Engel mit Vergangenheit

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Nicholas Pencarrow, Duke of Westbourne, kann die faszinierende Frau nicht vergessen, die ihm das Leben rettete und anschließend spurlos verschwand. Ihren Namen findet er zwar schnell heraus, doch seine Versuche, Kontakt mit der schönen, rätselhaften Brenn


  • Erscheinungstag 06.07.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733760397
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

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HISTORICAL erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

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© 2004 by Sophia James
Originaltitel: „Fallen Angel“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL
Band 213 - 2006 by CORA Verlag GmbH & Co. KG Hamburg
Übersetzung: Corinna Hermes de Chedjou
Der Abdruck des Auszuges aus John Keats’ „Der St.-Agnes-Abend“
in der Übertragung von Mirko Bonné

Abbildungen: Harlequin Books S.A.

Veröffentlicht im ePub Format in 07/2015 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733760397

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

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1. Kapitel

 

Airelies, Kent

August 1861

 

Brenna verharrte reglos und lauschte, den Kopf zur Seite geneigt, den gedämpften Geräuschen des milden Sommerabends. Hinter ihr rauschte der Fluss, und die Platanen säuselten im lauen Abendwind, ganz so wie immer. Etwas jedoch war anders als sonst. Auch Mars und Bellona, ihre beiden Jagdhunde, schienen es gespürt zu haben, denn sie hielten plötzlich im Lauf inne und sträubten die Nackenhaare. Brenna griff nach ihrer Flinte, entsicherte sie und schob mit zittrigen Fingern eine Patrone in den Lauf, ehe sie ihren Weg fortsetzte. Er führte in das dichte Wäldchen, das eine halbe Meile von Worsley entfernt die Northern London Road säumte. Mühsam bahnte Brenna sich einen Weg durch das Unterholz, schob Zweige und Äste beiseite, während sie den seltsamen Geräuschen folgte, die nun deutlicher zu vernehmen waren.

Stimmen. Es waren Männerstimmen. Dumpfe, bedrohlich klingende Männerstimmen. Brenna bekam es mit einem Male mit der Angst zu tun und wich klopfenden Herzens einige Schritt zurück. Durch ein Handzeichen befahl sie ihren Hunden, ihr zu folgen, kauerte sich dann jedoch im Gebüsch nieder, um vor ihrem endgültigen Rückzug noch einen Blick auf die Unbekannten und ihr geheimnisvolles Treiben zu erhaschen. Sie erspähte zwei Männer, die einen halb bewusstlosen dritten hinter sich herschleiften. Das Gesicht des Unglücklichen war blutbefleckt, seine Augen mit einer hastig geschlungenen Augenbinde verdeckt, und sein elegantes Hemd und die maßgeschneiderten Hosen wirkten seltsam fehl am Platze angesichts des groben Leinenzeugs seiner Peiniger.

"Gütiger Himmel, Straßenräuber!" schoss es Brenna durch den Kopf. Unwillkürlich presste sie die Hand auf den Mund, um nicht laut aufzuschreien, und schloss die andere fester um den Griff ihrer Jagdflinte. Als Mars hinter ihrem Rücken zu knurren begann, drückte sie ihm beherzt die Schnauze zu und zwang ihn, sich ruhig zu verhalten, obwohl ihr selbst alles andere als ruhig zu Mute war. Gebannt beobachtete sie, wie die beiden Räuber den Mann mit der Augenbinde unsanft an den Stamm einer mächtigen Ulme fesselten und sich dann zurückzogen.

Brenna lauschte den Schritten der Männer, um herauszufinden, wohin sie gingen. Gewiss zurück zur Kutsche ihres Opfers, schließlich handelte es sich um einen Raubüberfall. Was wohl aus den Bediensteten oder dem Gefolge des Gentleman geworden sein mochte? Und wie dreist diese Strauchdiebe doch waren, an einem derart stark befahrenen Wegstück zuzuschlagen! Vorsichtig schlich Brenna durch das Unterholz, bis sie fast hinter dem Rücken des gefesselten Mannes angelangt war. Dabei spähte sie immer wieder in die Richtung, in der seine beiden Peiniger verschwunden waren, deren Stimmen der Wind als undeutliches Gemurmel zu ihr hinübertrug. Als sie den Gefesselten erreicht hatte, hockte sie sich nieder. Sie wusste, dass er ihre Anwesenheit bemerkt hatte, denn er wandte ihr das Gesicht zu. So leise sie konnte, flüsterte sie ihm zu: "Zwei mit Gewehren bewaffnete Männer sind gerade dabei, Ihre Kutsche zu plündern, fürchte ich …"

Ein Ruck ging durch seinen Körper. "Können Sie meine Fesseln lösen und mir dieses Ding von den Augen nehmen?" unterbrach er sie. Seine tiefe Stimme klang heiser vor Zorn.

"Ich werde mich zuerst um Ihre Fesseln kümmern. Das ist sicherer, für den Fall, dass die Räuber zurückkehren sollten." Er nickte, und Brenna machte sich mit zitternden Fingern an dem Strick zu schaffen, mit dem seine Handgelenke zusammengebunden waren. Im Stillen verfluchte sie sich dafür, dass sie so lange brauchte, um die Fesseln zu lösen, und hielt dabei unablässig nach den Straßenräubern Ausschau.

Soeben hatte sie den letzten Knoten geöffnet, da bahnten schwere Stiefel sich mit dumpfen, krachenden Schritten einen Weg zurück auf die kleine Lichtung. Während der Mann neben ihr sich die Binde von den Augen riss, sank Brenna auf die Knie, hob ihre Jagdflinte an die Wange und schoss dem ersten Räuber eine Ladung Schrot ins Bein. In Windeseile lud sie nach, um den zweiten Schuss abzufeuern. Dazu kam sie allerdings nicht mehr, denn zwei starke Arme zogen sie just in dem Augenblick hinter den schützenden Stamm eines Baumes, als über ihrem Kopf eine Kugel durch die Luft pfiff. Völlig unvermittelt fand sie sich unter einer breiten Männerbrust wieder, die sie fest auf den Waldboden drückte. Brenna war erschrocken und wütend, empfand jedoch zugleich ein Gefühl, das ihr weniger vertraut war. Sie spürte die festen Muskeln des Fremden unter ihren Handflächen und fühlte sich einen kurzen Augenblick lang so sicher und geborgen wie nie zuvor in ihrem Leben. Der Körper des Mannes strahlte Kraft aus, Stärke, … Glut. Plötzlich drängten ihre Hunde sich zwischen sie und den Fremden, beunruhigt über die Nähe ihrer Herrin zu diesem unbekannten Mann. Mit vor Zorn und Scham geröteten Wangen löste Brenna sich aus seiner Umarmung und kauerte neben ihm nieder, wobei sie sorgfältig darauf bedacht war, gebührenden Abstand zu wahren.

"Geben Sie mir Ihre Waffe, und verschwinden Sie hier!" verlangte er. Als Brenna sich nicht vom Fleck rührte, blickte er sie fragend an.

"Bringen Sie sich in Sicherheit, Prinzessin", wiederholte er ruhig.

"Sie können mit einer Flinte umgehen …?"

Zu Brennas Überraschung lächelte er, und als er ihr die Waffe aus der Hand nahm, schlug ihr das Herz vor Aufregung bis zum Hals. Unwillkürlich wich sie vor ihm zurück. Niemals durfte sie jemanden an sich heranlassen – niemals.

"Ich werde die Kerle in Schach halten, bis Sie in Sicherheit sind", erklärte er, lud die Waffe nach und nahm die Angreifer ins Visier. Brennas Blick fiel auf den goldenen Siegelring an seinem kleinen Finger und die in gleicher Farbe schimmernden Strähnen in seinem kastanienbraunen Haar. Dann raffte sie die Röcke ihres Jagdkostüms und floh durch den Wald, bis sie die Sicherheit des offenen Feldes erreicht hatte, froh über die Hunde an ihrer Seite. Hinter ihrem Rücken hallten Schüsse über die Lichtung, drei, vier, fünf … dann war es still. Sie biss sich auf die Unterlippe. Die Vorstellung, wie der Fremde getroffen zu Boden sackte, die grünbraunen Augen gebrochen und starr, schnürte Brenna die Kehle zu und erfüllte sie mit einem quälenden Gefühl des Verlusts und der Trauer.

"Bitte, lieber Gott, mach, dass er noch lebt, mach, dass er in Sicherheit ist!" Wieder und wieder sandte sie ihr Stoßgebet gen Himmel, während sie den Weg zu Airelies Manor hinaufeilte, hastig die schwere Tür des alten Herrenhauses öffnete und über die Schwelle trat. Das Blut pochte ihr in den Schläfen, als sie sich atemlos und erschöpft gegen die Tür sinken ließ. Durch den Lärm aufgeschreckt, eilte Mrs. Fenton, die Haushälterin, aus der Küche herbei, um nach dem Rechten zu sehen. Sobald sie Brennas Zustand gewahr wurde, war sie auf der Stelle an der Seite ihrer jungen Dienstherrin.

"Was um Himmels willen ist Ihnen denn widerfahren, Kindchen?" fragte sie aufgeregt und wischte sich die mehlbestäubten Hände an ihrer großen Küchenschürze ab.

"Im Wald treiben sich Straßenräuber herum. Verriegeln Sie alle Fenster und Türen und holen Sie die Pistolen aus dem Arbeitszimmer! Wenn der Gentleman, den sie ausrauben wollten, erschossen wird, stehen die Kerle als Nächstes hier auf Airelies vor der Tür. Ich glaube, sie haben mich gesehen!"

Hastig schob Rose Fenton die schweren Messingriegel vor. "Mein Gott, Brenna! Wir sind allein hier, nur Albert und der junge Stephen sind noch da. Da können wir unmöglich irgendwelche Straßenräuber erschießen!"

"Genau das habe ich soeben getan", entgegnete Brenna, abermals von Grausen gepackt, woraufhin die Haushälterin sich erschrocken bekreuzigte und inbrünstige Gebete an den Barmherzigen zu stammeln begann.

"Sie haben jemanden umgebracht?"

"Ich habe ihm das Knie zerschossen, glaube ich. Wenigstens wird ihn das ein wenig aufhalten." Brenna verzichtete darauf, den zweiten Räuber zu erwähnen. Der Gentleman ist gewiss in Sicherheit, sagte sie sich. Er hatte einen kräftigen, wehrhaften Eindruck gemacht und die Jagdflinte mit geübter Hand geladen. Sie versuchte, sich das Wappen in Erinnerung zu rufen, das sie auf seinem Ring gesehen hatte. Ein sich aufbäumender Löwe über zwei gezückten Dolchen. Stärke und Gefahr. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als Brenna daran dachte, wie gut dieses Bild zu ihm passte. Ihre blassen Wangen bekamen wieder Farbe, während sie von Fenster zu Fenster eilte, um jedes sorgfältig zu verriegeln. Sollte sie vielleicht zurückgehen, um dem fremden Gentleman zu helfen? Sie verwarf den Gedanken sofort wieder. Ihre Rückkehr würde ihn vermutlich eher gefährden, statt ihm zu nützen. Dennoch wollte die Anspannung einfach nicht von ihr weichen, während sie im Flur auf und ab ging, den Blick angestrengt ins Dunkel jenseits der Fenster gerichtet, damit ihr auch nicht die leiseste Bewegung entging.

 

Keine weiteren Schüsse hatten die abendliche Stille zerrissen, doch soeben waren vom Dorf her laute Rufe zu ihnen heraufgeschallt. Der Anblick von Mrs. Fentons schreckensbleichem Gesicht riss Brenna aus ihren Gedanken, und sie bemühte sich nach Kräften, ihre eigene Furcht vor der älteren Frau zu verbergen.

"Wer auch immer tot oder lebendig sein mag, er wird uns nun wohl nicht mehr belästigen", erklärte sie mit gespielter Ruhe und warf einen Blick auf die Standuhr am anderen Ende des Korridors. "Doch um ganz sicher zu gehen, packen wir morgen in aller Frühe unsere Koffer und kehren nach London zurück. Außerdem werde ich Albert bitten, Stephen hinunter nach Worsley zu schicken und Einzelheiten über den Zwischenfall in Erfahrung zu bringen."

Kaum hatte sie ihren Satz beendet, als eine Kutsche die Auffahrt hinauffuhr und vor dem Haus zum Stehen kam. Der Wagenschlag wurde aufgerissen, und als Brenna jenen Mann aussteigen sah, den die Räuber an einen Baum gefesselt hatten und der nun ihre Jagdflinte in der Hand hielt, verschlug es ihr vor Schreck beinahe den Atem. Ohne jede weitere Überlegung wandte sie sich an ihre Haushälterin.

"Sagen Sie ihm bitte, ich sei fort. Danken Sie ihm dafür, dass er meine Flinte zurückgebracht hat und …", sie rief die letzten Worte über die Schulter, während sie die Treppenstufen hinaufeilte, "… richten Sie ihm aus, ich wolle ihn nicht mehr wiedersehen." Just in dem Augenblick verschwand sie in einem der Schlafzimmer im ersten Stock, als das dumpfe Geräusch des Türklopfers ertönte.

Rose Fenton strich ihre Küchenschürze glatt, holte tief Luft und öffnete mit einem säuerlichen Lächeln auf den Lippen die Tür. Vor ihr stand der stattlichste Gentleman, dem sie je das Vergnügen hatte zu begegnen, und daran änderten auch seine zahllosen blauen Flecke und Schürfwunden nichts. Sein Haar war von der Farbe dunklen Kupfers, und seine Augen strahlten in warmem Grün. Der dunkle burnusähnliche Mantel, den er trug, war an der Schulter eingerissen, die kostbaren goldenen Applikationen darauf arg beschädigt.

"Kann ich Ihnen helfen, Sir?" fragte Rose atemlos, den Blick auf Brennas Jagdflinte geheftet, die der Besucher ihr mit einer höflichen Verbeugung lächelnd in die Hand gedrückt hatte.

"Im Gasthaus unten in Worsley hat man mir gesagt, eine Miss Brenna Stanhope wohne hier, und ich nehme an, diese Waffe gehört ihr, doch sicher bin ich nicht."

Die Haushälterin fiel ihm ins Wort: "Ja, Sir, Miss Brenna hat mir erzählt, was sich zugetragen hat, und mich gebeten, Ihnen zu danken."

"Sie ist also hier?" Sein Blick glitt prüfend durch den menschenleeren Flur. "Dürfte ich einen Augenblick mit ihr sprechen?"

Rose Fenton trat vor ihn hin und verstellte ihm die Sicht ins Innere des Hauses. "Nein, Sir, sie … sie ist soeben abgereist …" Die Auskunft klang völlig aus der Luft gegriffen und wenig glaubhaft.

"Zurück nach London?" fragte er zweifelnd.

"Nein, noch nicht. Sie ist hinunter nach Süden gefahren."

Der Mann lehnte sich an die Außenwand. Ein verstimmter Ausdruck huschte über sein Gesicht. "Sie möchte mich nicht sehen, meinen Dank nicht persönlich entgegennehmen?"

"Nein, Sir."

"Dürfte ich einen Brief für sie hinterlegen?"

"Nein, Sir. Miss Stanhope möchte die ganze Angelegenheit einfach vergessen. Es ist vorbei, und dabei wünscht sie es zu belassen."

"Ich verstehe", sagte der Gentleman knapp, straffte sich und trat unter dem von Säulen getragenen Vorbau hervor. "Könnten Sie dafür sorgen, dass sie unter allen Umständen von meinem Besuch erfährt, und ihr meinen tief empfundenen Dank aussprechen?"

"Das werde ich tun, Sir", entgegnete Mrs. Fenton und zog besorgt die Stirn kraus, als der Blick des Mannes zu einem der Fenster im ersten Stock hinaufwanderte. Gewiss war ihm nicht entgangen, dass eine schemenhafte Gestalt sich hastig hinter einen schweren Samtvorhang zurückgezogen hatte, um nicht entdeckt zu werden.

"Sie haben noch weitere Gäste?" erkundigte er sich und blickte die ältere Frau prüfend an.

"Nein, Sir."

Rose Fenton atmete erleichtert auf, als sie die Tür hinter sich schloss.

Von ihrem Versteck hinter dem Vorhang aus beobachtete Brenna die Abreise des Fremden. Sie war zutiefst beunruhigt.

Er hatte sie gesehen.

Sogar ihren Namen und ihre Adresse hatte er in Erfahrung gebracht. Könnte sich das als schädlich für sie erweisen? Würde das Interesse, das sie aus seiner Stimme herausgehört hatte, zu einer Bedrohung für sie werden? Oder sich in erstickende Neugier verwandeln?

Mit düsterer Miene beobachtete sie, wie seine Kutsche den gewundenen Weg entlangrollte, der zu Gut Airelies hinaufführte, und dann auf die Hauptstraße in Richtung Norden abbog und in der Dunkelheit verschwand.

2. Kapitel

 

Nicholas Pencarrow, Duke of Westbourne, Ritter des Vereinigten Königreichs und Besitzer eines halben Dutzends der prächtigsten Landsitze von ganz England, lehnte sich, die Füße lässig auf den Schreibtisch gelegt, in seinem Ledersessel zurück und las mit nachdenklicher Anteilnahme einen Brief seines Anwalts.

 

Trotz gründlicher Nachforschungen konnten wir nur äußerst wenig über Brenna Stanhope in Erfahrung bringen. Über die Zeit vor ihrem sechzehnten Lebensjahr, als das Mädchen sich in exklusiven, von einem Sir Michael de Lancey, ihrem Onkel, organisierten Gesellschaften einen Namen als Pianistin machte, ist absolut nichts bekannt. Vor fünf Jahren wurde Miss Stanhope als Debütantin in die Londoner Gesellschaft eingeführt, blieb jedoch nur für die Dauer einer Ballsaison. Weitere Nachforschungen förderten den Namen eines Waisenhauses in der Beaumont Street zu Tage. Offenbar leiten Sir Michael und seine Nichte die Einrichtung gemeinsam, wobei Miss Stanhope zusätzlich in der angegliederten Schule unterrichtet …

 

Nicholas legte die Stirn in Falten. Ein Waisenhaus? Die Vorstellung faszinierte ihn, wie alles, was er über die geheimnisvolle Miss Stanhope in Erfahrung gebracht hatte. Der Rest des Schreibens enthielt nur einige spärliche Angaben über Michael de Lanceys beschränkte Vermögensverhältnisse, weiter nichts. "Verflucht", entfuhr es Nicholas leise. Warum war sie so heimlichtuerisch? Seine Gedanken wanderten zurück zu der Frau, der er im Wald begegnet war, zu ihrem ebenholzschwarzen Haar, den veilchenblauen Augen und ihren üppigen, weiblichen Formen. "Brenna Stanhope …" Leise sprach er ihren Namen in die Stille seines Arbeitszimmers hinein, erinnerte sich an ihre wohlklingende Stimme, die Grübchen in ihren Wangen und das Gefühl ihres warmen Atems an seiner Wange.

Und als er sie berührt hatte …

Ein Geräusch draußen im Korridor riss ihn aus seinen Tagträumen. Er erhob sich just in dem Augenblick, als die Tür geöffnet wurde und Lady Letitia Carruthers eintrat, eine Schönheit mit goldblonden Ringellöckchen und strahlend blauen Augen in einem modischen rosa Redingote-Tageskleid, das sich um ihre Wespentaille schmiegte. "Nicholas, Liebling", sagte sie atemlos und warf sich ungestüm in seine Arme, um dann auf einem in der Nähe stehenden Sofa Platz zu nehmen und mit geübten Griffen ihre Röcke um sich herum zu drapieren. "Ich bin erschöpft, und dieser Ball, den du planst, wird der krönende Abschluss zahlloser Stunden harter Arbeit sein. Solch eine Opulenz hat nicht einmal Christopher zu seinen besten Zeiten angestrebt!"

Bei der Erwähnung ihres lange verstorbenen Gatten huschte ein Lächeln über Nicholas' Gesicht. Er schenkte seiner Begleiterin einen großzügig bemessenen Brandy ein, drückte ihr das Glas in die ausgestreckte Hand und bediente sich dann selbst. "Du hattest schon immer einen außergewöhnlich guten Geschmack, Letty, und ich weiß die Zeit und die Mühe sehr zu schätzen, die du der Vorbereitung dieses Ereignisses widmest." Er ging zu seinem Schreibtisch hinüber, nahm eine mit schwarzem Samt bezogene Schatulle aus einer Schublade und überreichte sie ihr. "Das ist für dich, ein kleines Zeichen meiner Dankbarkeit."

Lady Letitia entfuhr ein spitzer Freudenschrei, als sie hastig den Deckel des Kästchens öffnete. "Rubine, Nicholas", flüsterte sie gerührt, "und welch wunderschöne!" Mit unendlicher Behutsamkeit hob sie das Collier aus Gold und Rubinen aus seinem weichen Samtbett, knöpfte das Oberteil ihres Kleides auf und wandte Nicholas den Rücken zu. "Würdest du mir beim Anlegen behilflich sein?"

Er nickte, und sobald er hinter sie trat, um mit kundigen Fingern das Collier zu schließen, stieg ihm der betörende Duft des kostbaren Parfüms in die Nase, das sie stets wie eine Wolke umhüllte.

"Nicholas, du weißt, dass ich dich liebe, nicht wahr?"

Überrascht von dem Ernst, der aus ihrer Stimme sprach, wandte er sich ab, schluckte verlegen und fühlte sich schuldig, so wie jedes Mal, wenn sie diese Worte aussprach, denn er wusste, dass er ihr nicht guten Gewissens die Antwort geben konnte, die sie so sehnlichst zu hören wünschte. Ein angespanntes Lächeln lag auf seinen Lippen, als er Letitias Enttäuschung spürte. Warum wollten die Frauen stets das von ihm, was er ihnen nicht zu geben vermochte? Warum konnte er sich nicht voller Begeisterung auf eine ernsthafte Beziehung mit all ihren Verpflichtungen einlassen, so wie andere Männer es taten? Warum musste er stets einen gewissen inneren Abstand wahren? Er kannte den Grund, noch ehe seine Gedanken ein Ende gefunden hatten.

Johanna. Seine Mutter.

Sein Vater hatte aus Liebe geheiratet. Und wohin hatte ihn das geführt? Mit sechsundzwanzig Jahren Witwer und Vater zweier kleiner Söhne, hatte er Trost und Vergessen im Alkohol gesucht, um nicht an gebrochenem Herzen zu Grunde zu gehen.

Im zarten Alter von acht Jahren hatte Nicholas sich verzweifelt bemüht, seinen Vater Gerald und seinen fünfjährigen Bruder Charles zu trösten, doch mit Johanna war die Seele der Familie gestorben, und an ihre Stelle war eine seltsame Mischung aus endlosem Schweigen und unterschwelligem Groll getreten, das traurige Schicksal einer Familie, die einander zu sehr geliebt und dadurch alles verloren hatte. Und als sein Vater dreizehn Jahre später an den Folgen seiner Trunksucht gestorben war und seinen Söhnen zuvor noch prophezeit hatte, sie würden denselben Weg einschlagen wie er selbst, hatte Nicholas sich geschworen, dass diese düstere Vorhersage niemals Wirklichkeit werden würde. Fortan hatte er sein Leben in den Armen erfahrener Witwen oder abgebrühter Schauspielerinnen verbracht, die nicht danach trachteten, ihn in den Hafen der Ehe zu locken, den zu meiden er fest entschlossen war.

Nicholas beugte sich vor und ordnete einige der Dokumente, die sich auf seinem Schreibtisch stapelten. Jawohl, inneren Abstand zu wahren stellte gleichsam eine Frage des Überlebens für ihn dar, rein körperliche Liebe dagegen besaß nicht die Macht, ihn zu verletzen. Und wenn ihn bisweilen Zweifel an der Richtigkeit seiner Lebenseinstellung beschlichen, genügte es, sich die einsamen Jahre seiner Kindheit ins Gedächtnis zu rufen. Er würde es sich niemals wieder gestatten, derart verletzlich zu sein!

Erneut wandte Nicholas seine Aufmerksamkeit Lady Letitia zu und brach das bedrückende Schweigen mit einer betont nüchternen Bemerkung: "Dann begleite ich dich nun hinaus." Angesichts ihres Liebesgeständnisses waren das harte Worte, und er war froh, dass sie sich widerspruchslos fügte und mit ihm das Arbeitszimmer verließ. Zu seiner Erleichterung machte die Schar der Dienstboten, die geschäftig durch die Korridore eilten, jedes weitere vertrauliche Gespräch unmöglich.

 

Der Opernball war gut besucht. Ständig strömten weitere Gäste in den Festsaal, und jeder zweite von ihnen hatte offenbar eine höchst dringliche Angelegenheit mit dem Duke of Westbourne zu besprechen. Er wurde förmlich überschüttet mit Einladungen und Glückwünschen zu irgendeinem neuen erfolgreichen Unternehmen.

Sie alle kannten sein Geschick in geschäftlichen Dingen, wussten, dass er jede Idee, die ihn überzeugte, zu Gold machte, und dass sein Vermögen von Jahr zu Jahr größer wurde: mehr Ländereien, mehr Pferde, mehr Schiffe, … mehr Frauen.

Nicholas Pencarrow, Duke of Westbourne, betrat niemals einen Raum, ohne dass jedes weibliche Wesen, ganz gleich ob jung oder alt, ihn mit seinen Blicken verschlang, und alle waren nur von dem einen Wunsch beseelt: diejenige zu sein, die diesen Löwen zähmte, der so selbstbewusst mit seiner kupferfarbenen Mähne und seinen grünbraunen Augen in ihrer Mitte einherging, diesen attraktivsten Mann bei Hofe, der obendrein noch der vermögendste von allen war.

Ganz in Schwarz gekleidet, wirkte Nicholas an diesem Abend in der Tat wie eine freiheitsdurstige Raubkatze, die aus der Enge des Raumes fliehen wollte. Dann jedoch hörte er, wie hinter seinem Rücken ein gewisser Name fiel. Er blieb stehen und drehte sich um.

"Michael De Lancey." Unweit von ihm stellte eine Dame einem Paar einen älteren Herrn vor, und Nicholas kam sofort der Bericht über Brenna Stanhope in den Sinn. Ihr Onkel?

Aufmerksam musterte er den Mann, und als er bemerkte, dass dieser sich ebenso gewählt ausdrückte wie seine Nichte, huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Nicholas winkte einen Lakaien herbei, der sich sogleich diensteifrig einen Weg durch die Menge bahnte und dann wartete, bis der Herzog eine Visitenkarte aus seiner Jackentasche gezogen hatte.

"Teilen Sie Sir Michael De Lancey bitte mit, dass ich ihn gerne sprechen würde, sobald es seine Zeit erlaubt", sagte Nicholas höflich und kehrte dann zu seinen wartenden Gesprächspartnern zurück, während der Dienstbote sich beeilte, seinen Auftrag auszuführen.

Nur wenige Minuten später spürte Nicholas die Gegenwart des kleinen älteren Herrn an seiner Seite. Nachdem der Ankömmling sich unsicher vor ihm verbeugt hatte, ergriff Nicholas fest dessen Hand und eröffnete das Gespräch in herzlichem Ton: "Ich freue mich sehr, Sie kennen zu lernen, Sir! Ihre Nichte, Brenna Stanhope, hat Ihnen gewiss von den dramatischen Ereignissen erzählt, die sich im Wald von Worsley zugetragen haben!"

Michael De Lancey runzelte verwundert die Stirn. Aus seinem Blick sprach Besorgnis, als er kopfschüttelnd entgegnete: "Nein, Hoheit, sie hat mir gegenüber nichts davon erwähnt."

Sein Geständnis verschlug Nicholas nahezu die Sprache. "Sie haben Ihre Nichte in den vergangenen drei Wochen nicht gesehen?", fragte er verwundert.

"Oh doch, gewiss, Brenna wohnt bei mir!"

"Und trotzdem hat sie Ihnen nichts davon erzählt?"

"Ich fürchte nein." Graue Augen sahen zu ihm auf. Es war ein aufrichtiger Blick, der Blick eines Gentlemans. Nicholas kam zu dem Schluss, dass dieser Mann ihn nicht belog, und änderte auf der Stelle seine Taktik.

"Würden Sie mir erlauben, Ihrer Nichte einen kurzen Besuch abzustatten, Sir Michael?"

"Nein!"

Die Antwort war so überraschend und unmissverständlich, dass Nicholas seinen Ohren kaum trauen mochte. Wusste der Mann nicht, wen er vor sich hatte? War ihm nicht klar, welche Hochachtung dem Träger eines Herzogtitels gebührte? Nicholas unternahm einen zweiten Versuch.

"Sie gestatten mir nicht, kurz bei Ihrer Nichte vorzusprechen?" Aus seiner Stimme sprach mehr Verwunderung denn Zorn.

"Ich fürchte nein."

"Und Sie haben meine Visitenkarte gelesen?"

"Ja, Hoheit."

Nicholas fuhr sich verwirrt mit der Hand durchs Haar. "Ist sie bereits verheiratet?" fragte er, einer plötzlichen Eingebung folgend.

"Nein, Hoheit."

"Dann sind Sie mit mir einer Meinung, dass es ihr freisteht, selbst zu entscheiden, ob sie mich zu sehen wünscht oder nicht?"

Sir Michael trat unruhig von einem Fuß auf den anderen und erweckte dabei den Eindruck eines Mannes, der sich in die Ecke gedrängt fühlt. "Ja."

"Dann überreichen Sie ihr bitte dies hier." Nicholas zog eine weitere Visitenkarte aus seinem Jackett und schrieb hastig ein paar Zeilen auf die Rückseite. "Ich würde mich über eine Antwort sehr freuen."

Wortlos nickend umschloss Michael De Lancey die Karte mit der Faust und empfahl sich. Nicholas beobachtete, wie Brenna Stanhopes Onkel nach Hut und Mantel verlangte und die Gesellschaft verließ.

 

Am Morgen des folgenden Tages stand Brenna in aller Frühe auf, zog eines ihrer üblichen dunkelblauen Samtkleider an und eilte die Treppe hinab in das Frühstückszimmer. Zu ihrer Verwunderung wartete dort bereits ihr Onkel auf sie. Er wirkte höchst beunruhigt.

"Guten Morgen", grüßte sie lächelnd, nahm ihm gegenüber am Tisch Platz und schenkte sich eine Tasse Tee ein.

Er räusperte sich. "Brenna, ich muss mit dir reden."

"Mhm, worüber denn?" Flüchtig blickte sie auf, als er eine Visitenkarte von der Tischplatte hob und sie ihr vor die Nase legte.

"Darüber!" stammelte er, als sie die mit einem Goldrand verzierte Karte in Augenschein nahm.

 

NICHOLAS PENCARROW

DUKE OF WESTBOURNE

 

"Wer ist das?" fragte sie äußerlich gefasst, obgleich ihr die Worte wie Vorboten drohenden Unheils erschienen.

"Lies die Rückseite!" Mit zittrigen Fingern drehte Brenna die Karte um. Ihr Herz klopfte rascher, während sie die Nachricht überflog und sofort erkannte, wer der Absender war. Würden Sie mir erlauben, Ihnen persönlich für Ihre Hilfe in Worsley zu danken?

Brenna betrachtete ihren Onkel mit zaghaftem Blick. "Ich habe dir nichts davon erzählt. Ich fürchtete, es könnte dich beunruhigen."

"Aber du wirst mir jetzt davon erzählen, nicht wahr?" erkundigte er sich freundlich.

"Ja", entgegnete sie und schilderte ihm in allen Einzelheiten, was sich an jenem Abend zugetragen hatte.

Als Brenna geendet hatte, schwieg ihr Onkel eine geraume Weile lang nachdenklich, bevor er seine nächste Frage stellte: "Hast du auf Airelies mit ihm gesprochen?"

"Nein."

"Hast du ihn dir gut angeschaut, Brenna?" Die Worte kamen zögernd.

"Nein. Warum?"

"Er macht einen ziemlich hartnäckigen und eigenwilligen Eindruck auf mich. Außerdem besitzt er großen Einfluss. Halb London scheint ihm zu gehören, und die ganze feine Gesellschaft behandelt ihn mit größtem Respekt."

"Da habe ich wohl den falschen Mann gerettet", bemerkte Brenna spöttisch. "Ich hätte ihn besser seinem Schicksal überlassen sollen, vor allem, wenn er jetzt anfangen sollte, mir nachzustellen."

Michael De Lancey verzog das Gesicht. "Ich glaube, ich kann diesen Mann recht gut einschätzen. Du solltest ihn wenigstens einmal empfangen. Gib dich dabei so spröde und reizlos, wie es dir beliebt. Es ist das Geheimnis, das ihn verlockt. Ich kenne diese Art von Mann. Es geht ihm einzig um das Vergnügen der Jagd und der Eroberung, und nach allem, was ich gehört habe, können zahllose Frauen in London meine Einschätzung bestätigen."

Die Worte ihres Onkels ergaben einen Sinn, auch wenn Brennas Herz heftiger schlug bei der Erinnerung an die grünbraunen Augen des Herzogs und sein dichtes, kupferfarbenes Haar. Von innerer Unruhe ergriffen, erhob sie sich und zupfte an dem geflochtenen Zopf, der über ihrer Schulter lag. Sie durfte sich derartige Gefühle nicht gestatten, das wusste sie nur zu gut!

"Ich dachte, ich hätte all das hinter mir, Michael. Jene Londoner Ballsaison hat mir mehr als gereicht. Ich bin jetzt vierundzwanzig, eine glückliche unverheiratete Frau, die auf eigenen Füßen steht, und ich möchte nicht, dass der Duke of Westbourne einfach so daherkommt und mir einen Besuch abstattet."

Michael runzelte die Stirn. "Nun gut, bringen wir es also hinter uns. Ich werde Kenneth bitten, ihm deine Antwort noch vor Mittag zu überbringen, und mit ein wenig Glück ist der werte Herzog bereits heute Abend aus unserem Leben verschwunden." Mit diesen Worten erhob er sich, ging hinüber zu einer Kommode am anderen Ende des Zimmers und kramte in einer Schublade nach Papier und Federhalter. "Hier, teile ihm mit, du könnest ihn heute Nachmittag um drei empfangen. Ich werde eine halbe Stunde später heimkommen und dich an eine wichtige Verabredung erinnern, die wir angeblich um vier einhalten müssen. Auf diese Weise haben wir die ganze Angelegenheit in weniger als einer Stunde hinter uns."

Zögernd griff Brenna nach dem Blatt Papier und schrieb Nicholas Pencarrow eine sehr kurze, sehr förmliche Einladung. Es widerstrebte ihr zutiefst, und in Gedanken ging sie all die Dinge durch, die auf den nächsten Tag verschoben werden mussten, da sie sich nun zuerst dem Herzog zu widmen hatte.

 

Noch ehe es zwölf schlug, war die Antwort aus dem Hause Pencarrow eingetroffen. Es sei dem Duke of Westbourne ein Vergnügen, ihr um fünfzehn Uhr seine Aufwartung zu machen.

Um halb drei stieg Brenna die Stufen zu ihrem Schlafzimmer hinauf und frisierte ihr Haar auf die reizloseste Weise, die sie sich vorstellen konnte. Dann schloss sie ihr schlichtes Samtkleid bis auf den letzten Knopf und hüllte sich in das formlose Schultertuch, das sie oft im Waisenhaus trug. Um fünf vor drei saß sie in steifer Haltung im Ohrensessel am Kamin des kleinen Empfangszimmers, die Hände züchtig in den Schoß gelegt, als sie hörte, wie die Kutsche des Herzogs vor dem Haus zum Stehen kam. Sie widerstand dem Drang, ans Fenster zu treten und einen Blick hinauszuwerfen. Er hatte sie bereits einmal hinter Vorhängen stehen sehen, und er sollte keinesfalls glauben, dass sie auch nur die geringste Neugier ihm gegenüber empfand. Stattdessen erhob sie sich und heftete den Blick auf die Tür, bis diese von Polly, dem Hausmädchen, geöffnet wurde.

"Der Duke of Westbourne, Miss Brenna", verkündete die junge Frau atemlos, während sie Nicholas ins Zimmer geleitete, dann kehrtmachte und die Tür hinter sich schloss.

Brennas Augen weiteten sich, als ihr Blick sich mit dem seinen kreuzte. Es war, als habe die ganze Schönheit all jener kühnen Verehrer, die sie in ihren zahllosen Albträumen verfolgten, in einem einzigen Mann Gestalt angenommen. Im Wald von Worsley hatte er trotz der blutigen Schrammen auf seinem Gesicht und einer aufgeplatzten Oberlippe recht ansehnlich ausgesehen. Heute jedoch war er in seinen nach unten hin schmaler werdenden Hosen, dem zweireihigen Jackett, dem Hut und den Handschuhen aus Seide das vollendete Abbild männlicher Eleganz. Hinter seiner gefälligen Fassade schien allerdings noch etwas anderes, Ungezähmtes, zu lauern, das Brenna zutiefst beunruhigte.

Ihre Verunsicherung und ihre schlichte Aufmachung fielen ihm sogleich auf. Heute wirkte sie anders als damals im Wald. Er ließ den Blick an ihr hinabgleiten und bemerkte, wie sie mit zittrigen Fingern an einem Taschentuch nestelte.

"Miss Stanhope", begann er ruhig, während Brenna ihn mit ihren veilchenblauen Augen kühl ansah. Aus ihrem Blick sprach eine Abweisung, die Nicholas sich nicht zu erklären vermochte.

Sie fürchtet mich, warnte ihn seine innere Stimme. "Ich bin Nicholas Pencarrow, und ich danke Ihnen, dass Sie mich empfangen haben."

"Sie hätten nicht zu kommen brauchen", erwiderte sie, und ihre samtige Stimme klang genau so, wie er sie in Erinnerung hatte.

"Doch es war mein Wunsch", entgegnete er. "Darf ich einen kurzen Augenblick Platz nehmen?"

Zögernd bot sie ihm den Sessel an, der am weitesten von dem ihren entfernt stand. Sie wirkte älter als bei ihrer ersten Begegnung. Ihr Haar war über den Ohren zu einer unvorteilhaften Zopffrisur geflochten und fiel ihr von dort schlaff über die Schultern. Nicholas konnte sich nicht entsinnen, je eine solche Haartracht gesehen zu haben, und fragte sich, warum Brenna sich auf diese Art zurechtgemacht hatte, wo sie doch wusste, dass er zu Besuch kam. Während er noch darüber nachsann, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Sie wollte, dass er sie so sah! Die Kleidung, die Frisur, die kühle Begrüßung … alles Teile eines Puzzles, das er nicht zusammenzufügen vermochte, sosehr er sich auch bemühte.

Nicholas rutschte auf seinem Sessel hin und her und sagte schließlich leise: "Ich wollte mich persönlich für die Hilfe bedanken, die Sie mir letzten Monat im Wald von Worsley erwiesen haben." Flüchtig sah sie ihm in die Augen und wandte dann erneut den Blick von ihm ab. "Wären Sie nicht gewesen, säße ich heute nicht hier." Ein düsterer Schatten huschte über ihr Gesicht, so als versuche sie verzweifelt, ihre Ungeduld im Zaum zu halten und wenigstens den Anschein von Höflichkeit zu wahren.

Sie will nicht, dass ich hier bin. Sie wünscht, sie hätte mich dort im Wald meinem Schicksal überlassen. Nicholas sträubte sich gegen diese Gedanken, während er bedächtig fortfuhr: "Der Mann, den Sie angeschossen haben, wurde zu einem Arzt gebracht, der ihm das Bein amputieren musste. Ich fürchte, er weiß, wer Sie sind. Der Wachtmeister von Worsley war so gedankenlos, Ihren Namen zu erwähnen. Ich hoffe, Sie werden dadurch keine Unannehmlichkeiten bekommen."

Einen flüchtigen Moment lang blitzte Angst in Brennas Augen auf. "Er sitzt doch gewiss im Kerker, nicht wahr?"

Ihr Besuch nickte. "Und ich werde dafür sorgen, dass er dort nicht so rasch wieder herauskommt."

"Was ist mit dem anderen Räuber geschehen?"

"Er ist tot."

"Oh." Schweigen breitete sich im Zimmer aus, ein verlegenes, bedrücktes Schweigen, und Nicholas wusste, dass sie nicht die Erste sein würde, die es brach.

"Gehen Sie oft aus?" Seine Stimme klang freundlich, während er versuchte, das Gespräch auf ein erquicklicheres Thema zu lenken und ein wenig mehr über das Leben seiner spröden Gastgeberin zu erfahren, von der er bisher so wenig wusste.

"Nein", entgegnete sie ruhig und runzelte kaum merklich die Stirn.

"Würden Sie dennoch eine Einladung zu einem Ball annehmen, den ich nächsten Monat in meinem Hause gebe?"

"Nein." Die Antwort war knapp und unmissverständlich, das später hinzu gefügte "Vielen Dank" nicht mehr als eine leere Höflichkeitsfloskel.

"Gibt es irgendein Ereignis, zu dem Sie mich in London gern begleiten würden? Oper? Ballett? Sinfoniekonzert?" Beim letzten Wort sah Brenna auf, und zum ersten Mal entdeckte Nicholas einen Ausdruck von Interesse in ihrem Blick, auch wenn sie noch im selben Moment den Kopf schüttelte.

"Sie mögen Musik?"

"Ja."

"Sie spielen gut Klavier."

Es war eine Feststellung, keine Frage. Verwirrt schaute Brenna ihn an. "Woher wissen Sie das?" fragte sie unsicher, bevor es ihr mit einem Schlage klar wurde. Er hatte Erkundigungen über sie eingeholt! Ein Ausdruck nackten Entsetzens huschte über ihr Gesicht, während sie sich hastig erhob.

"Ihr Dank ist zur Kenntnis genommen worden, Hoheit, doch ich möchte mich nun verabschieden. Polly wird Sie hinausbegleiten." Ihr Tonfall machte deutlich, dass sie keinen Widerspruch duldete. Sie läutete nach dem Dienstmädchen und wandte sich zum Fenster hin. Nicholas wurde jählings aus der Betrachtung ihrer Rückenansicht gerissen, als das junge Hausmädchen ins Zimmer geeilt kam. Die Art, wie Brenna ihn hinauskomplimentiert hatte, entlockte ihm ein Schmunzeln. Diese Frau hatte keine Ahnung von der Hochachtung, welche die feine Gesellschaft ihm üblicherweise entgegenbrachte.

Und das gefiel ihm.

Er nahm seinen Hut und seinen Mantel, ging zur Tür und wandte sich dann noch einmal zu seiner widerwilligen Gastgeberin um. "Ich werde meine Karte hier auf dem Tisch hinterlegen, Brenna. Falls Sie Ihre Meinung doch noch ändern und den Wunsch verspüren sollten, ein Sinfoniekonzert zu besuchen, wäre es mir ein großes Vergnügen, Sie zu begleiten."

Verärgert zuckte sie zusammen, weil er sich die Freiheit herausnahm, sie mit ihrem Vornamen anzusprechen. Als er endlich die Tür hinter sich geschlossen hatte, drehte Brenna sich um und entdeckte dabei ihr Abbild im Spiegel über dem Kaminsims. Bleich und erschöpft sah sie aus, und sogar ihre Augen wirkten müde und blickten argwöhnisch drein.

Das ist also aus mir geworden, fragte sie sich, während sie die hässlichen Zöpfe löste und dann die Finger durch ihr volles Haar gleiten ließ. Tränen stiegen ihr in die Augen, und einen Moment lang verspürte sie das heftige Verlangen, den Herzog zurückzurufen, damit er sie wenigstens für einen kurzen Augenblick so sehen konnte, wie sie ihm in Erinnerung bleiben wollte. Doch ihr gesunder Menschenverstand hielt sie davon ab. Wenn auch nur ein kleiner Teil ihres Geheimnisses ruchbar wurde, würden die Gönner ihres Waisenhauses ihre finanzielle Unterstützung einstellen, und das Wohl der Kinder wäre gefährdet. Brenna strich sich mit unwirscher Geste das Haar hinters Ohr und wandte sich ihrem Spiegelbild zu.

"Vergiss den Duke of Westbourne!" befahl sie sich streng, beunruhigt über den Anflug von Bedauern, der aus ihren Augen sprach.

3. Kapitel

 

Nicholas betrat das Waisenhaus in der Beaumont Street um kurz nach elf. Er hatte seinen Sekretär damit beauftragt, einen Besichtigungstermin für ihn zu arrangieren und sich dabei als zukünftigen Förderer des Hauses ausgegeben. Um nicht von vornherein abgewiesen zu werden, hatte er sich unter einem weiteren seiner Titel, dem des Earl of Deuxberry, anmelden lassen. Hoffentlich würde Brenna Stanhope ihm die Täuschung verzeihen, denn andernfalls, das war ihm nur allzu bewusst, würde er nicht einmal einen Fuß in die Tür setzen können.

Die Wände der langen Korridore waren über und über mit bunten Zeichnungen geschmückt, und aus einem hinteren Teil des Gebäudes schallten fröhliche Klavierakkorde und helle Kinderstimmen zu ihm herüber. Er hatte das Haus kaum betreten, als er von einer zierlichen grauhaarigen Frau empfangen wurde, die ihm zur Begrüßung die Hand entgegenstreckte.

"Ich bin Mrs. Betsy Plummer, die Wirtschafterin hier", sagte sie freundlich, "und Sie sind Lord Deuxberry, nehme ich an." Sie neigte den Kopf, als sei sie nicht sicher, wie sie sich einem Angehörigen des Hochadels gegenüber zu verhalten habe. Dann hob sie abermals den Blick, während ihr zaghaft eine Frage über die Lippen kam: "Wenn wir es recht verstanden haben, tragen Sie sich mit dem Gedanken, unser Waisenhaus finanziell zu unterstützen? Und Unterstützung haben wir, weiß Gott, bitter nötig!" Sie errötete, als sie sich ihrer unverblümten Ausdrucksweise bewusst wurde.

Der Herzog blickte zunächst vergnügt, dann fragend drein, als Musik durch die dicken Wände zu ihnen drang. "Die Musik ist wunderschön."

"Ja. Das ist Miss Stanhope auf dem Klavier. Sie ist die Gründerin dieses Waisenhauses, müssen Sie wissen."

"Dürfte ich mir ihren Unterricht einmal ansehen?"

"Nun, eigentlich nicht …", stammelte die ältere Frau und zog die Stirn in Falten. "Doch vielleicht gibt es einen Weg. Wenn Sie sehr leise sind, könnten wir vom Balkon her zuschauen. Das dürfte Miss Stanhope gewiss nicht stören."

Er folgte ihr eine schmale Treppe hinauf, die zu einem kleinen Balkon führte, von dem aus sich ihnen ein hervorragender Blick über den großen, sonnendurchfluteten Saal bot.

"Hier sind wir weit genug entfernt. Miss Stanhope ist sehr eigen, was ihre Privatsphäre betrifft", erklärte Mrs. Plummer und deutete mit der Hand auf die junge Frau am Klavier.

Nicholas folgte ihrer Geste mit den Augen. Der Anblick von Brenna, die mit offenem Haar vor den Kindern spielte, traf ihn mit unerwartet großer Wucht.

Sie war wunderschön und hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit der spröden, abweisenden Frau, die ihn zwei Tage zuvor in ihrem Salon in London empfangen hatte. Heute fiel ihr das volle dunkle Haar in prächtigen Locken bis auf die Taille hinab, und ihre veilchenblauen Augen funkelten vor Vergnügen, als sie sich von ihrem Klavierhocker erhob und die Kinder aufforderte, sich im Kreis aufzustellen. Sie zog ein Taschentuch aus dem Ärmel ihres marineblauen Kleides und putzte damit die Nase eines rotschöpfigen Knirpses, der sich an ihrem Rock festklammerte.

"Ach, du liebe Güte, Tim, ich hoffe, du wirst nicht als Nächster krank! Laura macht uns für den Augenblick genug Sorgen." Der Junge lächelte, als sie ihm zärtlich über den Wuschelkopf strich und die Kinder dann bat, sich an den Händen zu fassen. "Lasst uns 'Ring a Ring O' Roses' singen, einverstanden? Ich fange an." Sie trat in die Mitte des Kreises, stimmte das Liedchen an und ließ sich am Ende der letzten Strophe zu Boden fallen, so wie die Kinder es auch taten.

"Sehr gut. Doch versucht beim nächsten Mal, nicht alle auf mich zu purzeln!" Brenna befreite sich lachend aus der fröhlichen Kinderschar und stellte ihre Schützlinge abermals im Kreis auf, um von neuem zu beginnen. Nicholas spürte, wie sich eine Hand auf seinen Arm legte, die ihn sanft, aber bestimmt fortzog. Er konnte sich nur schwer von dem zauberhaften Anblick losreißen, den Brenna ihm bot.

"Ich führe Sie nun in unser Büro. Vielleicht erlauben Sie mir, Ihnen einige der Hoffnungen und Pläne zu erläutern, die wir für dieses Haus und seine Kinder hegen."

Als die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen und die Musik nur noch gedämpft zu hören war, blieb Nicholas einen Augenblick lang reglos stehen und holte tief Luft, um die Wirkung abzuschwächen, die Brenna Stanhope auf ihn ausübte. Himmel, sie war so schön und so anders als alle anderen Frauen, denen er bisher begegnet war! Sie arbeitete, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Hier? Sein Blick glitt über die von Schimmel befallenen Decken und die verrosteten Rohrleitungen, und sogleich kam ihm der Bericht seines Anwalts über Sir Michael De Lanceys finanzielle Schwierigkeiten in den Sinn. Wo waren die Musik, der Tanz und das fröhliche Gelächter im Kreise von Freundinnen, deren sich eine schöne junge Frau wie Brenna erfreuen sollte? Sie war erst vierundzwanzig und sollte nicht das Leben einer alten Jungfer führen! Augen von tiefem Veilchenblau, entzückende Grübchen und ein Antlitz, das die freskengeschmückten Gewölbe einer Kirche zieren sollte, stiegen mit solcher Eindringlichkeit vor seinem geistigen Auge auf, dass Nicholas den Kopf schütteln musste, um wieder in die Wirklichkeit zurückzufinden. Er riss sich zusammen und folgte Mrs. Plummer in ihr Büro.

"Kommt Miss Stanhope oft hierher?" fragte er in betont gleichgültigem Tonfall.

"Allerdings! Sie unterrichtet an drei Tagen in der Woche und verbringt den Großteil ihrer Abende hier. Ihr Onkel hat fast alles in diesem Hause aus eigenen Mitteln bezahlt, müssen Sie wissen, doch in jüngster Zeit hat er leider einige finanzielle Rückschläge erlitten, so dass wir unsere Fühler nun nach anderen Geldquellen ausstrecken müssen, sozusagen." Abermals wirkte sie leicht nervös. "Wir versuchen, unsere Ausgaben so gering wie möglich zu halten, doch wie Sie sich haben überzeugen können, ist das angesichts des Alters dieses Gebäudes und der Bedürfnisse der Kinder keine leichte Aufgabe …" Mrs. Plummer redete sich in Fahrt, und es dauerte beinahe zehn Minuten, bis es Nicholas endlich gelang, sie zu unterbrechen.

"Was ich gesehen habe, hat mich sehr beeindruckt. Wenn Sie eine Kostenaufstellung anfertigen und diese dann meinem Sekretär zukommen lassen würden, könnten wir Ihnen gewiss behilflich sein."

Er nannte eine beträchtliche Geldsumme, beugte sich über den Schreibtisch und notierte einen Namen und eine Adresse.

"Es war höchst interessant, Mrs. Plummer." Nicholas fiel auf, dass die Musik im Hintergrund verstummt war, und mit einem Male verspürte er nicht mehr das geringste Verlangen danach, Brenna Stanhope über den Weg zu laufen. Nicht jetzt. Nicht hier. "Und ich bin sicher, dass wir einander noch häufiger begegnen werden." Mit diesen Worten öffnete er die Tür und ging den Korridor entlang, hinaus auf die sonnige Straße, wo zu seiner Freude bereits der Kutscher mit dem abfahrbereiten Wagen auf ihn wartete.

Betsy Plummer beobachtete, wie ihr Wohltäter in die Kutsche stieg, und lief dann rasch zurück ins Haus, sobald das Gefährt um die Ecke gebogen war.

"Brenna, Kate!" rief sie laut, und ihre Stimme überschlug sich beinahe vor Begeisterung. "Wir haben es geschafft! Er hat uns so viel versprochen!" Zwei Gesichter erschienen, und ihre Besitzerinnen jauchzten vor Freude und Erleichterung. "Und ihr hättet ihn sehen sollen, Mädchen!" fügte Betsy gedehnt hinzu. "Ich glaube, er ist der schönste Mann, dem ich je begegnet bin."

Unwillkürlich zuckte Brenna zusammen. "Wie war noch gleich sein Name, Betsy?" fragte sie zögernd, gerade so, als fürchte sie die Antwort.

"Es war der Earl of Deuxberry", entgegnete die ältere Frau in schwärmerischem Ton, und Brenna atmete erleichtert auf.

 

Mittlerweile war es November geworden. Brenna hatte sich wieder in ihrem ruhigen, geordneten Leben eingerichtet, nun, da Nicholas Pencarrow offenbar beschlossen hatte, sie nicht weiter zu behelligen. Nur nachts, wenn ihr Tagewerk vollbracht war, gestattete sie es sich bisweilen, mit offenen Augen von ihm zu träumen. Zaghaft zunächst, dann jedoch immer entschlossener, war der Duke of Westbourne mit seinen grünbraunen Augen und seinem verwegenen Lächeln in ihre Träume eingedrungen, und Brenna beschloss jeden Morgen aufs Neue, von bittersüßen Schuldgefühlen geplagt, ihn ein für alle Mal aus ihrer Erinnerung zu verbannen.

Die Verhältnisse in der Beaumont Street hatten sich zum Guten hin entwickelt. Dank Lord Deuxberrys Großzügigkeit hatten die meisten der alten, tropfenden Leitungsrohre repariert werden können, und die Schlafsäle der Kinder waren in Erwartung des kalten Winters von innen ausgekleidet worden, um sie wärmer zu machen. Die Geldumschläge des Lords trafen mit einer schönen Regelmäßigkeit ein, und alle drei Frauen hofften, das möge andauern, denn nach seinem ersten Besuch hatte keine von ihnen je wieder persönlichen Kontakt zu Lord Deuxberry gehabt. Er ließ sich von seinem ersten Sekretär vertreten, einem missmutigen, doch tüchtigen Mann namens Winslop.

Heute war Mr. Winslop mit Einladungsbriefen in der Hand gekommen, je einen für Brenna, Betsy und Kate, in denen sie zu einer Abendgesellschaft geladen wurden, die Lord Deuxberry in seinem Haus in Kensington veranstaltete. Brenna war mulmig zu Mute, als der Sekretär erklärte, was von ihnen erwartet wurde.

"Seine Lordschaft hat unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er alle drei von Ihnen zu sehen wünscht. Ich glaube, er wäre höchst verstimmt, sollte diesem Wunsch nicht entsprochen werden, denn schließlich hat er einige Mühe darauf verwandt, nur solche Gäste einzuladen, die als Gönner für Ihr Waisenhaus infrage kommen, falls Sie überzeugend für Ihre Sache werben. Es wird nicht allzu förmlich zugehen. Bei schönem Wetter wird auch der Wintergarten mit einbezogen, aber auf jeden Fall stehen alle drei Salons zur Verfügung."

Kate und Betsy tauschten ehrfürchtige Blicke aus, als sie sich die Pracht und Geräumigkeit des Hauses vorstellten. Brenna blickte starr geradeaus, denn sie wusste genau, was sie erwartete. Jenes eine Jahr, das sie als Debütantin in der feinen Londoner Gesellschaft verbracht hatte, war unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Die Dienerschaft würde strammstehen, während blasierte, gut gekleidete Damen und Herren genüsslich über die Beschäftigung, die Kleidung, die Manieren und das Aussehen der anderen Gäste herziehen würden. Und das Schlimmste daran war, dass sie in der Falle saß. Sie würde hingehen müssen, denn ihren Gönner zu verärgern, könnte das Wohl der Waisenkinder gefährden, die schließlich keinen Einfluss auf diese Dinge hatten.

Mr. Winslop händigte jeder von ihnen einen Umschlag aus, auf dem in dicken schwarzen Lettern ihr jeweiliger Name prangte. Während er sich zum Gehen erhob, erklärte er rasch: "Wie Sie sehen, findet der Empfang am Sechsten dieses Monats statt. Ich könnte Sie mit der Kutsche Seiner Lordschaft abholen lassen, falls Sie dies wünschen."

Brenna schüttelte den Kopf und unterbrach seine Ausführungen. "Nein, mein Onkel wird uns seinen Wagen ausleihen." Die beiden anderen Frauen nickten zustimmend. Sie wollten die Freiheit haben, heimzufahren, wann es ihnen beliebte, statt in einer so illustren Gesellschaft gefangen und auf Gedeih und Verderb Lord Deuxberrys Launen ausgeliefert zu sein.

Mr. Winslop zögerte einen Augenblick, als wolle er Einwände erheben, schloss dann jedoch sein Rechnungsbuch und überreichte Betsy einen weiteren Geldumschlag. "Nun gut, bis nächste Woche dann, meine Damen!"

 

Fünf Tage darauf bogen Brenna, Betsy und Kate in die Auffahrt einer Stadtvilla ein, die all ihre Erwartungen himmelweit übertraf.

"Er muss einer der reichsten Männer Englands sein", bemerkte Brenna, als sie das riesige Anwesen betrachtete. Alle drei Frauen blickten einander mit unverhohlener Besorgnis an. "Kein Wunder, dass er es sich leisten kann, uns zu helfen."

"Lord Deuxberry …" Brenna ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen und durchforstete ihr Gedächtnis nach einem Adligen dieses Namens, doch vergeblich. In Anbetracht seines offenkundigen Reichtums war es höchst seltsam, dass sie nie zuvor von ihm gehört hatte, denn eine solche Pracht vertrug sich für gewöhnlich schlecht mit Anonymität.

Die Kutsche kam vor der Säulenhalle zum Stehen. Zwei Lakaien schritten die mächtigen Marmorstufen hinab, um den drei Frauen beim Aussteigen behilflich zu sein und sie dann zu dem Butler zu geleiten, der steif am Hauptportal stand.

Nicholas trat einen Augenblick später heraus. Als er Brenna sah, stockte ihm der Atem. Sie trug ein schlichtes blaues Kleid, hatte ihr volles Haar zu einer unkomplizierten Hochfrisur aufgesteckt, und ihr Gesicht wirkte rosig und strahlend. Im silbrigen Mondlicht des frühen Abends erschien sie Nicholas nahezu überirdisch schön.

"Meine Damen", sagte er freundlich, während er mit großen Schritten auf sie zuhielt, die Augen dabei fest auf Brenna gerichtet, "seien Sie herzlich willkommen in meinem Hause!"

Brenna fuhr wie vom Blitz getroffen zusammen. Der Duke of Westbourne! Einen Augenblick lang spielte sie mit dem Gedanken, auf dem Absatz kehrtzumachen und heimzufahren, ja, sie tat sogar den ersten Schritt, besann sich dann jedoch eines Besseren. Im selben Moment wurde ihr klar, dass diese Falle raffiniert vorbereitet worden war, sorgfältig und mit viel Geduld. Vor Aufregung schlug ihr das Herz bis zum Hals, doch sie zwang sich, nach außen hin ruhig und gefasst zu wirken. Ihre Fingerknöchel traten weiß hervor, so fest ballte sie die Hände an ihren Seiten zu Fäusten, als ihr Gastgeber mit ausgestreckter Hand auf sie zukam. Sie wagte nicht, sich von ihm berühren zu lassen aus Furcht, der Kontakt mit seiner Haut könne abermals jene verstörenden Gefühle in ihr wecken, und war erleichtert, als er die Hand sinken ließ. Die Herzlichkeit, die trotz ihrer offenkundigen Unhöflichkeit aus seinen Augen sprach, verwirrte sie allerdings, ebenso wie die Worte, die er sodann an sie richtete.

"Ich habe Sie vom Balkon aus beobachtet, als Sie 'Ring O' Roses' auf dem Klavier spielten", erklärte er lächelnd.

"Was Sie nicht sagen, Lord Deuxberry", antwortete sie gedehnt und hob herausfordernd das Kinn.

"Ich bediene mich bisweilen dieses Titels, der mir übrigens von Rechts wegen zusteht, um damit unerkannt meinen Geschäften nachgehen zu können."

Er blickte ihr in die Augen. Seine Offenheit gefiel Brenna und entlockte ihr ein Lächeln.

Von einem Augenblick zum anderen war alle Härte aus ihrem Gesicht gewichen, ihre Augen strahlten, und auf ihren Wangen zeichneten sich zwei entzückende Grübchen ab. Himmel, sie war so wunderschön, wie konnte ihr Jahr als Debütantin nur so erfolglos verlaufen sein?

"Dürfte ich Sie den anderen Gästen vorstellen?" fragte er ruhig. "Ich habe versucht, die umgänglichsten meiner Bekannten auszuwählen … und die großzügigsten." Kate und Betsy nickten erwartungsvoll.

Brennas Miene hingegen verfinsterte sich. Lieber Gott, lass niemanden darunter sein, den ich einst gekannt haben könnte!

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