In den Monaten, während er regelmäßig hierhergekommen war, hatte er scheinbar kaum Notiz von ihr genommen, ruhig an seinem Tisch gesessen und das Treiben beobachtet, ohne sich in irgendetwas einzumischen. Bis zu diesem Abend …

Es war kein Kampf gewesen, wie ihn ein Gentleman ausfechten würde. Sondern schockierend, brutal, skrupellos. Und, wie Emma ehrlich zugeben musste, viel wirksamer. Weder zivilisiert noch ehrenwert oder ritterlich …

„Bring die frisch gebratenen Koteletts an die Tische, Emma!“, unterbrach Nancys schriller Ruf diese Gedanken.

„Ja, sofort.“ Eine wilde, gewaltsame Kneipenschlägerei wegen eines dummen Versehens, und doch … In ihrer Fantasie sah sie immer noch den Blick dieser blauen Augen, so eindringlich und aufmerksam …

„Emma!“, schrie Nancy. „Brauchst du eine schriftliche Einladung?“

Das Tablett in den Händen, lief Emma zur Durchreiche. Der Tisch, an dem Ned Stratham Platz zu nehmen pflegte, war weit entfernt vom Eingang, neben dem der schwarzhaarige Gauner und seine Kumpel gesessen hatten. Und ein Mann, über dessen Finger eine kleine Elfenbeinscheibe tanzte, hatte gewiss keine Gleichgewichtsprobleme, die ihn gezwungen haben mochten, den Bierkrug ein wenig aus seiner Hand rutschen zu lassen. Und da wusste sie Bescheid. Was Ned Stratham getan hatte, war trotz seiner Methoden ritterlich gewesen, in jedem Sinn des Wortes. Denn er hatte den Kampf nur heraufbeschworen, um sie vor dem zudringlichen Rüpel zu retten.

Ned sah die junge Frau eine Woche nach seinem Besuch im Red Lion wieder. Diesmal servierte ihm ein anderes Schankmädchen die Mahlzeit und das Bier.

Aber später erschien Emma, um den Tisch abzuräumen. Ihr dunkles Haar war ordentlich hochgesteckt, der goldbraune Teint makellos, und sie hatte strahlend weiße ebenmäßige Zähne. Für Whitechapel war sie viel zu schön. Auch ihr kultivierter Akzent passte nicht hierher. Gerade damit hatte sie letzte Woche den primitiven Flegel gereizt. Sie trug keinen Ehering. Schutzlos war sie solchen Attacken in einer Londoner Gegend ausgeliefert, wo jede Frau gefährlich lebte – insbesondere, wenn sie wie eine Dame wirkte.

„Möchten Sie noch ein Ale, Sir?“, fragte sie.

„Ja, bitte.“ Er beobachtete, wie sie den leeren Teller mit dem Besteck und den ebenfalls leeren Bierkrug auf ihr Tablett stellte.

Danach eilte sie nicht wie üblich davon. Zögernd blieb sie stehen. „Ich habe Ihnen noch gar nicht gedankt. Für letzte Woche …“ Ihre Augen erinnerten ihn an braunen Samt.

„Wofür genau?“

„Dass Sie Ihr Bier verschüttet haben.“

„Ein dummes Missgeschick.“

„Natürlich.“ Wie ihm ihr Lächeln verriet, wusste sie, warum es geschehen war.

Neben einem ihrer Mundwinkel erschien ein Grübchen, was Ned bewog, das Lächeln zu erwidern.

Immer war sie höflich und freundlich. Umsichtig und tüchtig erledigte sie ihre Arbeit. Aber im Gegensatz zu den meisten anderen Schankmädchen kokettierte sie nie mit den Gästen, obwohl ihr das mehr Trinkgeld einbringen würde. Sein Blick fiel auf den kleinen Talisman aus Elfenbein, der über seine Finger glitt, und er wünschte, Emma würde seinen Tisch verlassen und sich um andere Gäste kümmern. Wie normalerweise. Er musste sich mit wichtigen Dingen befassen. Von schönen Frauen durfte er sich nicht ablenken lassen.

Und er gestand sich ein – eigentlich hatte er letzte Woche nicht eingreifen wollen. Doch es war ihm unmöglich gewesen, zu übersehen, wie eine Frau gegen ihren Willen bedrängt wurde. Die Männer von der Sorte des Schwarzhaarigen kannte er zur Genüge. Was als scheinbar harmloser „Spaß“ begann, konnte sehr schnell zu einer ernsthaften Bedrohung ausarten.

Ned beobachtete den rhythmischen Reigen der Elfenbeinscheibe über seinem rechten Handrücken. Diese Bewegung hatte er so oft geübt, dass sie kein Trick mehr war, sondern ein Reflex.

„Jetzt hole ich Ihr Bier.“ Obwohl er nicht aufblickte, wusste er, dass Emma immer noch lächelte. Er sagte nichts mehr. Auf sein Amulett konzentriert, entließ er sie unmissverständlich.

Als er sie davongehen hörte, schaute er ihr nach, bemerkte den sanften Schwung ihrer Hüften. Und in diesem Moment, zum ersten Mal seit Jahren, stockten die automatischen Bewegungen seiner Finger. Die kleine Scheibe rutschte von seiner Hand und von der Tischkante, fiel zu Boden und rollte zum Tresen.

Für ein paar Augenblicke blieb sein Herz stehen. Er sprang auf, wollte seinen Talisman einfangen. Doch da bremste Emma die Scheibe mit einer Schuhspitze, bückte sich und griff danach, das Tablett auf einer Hüfte balancierend.

Ned sah, wie sie am Mieder ihres Kleids den Schmutz vom leicht zerkratzten Elfenbein wischte und es inspizierte: ein kleiner weißer Kreis mit einer verblassten roten Raute in der Mitte.

Als er sie erreichte, drehte sie sich zu ihm um, und ihr Blick hielt seinen kurz fest, bevor sie ihm sein Eigentum zurückgab.

„Danke“, sagte er leise und steckte sein Amulett in die Innentasche seiner Jacke.

„Wofür? Hoffentlich hat mein ungeschickter Fußtritt Ihr Eigentum nicht beschädigt.“

„Unsinn …“

„Was ist es denn?“, fragte sie.

„Mein Glückbringer.“

„Hilft er Ihnen?“

„Ausnahmslos.“

Sie hob die Brauen. Doch sie milderte ihre Skepsis mit einem Lächeln, das ihr reizvolles Grübchen neben einem Mundwinkel zeigte und sein Herz erwärmte wie kein anderes weibliches Lächeln je zuvor. Es bewog ihn, ein Gespräch zu beginnen. Obwohl er sich abwenden müsste …

„Offenbar glauben Sie mir nicht.“

„Nun, ein Glücksbringer, der ausnahmslos seinen Zweck erfüllt?“ Sie zog die Brauen wieder hoch, diesmal ein bisschen schelmisch. „Vielleicht sollte ich Sie bitten, mir Ihr Amulett zu leihen.“

„Brauchen Sie denn die Gunst der Glücksgöttin?“

„Braucht die nicht jeder Mensch?“

„Beeil dich, Emma!“, rief Nancy. „Da warten sechs Ales.“

„Ned Stratham“, stellte er sich vor und streckte seine Hand aus.

„Emma de Lisle.“

In seiner Hand fühlten sich ihre Finger zart und feminin an, die Haut glatt und kühl, trotz der Hitze im Schankraum.

Die Berührung entzündete einen Funken körperlicher Wahrnehmung. Dass Emma es auch spürte, erkannte er an ihren geröteten Wangen, an der Art, wie sie ihm ihre Hand entzog.

„Emma!“, kreischte die Wirtin. „Komm endlich her, Mädchen!“

„Ja, Nancy, sofort!“ Emma spähte über ihre Schulter zum Tresen. Dann nickte sie Ned zu. „‚Aber die Gottlosen, spricht der Herr, haben keinen Frieden‘“, zitierte sie lächelnd und lief zur Theke.

Nachdem er sich wieder an seinen Tisch gesetzt hatte, ließ er sie nicht aus den Augen. Der tiefrote Stoff des Arbeitskleids passte gut zu ihrem dunklen Haar, das eng geschnürte Mieder betonte die schmale Taille, die wohlgerundeten Hüften. Normalweise traf man in dieser Gegend keine Frau, die so viel Vitalität und Selbstvertrauen ausstrahlte. Zudem war sie intelligent und gebildet, wie das Zitat aus dem Buch Jesaja bewies.

Der Reihe nach servierte sie die Bierkrüge. Mit dem letzten auf ihrem Tablett kam sie an seinen Tisch.

„Was macht eine Frau wie Sie in einer solchen Spelunke?“, erkundigte Ned sich, als sie das Bier auf den Tisch stellte.

„Ich arbeite.“ Diesmal blieb sie nicht stehen, räumte Tische ab, nahm neue Bestellungen entgegen, holte Teller mit gebratenen Koteletts oder Bratenstücken von der Durchreiche.

An die holzgetäfelte Wand gelehnt, trank er einen Schluck Ale. In der Luft hing Pfeifenrauch, den er ebenso einatmete wie den Geruch der Speisen und des Biers.

Und während er die vertraute Atmosphäre genoss, beobachtete er Emma de Lisle. Wie schon so oft fragte er sich nach ihrer Vergangenheit. Was mochte sie hierher geführt haben? Er sah sie mit den Gästen scherzen und freundlich lächeln. Alle mochten sie. Kein Wunder … Aber sie blieb bei keinem stehen. Nur für ihn hatte sie das getan.

Bis zur Sperrstunde wandte sie sich kein einziges Mal in seine Richtung. Schließlich läuteten die Glocken von St Olave in der Ferne. Elf Uhr. Wie üblich forderte Nancy die Gäste auf, ihre letzten Drinks zu bestellen.

Ned trank seinen Krug leer und legte genug Münzen auf den Tisch, um seine Zeche zu bezahlen. Für Emma de Lisle fügte er ein großzügiges Trinkgeld hinzu, bevor er seinen Hut ergriff.

Auf dem Weg zur Tür schaute er noch einmal zu Emma hinüber, die gerade vier Gästen Fleischpasteten servierte. Jetzt erwiderte sie seinen Blick und schenkte ihm ihr bezauberndes Lächeln, ehe sie sich wieder ihren Pflichten widmete. Er setzte seinen Hut auf, verließ den Red Lion und betrat die dunkle Gasse.

Hoffentlich hat mein ungeschickter Fußtritt ihr Eigentum nicht beschädigt. Welch eine gewählte Formulierung … Ned lachte leise. Zweifellos war Emma de Lisle eine ungewöhnliche Frau, die einen Mann fast in Versuchung führen könnte, ihretwegen hierzubleiben. Nur fast.

Er folgte dem Straßenlabyrinth, das er so gut kannte. Während er die Stadt durchquerte, von einem Bezirk zum nächsten wanderte, überdachte er seine Pläne für den nächsten Tag in allen Einzelheiten. Die Nachtluft umwehte ihn kühl, und sein Gesicht nahm einen grimmigen Ausdruck an, bevor er sein Domizil in Mayfair erreichte.

2. KAPITEL

Bist du das, Emma?“, rief ihr Vater, als der Schlüssel im Schloss knirschte.

Bedrückt hörte sie den müden Klang seiner Stimme. Sie versperrte die Tür hinter sich und betrat einen der beiden kleinen Räume, die sie gemietet hatten. „Heute habe ich dir ein besonderes Abendessen mitgebracht – Schweinekoteletts.“

„Schweinekoteletts?“ Verblüfft runzelte er die Stirn. „Dass die übrig bleiben, kommt nur selten vor.“

Sie waren auch nicht übrig geblieben. Im Red Lion gehörte das teure Schweinefleisch zu den edelsten Gerichten, und Emma hatte die Leibspeise ihres Vaters selbst bezahlt, teilweise mit Ned Strathams großzügigem Trinkgeld. Für den Rest hatte Nancy ihr einen Rabatt gewährt.

„Alles Gute zum Geburtstag, Papa.“ Sie küsste seine Wange, und er umarmte sie gerührt.

„Habe ich Geburtstag? Heutzutage verliere ich immer wieder mein Zeitgefühl.“ Er sank gegen die Lehne eines der wackligen Stühle an dem Tisch in der Ecke des Zimmers.

„Nun, das liegt wohl an deinem Alter“, neckte sie ihn. Doch sie wusste, dass er nicht wegen seines Alters vergesslich war, sondern wegen des Einerleis in seinem Leben – ein Tag verlief wie der andere. Sie hängte ihren Umhang an einen Wandhaken und nahm den Deckel vom Teller mit den Koteletts, den sie auf den Tisch stellte. Dann zog sie eine Steingutflasche aus ihrem Stoffbeutel. „Und hier zur Feier des Tages, das beste Dunkelbier, das es im Red Lion gibt.“

„Du verwöhnst mich, Emma“, tadelte ihr Vater. Aber er lächelte. „Isst du nichts?“

„Ich hatte mein Dinner schon im Wirtshaus. Und du weißt ja, ich mag kein Bier.“

„Gott sei Dank! Schlimm genug, dass meine Tochter in einer gewöhnlichen Taverne arbeiten muss. Wenn sie auch noch anfangen würde, Alkohol zu trinken …“ Mit einem übertriebenen Schauder beendete er den Satz.

„Es ist keine Taverne, sondern eine Speisegaststätte. Schon hundertmal habe ich’s dir gesagt.“ Obwohl das im Grunde keinen Unterschied machte, besänftigte es ihren Vater. Würde er die Gäste sehen, die sie im Red Lion bediente, wäre er außer sich vor Sorge. Wie würde er Ned Stratham beurteilen? Und was würde er sagen, wenn er wüsste, auf welche Weise Ned es mit fünf Männern aufgenommen hatte, um sie zu retten?

„Darüber bin ich sehr froh“, betonte ihr Papa.

„In einem Speiselokal zahlen die Gäste gutes Trinkgeld. Da bekommen die Schankmädchen viel mehr als Verkäuferinnen oder Putzmacherinnen. Und es ist ja nicht für immer.“

„Vielleicht nicht“, meinte er nachdenklich.

„Kein Vielleicht, Papa!“, mahnte Emma. „Inzwischen haben wir etwas Geld gespart. Und ich habe mich um eine Stellung in Clerkenwell beworben. Gewiss, das ist nicht Mayfair. Immerhin ein Schritt in eine bessere Richtung.“

„Dort wirst du eine Gaststätte leiten.“

Eine Taverne. Doch das verschwieg sie. „Langsam, aber sicher werden wir in unsere Welt zurückkehren.“

„Mein liebes Mädchen, habe ich schon einmal erwähnt, dass du so starrsinnig wie ein Maultier bist?“, fragte er lächelnd.

„Von wem ich das wohl habe … Wie ich mich entsinne, war meine liebe Mama nicht so veranlagt.“

„Schon gut, ich bekenne mich schuldig. Allzu weit fällt der Apfel nicht vom Stamm.“ Er lachte und tätschelte liebevoll ihre Hand. „Setz dich. Nachdem du den ganzen Abend gearbeitet hast, bist du sicher müde.“

Emma nahm ihm gegenüber Platz. „Nicht so sehr.“ Obwohl ihre Füße schmerzten, war das keine Lüge. Träumerisch dachte sie an Ned Stratham. Mochte er auch gefährlicher sein als alle anderen Gäste im Red Lion – und sie wollte keinem der Männer allein im Dunkeln begegnen –, irgendetwas unterschied ihn von dieser Sorte. Dann lenkte sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihren Vater. „Wie war es heute im Hafen?“

„So wie immer. Wenigstens gibt es eine gute Neuigkeit. Für morgen habe ich eine Extraschicht bekommen.“

„Schon wieder?“ Die Erschöpfung, die seine bleichen Gesichtszüge verrieten, beunruhigte Emma. „Glaub mir, diese doppelten Schichten sind zu viel für dich.“ Sogar eine einzige Schicht in einer Lagerhalle des Londoner Hafens musste überfordern, der das Leben eines Adligen geführt hatte.

„Was für den einen gut ist, kann für den anderen nicht schlecht sein. Hör bitte zu schimpfen auf, Emma.“

Seufzend lächelte sie ihren Vater an. An seinem Geburtstagsabend wollte sie nett zu ihm sein und das Thema der Doppelschichten ein anderes Mal mit ihm erörtern. „Also gut.“

„Hol deinen Becher, ich möchte einen Trinkspruch ausbringen.“

Sie gehorchte, und er schenkte ihr einen winzigen Schluck Bier ein.

Dann hob er seinen eigenen gefüllten Krug. „Der liebe Gott hat mir ein weiteres Jahr geschenkt. Dafür bin ich dankbar. Und doch …“ Seine Augen verdunkelten sich, und sie wusste, woran er dachte. „Trinken wir auf geliebte Menschen, die wir vermissen. Wo immer Kit ist, was er auch tut – der Allmächtige möge ihn beschützen und zu uns zurückbringen.“

„Auf geliebte Menschen, die wir vermissen“, wiederholte sie und verdrängte die komplizierten Gefühle, die sie jedes Mal erfüllten, wenn ihr Bruder erwähnt wurde.

Sie stießen miteinander an und tranken. Als Emma den bitteren Geschmack des Dunkelbiers wahrnahm, erschauerte sie ein wenig. Früher hatten sie an Papas Geburtstag Champagner aus Kristallkelchen getrunken, in einem anderen Leben. Ihr Vater schien diese Erinnerungen zu erraten, denn er drückte schweigend ihre Hand. Über solche Dinge sprachen sie niemals, das würde nicht zu seinem und ihrem Wesen passen.

Etwas mühsam zwang sie sich zu einem Lächeln. „Iss deine Schweinekoteletts, bevor sie kalt werden.“

„Mit Vergnügen, mein Mädchen.“

Am nächsten Tag fand ein exquisiter Lunch im Speisezimmer eines stattlichen Hauses am Cavendish Square statt. Der Kamin bestand aus schwarzem Marmor. An den rot tapezierten Wänden hingen Gemälde von Landschaften in Schottland und Gebieten in Übersee, die Ned bereist hatte. Die Kristalltropfen des gigantischen Lüsters über dem Tisch tanzten und funkelten in der leichten Brise, die durch die beiden geöffneten Erkerfenster hereinwehte. Auch die gefransten Quasten der dunkelroten Damastvorhänge bewegten sich ein wenig.

Draußen schimmerte der Himmel im goldenen Licht eines Sommertags, das sich im Silber, Kristall und edlem Porzellan auf dem großen Mahagonitisch spiegelte. Daran hätten achtzehn Personen Platz gefunden. Aber nur fünf Männer genossen die erlesene Mahlzeit. Der Ehrengast war der Handelsminister. Zu seiner Linken saß sein Sekretär, direkt gegenüber der Besitzer der größten Fabrik im Norden neben einem Reeder, dessen Handelsschiffe zwischen England, den Westindischen Inseln und Amerika verkehrten. Ned hatte als Gastgeber am Kopfende der Tafel Platz genommen.

Die köstlichen Speisen, die er seinen Gästen bot, hatte ein Koch zubereitet, der früher in den Diensten des Prinzregenten gestanden hatte. Der Butler und die Lakaien waren gut genug ausgebildet, um die Gläser je nach Bedarf ständig mit teuren französischen Weinen zu füllen. Natürlich gab es zu jedem Gang einen anderen. Ned wusste, worauf ein Mann achten musste, wenn er geschäftliche Erfolge und politischen Einfluss erzielen wollte.

„Versprechen kann ich nichts“, erklärte der Minister.

„Darum habe ich Sie auch gar nicht gebeten, Sir“, antwortete Ned.

„Und die Quelle der Zahlen, die Sie genannt haben?“

„Seriös.“

„Glauben Sie wirklich, es könnte funktionieren?“

Ned nickte.

„Dabei würden Sie genauso viel riskieren wie wir. Vielleicht noch mehr, weil es um Ihr Geld geht.“

„Nur wer wagt, gewinnt.“

„Wenn wir die Abstimmung verlieren und das Gesetz nicht erlassen wird …“

„Sie würden es überleben, Sir.“

„Aber Sie auch, Mr Stratham?“, fragte der Minister.

„Das ist nicht Ihr Problem.“ Ned hielt dem prüfenden Blick des Politikers stand.

Schließlich nickte der Handelsminister. „Morgen werde ich die nötigen Vorbereitungen in die Wege leiten.“

„Sind wir uns einig?“ Ned streckte die Rechte aus.

Von sichtlichem Unbehagen erfasst, schluckte der Minister. Zwischen Worten und einem Handschlag bestand ein großer Unterschied. Mit einem Handschlag setzte ein Mann in gehobener Stellung seine Ehre aufs Spiel. Das Schweigen zog sich in die Länge und war allen Anwesenden außer Ned unangenehm. In solchen Momenten empfand er sogar ein gewisses ironisches Vergnügen – wie jedes Mal, wenn er die Skepsis von Gentlemen, die seiner fragwürdigen Herkunft galt, für seine Zwecke nutzte.

Nervös warteten die drei anderen Gäste die Entscheidung des Ministers ab, der endlich lächelte und Ned die Hand schüttelte. „Also gut, Sir, Sie haben mich überzeugt.“

„Das freut mich.“

Kurz nach sechs Uhr war die Besprechung beendet, vier der einflussreichsten Männer des Landes verließen den Cavendish Square. Der Butler und die beiden Lakaien warteten im Speiseraum, als Ned zurückkehrte, nachdem er seine Gäste hinausgeleitet hatte. An einer Wand postiert, schauten sie ins Leere. Wieder einmal wunderte er sich, dass Gentlemen vertrauliche geschäftliche Einzelheiten vor Dienstboten zu diskutieren pflegten, als wären sie keine Personen, würden weder sehen noch hören, was in ihrer Gegenwart vorging.

Ned wusste es besser. Er setzte sich wieder an den Tisch und griff nach dem fast vollen Weinglas. Der Sonnenschein ließ den Portwein rubinrot schimmern. Ins Glas graviert, funkelte ein Buchstabe: S für Stratham.

Eine Zeit lang hatte der Minister sich gewunden und gezögert. Aber letzten Endes war das Geschäft zustande gekommen. Davon werden viele Leute profitieren, dachte Ned mit grimmiger Genugtuung.

Der Butler räusperte sich und trat an den Tisch. „Wünschen Sie noch etwas Portwein, Sir?“

„Nein, danke, Clarkson“, erwiderte Ned

Was würde der Mann sagen, wenn ich ein Ale verlange? In Mayfair tranken die Gentlemen kein Bier, in keinem der vornehmen Restaurants. Nicht einmal in ihren eigenen Häusern. Und Ned musste die Rolle eines Gentlemans spielen.

Der Gedanke, wie gut jetzt ein Ale schmecken würde, erinnerte ihn an Whitechapel und den Red Lion. An Emma de Lisle, an den warmen Glanz ihrer dunklen Augen, das heitere Selbstvertrauen, das sie ausstrahlte. Er schaute zum Fenster, spürte die kühle Luft, die sich mit dem Zigarrenrauch im Speisezimmer mischte. Gewiss, es gab einiges zu tun. Aber nicht an diesem Abend. Er stellte das edle Kristallglas auf den Tisch.

Als er aufstand, erschien der Butler wieder an seiner Seite.

„Ich gehe aus, Clarkson.“

„Sehr wohl, Sir. Soll ich die Kutsche vorfahren lassen?“

„Nein.“ Dieses spezielle Ziel wollte er nicht mit einer eleganten Kutsche ansteuern. „Bei diesem schönen Wetter gehe ich lieber zu Fuß.“

Dann zog er sich in seinem Schlafzimmer um, schlüpfte in die alte Lederjacke, eine passende Hose, die zerkratzten Stiefel und ergriff den schäbigen Hut.

Die Küchenhitze mischte sich mit der stickigen Luft, die sich tagsüber im Schankraum des Red Lion gestaut hatte. Obwohl alle Fenster und Türen offen standen, war die Atmosphäre fast unerträglich.

Wegen der Hitzewelle hatte Nancy ihr Personal beauftragt, Tische und Stühle ins Freie zu tragen. Nun konnten einige Gäste ihr Bier im halbwegs kühlen Schatten trinken. „Drei Krüge Ale!“, schrie sie.

Emma lief zum Tresen und spürte den Schweiß, der zwischen ihren Brüsten hinabrann. Noch nie war ihr eine Schicht so lang erschienen, ihre Füße schmerzten höllisch. Sie hob das Tablett auf ihre Schulter und blies eine dunkle Haarsträhne beiseite, die sich aus den Nadeln gelöst hatte und ihr ins Gesicht hing.

Als sie aus der Tür rannte, stieß sie mit Ned Stratham zusammen. Beinahe wäre das Tablett zu Boden gefallen. Zum Glück hielt er es fest, um eine Rutschpartie der Bierkrüge und ein Desaster zu verhindern.

„Mr Stratham …“, japste sie und spürte ein Flattern in ihrem Magen. „An zwei Abenden hintereinander besuchen Sie uns? Etwas ganz Neues …“ Manchmal war er wochenlang nicht aufgetaucht.

Sein eindringlicher Blick hielt ihren etwas zu lange fest. „Zählen Sie die Abende, die ich hier verbringe?“

„Als ob ich Zeit dazu hätte!“

Bevor er zur Seite trat und sie vorbeiließ, las sie unverhohlene Belustigung in seinen blauen Augen. Sie schaute nicht zurück und servierte den Gästen, die in der schattigen Gasse saßen, die Bierkrüge. Doch sie war sich seiner Nähe etwas zu intensiv bewusst. Selbstironisch lächelte sie und räumte die Tische ab, ehe sie in den Schankraum zurückkehrte.

Drinnen war kein Stuhl frei. Ned lehnte lässig mit seinem Bierkrug an der Theke. Weder die Hitze noch der Platzmangel schienen ihn zu stören.

„Sechs Ale, Em, und zwei Stout!“, rief Paulette. Direkt neben Ned knallte sie den letzten Krug auf den Holztresen.

Emma beschleunigte ihre Schritte zur Theke. Während sie ihr Tablett ablud, spähte sie in Neds Richtung.

„Ziemlich viel los heute Abend“, bemerkte er.

„Im Hafen ist ein Schoner eingetroffen. Seit heute Mittag sitzt die ganze Besatzung im Red Lion.“

„Gut fürs Geschäft.“

„Leider zur Unzeit. Heute ist Tom nicht gekommen, und Nancy muss ihn in der Küche vertreten.“ Emma begann das frisch gezapfte Bier auf ihr Tablett zu platzieren.

„Und ich wette, sie ist bester Laune.“

„Wie gut sie unsere Wirtin kennen, Sir …“

In der Durchreiche erschien Nancys feuerrotes, verschwitztes Gesicht. „Dreimal gemischter Braten!“, stieß sie hervor, knallte die Teller auf das Brett und starrte Emma missmutig an.

„Wo bleibt mein verdammtes Essen?“, brüllte jemand auf der anderen Seite des Raums.

„Noch ein freches Wort, und ich ziehe dir die verdammte Haut ab!“, kreischte Nancy.

Amüsiert wechselten Emma und Ned einen kurzen Blick. „Genießen Sie Ihr Ale“, sagte sie und eilte davon, um das Bier zu servieren und die gefüllten Teller zu holen.

„Beeil dich, Mädchen!“, rief ein Seemann, der an einem Tisch in der Mitte des Raums saß. „Ich verdurste. Wie lange muss man in dieser Kaschemme auf einen Krug warten?“

„Wir arbeiten so schnell wie möglich!“, konterte Paulette hinter der Theke empört.

„Fünf Ale, die Herren.“ Im Gegensatz zum allgemeinen Geschrei und Gelächter klang Emmas Stimme ruhig und sanft. Vor jeden Mann stellte sie einen Krug mit Bier hin, bevor sie weiterging, um die restlichen Getränke zu servieren. Ned beobachtete, wie sie zu einem großen Tisch in der Ecke eilte, wo ein Teil der Mannschaft des Schoners schon sternhagelvoll war.

Dann versteifte er sich, denn einer der Seemänner kniff ihr grinsend in die Hüfte, als sie sich vorbeugte und einen Krug auf die andere Seite des Tisches stellen wollte. Nur ganz leicht, aber sehr wirkungsvoll bewegte sie sich, und der Inhalt des Krugs ergoss sich in den Schritt des unverschämten Kerls. Der Mann schrie und fluchte. Schwankend kam er auf die Beine und starrte seine nasse Hose an. „Was zum Geier treibst du, Mädchen?“ Alle seine Kameraden lachten spöttisch.

„Tut mir so leid“, beteuerte Emma scheinheilig. „Ich bringe Ihnen noch ein Ale. Hoffentlich wird es nicht so wie das erste verschüttet.“ Bei diesen Worten glitzerte eine kalte Warnung in ihren Augen.

Der Mann murmelte etwas Unverständliches und setzte sich wieder.

„Wie sind Sie bloß auf diese Idee gekommen?“, fragte Ned, als sie zur Theke zurückkehrte. „Das wundert mich“, fügte er hinzu, ohne von der kleinen Elfenbeinscheibe aufzublicken, die über seine Finger tanzte.

„Mich auch.“

Jetzt schaute er sie an. Die Strähnen, die sich aus ihren Haarnadeln gelöst hatten, schimmerten wie feuchtes Ebenholz auf der goldenen Haut ihres Halses. Bei jedem ihrer Atemzüge sah Ned, wie sich die vollen Brüste im tiefen Blusenausschnitt über dem engen Mieder hoben und senkten. Bevor sie wieder durch den Schankraum eilte, lächelten sie einander an. Hingerissen von ihren Reizen und ihrer Vitalität, verspürte er eine Begierde, die er normalerweise zügelte.

Und nach den Blicken der Seemänner zu urteilen, war er nicht der Einzige, dem es so erging. Nach so vielen Monaten auf hoher See kannten die meisten Männer, sobald sie an Land waren, nur zwei Wünsche – Bier und Frauen. Den ersten hatten sie sich erfüllt, nun verlangten sie nach dem zweiten Genuss.

Autor

Margaret Mc Phee
<p>Margaret McPhee lebt mit ihrem Ehemann an der Westküste Schottlands. Ganz besonders stolz ist sie auf ihre Kaninchendame Gwinnie, die mit ihren acht Jahren eine alte Lady unter ihren Artgenossen ist. Als Wissenschaftlerin ausgebildet, hatte sie trotzdem immer eine romantische Ader. Ihrem Mann begegnete sie zum ersten Mal auf der...
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