Es ist noch nicht zu spät

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Als Laurel nach fünf Jahren ihre erste große Liebe wiedersieht, möchte sie nur eins: in Beaus Armen endlich glücklich werden. Wird es ihr gelingen, sein Vertrauen, das sie damals so schändlich missbrauchte, zurückzugewinnen? Kann Beau ihr verzeihen, dass sie ausgerechnet mit seinem Rivalen Buddy durchbrannte?


  • Erscheinungstag 04.07.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733758103
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Mit quietschenden Bremsen und einer Abgaswolke kam der Bus mitten in der Stadt zum Stillstand. Der Fahrer öffnete die Tür. In der dritten Reihe umfasste Laurel Cameron den Riemen ihres Rucksacks ein wenig fester, doch ansonsten rührte sie sich nicht.

„Miss?“ Der Fahrer blickte sie im Rückspiegel an. „Angel’s Peak. Wollten Sie hier nicht aussteigen?“

Sie wollte nein sagen, wollte Geld aus ihrer Tasche holen und den Fahrpreis bis zur nächsten Haltestelle bezahlen. Aber es war an der Zeit, nach Hause zurückzukehren.

Sie holte tief Luft, stand auf, nahm ihre zwei Taschen und stieg aus. Sie hatte erwartet, eine unendliche Erleichterung zu verspüren, sobald ihre Füße den Boden von North Carolina berührten. Doch sie verspürte nur Angst, Schuld und Reue.

Sie überquerte die Straße und blickte dem Bus nach. Wenn sie wieder von hier verschwinden wollte, musste sie zu Fuß gehen oder per Anhalter fahren. Beide Transportmittel hatte sie in der Vergangenheit häufig benutzt, aber nun tat sie es nicht mehr. Es stand zu viel auf dem Spiel.

Vor fünf Jahren hatte sie die Stadt auf dem Sozius von Buddys Harley verlassen. In der langen Zeit hatte sie nicht das kleinste Detail ihres Heimatortes vergessen. Es sah alles wie früher aus – so vertraut, so teuer.

Und doch so fremd. Genauso hatte sie jedes Mal empfunden, wenn sie und Buddy in eine neue Stadt gefahren waren – wie eine Fremde, die nicht dazugehörte, niemals dazugehören konnte. Und das war allein ihre Schuld. Sie war in Angel’s Peak stets mit offenen Armen aufgenommen worden, bis sie alle vor den Kopf gestoßen hatte. War sie vermisst worden? War sie willkommen? Konnten die Leute ihr verzeihen?

Schon bald würde sie es erfahren.

Zwei Frauen gingen an ihr vorüber und bedachten sie mit neugierigen, aber vor allem abschätzigen Blicken. Seit fünf Jahren wurde sie angesehen, als wäre sie ein Niemand – oder jemand, vor dem man sich hüten sollte. In Anbetracht des unsteten Lebens, das sie geführt hatte, des Geldmangels und anrüchigen Äußeren konnte sie es niemandem verdenken.

Aber sie hoffte, dass sich all das ändern würde, sobald bewiesen war, dass sie sich geändert hatte.

Sie zog sich die Schirmmütze tiefer in die Stirn und setzte sich in Bewegung. Cameron Inn lag vier Meilen außerhalb der Stadt. Es war ein dreistöckiges Haus inmitten eines Wäldchens und befand sich seit Generationen im Besitz der Familie. Zwanzig Jahre lang hatte es ihr Zuhause dargestellt. Nun war sie sich nicht mehr sicher, ob sie ein Anrecht darauf hatte, dorthin zurückzukehren.

Natürlich konnte sie ihre Mutter anrufen und danach fragen. Aber wenn Leah nun nein sagte? Würde sie ihr von Angesicht zu Angesicht nicht eher Gelegenheit zu einer Entschuldigung geben?

Laurel ging vorbei an der Bibliothek und der Polizeiwache, der Highschool und dem Imbiss, in dem sie mit ihren Freunden herumgelungert war. Sie hielt den Kopf gesenkt, um niemandes Blick zu begegnen. Verbissen setzte sie einen Fuß vor den anderen, trotz der inneren Stimme, die sie abschrecken wollte. Buddy hatte ihr einen Floh ins Ohr gesetzt durch seine wiederholten Worte: Sie haben dich nicht lieb, sie werden dir nie verzeihen, du bedeutest nichts als Ärger, sie sind froh, dass du weg bist.

Ihr Schritt verlangsamte sich. Sie hatte wirklich nichts als Ärger beschert. In den letzten fünf Jahren zu Hause hatte sie jedem das Leben schwer gemacht. Wie oft hatte sie ihre Mutter zu Tränen getrieben? Wie oft hatte ihr Stiefvater sie voller Enttäuschung angesehen? Wie oft hatten ihre Geschwister sich geweigert, mit ihr etwas zu unternehmen, weil sie ihnen jeden Spaß verdorben hatte? Sogar ihren Großeltern, die sie abgöttisch geliebt hatten, hatte schließlich vor ihrer Gesellschaft gegraut.

Als der Bürgersteig in einen Feldweg überging, verharrte ihr schleppender Schritt völlig. Fünf Jahre lang hatte sie heimkehren wollen. Fünf Jahre lang hatte sie in der Überzeugung gelebt, dass es kein Zuhause mehr für sie gab. Was war, wenn es sich bewahrheitete? Was war, wenn sie nicht willkommen war? Wohin sollte sie dann gehen?

Ihr Blick fiel auf die andere Straßenseite. Dort, am Stadtrand, befand sich eines der wenigen Motels. MountainAire Lodge konnte dem Gasthaus ihrer Familie nicht das Wasser reichen. Die Zimmer waren niedrig und schäbig eingerichtet. Aber das Motel war billig und konnte ihr eine letzte Nacht gewähren, in der sie ihren Mut zusammennehmen und sich eine Entschuldigung zurechtlegen konnte.

Sie überquerte die Straße und den holperigen Parkplatz zur Rezeption, nannte einen falschen Namen und zahlte zweiundzwanzig Dollar für den Schlüssel zu Raum 10. Das Zimmer war wie erwartet – besser als einige Unterkünfte, die sie erlebt hatte, schlechter als andere. Trotz der wundervollen Berglandschaft, die den Ort umgab, blickte das einzige Fenster auf den Parkplatz hinaus. Trotz des pompösen Namens roch es nicht nach würziger Bergluft, sondern nach schalem Rauch und Staub.

Laurel stellte ihr Gepäck auf dem Bett ab, schloss die Gardinen, schaltete sämtliche Lampen und den Fernseher ein. Dann setzte sie sich. Sie brannte verzweifelt darauf, nach Hause zurückzukehren, doch ebenso verzweifelt graute ihr davor. Für immer wegzubleiben, war womöglich besser, als feststellen zu müssen, dass sie unerwünscht war.

Einen großen Teil ihres Lebens war sie von widerstreitenden Gefühlen geplagt worden. Die ersten fünfzehn Jahre waren recht normal verlaufen. Ihr Vater war zwar gestorben, doch es hatte keinen vernichtenden Verlust bedeutet. Terence Cameron war nie ein guter Familienvater gewesen. Das Leben ohne ihn war ohne nennenswerte Veränderungen weitergegangen. Um die Familie zu unterhalten, hatte ihre Mutter das Zuhause in ein Gasthaus umgewandelt. Laurel hatte Betten machen, Tische bedienen und Geschirr waschen müssen, aber ihr war genügend Freizeit geblieben.

Auch der Wiederverheiratung ihrer Mutter konnte sie nicht die Schuld geben. Sie hatte ihren Stiefvater sehr lieb, ebenso wie ihren Stiefgroßvater. Bryce hatte Leah unglaublich glücklich gemacht und war eine Vaterfigur für die Kinder geworden. Es hatte allen gut getan, dass er in ihr Leben getreten war.

Irgendetwas war einfach passiert. Etwas, das sie nicht verstand und schon gar nicht erklären konnte. In einer Woche war sie noch ein braves, glückliches Kind gewesen. In der nächsten war sie zu einem Satansbraten geworden. Vielleicht hatte es sich zu Beginn um einen natürlichen Prozess gehandelt. Nach Ansicht der Experten waren viele Teenager launisch, schwierig und aufsässig.

Doch Laurel hatte den Bogen überspannt. Jede kleine Meinungsverschiedenheit war in eine schwere Auseinandersetzung ausgeartet. Und ihre Freunde hatten ihren Groll nur noch angestachelt und den Auslöser für die größten Streitereien dargestellt.

Doch letztendlich traf sie selbst die Schuld. Selbst wenn sie sich in Leahs Armen hatte ausweinen wollen, hatte sie stattdessen verletzende Worte geschrien und Leah damit zum Weinen gebracht. Sie hatte ihre Eltern um so heftiger von sich gestoßen, je mehr sie deren Liebe gebraucht hatte.

Die Sonne war untergegangen, als Laurel sich schließlich aufraffte und das Zimmer verließ. Neben dem Motel befand sich ein Restaurant, das auf derselben niedrigen Stufe stand. Sie hätte niemals dort gegessen, wäre die nächste Alternative nicht eine Meile entfernt und sie weniger knapp bei Kasse gewesen.

Der Parkplatz war fast leer, und die meisten Zimmer lagen im Dunkeln. Es war einer der wenigen Orte in der Stadt, an dem sie nicht befürchten musste, erkannt zu werden. Die Einheimischen verkehrten nicht in diesem Lokal, und es war unwahrscheinlich, dass sie jemanden vom Personal kannte. Dennoch war sie froh über die Schirmmütze, die ihr Gesicht beschattete.

Im Restaurant bestellte sie sich ein Sandwich, Chips und einen Softdrink zum Mitnehmen. Als sie auf dem Rückweg zu ihrem Zimmer gerade um die Ecke bog, stieß sie beinahe mit einem Mann zusammen.

Er blieb ebenso abrupt stehen wie sie und trat dann beiseite. „Entschuldigung“, murmelte er automatisch, in unpersönlichem Ton.

Sie brauchte nur zu nicken und weiterzugehen. Doch sie blieb wie angewurzelt stehen. Fünf Jahre waren vergangen, seit sie diese Stimme gehört hatte. Fünf Jahre, ein Monat und drei Tage. Aber sie kannte diese Stimme ebenso wie ihre eigene.

Beau Walker.

Sie wagte nur einen sehr flüchtigen Blick in sein Gesicht, sah dunkle Haare, dunkle Augen, Bartstoppeln am Kinn. Dann senkte sie den Kopf noch tiefer und zwang sich weiterzugehen. Mit jedem Schritt fürchtete sie, dass er ihr nachrief: Bist du nicht …?

Mit jedem Schritt atmete sie ein wenig befreiter und ging ein bisschen schneller. In ihrem Zimmer war sie sicher vor ihm, wenn auch nicht vor den Erinnerungen daran, wie sie ihn benutzt, betrogen und verletzt hatte.

Ängstlich zählte sie die Türen. Sieben, acht, neun. Ihre zitternden Finger erschwerten es, den Schlüssel ins Schloss zu schieben, aber sie schaffte es. Dann warf sie einen letzten Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass er fort war.

Doch er stand reglos im gelblichen Schein der Straßenlaterne und beobachtete sie. Beinahe glaubte sie, so wie früher die Gewichtigkeit seines Blicks aus der Ferne zu spüren. Zu Beginn hatte Belustigung in seinen Augen gelegen, dann Verlangen, Zufriedenheit und Zuneigung. Zum Schluss war es in Verachtung, Zorn, Hass umgeschlagen.

Laurel betrat das Zimmer, verschloss die Tür und sank auf das Bett. Ihr Atem war unregelmäßig, ihre Muskulatur verkrampft, ihre Brust wie zugeschnürt. Während ihrer Abwesenheit hatte sie sich selten gestattet, an Beau zu denken. Es war ihr leichter gefallen, sich vorzumachen, er hätte nie existiert.

Arbeitete er in diesem Motel, oder war er nur auf der Durchreise? Er hatte keine Angehörigen in Angel’s Peak außer seinem Vater, der ihn misshandelte. Früher hatten sie einige Meilen außerhalb der Stadt in einer schäbigen Baracke gehaust, und er hatte eine verhasste Tätigkeit als Automechaniker ausgeübt. Die braven Bürger der Stadt hatten auf ihn herabgeblickt, weil er arm und wild war. Die Eltern hatten in der Angst gelebt, er könnte seinen beträchtlichen Charme bei ihren Töchtern anwenden, und die Polizei hatte ihn ständig ohne Grund drangsaliert.

Und Laurel hatte ihn benutzt, um ihre Eltern aufzuregen. Sie war mit ihm herumstolziert, um zu beweisen, wie rebellisch sie war. Sie hatte sich eingebildet, sich durch den Umgang mit ihm auf eine niedrigere Stufe zu begeben.

In Wirklichkeit war sie durch die Zerstörung ihrer Beziehung ganz tief gesunken. Sie hatte zu nichts und niemandem besser gepasst als zu Buddy und dem schäbigen Leben mit ihm. Sie hatte all das verdient, was ihr in den vergangenen fünf Jahren widerfahren war.

Alles außer einem, dachte sie mit einem kleinen Lächeln. Außer ihrer Hoffnung für die Zukunft, dem Grund für ihre Heimkehr, dem Sinn ihres Lebens. Vielleicht hasste Beau Walker sie. Vielleicht hasste ihre Familie sie. Sie waren dazu berechtigt. Sie hatte alle im Stich gelassen.

Doch ihr Baby wollte sie niemals im Stich lassen.

Beau stand am Fenster im Zimmer 16 und starrte über den Parkplatz zu dem Zimmer, in das die Frau am vergangenen Abend verschwunden war. Einen Moment lang hatte er sie für eine Fremde gehalten. Doch dann hatte er sie erkannt.

Als sie aus der Stadt verschwunden war, hatten alle angenommen, sie würde in wenigen Wochen oder Monaten zurückkehren. Buddy Jenkins blieb nicht lange bei einer Frau. Er nahm sich, was er wollte, und ließ sie dann fallen.

Aber es waren viele Monate vergangen, und dann Jahre. Die Leute hatten sie vergessen. Ihre Freunde hatten aufgehört, über sie zu reden. Ihre Familie hatte die Suche nach ihr eingestellt. Es war, als hätte sie nie existiert.

Beau hatte sie nicht vergessen. Er hatte sie von dem Augenblick an geliebt, als sie sich zum ersten Mal nähergekommen waren, als sie neunzehn und er zweiundzwanzig Lenze gezählt hatte. Er hatte ihr ein paar Lektionen über Sex erteilt, und sie ihm über das Leben. Er hatte gelernt, dass Liebe sich in Hass verwandeln konnte, und dass die Fähigkeit zu verzeihen einen besseren Menschen erforderte, als er je sein konnte.

Nach fünf Jahren war sie zurückgekehrt. Warum? Und warum hielt sie sich in dieser Absteige anstatt im Cameron Inn auf?

Müde rieb er sich die brennenden Augen. Er hatte den Großteil der Nacht an diesem Fenster verbracht. Einmal hatte er zum Telefon gegriffen, um ihr Zimmer anzurufen, und den Hörer wieder aufgelegt. Einmal hatte er die Tür aufgerissen, um an ihre Tür zu hämmern, aber er hatte nicht einen Schritt aus seinem Zimmer getan.

Was hätte er ihr sagen sollen? Dass er sie hasste? Das und wesentlich hässlichere Dinge hatte er ihr bereits bei ihrem letzten Gespräch gesagt. Sie hatte geweint, und dadurch hatte er sich besser gefühlt, und dadurch wiederum hatte er sich wie ein Schuft gefühlt. Sie hatte Schuldgefühle in ihm erweckt, obwohl er nichts anderes getan hatte, als sie zu lieben, und dafür hasste er sie ebenfalls.

Er hatte ihr nichts zu sagen. Und daher war er in seinem Zimmer geblieben.

Dem kurzen Blick nach zu urteilen, den er auf ihr Gesicht erhascht hatte, war das Leben in den letzten fünf Jahre nicht sehr freundlich zu ihr gewesen. Sie sah älter aus als fünfundzwanzig, müder, ernüchterter. Sie war dünner, und sie hatte sich die wundervollen langen Haare abschneiden lassen, die ihren Stolz und seine Leidenschaft dargestellt hatten.

Der Wecker auf dem Nachttisch klingelte. Es war sechs Uhr. Zeit, sich zur Arbeit zu rüsten. Er fragte sich, wann sie aufstehen und was sie vorhaben mochte. Er wusste, dass sie ihre Familie noch nicht aufgesucht hatte. Er arbeitete derzeit im Cameron Inn, und obwohl er wenig Kontakt zur Familie hatte, wäre ihm eine derartige Neuigkeit zu Ohren gekommen.

Lange nachdem der Wecker verstummt war, wandte er sich vom Fenster ab. Er duschte, rasierte sich und putzte sich die Zähne. Dann nahm er die Wache wieder auf. Er beobachtete, wie sich Regenwolken am Himmel zusammenbrauten und spielte mit dem Gedanken, sich etwas zum Frühstück zu holen, als sich endlich ihre Tür öffnete.

Sie trug wieder die Schirmmütze. Niemand in der Stadt hätte sie in der abgetragenen, schlecht sitzenden Kleidung und mit den zerschlissenen Reisetaschen als eine Cameron erkannt, und schon gar nicht als Laurel Cameron. Die Laurel, die Angel’s Peak in Erinnerung hatte, war unglaublich jung und eitel. Sie trug hautenge Kleidung, um zur Schau zu stellen, was ihr die Natur vermacht hatte. Sie war eine verführerische, auffällige und kecke Blondine. Sie liebte Partys, Ausschweifungen und hatte keinen Respekt vor Autorität.

Mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern ging sie über den Bürgersteig, so als wollte sie jede Aufmerksamkeit vermeiden. Sie war gut darin. Die meisten Menschen, die ihr begegneten, hätten nach fünfzig Metern nicht ein Detail von ihr beschreiben können.

Als sie seiner Sicht entschwunden war, verließ er das Zimmer, stieg in seinen Wagen und fuhr vom Parkplatz. Laurel stand an der Ecke und wollte gerade die Straße überqueren. Er hielt neben ihr an und betätigte den elektrischen Fensterheber. Das getönte Glas glitt hinab, enthüllte blasse Haut und eine verwirrte Miene unter der albernen Mütze. Als sie ihn erkannte, wurde ihr Blick ausdruckslos. Ihr Mund blieb zu einer schmalen Linie zusammengepresst, aber ein Muskel zuckte an ihrem Kiefer.

„Kann ich dich mitnehmen? Ich fahre in die Richtung.“

Sie fragte nicht, wieso er annahm, dass sie nach Hause wollte. „Nein, danke“, sagte sie nur. Ihre Stimme klang rau, so als wäre sie lange nicht benutzt worden, oder als hätte sie zu viele Tränen vergossen. Wegen Jenkins?

„Bist du sicher? Ich …“

Bevor er aussprechen konnte, öffnete der Himmel seine Schleusen. Nicht in einem Nieselregen, sondern in einem Wolkenbruch. Laurel sah aus wie ein begossener Pudel. Sie schloss flüchtig die Augen, öffnete dann die Tür, stellte ihr Gepäck in den Fußraum und stieg ein. Während er das Fenster schloss, schnallte sie sich an. Dann saß sie mit gesenktem Kopf da und starrte auf die Hände in ihrem Schoß.

Eine Weile lang blickte Beau sie nur an. Doch ein Hupen des Wagens hinter ihnen zwang ihn, seine Aufmerksamkeit auf die Straße zu richten und anzufahren. „Seit wann bist du in der Stadt?“

„Gestern.“

„Warum bist du im MountainAire abgestiegen? Ist Buddy bei dir?“

„Nein.“

„Sonst jemand, den deine Eltern missbilligen würden?“

„Nein.“

„Du hattest doch immer eine Vorliebe für Jungs, die sie für unangemessen halten.“ Wie er selbst. Darauf hatte seine größte Anziehungskraft auf sie beruht. Das hatte er von Anfang an gewusst und sich nicht daran gestört. Er hatte sich gedacht, dass sie nur ein bisschen Spaß miteinander haben und wieder auseinandergehen würden. Sich in sie zu verlieben und von ihr sitzen gelassen zu werden, damit hatte er nicht gerechnet.

„Bist du auf Besuch hier?“ Er wusste nicht, warum er die wenigen Meilen zum Cameron Inn nicht schweigend zurücklegen konnte, wie sie es offensichtlich vorgezogen hätte. Aber ein wenig Information konnte nicht schaden. Sie war nun einmal die Person, die er am meisten gehasst hatte – und am meisten geliebt. Wenn er ihre Pläne kannte, konnte er vermeiden, ihr erneut zu begegnen.

Sie blickte aus dem Seitenfenster. „Ich habe vor zu bleiben, wenn …“

„Wo ist Buddy? Hast du einen Besseren gefunden und ihn sitzen lassen?“

Schließlich blickte sie ihn an. Sie sah zerbrechlich und verängstigt aus. „Wo wohnst du?“, erkundigte sie sich, doch er wusste, dass es sie eigentlich nicht interessierte. Sie wollte nur das Thema von Jenkins abwenden. Er fragte sich, warum.

„Am selben Ort.“

Sie blickte sich im Truck um, musterte verstohlen seine Kleidung. Sie erinnerte sich an das schäbige Haus, das sie nur ein einziges Mal besucht hatte. Seine Lage hatte sich offensichtlich verbessert. Seine Jeans war verwaschen und sein T-Shirt billig, doch seine Arbeitsstiefel sahen nach guter, teurer Qualität aus. Der Truck war brandneu, mit allen Extras ausgestattet und hatte mehr Geld gekostet, als er sich vor fünf Jahren erträumt hatte.

Damals hatte er an Geld nur im Zusammenhang mit Laurel gedacht. Er hatte ihr Geschenke machen wollen in der Annahme, sie dadurch ein bisschen länger halten zu können, ihre Liebe erkaufen zu können. Doch er hatte nie Geld besessen, und sie hatte ihn ohnehin verlassen. Wegen Buddy Jenkins.

Und zum ersten Mal in seinem Leben hatte er sich wie der Abschaum gefühlt, für den die Leute ihn stets gehalten hatten.

„Wenn du hier lebst, warum bist du dann im Motel abgestiegen?“

„Ich arbeite gerade am Haus.“ Er erklärte ihr nicht, dass die Baracke, die sie erinnerte, nicht mehr existierte, dass er ein neues Haus baute. Es ging sie nichts an, und er wollte sie nicht mehr beeindrucken. Er wollte sie nicht mehr.

Er gab vor, dass die regennasse Straße seine Aufmerksamkeit erforderte, und verfiel in Schweigen. Nach wenigen Minuten kam die breite Auffahrt zum Cameron Inn in Sicht. Früher einmal hatte er den heftigen Drang verspürt, direkt bis zu dem großen weißen Haus zu fahren, zur Vordertür hineinzugehen und zu verkünden, dass er wegen Laurel gekommen war.

Er hatte es jedoch nie getan. Sie hatten sich stets in der Stadt getroffen. Damals hatte er angenommen, dass sie sich aus Trotz weigerte, ihrer Familie ihren festen Freund vorzustellen, wie es einem braven Mädchen gebührte. Doch dann hatte er die Wahrheit erkannt. Sie hatte sich seinetwegen geschämt. Sie mochte rebellisch, trotzig und wild gewesen sein, aber sie war doch genug eine Cameron, um sich zu schämen.

Nun fuhr er fünfmal in der Woche diese Auffahrt hinauf. Ihre Eltern waren es gewohnt, ihn zu sehen. Gelegentlich aßen sie sogar mit ihm zusammen im Speisesaal, und sie zahlten ihm verdammt viel Geld für seine Dienste. Wie sich die Zeiten doch geändert hatten!

Auf halben Wege zum Haus verkündete Laurel: „Du kannst mich hier absetzen.“

Er fuhr weiter. „Warum? Hast du Angst, dass deine Eltern schlecht von dir denken, weil du mit mir fährst?“

Ein Muskel zuckte erneut an ihrem Kiefer, aber sie antwortete nicht.

Er fuhr geradewegs auf den kleinen Parkplatz an der Nordseite des Hauses. Als Laurel sich nicht rührte, wandte er den Blick von dem imposanten, wunderschönen Gebäude zu ihr. Sie war blass, und ihre Hände zitterten.

Sie hatte wirklich Angst. Wo waren das Selbstvertrauen und die Arroganz geblieben, die den Camerons seit Generationen anerzogen wurden?

Es lag nicht in seiner Absicht, Mitgefühl zu zeigen. Er wollte nur, dass sie endlich ausstieg und er an die Arbeit gehen konnte. Ihretwegen hatte er bereits den halben Vormittag verloren. „Sie haben dich sehr vermisst.“

Sie warf ihm einen scheuen und hoffnungsvollen Blick zu. „Glaubst du?“

Er nickte knapp.

Sie holte tief Luft, nahm ihr Gepäck und stieg aus. Kurz bevor sie die Tür schloss, murmelte sie: „Danke.“

Er beobachtete, wie sie durch den Regen eilte, die Stufen zu der breiten Veranda erklomm und die Hand auf die Türklinke legte. Lange blieb sie stehen. Dann straffte sie die Schultern und trat ein.

Verärgert, gereizt und aufgewühlt fuhr Beau zur Rückseite des Hauses. Es bestand kein Grund für diese Gefühle, kein Grund für bittere Erinnerungen. Nichts hatte sich geändert.

Laurel war wieder da. Er hatte sie gesehen. Sie hatten miteinander geredet. Ende der Geschichte.

Nichts hatte sich geändert.

Laurel stand im Foyer und blickte sich bedächtig, ausgiebig um. Der Parkettfußboden sah genauso aus wie vor zweihundert Jahren. Das Pult aus Mahagoni glänzte immer noch rotbraun unter dem Lüster. Die Treppe wand sich immer noch graziös in den ersten Stock hinauf, in dem all die Gästezimmer lagen. Und der große Speisesaal mit den taubenblauen Wänden und gestärkten Tischdecken, dem Marmorkamin und den kostbaren, zierlichen Möbeln war immer noch der wundervollste Raum, den sie je gesehen hatte. Es roch genau so, wie sie es erinnerte – nach Politur, Blumen und antikem Holz. Sie schloss die Augen und atmete tief ein.

Schritte ertönten auf der Treppe, gedämpft durch den antiken Läufer, leicht wie die eines Kindes. Laurel öffnete die Augen und erblickte ein kleines Mädchen in T-Shirt, Jeans und Turnschuhen. Es blieb auf den Stufen stehen und musterte Laurel mit ernsten braunen Augen – vertrauten Augen.

Laurel hatte ihr Leben lang in solche Augen geblickt – die Augen ihrer Geschwister, ihres Vaters, ihres Stiefvaters und ihrer Großväter, ihre eigenen. Augen dieser Farbe und Form waren ein dominanter Zug der Camerons, den sie an ihr eigenes Kind zu vererben hoffte, den offensichtlich jemand an dieses Mädchen weitergegeben hatte.

„Hi“, sagte sie. „Wie heißt du?“

„Annie Cameron.“

„Wohnst du hier, Annie?“

Sie nickte, und ihre braunen Locken tanzten.

„Wer ist denn deine Mutter?“

„Leah. Mein Daddy heißt Bryce, und ich habe eine Grandma Martha und zwei Grandpas – Grandpa Frank und Grandpa Peter, und Brüder und Schwestern.“

Ihre sanfte, kindliche Stimme war der lieblichste Klang, den Laurel je gehört hatte. Sie verspürte den Drang, sich die Augen auszuweinen wegen all der Jahre, die sie vergeudet hatte, all der Wunder, die sie verpasst hatte, und der Schwester, die sie nie kennengelernt hatte.

Doch sie gab dem Drang nicht nach. „Ist deine Mutter hier?“

Annie nickte und hüpfte die restlichen Stufen hinab. Dann ging sie durch die Halle zur Rückseite des Hauses. Sie deutete auf die geschlossene Tür des Büros und verkündete dann: „Ich habe Hunger. Ich gehe in die Küche.“

Laurel blickte ihr nach und schluckte schwer. Noch war es nicht zu spät, sich umzudrehen und wieder zu gehen. Das Leben war offensichtlich weitergegangen für ihre Familie, und zwar sehr positiv. Ihre Eltern hatten das lang ersehnte Baby bekommen, hatten ihre lästige, entlaufene Tochter durch eine andere ersetzt, die so liebenswert war, wie sie es verdienten. Sie brauchten die Unruhestifterin nicht zurück.

Aber Laurel brauchte sie. Vor allem brauchte ihr Baby sie. Es verdiente jede Chance, die Laurel sich verscherzt hatte.

Sie trat einen Schritt vor und zögerte. Ihre Hand zitterte, als sie anklopfte. Ihr gesamter Körper zitterte, als ihre Mutter „Herein!“ rief.

Bevor sie sich überwinden konnte, die Klinke zu drücken, öffnete sich die Tür, und Leahs Stimme drang auf den Flur. „Dieses schüchterne Klopfen … Ich schwöre, Annie, dass niemand so an meine Tür geklopft hat, seit deine Schwester Laurel …“

Die Stimme verklang, als Leah langsam den Blick hob. Sie erblasste und schlug sich eine Hand vor den Mund.

Verlegen nahm Laurel sich die Mütze vom Kopf und drehte sie nervös zwischen den Fingern. Ihr Haar war kürzer denn je und wies zum ersten Mal seit zehn Jahren die natürliche braune Farbe auf. Tränen traten ihr in die Augen und schnürten ihr die Kehle zu.

„Oh, mein Gott“, wisperte Leah schließlich. „Laurel? Bist du …“ Sie strich ihr über das Haar, über die Wange, und brach in Tränen aus. „Du bist es wirklich! Ich habe so gehofft und gebetet …“

Eine Zentnerlast schien von Laurel abzufallen, als Leah sie innig in die Arme schloss und dann liebevoll musterte. „Du bist so erwachsen geworden. Deine Haare … Oh Honey, du bist so dünn und so hübsch! Wo …? Was …? Bist du gekommen, um zu bleiben?“

„Wenn ich willkommen bin.“

„Natürlich bist du willkommen. Hier ist dein Zuhause. Wir sind deine Familie. Erzähl mir, wo du warst und was du getan hast. Ich habe dich so sehr vermisst. Du hast eine neue Schwester, Annie. Sie ist vier, und Meg heiratet nächsten Monat, und Matthew hat die Highschool beendet, und Douglas ist Anwalt …“ Sie holte Luft und fuhr fort: „Wir haben dich gesucht. Wir wollten dich nach Hause holen, aber …“

Ich hätte nicht kommen können, dachte Laurel, ich musste erst erwachsen werden.

„Ich wünschte, die anderen wären hier. Aber Matthew ist mit Freunden unterwegs, und Meg ist einkaufen. Bryce holt Gäste in Asheville ab, und Douglas ist in seiner Kanzlei. Er hat jetzt natürlich eine Wohnung in der Stadt, aber er ist oft hier. Aber komm doch mit in die Küche und begrüße Colleen. Und ich will dir Annie vorstellen.“

Autor

Marilyn Pappano
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