Erst Hochzeit, dann Liebe

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Nur Philippa kann den finanziellen Ruin ihres Vaters verhindern. Der reiche David Morgan will dessen Schulden übernehmen, wenn sie ihn heiratet. Geht es David wirklich nur um Rache an den Corbetts, die immer auf ihn herabgesehen haben? Oder besteht ein Fünkchen Hoffnung, dass er Philippas Liebe erwidert?


  • Erscheinungstag 28.03.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733756291
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

„Guten Morgen, Miss Philippa. So früh schon ein Ausritt mit ihrem jungen Wildfang? Passen Sie auf, er ist heute ziemlich lebhaft. Soll ich Ihnen beim Satteln helfen?“

Pippa lächelte freundlich. „Nein, danke, Miller, ich komme schon zurecht.“

Die Ställe waren gleich neben dem Haus. Die Hälfte davon war schon längst zu Garagen umgebaut. Von den Pferden war nur noch eine ältere graue Stute namens Lady übrig, die vor Jahren den aktiven Dienst quittiert hatte und jetzt im warmen Stall und auf der Wiese gegenüber ihr Gnadenbrot bekam. Seit einiger Zeit teilte sie den Stall mit Fury, Pippas schönem kastanienbraunem Wallach.

Miller, der für die schwere Stallarbeit und für den Garten zuständig war, hatte die beiden Pferde bereits auf die Koppel gelassen. Pippa beugte sich über das Gatter und rief die Tiere zu sich. Freudig wiehernd kamen sie herbei und rochen an Pippas Taschen. Sie wussten, dass Philippa Corbett, genannt Pippa, ihnen meistens einige Leckerbissen mitbrachte.

„Du gieriges kleines Monster“, tadelte Pippa Fury zärtlich und streichelte den schlanken Hals des Pferdes, das ihr blitzschnell den mitgebrachten Apfel aus der Hand geschnappt hatte. „Warum kannst du nicht so höflich sein wie Lady?“

Das rassige Tier rieb die Nase an Pippas Schulter, wie um sich für sein schlechtes Benehmen zu entschuldigen. Pippa griff nach dem Halfter, öffnete das Gatter und brachte Fury in die Stallgasse. Dort sattelte sie ihn rasch und führte ihn zum Aufsteigeblock, zog den Riemen ihres Reithelms fest und schwang sich in den Sattel.

Fury war wirklich sehr übermütig, doch Pippa ließ ihn tänzeln – sie war selbst unruhig. Ohne das Gatter zur Wiese zu öffnen, ritt Pippa darauf zu. Der Wallach spürte, was sie vorhatte, und setzte mit einem eleganten weiten Sprung darüber. Pippa beugte sich dicht über seinen Widerrist und genoss die kraftvolle Bewegung des Pferdes.

Sollten die Leute sie ruhig für respektlos halten, weil sie am Tag von Großvaters Beerdigung ausritt. Viel schlimmer war es Pippas Ansicht nach, dass ihre Eltern dem Großvater so wenig Respekt gezollt hatten, als er noch lebte. Zwar war es in den letzten Jahren wirklich ein wenig anstrengend geworden, mit ihm umzugehen, als die Altersdemenz ihm nach und nach seine geistigen Fähigkeiten raubte. Doch wenn man ein wenig Geduld mit ihm gehabt hatte, statt ihm ständig seine Vergesslichkeit vorzuwerfen, war es immer noch möglich gewesen, sich einigermaßen mit ihm zu unterhalten.

Wie oft hatte Pippa sich mit ihren Eltern darüber gestritten, wie schlecht sie den Großvater behandelten, den Pippa liebevoll Gramps nannte. Für sie war er immer ihr Großvater gewesen, obwohl er nicht wirklich mit ihr verwandt, sondern der Stiefvater ihres Vaters gewesen war. Natürlich hatte Pippa ihn in seiner Jugend nicht gekannt, doch er musste ein sehr energischer Mann gewesen sein. Immerhin hatte George Morgan den kleinen Familienbetrieb, den er von seinem Vater geerbt hatte, zu einem riesigen Unternehmen ausgebaut. Leider hatte er im Privatleben nicht so viel Glück gehabt.

Alle Leute sagten, dass Pippa ihrer Großmutter nachschlug. Sie hielten das vermutlich für ein Kompliment, denn nach den Porträts, die immer noch die Wände des Hauses zierten, war Pippas Großmutter in jungen Jahren eine Schönheit gewesen. Pippa hatte die feinen Gesichtszüge und den zarten Teint von ihr geerbt, ebenso die Augenfarbe: ein tiefes, fast violett schimmerndes Blau. Und sie hatte ebenso feuriges rotgoldenes Haar, das auf ein ähnlich feuriges Temperament schließen ließ.

Doch sie war überzeugt, dass sie nicht die selbstsüchtige, anspruchsvolle Art ihrer Großmutter geerbt hatte. Lady Elizabeth Corbett Morgan war, wie sie bei jeder Gelegenheit zu betonen pflegte, die Tochter eines Earls, und ihr erster Ehemann war zwar nicht aus den höchsten Rängen der Aristokratie, aber immerhin ein Baron aus bester Familie gewesen. Unglücklicherweise war die Lady, da diese beiden feinen Herren – ihr Vater und ihr Ehemann – so rücksichtslos gewesen waren, zu sterben, ohne ihr einen Pfennig zu hinterlassen, gezwungen gewesen, einen gewöhnlichen Industriellen zu heiraten, um den Lebensstil aufrecht zu erhalten, den sie für sich als würdig erachtete.

Sie hatte dem armen Gramps das Leben zur Hölle gemacht. Und als er nach ihrem Tod vor sechs Jahren gehofft hatte, seinen Lebensabend in Ruhe und Frieden beschließen zu können, war dies an seinem Stiefsohn gescheitert.

Das Motorengeräusch eines rasch herannahenden Autos riss Pippa aus ihren Gedanken. In diesem Moment tauchte der Wagen schon dicht vor ihr auf. Vor Schreck zog Pippa Fury so heftig zurück, dass das Pferd stieg. Dabei rutschte es mit den Hufen auf der Grasböschung am Rand der Straße aus, und ehe sie es sich versah, stürzte Pippa aus dem Sattel und landete in einer Hecke. Ihr Haar löste sich aus dem adretten Knoten und fiel ihr in wildem Durcheinander über die Schultern.

Fury war nichts geschehen – Pippa hatte instinktiv den Zügel festgehalten, und das Auto hatte rechtzeitig gebremst. Voller Selbstvorwürfe über ihre Dummheit, auf der Straße zu galoppieren, versuchte Pippa sich aufzusetzen. Da blickte sie auf braune Cowboystiefel, deren Besitzer sich breitbeinig vor Pippa aufgebaut hatte.

„Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?“, fuhr der Mann sie an. „Sie hätten Ihr Pferd umbringen können. Was haben Sie sich bloß dabei gedacht, wie eine Verrückte mitten auf der Straße zu galoppieren?“

Das brachte Pippa in Rage. Als ob sie diese Belehrung nötig hätte! „Ich habe nicht damit gerechnet, dass hier jemand für ein Autorennen trainieren will“, entgegnete sie hitzig. „Abgesehen davon, dies ist ein Privatweg: Sie haben hier gar nichts verloren.“

„Dann schmeißen Sie mich doch raus“, forderte er sie auf. Wütend hob Pippa den Blick, höher und höher – über lange Beine in engen Jeans, einen schweren Ledergürtel und breite kräftige Schultern in einem lässigen, blau karierten Freizeithemd. Vielleicht lag es an ihrem Blickwinkel, dass der Mann so imposant erschien – auf jeden Fall war Pippa entschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen.

„Das überlasse ich meinem Vater“, erwiderte sie mit eisiger Herablassung. „Oder dem Gärtner.“

Leider verlor ihre würdevolle Entgegnung an Wirkung durch den Umstand, dass die Dornen der Hecke sich in der Seidenbluse verfangen und die Knöpfe aufgerissen hatten, wie Pippa in diesem Moment entsetzt feststellte. So bot Pippa diesem Fremden gerade unfreiwillig eine sehr interessante Aussicht auf die sanfte Wölbung ihrer Brüste, die nur unzulänglich von einem reizenden Büstenhalter aus weißer Spitze bedeckt waren. Hastig versuchte Pippa, die Knöpfe wieder zu schließen, doch die Bluse hing immer noch in der Hecke fest. „Darf ich?“ Er beugte sich über sie, und Pippa meinte einen spöttischen Ausdruck in seinen Augen wahrzunehmen, während er die Situation schamlos dazu ausnutzte, den Anblick auszukosten, bevor er Pippa geschickt von den Dornen befreite und ihr dann die Hand bot, um ihr aufzuhelfen.

Selbst als Pippa neben dem Mann stand, kam er ihr noch riesengroß vor. Er musste mindestens einen Meter neunzig groß sein. Sein hellbraunes Haar war an einigen Stellen von der Sonne aufgehellt, und sein schmales, kantiges Gesicht erinnerte Pippa so sehr an ihren Großvater, dass sie den Mann sprachlos ansah.

Sie hatte nicht gewusst, dass Gramps Verwandte hatte – jedenfalls hatte sich zu seinen Lebzeiten niemand bei ihm blicken lassen. Doch nun, da er tot war, schien es durchaus Leute zu geben, die sich eine Chance auf einen Anteil an der Erbschaft ausrechneten. Nun tauchten sie aus der Versenkung auf. Doch dieser Mann hier hätte wenigstens den Anstand haben können, den Großvater einige Tage in Frieden ruhen zu lassen.

Der Fremde betrachtete Pippa immer noch mit diesem spöttischen Blick, den er anerkennend über die schlanke Figur in der zerrissenen Seidenbluse und den engen Reithosen gleiten ließ. Pippa hielt seinem Blick mit eisiger Verachtung stand, doch das schien ihn nur zu amüsieren.

„Sie sind wohl die kleine Pippa“, sagte er langsam. Aus seinem Akzent schloss Pippa, dass der Mann aus Kanada kam. Aber woher wusste er, wer sie war?

„Stimmt“, bestätigte sie voller Misstrauen. „Aber ich erinnere mich nicht, Ihnen jemals vorgestellt worden zu sein.“

„Ich auch nicht – dabei bin ich sicher, dass ich diese Erfahrung nicht so schnell wieder vergessen hätte. Sie sind Ihrer Großmutter wie aus dem Gesicht geschnitten.“

Es war offensichtlich, dass diese Bemerkung nicht als Kompliment gemeint war, aber Pippa tat, als hätte sie das nicht gemerkt. Sie lächelte mit hochmütiger Herablassung, wie es ihre Großmutter getan hätte. „Danke.“ Es war ihr gelungen, die meisten Knöpfe wieder zu schließen. Nun fühlte sie sich etwas wohler. „Darf ich fragen, wer Sie sind?“

„Wissen Sie das nicht?“

„Offenbar nicht“, entgegnete sie schnippisch. „Sonst würde ich nicht fragen.“

Er lachte. „Sie sind ja eine richtige kleine Hornisse. Hat noch nie jemand versucht, Ihnen den Stachel zu ziehen?“

„Mehrere“, erwiderte sie scharf. „Aber geschafft hat es niemand.“

„Noch nicht.“

Es klang wie eine Drohung und ein Versprechen zugleich, und Pippas Herz schlug schneller. Rasch wandte sie sich ab, um die Röte zu verbergen, die ihr in die Wangen stieg. Sie tat so, als untersuchte sie Furys Hufe. Wie konnte dieser Fremde es wagen, so mit ihr zu sprechen, sie so anzusehen? In ihrem ganzen Leben war sie noch nie einem so unverschämt arroganten Menschen begegnet.

„Ihr Pferd scheint nicht verletzt zu sein – Ihnen verdankt es das nicht“, fuhr er fort. „Und Sie? Keine Beulen oder Schürfwunden?“

Sie warf ihm einen eisigen Blick zu. „Nichts dergleichen.“

Sein Lächeln blieb sarkastisch. „Freut mich zu hören. Wenn Sie wieder aufsteigen wollen, sollte ich Ihnen wohl lieber dabei helfen.“

Pippa zögerte. Lieber hätte sie das Angebot abgelehnt, aber ohne Aufsteigehilfe kam sie nicht in den Sattel und würde zu Fuß zu den Ställen zurückgehen müssen. Nun, mehr als die Sohle meines Stiefels bekommt er ja nicht zu fassen, dachte sie, er ist also so etwas wie mein Stiefelknecht. Das erscheint doch ganz angemessen.

„Danke“, willigte sie so herablassend wie möglich ein.

Sie meinte, etwas wie Triumph in seinen Augen aufblitzen zu sehen, als er sich bückte und ihr die gefalteten Hände als Steighilfe anbot. Sie ertappte sich dabei, wie sie seine breiten Schultern und sein glänzendes, sonnengebleichtes Haar bewunderte, und ihr Mund wurde seltsam trocken. Noch nie zuvor hatte sie einen solchen Mann kennengelernt. Und er war sehr männlich.

Energisch riss sie sich zusammen. Dieser Cowboy sollte sich bloß nicht einbilden, dass er irgendeine Wirkung auf sie hatte. Doch als er ihr mit Schwung in den Sattel half, musste sie sich an seiner Schulter festhalten, und als sie die Bewegungen der kräftigen Muskeln spürte, wurde ihr plötzlich heiß.

„Sagen Sie“, hörte sie ihn fragen, „ist Ihre Abneigung mir gegenüber persönlicher Art, oder verachten Sie einfach jeden, der nicht die richtige Schule besucht hat oder mit dem falschen Akzent spricht?“

Pippa traute ihren Ohren nicht. Dieser Kerl war offenbar so arrogant, dass er sich ihr Desinteresse an seiner Person nur mit einem Standesdünkel erklären konnte.

„Was hätten Sie davon, wenn Sie es wüssten?“, entgegnete sie.

Er lächelte amüsiert. „Mir gefällt nur die Vorstellung nicht, dass meine Wirkung auf Frauen nachlassen könnte.“

„Das wäre sicher eine ganz neue Erfahrung für Sie“, konterte sie sarkastisch. „Sie sind sicher davon überzeugt, dass jede Frau Ihnen auf Anhieb zu Füßen liegen muss.“

„Nicht immer auf Anhieb“, sagte er lässig. „Aber für gewöhnlich habe ich sie bald da, wo ich sie haben will.“ Er hielt Fury am Zügel, sodass Pippa nicht einfach davonreiten konnte. Der Blick seiner haselnussbraunen Augen hatte eine sehr eigenartige Wirkung auf ihren Herzschlag. „Ich wüsste gern, wie lange ich wohl bei Ihnen brauchen würde.“

„An Ihrer Stelle würde ich meine Zeit nicht verschwenden“, zwang sie sich, so ruhig wie möglich zu sagen. „Sie sind einfach nicht mein Typ.“

Er lächelte. „Eigentlich sollte eine so hübsche Biene wie Sie wissen, dass sie einen Mann lieber nicht so provozieren sollte. Die Herausforderung könnte sich als unwiderstehlich erweisen.“

Fury spürte die Nervosität seiner Reiterin und wurde unruhig, sodass Pippa Schwierigkeiten hatte, ihn unter Kontrolle zu halten. „Nennen Sie mich nicht Biene“, wies sie den Fremden hitzig zurecht. „Und lassen Sie die Zügel los.“

„Genau das hätten Sie nötig: jemanden, der Ihr Temperament ein wenig zügelt“, behauptete er.

„Sie werden es jedenfalls nicht sein.“

„Das werden wir sehen.“ Doch zu ihrer Erleichterung ließ er die Zügel los, und betont aufrecht mit hoch erhobenem Kopf ritt Pippa davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Es dauerte einige Minuten, bis sie sich etwas beruhigt hatte. Und nun merkte sie auch, dass der Fremde ihr nicht gesagt hatte, wer er war. Soweit sie wusste, hatte Großvater nur einen einzigen Bruder gehabt, der im Ersten Weltkrieg gefallen war, ohne Kinder zu hinterlassen. Also musste dieser Fremde ein sehr entfernter Verwandter sein. Sie fragte sich, wie viele seiner Art noch hier auftauchen würden, um sich wie die Geier auf die Erbschaft zu stürzen.

Doch Pippa wollte sich von dieser Begegnung nicht den Ausritt verderben lassen. Entschlossen lenkte sie Fury auf die Felder und trieb ihn zu vollem Galopp an. Es hatte seit Wochen nicht geregnet, und der Boden war sehr fest, genau so, wie Fury es mochte. Die Hecken, die die Wiesen von den Feldern abgrenzten, waren für das temperamentvolle Pferd ideal, um darüber zu springen.

Pippa dehnte den Ausritt auf über eine Stunde aus. Sie brauchte diese Zeit, um den Schmerz über den Verlust ihres Großvaters zu lindern und Kraft zu schöpfen, um die Beerdigung durchzustehen.

Nachdem sie Fury trocken gerieben hatte, ließ sie ihn wieder auf die Koppel, wo er den Rest des Tages mit Lady herumtollen konnte. Dann ging sie zum Haus. Es blieb noch viel Zeit zum Baden und Umziehen vor der Beerdigung.

Die Glastüren des Arbeitszimmers, das früher ihrem Großvater gehört hatte, seit einigen Jahren aber von ihrem Vater benutzt wurde, standen offen. Pippa hörte ihren Vater mit erhobener Stimme sprechen.

„Kein Testament?“ Major Sir Charles Edmund St. John Corbett war sichtlich verärgert über Mr. Gibbons, den alten Notar des Ortes, den Großvater immer jedem „städtischen Schickimickianwalt“ vorgezogen hatte. „Stellen Sie sich nicht so an. Er muss ein Testament gemacht haben.“

Pippa blieb stehen. Sie sah, wie der Notar den Kopf schüttelte. „Ich bedaure es zutiefst, Sir Charles, aber das hat er nicht. Ich versichere Ihnen, dass ich mein Bestes getan habe, ihn zu überreden – natürlich, als er noch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war –, aber er hat mich jedes Mal abgewiesen. Zur Sicherheit habe ich auch das Nachlassregister überprüft, für den Fall, dass er einen anderen Notar damit beauftragt haben sollte – obwohl ich nicht wüsste, warum. Aber ich habe nirgends auch nur die Spur eines Testaments gefunden. Es tut mir leid, aber es sieht so aus, als sei ihr Stiefvater ohne Testament gestorben.“

„Der verdammte alte Esel“, fuhr der Major auf. „Das sieht ihm ähnlich, so ein heilloses Chaos zu hinterlassen. Das hat er doch nur getan, um uns zu ärgern. Und was geschieht nun? Zumindest wird es wohl viel länger dauern, den Nachlass zu regeln, als nötig gewesen wäre. Sie werden damit einige zusätzliche Arbeit haben. Es wird doch nicht alles an die Krone fallen, oder?“, fügte er mit erzwungener Fröhlichkeit hinzu, als er bemerkte, dass er sich in seinem Ärger über diese unglückliche Situation ungeziemend raffgierig darstellte.

„Nein.“ Der Notar zögerte und räusperte sich sichtlich verlegen. „Der Besitz wird nach den Regeln des Erbschaftsrechts aufgeteilt“, sagte er langsam. „Die Erbfolge ist darin genau festgelegt.“

Interessiert trat Pippa näher. Da sah sie plötzlich die braunen Cowboystiefel wieder. Sie ragten aus dem Sessel hinter dem Vorhang hervor. Ihr Besitzer hatte offenbar die Beine lang ausgestreckt und lässig übereinandergeschlagen. Wie hatte der Fremde sich Zugang zu diesem Gespräch verschafft? Pippa staunte, dass Vater ihn überhaupt ins Haus gelassen hatte. Sie blieb wieder stehen, damit er sie nicht sehen konnte, hörte aber nun noch aufmerksamer zu.

„Nun, wenn der Mann keine Ehefrau hinterlässt, geht der Besitz an die Kinder“, dozierte Mr. Gibbons gerade. „Das trifft auf diesen Fall zu.“

„Ja? Und?“, fragte Sir Charles ungeduldig.

„Wissen Sie … Ich muss Ihnen sagen, dass in diesem Zusammenhang der Begriff Kinder Stiefkinder nicht mit einschließt, es sei denn, sie sind ordnungsgemäß adoptiert worden. Uneheliche Kinder hingegen sind mit eingeschlossen …“

„Was?“, schrie Sir Charles auf. „Aber das ist doch lächerlich. So etwas Idiotisches habe ich noch nie gehört.“

Pippa traute ihren Ohren kaum. Sie ahnte nun, wer der geheimnisvolle Fremde war.

Kein Wunder, dass er ihrem Großvater so ähnlich sah. Na, wer hätte das von dem alten Mann gedacht! Hatte seine Frau es gewusst? Es wäre ihr recht geschehen. Wahrscheinlich hatte sie ihn mit ihrer Boshaftigkeit geradezu in die Arme einer anderen Frau getrieben.

Wutentbrannt wandte Sir Charles sich an den Mann im Sessel. „Wenn Sie glauben, dass Sie auch nur einen Stein dieses Hauses bekommen werden, dann täuschen Sie sich“, ereiferte er sich. „Eher sorge ich dafür, dass Sie in die Hölle kommen.“

„Glauben Sie wirklich, dass es nötig sein wird, so weit zu gehen?“ Die spöttische Stimme klang völlig gelassen. „Ich dachte immer, solche Angelegenheiten würden üblicherweise vor Gericht geregelt, aber ich verneige mich vor Ihrer überlegenen Kenntnis der englischen Gesetze.“

Pippa unterdrückte ein Kichern, doch ihrem Vater war nicht zum Lachen zumute. „Ha, ha, sehr lustig“, grollte er. „Wir werden ja sehen, wer zuletzt lacht. Versuchen Sie erst einmal, Ihren Anspruch geltend zu machen. Sie werden vor Gericht beweisen müssen, dass Sie der Bastard des Alten sind. Und das wird nicht so einfach sein, wie Sie es sich vorstellen.“

„Mein Vater hat mich von Anfang an anerkannt“, war die eisige Antwort. „Er hat meine Geburt persönlich beim Standesamt angemeldet – so steht es in meiner Geburtsurkunde. Und er hat mir seinen Namen gegeben.“

„Glauben Sie, das hätte etwas zu sagen?“, tobte Sir Charles. Vor Wut nahm er überhaupt keine Rücksicht auf Sitte und Anstand. „Er wäre nicht der erste Mann, der von einem verlogenen Flittchen hinters Licht geführt wurde.“

Weiter kam er nicht. Der Fremde war aufgesprungen und packte ihn mit eiserner Faust am Kragen. „Für diese Beleidigung würde ich Sie am liebsten gegen die Wand schlagen“, sagte er mit gefährlich ruhiger Stimme. „Aber die Wand gehört jetzt mir, und ich möchte sie nicht schmutzig machen. Also schlage ich vor, dass Sie freiwillig zusammenpacken, was Ihnen gehört, und schnellstmöglich mein Haus verlassen.“ Damit ließ er Sir Charles los und wischte sich verächtlich die Hände ab.

„Mr. Gibbons, es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe“, entschuldigte er sich. Seine ausgesuchte Höflichkeit gegenüber dem Notar kam einer zusätzlichen Demütigung von Pippas Vater gleich. „Ich gehe jetzt lieber, bevor ich etwas tue, das nicht mehr rückgängig zu machen ist.“

Hastig trat Pippa zwei Schritte zurück und vermied so gerade noch einen Zusammenstoß mit dem Fremden, der durch die offene Tür ins Freie stürmte. Er hielt kurz inne, warf Pippa einen Blick voll eisiger Verachtung zu und setzte dann seinen Weg fort.

Sir Charles hatte sich in einen Stuhl fallen lassen und tupfte sich die Stirn mit einem Taschentuch ab. „Das werde ich anfechten“, schwor er, immer noch wütend. „Es muss eine Möglichkeit geben. Kein Gericht der Welt wird eine so groteske Situation für rechtens erklären.“

„Ich fürchte, es steht Ihnen kein Rechtsweg offen“, belehrte ihn der Notar. „Nach geltendem Recht hat das Gericht keinen Anlass, die Vorschriften zu ändern, es sei denn, es wäre nachzuweisen, dass der Antragsteller finanzielle Unterstützung braucht. Selbst dann würde allenfalls ein Betrug in Höhe des Existenzminimums bewilligt.“

„Ja, ja, ersparen Sie mir die juristischen Haarspaltereien. Jedenfalls braucht er sich nicht einzubilden, dass ich es ihm leicht mache. Mal sehen, was mein Anwalt in London zu der Sache sagt.“

Mn Gibbons war sichtlich gekränkt. „Ich kann Ihnen versichern, Sir Charles, dass ich …“

Ein leises Klopfen an der Tür unterbrach ihn. Die Tür wurde einen Spalt weit geöffnet, und herein schob sich schüchtern eine Frau mittleren Alters, die es fertigbrachte, selbst in dem strengen, sehr korrekten schwarzen Kostüm noch frisch und hübsch auszusehen. Ihre blonden Locken wirkten wie immer etwas zerzaust, und ihre leicht geröteten Wangen verrieten, dass Lady Helena Lady Corbett bereits ihrem Lieblingsgetränk, Gin Tonic, zugesprochen hatte, obwohl es noch früh am Vormittag war.

„Darf ich? Oh, Mr. Gibbons, Sie sind noch da?“, plapperte sie. „Ich habe laute Stimmen gehört, und …“

„Er ist weg“, informierte Sir Charles seine Frau grimmig. „Komm herein. Du kannst es ebenso gut gleich erfahren. Er bekommt alles.“

„Alles?“ Erschrocken bedeckte Lady Corbett den Mund mit der Hand. „Du meinst … Er hat dir nichts hinterlassen?“

„Er hat nicht einmal ein Testament gemacht. Und nach irgendeinem blöden, veralteten Gesetz bedeutet das, dass sein uneheliches Kind das ganze Vermögen erhält.“

„Aber …“ Sie sank kraftlos auf einen Stuhl. „Bestimmt kann das nicht seine Absicht gewesen sein? Wir haben uns all die Jahre um ihn gekümmert – und es war, weiß Gott, nicht immer leicht. Wie oft habe ich mich gefragt, ob es nicht besser für ihn wäre, in ein Heim zu gehen.“ Mit sanftem, flehendem Blick wandte sie sich an den Notar. „Er stand uns so nahe wie unser eigen Fleisch und Blut. Ich habe unsere Entscheidung, ihn selbst zu pflegen, nie bereut.“

Pippa schüttelte den Kopf. Das Talent ihrer Mutter, die Wahrheit zu verdrehen, versetzte sie immer wieder in Erstaunen – und das Verrückteste daran war, dass ihre Mutter alles selbst zu glauben schien. Pippa wunderte sich nicht mehr, dass auch ihre Mutter den unerwarteten Besucher offenbar längst gekannt hatte. Sie hatte schon lange geahnt, dass es einen dunklen Punkt in der Geschichte der Familie gab, der gelegentlich in Anspielungen, nie aber offen erwähnt wurde. Nun, der junge Mann hätte sich keinen wirkungsvolleren Auftritt verschaffen können.

Pippas Vater zürnte immer noch. „Du kannst Gift darauf nehmen, dass genau das seine Absicht war“, behauptete er kampflustig. „Diese Undankbarkeit! Aber natürlich, es war ja von ihm nichts anderes zu erwarten. Ich bin nur froh, dass meine arme Mutter das nicht mehr erleben musste. Sie hat, weiß Gott, genug darunter gelitten, wie er schamlos unter ihren Augen diese – diese Frau und ihren Bastard gehätschelt hat.“

„Das hätte ich sehen wollen“, entfuhr es Pippa. „So etwas hätte er nie getan.“

Überrascht blickten ihre Eltern auf. Sie hatten Pippas Anwesenheit bis jetzt gar nicht bemerkt. „Ich dachte, du wärst ausgeritten“, sagte ihr Vater gereizt.

„Ich bin vorhin zurückgekommen.“ Sie schlenderte ins Zimmer, ohne auch nur eine Andeutung von Zuneigung zu heucheln. Schon lange hatte sie ein sehr distanziertes Verhältnis zu ihren Eltern. Manchmal schien es ihr, als hätte sie nichts mit ihnen gemein, außer, dass sie das Temperament ihres Vaters geerbt hatte. Ihre Mutter und sie waren so verschieden wie Tag und Nacht. „Also, wer war das nun eigentlich?“, fragte sie. „Ich habe noch nie etwas von ihm gehört.“

Ihre Mutter wirkte verlegen, ihr Vater hingegen war ganz direkt. „Wenn du zugehört hast, weißt du, wer er ist. Seine Mutter war die Sekretärin des Alten. Wie lange ihre Affäre gedauert hat, weiß ich nicht. Er war fünfzig, als das Kind geboren wurde – widerlich.“

„Was ist aus der Frau geworden?“, fragte Pippa neugierig.

„Oh, er hat bestens für sie gesorgt, solange sie lebte“, antwortete Sir Charles. „Sie ist vor etwa fünfzehn Jahren gestorben, und David ist nach Kanada gegangen. Ich dachte, wir hätten ihn zum letzten Mal gesehen, aber da habe ich mich geirrt.“

David heißt er also, dachte Pippa. Wenn Großvater fünfzig war, als David geboren wurde, musste David jetzt etwa fünfunddreißig sein. Und er hat alles geerbt – das Haus, das Grundstück, die Firma …

Sie lächelte. Der liebe, gute Gramps! Er hatte endlich erreicht, was er vermutlich immer vorgehabt hatte – seinem Sohn alles zu hinterlassen und seinem Stiefsohn nichts. Fast meinte sie, den Großvater wieder so verschmitzt lachen zu hören, wie er es immer getan hatte, wenn es ihm gelungen war, seinem diktatorischen Eheweib – der „Hexe“, wie er sie hinter ihrem Rücken zu nennen pflegte – eins auszuwischen.

Natürlich tat es Pippa leid, Claremont, das Haus, in dem sie aufgewachsen war, verlassen zu müssen. Es war ein schönes altes Haus mit efeubewachsenen Mauern und hohen Fenstern in einem großen Park inmitten der weiten grünen Landschaft im Herzen Englands.

Aber das war es ihr fast wert, wenn ihrem Vater dafür endlich einmal der Kopf zurechtgesetzt wurde. Er verdiente keinen Pfennig von Großvaters Geld, denn er hatte ihn immer sehr schäbig behandelt. Jetzt tat es Pippa leid, dass sie sich bei ihrer ersten Begegnung schon mit David überworfen hatte. Aber daran war nichts mehr zu ändern. Bei ihrem nächsten Zusammentreffen wollte sie jedoch ausgesucht freundlich zu ihm sein. Sie mussten schließlich gegen ihren Vater zusammenhalten.

2. KAPITEL

„Das war eine schöne Feier“, merkte Sir Charles zufrieden an, als er die glänzende schwarze Limousine aus dem ländlichen Kirchhof steuerte. „Ruhig, aber sehr geschmackvoll. Genau so, wie George es sich gewünscht hätte.“

„Du meinst, wie du sie wolltest“, unterbrach Pippa ihn scharf.

„Oh nein, Philippa“, protestierte ihre Mutter. „Bitte streite jetzt nicht mit deinem Vater – nicht bei einem solchen Anlass.“

„Er ist so schrecklich verlogen“, entgegnete sie. „Es macht ihm überhaupt nichts aus, dass Gramps tot ist. Das Einzige, was ihn bewegt, ist die Frage, wie er David daran hindern kann, an das Vermögen heranzukommen.“

Autor

Susanne Mccarthy
Susanne McCarthy wurde 1949 in London, England geboren. Sie hat 25 Liebesromane von 1986 - 1999 für Mills & Boon geschrieben. Susanne McCarthy hat die Welt bereist und lebt heute in unterschiedlichen Teilen Englands. Im Moment lebt sie mit ihrem Ehemann und zwei Hunden in Devon. Sie ist pensioniert aber...
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