Endlich wieder Liebe

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Schon beim ersten Blick des berühmten Reporters Chase Reynolds verspürt Nettie ein wundervolles Kribbeln! Überraschend hält er gleich um ihre Hand an. Aber will er die Ehe vielleicht nur, um die Vormundschaft für seinen Sohn zu behalten? Nettie jedenfalls lehnt ab …


  • Erscheinungstag 28.12.2014
  • ISBN / Artikelnummer 9783733787196
  • Seitenanzahl 128
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Nettie Owens blickte trotzig zum Himmel, der sich grau in grau über der Prärie von North Dakota erstreckte. Gleich geht es los, dachte sie. Und da frischte auch schon der Wind auf und blies ihr die dunklen Locken aus dem Gesicht.

„Eins zu null für mich“, freute sie sich und atmete tief die frische Luft ein.

In letzter Zeit glich ihre Stimmung nicht selten diesem trostlosen Grau des Himmels, obgleich es auch Zeiten gab, da der Wunsch, etwas zu verändern, sich zu befreien, unermesslich groß wurde. Nettie runzelte die Stirn. Was würde passieren, wenn sie jemandem, den sie gut kannte, von dieser tiefen Ruhelosigkeit erzählte?

Ein verschmitztes Lächeln umspielte ihren Mund. Sie würden Dr. Brody rufen, der daraufhin so viele Beruhigungstabletten verschrieb, dass man damit eine ganze Stadt ruhigstellen konnte.

Eine Frau, die solche Schicksalsschläge wie Nettie verkraften musste, sollte damit rechnen, dass die Nachbarn sofort zum Telefonhörer griffen, wenn sie verrückt spielte. Jedenfalls in Kalamoose, North Dakota.

Was zu verstehen war. Während der letzten zwei Jahre hatte Nettie keinen einzigen Schritt über die Grenzen ihrer kleinen Stadt hinaus getan. Und noch ein Jahr zuvor hatte sie sich kaum aus ihrem Haus gewagt. Das mit Schindeln gedeckte Gebäude bedeutete für sie die feste Burg, der sichere Hafen.

Agoraphobie nach traumatischem Stress war die Diagnose für ihren Zustand. Der Laie würde sagen, sie wäre überängstlich. Alles flöße ihr Furcht ein.

Voller Angst erinnerte sie sich an Ereignisse in der Vergangenheit und lebte in der Erwartung, sie könnten sich wiederholen. Sie fürchtete sich vor Geschehnissen, die nie passiert waren und wahrscheinlich nie eintreten würden. Sie machte sich Sorgen um ihre Schwestern und Freunde, und was passieren konnte, falls der Weizenpreis fiel. Und seit Kurzem machte sie sich auch wegen ihrer großen Ängste Sorgen.

Früher war das anders gewesen. Früher ähnelte Nettie mehr ihren Schwestern, war mutig wie Sara und keck wie Lilah. Damals war sie überaus neugierig auf die Welt außerhalb von Kalamoose.

Der Wind wirkte belebend. Nettie stand still und breitete die Arme aus. Als die ersten Tropfen fielen, begann sie zu laufen.

Sie war barfuß, das Gras fühlte sich kühl und weich an, ihr Sommerrock umspielte ihre Beine. Allmählich steigerte sie die Geschwindigkeit, spürte, wie ihr der Wind um die Ohren pfiff. Als es stärker zu regnen begann, lief sie noch schneller und verlangsamte erst ihre Schritte, als sie den ungepflasterten Weg erreichte, der ihr Grundstück begrenzte.

Keuchend beugte sie sich vornüber und stützte die Hände auf die Knie. Ihr Herz klopfte so wild wie während jener Zustände, die ihre Ärzte in Chicago Panikattacken nannten.

Hätte man Nettie während der letzten drei Jahre nach ihrem größten Wunsch gefragt, so hätte sie zur Antwort gegeben: „Ich wünsche mir, keine Angst mehr zu haben.“

Aber so einfach ließ sich das Leben nicht meistern, das hatte Nettie inzwischen gelernt. Immerhin, jetzt suchte sie es wieder, das Leben – Regen und Wind – und einen Körper, der vor Lebendigkeit sprühte.

Wie und ob ihr Ziel überhaupt erreichbar war, wusste sie nicht mehr. Es war so lange her …

Inzwischen ging der Regen in Nieseln über. Die Wolkendecke war ein Stück aufgerissen. Nettie lächelte staunend. Ein doppelter Regenbogen. Wenn das kein Zeichen war!

Als Chase Reynolds am Donnerstagabend gegen Viertel nach acht die kleine Dorfkneipe betrat, fiel ihm als Erstes der Duft nach Kaffee und Essen auf.

Da er seit drei Tagen unterwegs war, begann er bereits das Gefühl für Zeit und Raum zu verlieren. Im Moment wusste er nur, dass er sich in North Dakota befand und hungrig war wie ein Wolf.

„Hallo, Honey. Wünschen Sie einen Tisch oder einen Platz an der Theke?“, fragte eine blonde Bedienung mittleren Alters, die ihm mit einer Menükarte und einer Kanne Kaffee entgegenkam.

Gewohnheitsmäßig suchte sich Chase einen Platz, von wo aus er die Ein- und Ausgänge des Restaurants im Auge behalten konnte, ohne selbst sofort bemerkt zu werden. Aber vermutlich war das in einer Provinzkneipe wie dieser überflüssig. Gesegnete Anonymität. Die meisten kleinen Städte, die er passiert hatte, hatten wahrscheinlich seit Reagans Zeiten außer ihrem Lokalblatt keine andere Zeitung mehr gesehen.

Chase fand eine Nische am Fenster. Hier nahm er mit Blick auf die Tür Platz, kehrte aber gleichzeitig den beiden Männern den Rücken zu, die außer ihm die einzigen Gäste waren. Es war offensichtlich, dass sich die beiden über den Porsche ereiferten, den Chase vor der Tür geparkt hatte. Harmlos, dachte Chase. Sollen sie glotzen so viel sie mögen. Hauptsache, sie erkennen mich nicht.

Er bestellte das Gericht, das ihm auf der Menükarte zuerst ins Auge fiel, und ließ sich eine Tasse Kaffee einschenken. Was er neben einer warmen Mahlzeit jetzt brauchte, war eine Woche ungestörten Schlafes.

Auf der Suche nach einem Ort der Ruhe hatte er das Angebot eines alten Freundes angenommen, ihn auf seiner großen Getreidefarm in der Wildnis von North Dakota zu besuchen.

Ein müdes Lächeln huschte über Chases Gesicht. Als Versteck schien die Farm wohl das Richtige zu sein. Bis jetzt hatte er sie noch nicht ausfindig machen können.

Sobald er gegessen und getankt hatte, wollte er weiterfahren. Sollte ihm das Schicksal gnädig sein, würde er sicher bald in der Lage sein, über den nächsten Schritt seines Planes zu entscheiden.

Am Freitagabend betrat Nettie das Bezirksgefängnis von Kalamoose, um dem Sheriff, der seit dem frühen Morgen im Dienst war, das Abendessen zu bringen. Sie wurde mit den Worten: „Na, was bringst du mir heute?“, salopp begrüßt.

Nettie schüttelte den Kopf. „Niemand könnte dich jemals wegen zu höflichen Benehmens verklagen.“

„Das weiß doch jeder.“ Die Akten klatschten auf den mit Unterlagen vollgestellten Schreibtisch. „Du bist die in unserer Familie, die über die guten Manieren verfügt.“

Nettie machte auf dem Tisch Platz und servierte den heißen Kaffee und eine ordentliche Portion Pfirsichkuchen. Sie musste lachen, als Sara sofort eifrig zulangte. „Mmm.“

Seit ihr Onkel Harmon Owens vor zwei Jahren verstorben war, arbeitete Nettie Owens’ ältere Schwester Sara als Sheriff in Kalamoose. Da sie lange Stellvertreter ihres Onkels gewesen war, hatten ihre Nachbarn Zeit genug, sich daran zu gewöhnen, dass Sara den Stern trug. Obwohl sie nicht älter als dreißig und eine Frau war, äußerte niemand in dem konservativen Ort Bedenken gegen ihre Position als Sheriff.

„Himmlisch“, lobte Sara. „Deine Backkünste stehen denen von Mama in nichts nach.“

„Danke.“ Lächelnd akzeptierte Nettie das Kompliment. Sie pflegte zu backen, wenn sie sich angespannt oder niedergeschlagen fühlte.

Nettie war nur fünf Jahre jünger als Sara, aber sowohl äußerlich als auch in ihrer Art sich zu geben grundlegend anders. Während Nettie die schwarzen Locken ihrer Großmutter mütterlicherseits geerbt hatte, helle Haut und runde Formen besaß, glich Sara eher der Owens-Seite der Familie. Sie war groß und dünn wie eine Bohnenstange, und ihre leuchtend roten Haare unterstrichen noch ihre unerschrockene Art, mit der sie den Menschen begegnete.

Noch während sie genüsslich ihren Kuchen verspeiste, suchte Sara unter einem Stapel Unterlagen nach einem hochinteressanten Bericht, den sie eine Woche zuvor erhalten hatte.

Plötzlich erklang die Stimme von Ernie Karpoun, dem Besitzer des Lokals Gute Küche über den Polizeifunk. „Erster Wachhund an den roten Sheriff.“

„Was ist los, Ernie?“ Keine Antwort. Sara verdrehte die Augen und betätigte noch einmal energisch den Knopf. „Wachhund, hast du was für mich?“

„Eine Menge Arbeit. Am besten lässt du schon mal den Streifenwagen warm laufen.“

„Himmel.“ Sara sah ihre Schwester an. Arbeit in Ernies Lokal bedeutete gemeinhin, jemand hatte bemerkt, dass die Pommes nicht frisch, sondern aus der Gefriertruhe kamen. „Was gibt’s?“

„Du hast doch von diesem Burschen gehört, der in der Nähe von Fargo einige Banken überfallen hat? Unsere Bank könnte die nächste sein.“

„Wirklich?“ Sara lächelte matt. „Wieso sollte der Gentleman-Anrufer an unserer kleinen Zweigstelle interessiert sein, Ernie?“

„Warum hängt er sonst hier in Kalamoose herum?“ Sara hätte sich beinahe verschluckt. „Das musst du mir erklären.“

„Der Kerl sitzt hier in meinem Lokal.“ Ernies Aufregung war nicht zu überhören. „Zuerst war ich mir nicht ganz sicher, aber … Oh, Gloria winkt mir gerade zu. Das ist unser Zeichen für den Fall, dass er Anstalten zum Aufbruch macht. Er bestellte den Grillteller. Das ist eine Riesenportion, aber er isst schnell, weil er immer auf der Flucht ist …“

„Ernie“, unterbrach ihn Sara, während Nettie sich vor Lachen die Hand vor den Mund hielt, „sag mir genau, warum du glaubst, dein Gast könnte der Gentleman-Anrufer sein. Beschreib ihn mir.“

„Er gleicht dieser Abbildung in der Zeitung vor ein paar Wochen. Sieht eigentlich eher normal aus. Gloria findet sogar, er sei attraktiv. Trägt einen Dreitagebart, wahrscheinlich, damit ihn niemand erkennt.“

Nettie war überrascht, dass Sara tatsächlich Notizen machte. „Das Bild in der Zeitung war so undeutlich, das hättest auch du sein können, Sara.“

Wieder ertönte Ernies krächzende Stimme. „Okay, Sheriff. Was hältst du davon? Als Gloria die Rechnung auf den Tisch legte, zahlte er sofort. Aus seiner Tasche kam ein Riesenbündel Geldscheine zum Vorschein. Dann stellte er Gloria auch noch Fragen zur Stadt und Umgebung. Er war durchaus höflich, genau wie er beschrieben wird, aber er spricht so ruhig und unnatürlich leise, als ob er seine Stimme verstellen würde.“

Sara straffte die Schultern. Netties Lachen verstummte. Reglos beobachtete sie die Reaktion ihrer Schwester, die sich nun vorbeugte und ruhig ihre Anweisung gab. „Ich bin gleich bei dir, Ernie. Halte ihn auf, wenn du kannst.“

„Aber sicher. Nur wie?“

Sara war schon auf den Beinen. „Biete ihm ein Dessert an. Auf deine Kosten. Dazu Kaffee. Gloria kann ihm Limonade über die Hose schütten … Dir fällt schon was ein. Aber versuche nicht, ihn gegen seinen Willen dazubehalten. Das macht ihn misstrauisch. Verstanden?“

„Roger, Sheriff. Du kannst auf uns zählen.“

Im Fortgehen tastete Sara automatisch nach der Pistole am Gürtel, um sich zu vergewissern, dass sich alles an Ort und Stelle befand.

Nettie schaute Sara groß an. „Bist du sicher, dass das der Bankräuber ist?“

„Ich weiß es nicht. Könnte sein.“

Netties Herz begann wild zu klopfen. Wollte Sara tatsächlich allein fahren? Als sie merkte, dass sie vor Nervosität auf einem Daumennagel kaute, verbarg sie die Hand hinter dem Rücken. Kaum zwei Stunden zuvor hatte sie den Entschluss gefasst, sich keine Sorgen mehr zu machen und stattdessen zu leben.

Aber ihr war klar, sie konnte den Kampf gegen ihre Angst kaum gewinnen, wenn die Sicherheit eines Menschen, den sie liebte, auf dem Spiel stand. „Wenn dieser Mann der Gentleman-Anrufer ist, so weiß er, dass er gejagt wird. Und Gejagte fühlen sich in die Enge getrieben. Sie versuchen, sich zu verteidigen. Du solltest Beistand anfordern.“

Sara eilte zur Tür. „Fünfzigtausend Dollar Belohnung stehen an, wenn es der Gesuchte ist, Nettie.“ Mehr hatte Sara nicht zu sagen. Sie eilte zum Polizeiwagen, der am Straßenrand parkte.

Nettie folgte ihr. In ihrem Kopf läuteten die Alarmglocken. Sie wusste genau, was im Kopf ihrer Schwester vor sich ging. Kalamoose war in finanziellen Schwierigkeiten. Vor Jahren hatte sich Sara vorgenommen, mehr zu tun als nur für die Sicherheit der Einwohner zu sorgen. Sie wollte die Stadt, die sie liebte, retten. Um jeden Preis. Fünfzigtausend Dollar Belohnung wären ein guter Anfang.

„Bitte, Sara. Geh nicht ohne Begleitung“, versuchte Nettie noch einmal, Sara von ihrem Vorhaben abzuhalten. „Ich sterbe vor Angst.“

Die Scheinwerfer leuchteten auf, aber aus Respekt vor ihrer Schwester nahm sich Sara noch einen Moment Zeit und rief ihr aus dem Fenster zu: „Ich bin der Sheriff, Nettie. Das ist mein Job. Geh nach Hause, ja? Versuch, dich zu entspannen. Ich bin bald wieder zurück.“

Angsterfüllt drehte sich Nettie um und ging zum Gefängnis zurück. Aber vor der Tür blieb sie stehen. Es war kühler auf der Straße, und das Atmen fiel ihr hier leichter.

Ich bin also ein Feigling, überlegte sie. Dafür hatte sie bisher aber auch mehr über das Leben gelernt als ihre Schwestern. Das Schicksal konnte jederzeit eine neue schlechte Karte aus dem Ärmel ziehen. Wenn Nettie übermäßig ängstlich war, so lag das daran, dass sie auf härteste Weise erfahren musste, dass man gar nicht genug Vorsicht walten lassen konnte.

Es war stockdunkel, als Chase mit vor Zorn zusammengekniffenen Augen das Gefängnis von Kalamoose betrat, die Hände auf dem Rücken in Handschellen gefesselt.

Kein Mensch würde glauben, dass er von einem klapperdürren weiblichen Sheriff in einer Stadt verhaftet wurde, deren Grenzen keinen Steinwurf voneinander entfernt waren. In den letzten Jahren hatte er sich einige Male in ähnliche Situationen hineinmanövriert. In drei verschiedenen Ländern wurde er von Polizeibeamten verhaftet und von den besten Agenten des FBI verhört, doch jedes Mal war es ihm gelungen, ohne einen Kratzer davonzukommen.

Nach weniger als einer Stunde in Kalamoose, North Dakota, fand er sich in Handschellen wieder, nachdem man ihn zuvor mit Kuchen gemästet und mit Limonade übergossen hatte. Das konnte einfach nicht wahr sein.

„Weiter.“ Der schlecht gelaunte weibliche Sheriff stieß ihn vorwärts. Chase spannte die Muskeln seines Unterkiefers. Wenn sie das noch einmal machte, würde er ausrasten.

Als er seine Augen an das trübe Gefängnislicht gewöhnte, staunte er nicht schlecht. Zauberhafte Spitzengardinen schmückten die Fenster. Eine Vase mit Blumen stand auf einem kleinen Holztisch, und Bilder, meist Landschaftsmotive mit grasenden Schafen, hingen an den Wänden.

Als er sich verwundert umschaute, schob ihn der Sheriff erneut vorwärts. „Ich sagte …“, begann sie, aber Chase hatte sich schon blitzschnell umgedreht.

„Tun Sie das nie wieder“, stieß er hervor, wobei er jedes Wort trotz zusammengebissener Zähne betonte.

Obwohl Sara zwei Köpfe kleiner war als Chase mit seinen ein Meter neunzig, zögerte sie nur einen Moment. Ihre Hand flog zum Pistolenhalfter. „Sagen Sie mir nicht, was ich zu tun habe, Großmaul“, gab sie zurück. „Sie sind derjenige, der in Handschellen steckt. Ihr Zimmer befindet sich zur Linken.“ Sie schob das Kinn vor. „Beeilen Sie sich. Kleines Frühstück gibt’s um acht.“

Extrem langsam folgte Chase ihren Befehlen und begab sich in die Zelle, als ginge er spazieren. Falls ihm das Recht zu telefonieren zugestanden wurde, wollte er seinen Anwalt anrufen, der es in diesem Monat wahrscheinlich schon leid war, von ihm zu hören. Außerdem musste er Nick anrufen, der ihn auf der Farm erwartete. In der Zwischenzeit konnte er versuchen zu schlafen.

Der Gedanke, die Verhaftung könnte öffentliches Aufsehen verursachen, irritierte ihn. Öffentliches Aufsehen würde seinem Vorhaben großen Schaden zufügen.

Vor der Zelle zu seiner Linken hielt er abrupt inne. Der Raum schien bereits besetzt zu sein.

Auf der schmalen Liege lag engelsgleich, mit geschlossenen Augen, die Hände unter eine Wange geschmiegt, eine wunderschöne Frau. Sie trug ein weißes T-Shirt, einen dünnen taillenlangen Pullover und einen Rock, der die runden Hüften und langen Beine betonte. Chase bemerkte die Reaktion seines Körpers. Gedanken an Frauen hatten ihn in letzter Zeit höchst selten beschäftigt, obgleich er sich zu den Männern zählte, die jederzeit bereit waren …

„Nettie.“ Die Stimme des Sheriffs klang überrascht und verärgert zugleich. Als Chase näher trat, bewegte sich das Dornröschen. Lange Augenlider hoben sich, verführerische Lippen öffneten sich. Die junge Frau sah ihn direkt an.

„Nun“, murmelte Chase lächelnd, als stünde er nicht in einer Gefängniszelle, sondern in der Bar eines Nachtclubs, „verraten Sie mir noch einmal, wann genau es das kleine Frühstück gibt?“

2. KAPITEL

Die Augen des Mannes unter dem Schirm seiner Mütze leuchteten hell, und als er lächelte, nahm Nettie auch das Blitzen seiner schneeweißen Zähne wahr. Ein heftiger Adrenalinstoß durchströmte ihren Körper und ließ ihr Herz flattern.

Während anderswo die große Aktion stattfand, hatte sie nicht einfach nach Hause gehen können. Das war ihr bald klar geworden. Leider hatte sie nach dem Aufräumen des Gefängnisses so große Müdigkeit übermannt, dass sie eingenickt war.

„Hallo, Dornröschen, sind Sie immer hier, um die Gefangenen zu begrüßen, oder bin ich die glückliche Ausnahme?“

Chase hatte die letzte Silbe kaum ausgesprochen, als er von hinten erneut vorwärts gestoßen wurde.

„Behalten Sie Ihre ungehörigen Gedanken für sich.“

Saras keifende Stimme drang wie durch einen Nebel an Netties Ohr. Als der Mann stolperte, sich aber gerade noch fing, sah Nettie die silberfarbenen Handschellen an seinen Handgelenken. Ihr Atem stoppte. Sara war tatsächlich mit dem Gentleman-Anrufer zurückgekehrt.

Groß war der Bankräuber, eindrucksvoll und zornig. Tief atmete er durch und drehte sich absichtlich ganz langsam zu Sara um. „Ich habe Sie aufgefordert, mich nicht noch einmal zu stoßen.“ Sein Ton unterschied sich deutlich von dem sanft seidigen Säuseln, mit dem er Nettie angesprochen hatte. „Stimmt das?“

„Richtig. Aber Sie haben vergessen, Bitte zu sagen.“

Sara! Nettie wedelte mit den Armen und versuchte, ihre Schwester davor zurückzuhalten, noch mehr zu sagen oder zu tun. Sie merkte bereits, dass dieser Gentleman-Anrufer nicht der freundliche Antiheld war, zu dem die Presse ihn machte. Da war so eine böse Linie um seinen Mund. Außerdem war er schwer zu durchschauen, lächelte in dem einen und schimpfte im nächsten Moment. Außerdem war er sehr groß und damit sicherlich stärker als Sara. Aber Sara kannte keine Furcht.

Blitzschnell sprang Nettie von der Liege und eilte zur Zellentür.

Wovor fürchtet sie sich? Chase runzelte die Stirn. Er hatte sich ihr gegenüber doch recht freundlich verhalten. Glaubte sie, er würde ihr etwas antun? Forschend sah er Nettie an.

Seltsam, in diesem Moment verlor alles um ihn herum an Bedeutung: das Gefängnis, der Sheriff, der Grund für seinen Aufenthalt in Kalamoose. Er sah nur noch die völlig verängstigte Schönheit vor sich und spürte instinktiv, dass diese Angst ihr ständiger Begleiter war.

Hab keine Angst, mein Engel. Nicht vor mir.

Chase ging einen Schritt auf sie zu, um ihr die Hände entgegenzustrecken. Doch er hatte die Handschellen vergessen. In dem Moment, als die Frau zurückschreckte, fühlte er den schneidenden Schmerz, den ihm die stählernen Ringe zufügten.

„Keinen Schritt weiter.“ Die Stimme des Sheriffs klang tödlich ernst. „Meine Pistole ist auf Ihr Knie gerichtet.“

Chase atmete tief ein. „Tatsächlich? Auf welches?“

„Das können Sie sich aussuchen, Großmaul. Komm da raus, Nettie.“

Chase hatte eine passende Antwort auf der Zunge, bemühte sich jedoch, seine Wut unter Kontrolle zu bringen. „Lassen Sie es mich einmal deutlich aussprechen: Für eine Nacht habe ich wirklich genug von der Gastfreundschaft dieser Stadt. Falls es noch einen vernünftigen Menschen in dieser Stadt gibt, so holen Sie ihn her und gestatten ihm, meinen Anwalt anzurufen.“

„Vorwärts, in die Zelle, Mister. Ich verliere gleich die Geduld.“ Sara hob die Waffe. Ihre Miene ließ keinen Zweifel an ihrer Absicht, ihm gleich eine Kugel zu verpassen. Nettie beobachtete, wie ihre Schwester vor Zorn bebte, während der Fremde Anstalten machte, sich auf Sara zu stürzen.

Netties Puls raste. Am liebsten wäre sie weggelaufen. Aber heute durfte sie sich von ihrer Angst nicht lähmen lassen, nicht, wenn ein Mitglied ihrer Familie in Gefahr war.

Insgeheim flehte sie zu Gott, er möge dafür sorgen, dass ihre gummiweichen Beine nicht den Dienst versagten. Sie rannte zum Lagerraum, wo sich ein Gewehr befand.

Nettie ergriff das Gewehr, prüfte, ob es geladen war, löste die Sicherung, wie ihr Vater und Onkel Harm es den drei Owens-Mädchen beigebracht hatten, und atmete noch einmal tief durch. Dann rannte sie zur Zelle zurück.

Drohend stand der Gentleman-Anrufer vor Sara. Dass Sara mit der Pistole auf sein Knie zielte, schien ihn wenig zu interessieren. „Ich hoffe wirklich, Sie haben eine gute Erklärung für das, was Sie tun. Denn wenn ich Sie wegen dieser ungerechtfertigten Verhaftung verklage, können Sie Ihrem heiß geliebten Job hier Ade sagen.“

Nettie zuckte zusammen. Mit seinen Worten traf er Sara zutiefst.

„Meinen Sie?“, erwiderte Sara. „Ich will Ihnen etwas sagen. Nach der Verhandlung werde ich nicht nur meinen Job behalten, ich werde mir sogar noch die Belohnung von fünfzigtausend Dollar holen.“

„Einen Dreck werden Sie sich holen. Nehmen Sie mir schon endlich diese verdammten Handschellen ab.“

„Aufhören. Alle beide.“ Nettie hob die Winchester.

Chase und der Sheriff zuckten zusammen und erstarrten.

Langsam drehte sich Chase um. Wenige Meter entfernt von ihm stand die junge Frau, das Gewehr im Anschlag. Ihr Gesicht war erhitzt, ihre Arme zitterten. Doch der Ausdruck ihrer Augen war wild und entschlossen.

„Schämt euch“, rief Nettie. „Könnt ihr euch nicht wie ein normaler Sheriff und ein normaler Bankräuber benehmen?“

„Bankräuber? Okay, Sie haben recht. Wir sollten uns beruhigen.“ Chase lächelte. „Ich bin sicher, das Missverständnis, das uns hier zusammengebracht hat, lässt sich klären.“

„Genug geredet. Bitte gehen Sie jetzt in die Zelle, wie es meine Schwester verlangt.“ Nettie dirigierte Chase mit dem Gewehrlauf in den kleinen Raum.

Schwester? Die Situation glich allmählich einer Szene aus einem Hitchcock-Film. Chase musterte Nettie, wie sie mit der Waffe herumfuchtelte, die leuchtend blauen Augen groß in dem blassen Gesicht, und sich bemühte, tapfer zu sein. Seltsam. Dennoch folgte er ihrer Aufforderung.

Als er die Türschwelle beinahe überquert hatte, spürte er einen Stoß gegen sein Hinterteil. Er stolperte, kam aus dem Gleichgewicht und fiel vornüber auf die Liege, wobei seine Schulter gegen die Steinwand krachte.

„Sara! Ich sagte doch, ihr sollt euch benehmen.“

„Ich brauche mich nicht zu benehmen, ich bin der Sheriff.“

Nettie senkte die Waffe und ging auf einen niedrigen Schemel zu. „Ich bin am Ende. Ich muss mich setzen.“ Aufstöhnend ließ sie sich auf dem harten Hocker nieder. Dabei rutschte ihr das Gewehr aus der Hand und knallte auf den Steinboden. Ein Schuss löste sich.

Ein ohrenbetäubender Knall ließ alle zusammenfahren. Das Geschoss prallte an den Gitterstäben ab, nahm seinen Weg zur Lampe, bevor es direkt hinter Chase in die Steinwand drang.

Einen Moment herrschte erschrockenes Schweigen. Mit heftig klopfendem Herzen blickte Nettie zu Sara, der zum ersten Mal die Sprache weggeblieben war. Der Gentleman-Anrufer schüttelte den Kopf. Es dauerte einen Moment, ehe Nettie merkte, dass er lachte.

„Oh, oh … Achtung!“, warnte Nettie, doch da hatte sich die Lampe schon von der Decke gelöst. Wenn Chases Kopf nicht im Weg gewesen wäre, wäre sie ganz harmlos auf der Matratze gelandet.

Mit seinen auf dem Rücken gefesselten Armen hatte Chase keine Möglichkeit sich zu schützen und sank bewusstlos vornüber.

Entsetzt starrten Nettie und Sara auf ihren Gefangenen. Nettie wurde sofort von Gewissensbissen geplagt. Aber die Angst, ihre Sheriff-Schwester und der Gentleman-Anrufer könnten sich gegenseitig umbringen, schien ihr noch gerechtfertigt.

Sara hielt ihr rüdes Verhalten gegenüber dem Verhafteten für vollkommen normal. Immerhin war er nicht in der Lage gewesen, einen Personalausweis vorzeigen. Außerdem sah er dem Abbild des gesuchten Bankräubers in der Zeitung sehr ähnlich.

Während Sara die Zelle verließ, um Riechsalz aus dem Erste-Hilfe-Kasten zu holen, begann Nettie, den Gefangenen noch einmal nach seinem Personalausweis abzusuchen. Sie war noch nicht überzeugt, dass der Bewusstlose der gesuchte Verbrecher war. Vorsichtig tastete sie die Gesäßtasche ab. Mutig beugte sie sich noch näher über den Rücken des Mannes. Nichts.

Aber auch seine Jacke besaß Taschen. Als Nettie diese sanft beklopfte, zuckte Chase plötzlich zusammen. Ihre Hand erstarrte. Blitzartig richtete sie sich auf.

Seine Augen waren geöffnet. Er war wach. „Ich bin ziemlich kitzlig“, verkündete er. „Haben Sie keine Angst mehr vor mir?“

„Nie welche gehabt“, protestierte Nettie. „Ich bin nur vorsichtig.“

Autor

Wendy Warren
Wendy lebt mit ihrem Ehemann in der Nähe der Pazifikküste. Ihr Haus liegt nordwestlich des schönen Willamette-Flusses inmitten einer Idylle aus gigantischen Ulmen, alten Buchläden mit einladenden Sesseln und einem großartigen Theater. Ursprünglich gehörte das Haus einer Frau namens Cinderella, die einen wunderbaren Garten mit Tausenden Blumen hinterließ. Wendy und...
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