Espresso Empire - Gefährliche Liebschaften mit dem Rivalen (3-teilige Serie)

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Die Erbinnen des Wellness-Imperiums Espresso kämpfen um den Fortbestand des Familienunternehmens - und kommen ihren attraktiven Rivalen dabei gefährlich nahe.

SINNLICHE ÜBERRASCHUNG IN LAS VEGAS
Ethan stellt Tia vor die Wahl: Entweder er verklagt sie und ihre Wellness-Clubs oder sie hilft ihm, seine Grandma zu finden! Schließlich ist es ihre Schuld, dass die alte Dame sich aufführt wie ein Teenager! Doch dann weckt sexy Tia auch in ihm ein ganz neues Verlangen …

KNALLROT UND KUSSECHT!
Cole Sinclair ist der unwiderstehlichste Typ, dem Sage jemals begegnet ist! Von ihm würde sie sich gern verführen lassen. Oder steckt hinter seinem heißen Flirt etwa ein intriganter Plan? Sie weiß, dass der Tycoon unbedingt ihre Kosmetikfirma kaufen will …

SO ZÄRTLICH NIMMST DU MICH GEFANGEN
Wie konnte das nur passieren? Erst verliert Lola ihren Job, und dann landet sie mitten in der Einöde unschuldig im Gefängnis! Zum Glück ist wenigstens Sheriff Dylan Cooper äußerst attraktiv - und versüßt ihr die Stunden hinter Gittern auf seine ganz eigene Art …


  • Erscheinungstag 03.09.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733719807
  • Seitenanzahl 432
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Phyllis Bourne

Espresso Empire - Gefährliche Liebschaften mit dem Rivalen (3-teilige Serie)

IMPRESSUM

Sinnliche Überraschung in Las Vegas erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
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Fax: +49(0) 711/72 52-399
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© 2014 by Phyllis Bourne Williams
Originaltitel: „Every Road to You“
erschienen bei: Kimani Press, Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe COLLECTION BACCARA
Band 377 - 2017 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Ursula Drukarczyk

Umschlagsmotive: Harlequin Books S.A.

Veröffentlicht im ePub Format in 09/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733719869

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

Wäre Ethan Wright nicht so wütend gewesen, hätte er lachen müssen.

Der muskelbepackte Mann am Empfang, der seine tätowierten Arme vor der geschlossenen Tür ausbreitete, hätte besser auf ein Football-Feld gepasst als in das schicke Entree eines Day-Spas.

„Wie ich Ihnen bereits sagte, ist Ms. Gray nicht zu sprechen. Ich kann Ihnen aber gern einen Termin Anfang nächster Woche anbieten.“

Doch Ethan war nicht bereit, so schnell aufzugeben. Er musste Tia Gray sprechen.

Jetzt.

„Ich werde nicht gehen, bevor ich mit Ihrer Chefin geredet habe.“

Vielleicht hätte ihn dieser Riese unter anderen Umständen eingeschüchtert, doch die Angelegenheit duldete keinen Aufschub. Er lockerte die Finger und bereitete sich im Geist auf die unangenehme Aufgabe vor, den Mann aus dem Weg zu räumen.

Glücklicherweise kam es nicht so weit. Der Rezeptionist blinzelte und fuhr sich mit der fleischigen Hand über seinen kahl rasierten Schädel. Ethan hörte ihn seufzen und stieß erleichtert den angehaltenen Atem aus.

„Ms. Gray führt ein wichtiges Telefonat. Ich sehe mal nach, ob sie schon fertig ist.“ Er drehte seinen muskelbepackten Körper zur Tür um, öffnete sie zögernd und steckte den Kopf hinein.

Moment, dachte Ethan. Das hier war nicht das Oval Office. Die Geschäftsführerin auf der anderen Seite der Tür regierte über eine Kette von Day-Spas, aber nicht über die Vereinigten Staaten. Vermutlich diskutierte sie gerade über die neuesten Methoden für Gesichtsstraffung.

Ethan schob sich an dem bulligen Mann vorbei und stieß die Tür ganz auf. Der Platz hinter dem Schreibtisch aus Glas war leer. Ethan suchte mit dem Blick den Raum nach der Wichtigtuerin ab, die sein geordnetes Leben durcheinandergebracht und seinen ersten Urlaub seit Jahren ruiniert hatte.

Vor dem Fenster in der Ecke, halb verborgen von einer großen Topfpflanze, entdeckte er schließlich eine Frau mit Telefonhörer am Ohr.

Ohne zu zögern, ging er auf sie zu.

„Cole, die Verbindung ist schrecklich. Ich kann dich kaum verstehen“, rief sie ins Telefon. Gleichzeitig trat sie aus dem Schatten der Pflanze.

Sein entschiedener Schritt verlangsamte sich. Das Hindernis an der Tür war nichts im Vergleich zu dem Anblick, der sich ihm nun bot. Seine große Schwäche waren schöne Beine – und die Frau vor ihm hatte die aufregendsten Beine, die er je gesehen hatte.

Wie angewurzelt blieb Ethan stehen. Seine Kehle war urplötzlich trocken, während er seinen Blick an den Beinen der Frau bis zum Rocksaum emporwandern ließ.

Als sie ihn bemerkte, legte sie eine Hand auf den Hörer. „Was gibt’s, Max?“, zischte sie dem Angestellten zu. „Du weißt doch, wie wichtig dieses Telefonat ist.“

Ihr Tonfall holte Ethan aus seiner Versteinerung, und er riss seinen Blick von ihren Beinen los. Schließlich war er nicht hier, um dieser Unruhestifterin schöne Augen zu machen.

In zwei Schritten war er bei ihr und nahm ihr das Telefon aus der Hand.

„Es gibt nichts Wichtigeres als das Gespräch, das wir beide zu führen haben, Ms. Gray“, sagte Ethan und legte auf.

Vor Überraschung ließ sie ihren pfirsichfarbenen, glänzenden Mund geöffnet. „W-wissen Sie eigentlich, wie schwierig es war, diese Verbindung überhaupt herzustellen?“, stotterte sie dann.

„Das hätten Sie sich überlegen sollen, ehe Sie Ihre Nase in meine Angelegenheiten gesteckt haben.“

„Ihre Angelegenheiten? Ich kenne Sie doch gar nicht!“

Der Riese tauchte neben seiner Chefin auf. „Tut mir leid, Tia. Ich wollte nur sehen, ob du noch telefonierst.“ Er warf Ethan einen wütenden Blick zu. „Ich hätte nicht gedacht, dass er einfach hier hereinstürmt.“

„Entspann dich, Max.“ Sie legte ihre Hand auf seinen Unterarm. „Es ist nicht deine Schuld.“

„Ich werde versuchen, deinen Bruder wieder an die Strippe zu bekommen.“ Der Mann wies mit dem Kopf in Ethans Richtung. „Nachdem ich ihn hinausgeworfen habe.“

„Sie sollten Ihren Sekretär besser zurückrufen“, warnte Ethan.

„Ich bin nicht Ms. Grays Sekretär, sondern Assistent der Geschäftsleitung“, erwiderte der Mann sichtlich empört.

Ja, genau, dachte Ethan. Jeder Lastwagenfahrer nannte sich heutzutage Frachtspezialist. „Jedenfalls werde ich diesen Raum nicht verlassen, ehe ich mit Ihrer Chefin gesprochen habe.“

Tia stand zwischen ihnen und hob beschwichtigend die Hände. „Ich glaube, wir sollten uns alle erst einmal beruhigen. Lasst uns tief durchatmen und dann neu starten.“

„Wie bitte?“, fragte Ethan.

„Wir sollten uns entspannen und dann klären, was mit Sicherheit ein Missverständnis ist.“

Ethan beobachtete erstaunt, wie die Schöne und das Biest mehrere Male durch die Nase einatmeten und die Luft dann durch den Mund wieder ausstießen.

Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Sind Sie dann bald so weit?“

„Bitte, machen Sie doch mit“, forderte sie ihn auf.

Ethan atmete tief und frustriert durch. Als seine Großmutter neulich ohne Punkt und Komma über Tia Gray geplappert hatte, hatte sie unerwähnt gelassen, dass die Dame eine diplomierte Spinnerin war.

„Und − fühlen Sie sich jetzt besser?“, fragte sie.

Noch ehe er antworten konnte, wandte sie sich an ihren schwergewichtigen Lakaien. „Max, bitte bring unserem Gast und mir eine Tasse unseres wunderbaren Beruhigungstees.“

„Aber er ist kein Gast, er hat sich einfach hineingedrängt …“

„Egal …“, schnitt sie ihm das Wort ab. „Er ist nun mal hier, also bring uns bitte Tee.“

Mit einem mürrischen Blick in Ethans Richtung nickte der Mann und verließ den Raum.

„Ms. Gray“, begann Ethan.

„Tia“, unterbrach sie ihn. „Und wer sind Sie?“

„Ethan Wright“, erwiderte er.

„Setzen Sie sich doch bitte. Max wird gleich zurück sein.“ Sie nahm in einem weißen Ledersessel hinter dem Glasschreibtisch Platz. „Ihr Name kommt mir bekannt vor. Kennen wir uns?“

„Nein, aber Sie kennen meine Großmutter Carol Harris.“ Ethan blieb stehen. Er verschränkte die Arme vor dem Oberkörper. „Ihretwegen bin ich hier.“

„Wegen Carol? Geht es ihr gut?“ Ein besorgter Ausdruck glitt über ihre perfekten Züge. Ethan musste widerwillig zugeben, dass nicht nur ihre Beine schön waren.

„Körperlich geht es ihr zumindest gut“, antwortete er, wobei die Erinnerung an das skandalöse Treffen mit seiner Großmutter am Morgen erneut seinen Ärger schürte. „Aber dank Ihnen ist sie völlig durchgedreht.“

Ethan hörte, wie sich die Tür leise öffnete und Max hereinkam.

„Wunderbar. Da ist ja unser Tee.“ Tia schenkte ihrem Assistenten ein strahlendes Lächeln und entließ ihn mit einem Dankeschön.

„Haben Sie gehört, was ich eben sagte?“

„Aber natürlich. Sie stehen doch direkt vor mir.“ Sie sprach mit ihm wie mit einem kleinen Kind. „Schön, dass wir uns endlich kennenlernen, Ethan. Ich darf Sie doch Ethan nennen, oder? Carol hat mir in all den Jahren so viel von Ihnen erzählt, dass ich es albern fände, Sie Mr. Wright zu nennen.“

„Einverstanden. Und jetzt …“

Wieder unterbrach sie ihn. „Jetzt setzen Sie sich doch bitte, und probieren Sie den Tee. Dann können wir reden.“

Ethan ließ sich in den Clubsessel vor ihrem Schreibtisch fallen. Dieser verdammte Tee schien das letzte Hindernis zu sein, das er überwinden musste, um endlich zum Kern der Sache zu kommen. Also griff er nach der winzigen Porzellantasse und kippte den Inhalt in einem Zug hinunter.

„So. Können wir jetzt endlich darüber sprechen, was Sie meiner Großmutter angetan haben?“

„Schießen Sie los.“ Sie blickte ihn über den Rand ihrer Teetasse an.

„Als ich meiner Großmutter zum Geburtstag einen Gutschein für Ihren Beautysalon schenkte, ging ich davon aus, dass sie vielleicht eine Maniküre und eine neue Frisur bekäme“, erklärte er. „Aber ich erkannte sie hinterher kaum wieder.“

„Ich weiß. Ist es nicht wundervoll?“

„Es ist ein Albtraum.“

Tia sah ihn fragend an. „Ich fürchte, ich verstehe Sie nicht. Normalerweise bin ich nur im Büro, aber da Carol eine alte Freundin ist, habe ich ihre Wellness-Behandlungen selbst überwacht.“

„Dann haben Sie ein Monster erschaffen, Dr. Frankenstein.“

„Ein Monster?“, keuchte Tia. „Unmöglich. Sie sah wunderbar aus, als sie den Salon verließ. Fünfzehn, vielleicht sogar zwanzig Jahre jünger.“

Es stimmte, dass seine Großmutter verändert aussah. Vor zwei Wochen hatte sie ihren Gutschein eingelöst, und er musste noch immer zweimal hinschauen, wenn er ihr begegnete. Doch nicht ihr neues Aussehen war das Problem, sondern die vollständige Verwandlung ihrer Persönlichkeit von einer liebenswürdigen, Kuchen backenden Oma in eine vierundsiebzigjährige Halbstarke.

„Allerdings“, knurrte Ethan. „Sie sieht aus wie sechzig und benimmt sich wie ein straffälliger Teenager.“

Die Frau ihm gegenüber strahlte Fröhlichkeit aus. Offensichtlich hatte sie den Ernst der Lage noch immer nicht begriffen.

„Meine Großmutter hat sich normalerweise in der Kirchenarbeit engagiert, indem sie Kuchenverkäufe und Gartenfeste organisierte. Jetzt aber macht sie den ganzen Tag lang Party und treibt sich wer weiß wo herum“, erklärte Ethan. Vor seinem inneren Auge sah er, wie sein Großvater sich im Grabe herumdrehte. „Letzte Woche ging sie in eine Spelunke am Broadway und kam erst am nächsten Morgen wieder heim.“

Er hielt kurz inne, weil er glaubte, ein Kichern zu hören.

Ethan räusperte sich. „Da gibt es nichts zu lachen, Ms. Gray“, sagte er. „Ihre sogenannte Typveränderung ist der Grund für das neuartige Verhalten meiner Großmutter, und ich möchte gern wissen, was Sie dagegen zu tun gedenken.“

Sie stellte ihre Tasse auf dem Schreibtisch ab.

„Gar nichts.“ Ihre sanfte Stimme hatte einen stählernen Klang bekommen. „Selbst wenn ich es wollte − und das tue ich nicht −, würde ich nichts unternehmen. Ihre Großmutter ist eine erwachsene Frau.“

„Eine Frau, die Sie offenbar massiv beeinflusst haben. Neuerdings beginnt oder endet jeder ihrer Sätze mit ‚Tia sagt‘ oder ‚Tia glaubt‘.“ Ethan ahmte die Stimme seiner Großmutter nach.

„Trotzdem hat Carol ihren eigenen Kopf − und ich würde nicht im Traum daran denken, ihr vorzuschreiben, was sie zu tun hat.“

„Auch nicht, wenn ich Ihnen sage, dass ich sie gestern Nacht aus der Arrestzelle abholen musste?“

„Aus dem Gefängnis?“ Sie richtete sich kerzengerade auf.

Endlich hatte er ihre Aufmerksamkeit. „Allerdings. Sind Sie jetzt bereit, sie zur Vernunft zu bringen?“

Tia seufzte. „Ich werde mich mit Carol in Verbindung setzen.“ Nun war der amüsierte Ausdruck aus ihrem Gesicht gewichen.

„Ich erwarte, dass Sie das in Ordnung bringen, Ms. Gray.“

Ethan erhob sich, und Tia tat so, als bemerke sie nicht, wie attraktiv er war. Wenn es einen Typ Mann gab, auf den sie flog, dann gehörte Ethan Wright definitiv dazu.

Bis er anfing zu reden. Wenn man dieses Bellen von Befehlen überhaupt Reden nennen konnte.

„Und ich rate Ihnen, sehr überzeugend zu sein“, fuhr Ethan fort und zerstörte damit jeden positiven Effekt, den sein gutes Aussehen hätte haben können. „Ich freue mich schon darauf, dass meine Großmutter zu ihrem alten Ich zurückfindet.“

Tia betrachtete seinen breiten Rücken, als er ihr Büro verließ. Er schien keinen Zweifel daran zu hegen, dass sie tun würde, was er wollte.

Und damit hatte er recht.

Denn inzwischen teilte Tia seine Sorge.

Carol im Gefängnis! Das passte so gar nicht zu der gütigen Krankenschwester, die vor Jahren Tias Mutter in ihrem vergeblichen Kampf gegen den Krebs unterstützt hatte.

Tia blickte zu Max auf, der ihr Büro wieder betreten hatte.

„Was wollte er?“, fragte er.

„Familiäre Probleme.“

„Und was hast du damit zu tun?“

„Er ist der Enkel von Carol Harris.“

Max’ Augen wurden groß, als er begriff. „Ah, die Verwandlung in Tina Turner.“ Die unglaubliche Typveränderung war in allen zehn Espresso-Cosmetics-Filialen Tagesgespräch Nummer eins gewesen. „Dann gefällt ihm wohl der neue Look seiner Großmutter nicht“, konstatierte er.

„Anscheinend gab es dadurch ein paar Nebeneffekte … Sieht so aus, als sei Carol ein wenig durchgedreht.“

Max ließ sich in den Sessel vor ihrem Schreibtisch fallen. „Hauptsache, sie ist glücklich.“

„Da stimme ich dir zu, aber er will, dass ich mit ihr rede, und ich habe es ihm versprochen.“

Max nickte widerwillig. „Soll ich Carol vorschlagen, zum Lunch hier ins Café zu kommen, oder woanders einen Tisch für euch reservieren?“

„Weder noch“, erwiderte Tia.

Ethan Wrights Probleme mussten erst mal warten. Sie hatte genug eigene familiäre Probleme am Hals.

„Bitte sag alle meine Nachmittagstermine ab. Ich muss mit meinem Vater sprechen und fahre deshalb in die Stadt zum Espresso-Hauptgebäude.“

„Heißt das, das Gespräch mit Cole lief trotz der Unterbrechung gut?“, fragte Max hoffnungsvoll.

Tia schüttelte den Kopf. Ihr Stiefbruder befand sich mit seinem Boot irgendwo vor der italienischen Küste. Vermutlich hatte er wegen der schlechten Verbindung kaum ein Wort verstanden.

„Es sieht nicht so aus, als sei Cole im Moment eine Option für Espresso“, sagte Tia. „Ich kann nur versuchen, vernünftig mit meinem Vater zu reden.“ Wieder einmal, fügte sie in Gedanken hinzu.

„Das hier solltest du dir erst mal ansehen“, sagte Max und reichte ihr ein Blatt Papier. „Malcolm Doyle hat es vorhin gefaxt.“ Malcolm Doyle war Espressos Chefbuchhalter.

Es handelte sich um ein Formular, das Tia als Präsidentin der Espresso-Spa-Abteilung dazu bevollmächtigte, Gewinne aus den zehn Day-Spas in die schwächelnde Kosmetiklinie des Unternehmens umzulenken.

Verdammt, dachte Tia, nahm einen Kugelschreiber und unterzeichnete das Formular. Wenn das so weiterging, konnte sie sich ihre Expansionsträume abschminken.

„Das ist das letzte Mal.“ Tia stieß einen tiefen Seufzer aus.

„Dein Wort in Gottes Ohr.“ Max wollte nach dem Blatt Papier greifen, doch Tia hielt es fest.

„Es ist mein Ernst, Max. Ich übergebe das meinem Vater persönlich, damit er weiß, woran er ist.“

Max hörte das nicht zum ersten Mal. Trotzdem klopfte er Tia aufmunternd auf die Schulter. „Dann viel Glück.“

„Danke. Ich werde es brauchen.“

Eine Stunde später fuhr Tia mit dem gläsernen Aufzug in die oberste Etage des elfstöckigen Gebäudes, das ihre verstorbene Mutter 1984 als Stammhaus einer damals florierenden Kosmetiklinie hatte errichten lassen. Während andere Kosmetikfirmen ihre Verwaltungssitze in der Mode-Metropole New York ansiedelten, hatte ihre Mutter darauf bestanden, mit Espresso in Nashville zu bleiben.

Leider stand inzwischen fast die Hälfte der Büros leer. Die entlassenen Mitarbeiter waren Opfer der Rezession, der wachsenden Konkurrenz und der Unfähigkeit des Unternehmens, mit dem Wandel der Zeit Schritt zu halten.

In der obersten Etage öffneten sich die Aufzugtüren.

„Diesmal wird er mir zuhören müssen“, murmelte Tia vor sich hin. Die harten Fakten sprachen für sich.

„Guten Morgen, Loretta“, begrüßte Tia die Frau, die für ihre Mutter als Sekretärin tätig gewesen war, solange sie sich erinnern konnte, und jetzt für ihren Vater arbeitete.

Seit Tias Mutter Selina Sinclair Gray vor sieben Jahren gestorben war, hatte sich fast nichts in der Führungsetage verändert. Abgenutzte Teppiche waren durch identische neue Teppiche ersetzt worden, und die Wände wurden immer wieder im gleichen Elfenbeinton gestrichen, den ihre Mutter so geliebt hatte.

Tia wechselte ein paar Worte mit Loretta über das Wetter und die Enkelin der Frau.

„Er ist nicht drin, Liebes“, erklärte Loretta, als Tia auf die Bürotür ihres Vaters zuging. „Er erwartet dich im alten Büro deiner Mutter.“

Tia hob fragend eine Augenbraue, doch Loretta zuckte nur mit den Schultern.

Victor Gray stand mitten im früheren Heiligtum ihrer Mutter und starrte auf das Porträt seiner Ehefrau, als Tia eintrat.

Ihr Vater seufzte tief, und Tia berührte seinen Arm.

„Wollen wir nicht lieber in deinem Büro reden?“

Er schüttelte den Kopf. „Ich wüsste keinen besseren Ort, um über die Vorbereitungen zum fünfunddreißigsten Jahrestag der Gründung von Espresso Cosmetics zu sprechen“, antwortete er.

Sie konnten von Glück reden, wenn das Geschäft im kommenden Jahr überhaupt noch lief. Das wollte Tia ihm gerade sagen, doch angesichts der Trauer auf seinem Gesicht, die ihn älter wirken ließ als sechzig, sah sie davon ab.

„Natürlich werde ich auch Unterstützung von deiner Schwester bekommen“, fuhr er fort. „Und deinen Bruder mit einbeziehen, das Vermächtnis seiner Mutter zu feiern. Aber ich wollte zuerst alles mit dir in Angriff nehmen.“

„Hör zu, Dad, Malcolm Doyle hat mich in der vergangenen Woche aufgesucht“, versuchte Tia zunächst einige Fakten auf den Tisch zu legen, ehe sie über die Feiern sprachen. Teure Feiern.

Bei der Erwähnung des Chefs der Finanzabteilung fiel augenblicklich ein Schatten auf das faltige Gesicht ihres Vaters.

„Es kann mit Espresso nicht so weitergehen“, insistierte sie. „Der Kosmetikbereich schreibt rote Zahlen. Malcolm sagt …“

„Das weiß ich alles“, unterbrach ihr Vater sie. „Ich bin der Chef dieses Unternehmens. Er hatte nicht das Recht, dich zu beunruhigen.“

Doch sie war beunruhigt.

Die Day-Spas, die Tia selbst als eine Seitenlinie der Kosmetikmarke gegründet hatte, hielten diese nun am Leben.

„Zurück zu den Geburtstagsfestlichkeiten“, forderte ihr Vater.

„Aber verstehst du denn nicht? Wenn wir nicht schnellstens ein paar harte Entscheidungen fällen, wird Espresso Cosmetics in einem Jahr nicht mehr existieren.“

Er wischte ihren Einwand mit einer Handbewegung weg. „Wir brauchen nur einen einzigen Erfolg, um wieder in der Spur zu sein. Noch diese Woche kommt die Sommerkollektion in die Läden“, sagte er. „Calypso Moods wird die Kunden begeistern.“

Daran glaubte Tia nicht.

Denn die Calypso-Moods-Kollektion war nur ein neuer Aufguss der von ihrer Mutter so geliebten pink- und orangefarbenen Lippenstifte und Rouges unter anderem Namen.

„Selbst wenn jeder einzelne Artikel ausverkauft werden würde, kämen wir dadurch nicht in die schwarzen Zahlen zurück. Der Kosmetikbereich kämpft ums Überleben, Dad, und wir müssen einschneidende Entscheidungen treffen, wir alle.“

Ihr Vater lehnte sich an den Schreibtisch ihrer Mutter und verschränkte die Arme vor der Brust. „Geh nicht zu weit, Tia“, warnte er sie.

„Wenn wir weiter den Spas Geld abzapfen, um die Kosmetikmarke zu finanzieren, dann werden sie auch bald den Bach runtergehen.“ Tia schluckte. Sie holte die Vollmacht aus ihrer Handtasche und legte sie auf den Schreibtisch. „Das ist das letzte Mal, Dad.“

„Wer bist du, dass du mir vorschreiben willst, wie das Geld des Unternehmens ausgegeben wird?“ Victor Grays Stimme zitterte vor Wut. „Deine Mutter hat mich als ihren Nachfolger an der Firmenspitze bestimmt. Das war ihr Wille.“

„Ich habe allerdings ein Wörtchen mitzureden, wenn es darum geht, wie die Erträge der Spas verwendet werden.“ Tia ließ sich nicht einschüchtern. „Als Mutter noch lebte, gab es die Day-Spas nicht. Ich habe sie mit Geldern aus meinem Treuhandfonds gegründet“, erinnerte sie ihn. „Für jegliche Finanztransfers sind unsere beiden Unterschriften erforderlich, und ich werde für keinen weiteren Cent unterschreiben, ehe wir alle an einem Tisch sitzen – du, ich, Lola und sogar Cole.“

Ihr Vater hielt ihrem Blick stand, schließlich hörte er ihre Worte nicht zum ersten Mal. Für ihn bluffte sie auch diesmal nur.

„Wie schon letztes Mal gesagt, bin ich bereit, jede notwendige Entscheidung hinsichtlich der Zukunft von Espresso Cosmetics zu treffen. Und ich erwarte von dir, dass du die Firma auch weiterhin finanziell unterstützt“, erwiderte er ungerührt. „Was deinen Bruder angeht, so ist er jederzeit herzlich in der Firma und in der Familie willkommen, solange er begreift, dass ich der Chef bin.“

„Sei doch vernünftig, Dad! Wir können nicht einfach so weitermachen“, bat Tia ihn. „Niemand kennt die Firma und die Branche so gut wie Cole. Er ist in diesem Gebäude praktisch aufgewachsen. Wenn wir das Ruder herumreißen wollen, brauchen wir seine Hilfe.“

„Aber deine Mutter hielt ihn für zu jung, um das Unternehmen zu leiten. Deshalb …“

„Mom ist tot“, platzte Tia heraus. „Sie ist jetzt seit sieben Jahren tot, und wenn wir ihr Erbe bewahren wollen, dann müssen wir endlich aufhören, darüber nachzudenken, was sie getan hätte.“

Ihr Vater zuckte zusammen, als habe sie ihn geschlagen.

„Hinaus!“, rief er.

Tia blieb wie angewurzelt stehen.

„Hinaus!“, wiederholte er, diesmal lauter. „Verlass das Büro meiner Frau und dieses Gebäude und geh mir aus den Augen.“

Tia schluckte ihren Schmerz hinunter. „Vielleicht hast du Cole davonjagen können, aber ich gehe nirgendwo hin. Du, ich, Lola und Cole – wir alle müssen mitreden dürfen, wenn es um die Zukunft dieser Firma geht.“

„Wenn du nicht gehst, dann gehe ich.“ Ihr Vater ging an ihr vorbei und verließ das Büro. Das Nächste, was Tia hörte, war das Zuschlagen seiner Bürotür.

2. KAPITEL

Ethan starrte auf seinen aufgeräumten Schreibtisch.

Fast alles, was vor seinem Urlaub zu erledigen gewesen war, hatte er getan. Für die kommenden beiden Wochen hatte er keine Termine. Sogar das Problem „Großmutter“ war durch seinen Besuch bei Espresso so gut wie gelöst.

Bilder von Tia Gray kamen ihm in den Sinn − vor allem von ihren wohlgeformten Beinen −, doch er schob sie schnell beiseite. Er sollte sich besser auf seine Nachmittagstermine konzentrieren.

Er schaute in seinen Terminkalender und sah, dass nur noch eine Verabredung offen war.

Danach würde er seine Großmutter besuchen und sicherstellen, dass Ms. Gray seiner Bitte nachgekommen war. Morgen in aller Frühe würde er sich auf die Reise nach Hawaii, zu seinem ersten Urlaub seit Jahren, machen.

Wieder wanderten seine Gedanken zu Tia.

Ethan atmete tief durch. Vielleicht war es ja ein Fehler, sich allein auf die Reise zu begeben, die er vor einem Jahr geplant hatte, als er noch liiert gewesen war. Das musste der Grund dafür sein, dass er ständig an diese Frau denken musste, die er heute kennengelernt hatte.

Er brauchte endlich mal wieder Sex.

Ein Klopfen an Ethans offener Bürotür kündigte seinen nächsten Besucher an.

„Ich fasse es nicht.“ Seine junge, aber normalerweise durch nichts aus der Ruhe zu bringende Sekretärin flüsterte hingerissen: „Wangs sitzt in meinem Büro.“

Sie rang die Hände. „Wangs!“, wiederholte sie.

Ethan war über den Besuch des Hip-Hop-Superstars nicht annähernd so begeistert wie seine Sekretärin. Tatsächlich hatte der junge Mann, der mit bürgerlichem Namen Jeffrey Ritchie hieß, ihn am Telefon richtiggehend um einen Termin anbetteln müssen.

„Schicken Sie Mr. Ritchie herein“, sagte Ethan.

Er blickte auf seine Armbanduhr und beschloss, dem jungen Mann ein paar Augenblicke seiner kostbaren Zeit zu schenken, ehe er ihn fortschickte.

Wenige Augenblicke später schritt Jeffrey über die Schwelle. Er sah völlig anders aus als der junge Mann, der vor drei Jahren in seinem Büro gesessen hatte.

Heute trug er Edelklamotten, und für das Platin-Medaillon um seinen Hals mit dem Schriftzug „WANGS“ aus Diamanten hatte er sicherlich mehr bezahlt, als so mancher für sein Auto ausgab.

Doch der größte Unterschied war sein verändertes Auftreten. Aus dem eingebildeten Aufschneider war ein abgeklärter Mann geworden, dem eine schwere Last auf den Schultern zu liegen schien.

Finanzielle Probleme, mutmaßte Ethan. Nach einigen Minuten des Gesprächs räumte der junge Mann dies ein.

„Sie rieten mir davon ab, den Vertrag zu unterschreiben“, sagte Jeffrey.

„Kein Anwalt hätte Ihnen dazu geraten, Ihre Unterschrift unter diesen Knebelvertrag zu setzen“, sagte Ethan. „Denn nichts anderes ist er.“

Jeffrey schnaubte. „Das wollte ich damals aber nicht hören. Ich wollte unbedingt ein Superstar sein.“

Starruhm war die eine Sache, die der Deal dem Künstler mit den unzähligen Platin-Auszeichnungen eingebracht hatte, dachte Ethan. Die andere war eine ziemlich harte Lektion darin, wie eine Plattenfirma kalkulierte. Soweit sich Ethan erinnern konnte, war der Vertrag so strukturiert, dass Wangs ewig in der Schuld von Bat Tower Records stehen würde.

„Ich hielt all die großen Autos, die Partys und den Alkohol für eine Art Promi-Bonus. Ich hatte verdammt noch mal keine Ahnung, dass ich dafür bezahlen müsste.“

Ethan lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück und hörte zu. Er verkniff sich jedes „Das habe ich Ihnen vorher gesagt“, obwohl es ihm auf der Zunge lag.

Vor drei Jahren hatte der junge Mann, der jetzt so kleinlaut vor ihm saß, sein Angebot, bessere Konditionen für ihn auszuhandeln, arrogant ausgeschlagen.

„Als ich den ersten fetten Scheck der Plattenfirma erhielt, dachte ich, es sei der erste von vielen“, gestand Jeffrey jetzt.

„Und ich sagte Ihnen, dass es nur ein Vorschuss auf künftige Tantiemen wäre“, seufzte Ethan.

„Ja, ich weiß, aber wie schon gesagt, ich habe nicht zugehört. Ich habe das Geld für Mist wie diesen hier aus dem Fenster geworfen.“ Er berührte seine Platinkette. „Jetzt will mir der Juwelier, der mir das Ding für Tausende von Dollar verkauft hat, nur noch zweihundert dafür geben.“

Ethan räusperte sich. Er wusste, wohin diese Unterhaltung führen würde, doch er hatte keine Lust darauf. Er hatte mit Jeffrey Ritchie abgeschlossen.

„Und was ist jetzt der Kern des Ganzen? Warum sind Sie hier?“

Jeffrey hob den Kopf und sah Ethan mit einem verzweifelten Blick an.

„Weil ich von Leuten umgeben bin, die alle etwas von mir wollen, und ich nicht weiß, wem ich trauen kann“, antwortete Jeffrey. „Aber Ihnen vertraue ich. Ich hätte damals Ihren Rat annehmen sollen, Mann. Sie wissen nicht, wie sehr ich es inzwischen bereue, dass ich es nicht getan habe.“

Er zog ein zerknittertes Stück Papier aus seiner hinteren Jeanstasche, das aussah wie eine Kopie seines Vertrages. „Ich brauche Ihre Hilfe.“

Ethan hob abwehrend die Hände. „Ich bezweifle, dass ich etwas für Sie tun kann. Wie damals schon gesagt: Dieser Vertrag ist voller Knebelklauseln.“

Niedergeschlagen stieß Jeffrey den Atem aus. „Und was soll ich jetzt machen?“

Ethan erhob sich, um anzuzeigen, dass die Unterredung beendet sei.

Jeffrey wollte protestieren, doch Ethan brachte ihn mit einem Kopfschütteln zum Schweigen. „Viel Glück bei der Suche nach einem anderen Anwalt, Jeffrey.“

Endlich erhob sich der als Wangs bekannte Superstar mühsam aus seinem Sessel und schlurfte zur Tür. Der junge Mann hatte sich zwar seine Probleme selbst zuzuschreiben, aber es war einfach nicht gerecht, dass er einer Firma Millionen einbrachte und ihm unter dem Strich so gut wie nichts davon blieb.

„Lassen Sie den Vertrag hier“, seufzte Ethan also resigniert. „In den nächsten beiden Wochen habe ich Urlaub, aber nach meiner Rückkehr werde ich noch mal einen Blick darauf werfen.“

Jeffrey sah zu ihm auf und ein zaghaftes Grinsen erhellte sein Gesicht.

„Cool.“ Er ergriff Ethans Hand und schüttelte sie. „Vielen Dank, Mr. Wright.“

„Ich kann Ihnen aber nichts versprechen. Keine Ahnung, ob ich Ihnen helfen kann.“

Jeffrey gab ihm eine signierte CD und Ethan nahm sie an, obwohl er nicht wusste, ob er sie sich überhaupt je anhören würde.

„Ich bin Ihnen sehr dankbar. Und wenn Sie etwas brauchen, Tickets für meine Show, Backstage-Karten oder was auch immer, dann melden Sie sich.“

Ein paar Stunden später lenkte Ethan seinen Audi TT in die Straße, in der seine Großmutter wohnte. Er entdeckte Carol im Vorgarten, und das Ergebnis von Tia Grays Werk brachte ihn erneut aus der Fassung. Seine Großmutter hatte ihre üblichen pastellfarbenen Kleider gegen Jeans, T-Shirt und rote Converse-Sneakers eingetauscht.

Er parkte vor dem holzverkleideten Cottage.

Wenigstens schien sie sich wieder wie ihr altes Ich zu verhalten. Erleichtert sah er, dass sie die üppigen Blumen ihres gepflegten Gartens goss und dabei mit ihrer Freundin und nächsten Nachbarin Alice Fenton plauderte. Vielleicht war es ja ein Zeichen dafür, dass seine Großmutter langsam zur Normalität zurückfand.

„Hallo, Ethan. Ich dachte, du packst für Hawaii.“ Ein süffisantes Grinsen spielte um ihren Mund. „Ich ahnte ja nicht, dass du abendliche Abschiedsrunden drehen würdest.“

Ethan ging nicht darauf ein. Er beugte sich vor und küsste Miss Alice auf die Wange. „Wie hübsch Sie heute aussehen“, begrüßte er sie.

Die Freundin seiner Großmutter lächelte breit und strich ihr gelbes Hauskleid glatt. „Ach, das alte Ding, das habe ich schon seit Ewigkeiten.“

„Du hast doch ein ganz ähnliches Kleid, oder?“, fragte er seine Großmutter.

„Nicht mehr“, erwiderte sie. „Ich habe fast alles aus meinem Schrank an die Kleiderkammer der Kirche gespendet. Warum fragst du? Willst du hier einen Dresscode einführen?“

„Ich wollte nur mal nach dir sehen“, erwiderte Ethan seufzend.

„Haha“, murmelte sie. „Du meinst wohl eher überwachen.“

„Kannst du mir das nach neulich Nacht übelnehmen?“

„Nun, du kannst dich entspannen. Wenn ich mit meinen Blumen fertig bin, wollen Alice und ich Popcorn machen und uns eine DVD ansehen.“

Alice sah sie fragend an. „Aber was ist mit dem Motorrad …“, begann sie.

„Wir schauen uns Easy Rider an“, erklärte seine Großmutter.

Ethan schob die Hände in die Hosentaschen. Die Sprache beiläufig auf Tia Gray zu bringen, war wohl ausgeschlossen, also musste er direkt zur Sache kommen.

„Hattest du eigentlich in letzter Zeit Kontakt zu deiner Freundin Tia vom Spa?“

„Ja, stell dir vor, sie hat mich für morgen zum Frühstück eingeladen.“

Ethan spürte, wie sein Unbehagen allmählich nachließ.

„Warum fragst du?“

Er zuckte mit den Schultern und wich ihrem Blick aus.

„Du hast sie doch hoffentlich nicht belästigt.“

„Wir haben uns nur unterhalten.“

„Oh, Ethan, du wirst deinem Großvater immer ähnlicher.“ Sie verdrehte die Augen. „Gott sei seiner Seele gnädig. Er ist bestimmt gerade im Himmel und geht dem Herrn mit seiner Herrschsucht auf die Nerven.“

„Ich bin nicht herrschsüchtig. Ich mache mir nur Sorgen wegen all dieser plötzlichen Veränderungen seit deinem letzten Spa-Besuch.“

„Ich schwöre dir, ich wünschte, du kämst wieder mit Britney oder Tiffany oder mit welcher auch immer von deinen Freundinnen zusammen, die du mit in den Urlaub nehmen wolltest.“

„Heather? Aber du sagtest doch, sie sei nicht die Richtige für mich.“

„Die Frauen, mit denen du ausgehst, sind auch alle die Falschen. Sie sind wie diese gehorsamen, farblosen Roboter aus dem alten Film, den wir uns gestern ansahen.“ Sie wandte sich an Alice. „Wie hieß der Film noch mal?“

„Die Frauen von Stepford?“, fragte Alice.

„Genau“, bestätigte seine Großmutter. „‚Ja, Ethan.‘ ‚Super, Ethan.‘ ‚Ich frage lieber Ethan.‘“, flötete sie, bevor sie und Alice in schallendes Gelächter ausbrachen.

„Aber wenigstens hielten diese dummen Dinger dich beschäftigt. Du hattest keine Zeit dafür, deine Nase in meine Angelegenheiten zu stecken.“ Sie drohte ihm mit dem Zeigefinger. „Sprich noch mal mit der Letzten. Vielleicht kannst du sie ja noch dazu überreden mitzukommen. Dann hast du wieder dein eigenes Leben und musst mir nicht mehr hinterherspionieren und …“

„Grandma!“, schnitt er ihr das Wort ab.

Alice bedeckte ihren Mund mit einer Hand, um ein Kichern zu unterdrücken.

„Du weißt ganz genau, warum ich mir Sorgen mache.“

Sie tätschelte seine Wange. „Wie du siehst, geht es mir gut. Morgen früh bin ich mit Tia unterwegs, wir werden uns also vor deinem Abflug nicht mehr sehen“, sagte sie. „Jetzt gib mir einen Kuss − und viel Spaß im Urlaub“, sagte sie ziemlich hastig.

Irgendetwas hatte sie vor, und ehe Ethan nicht wusste, was, würde er nirgendwohin fliegen.

Tia lächelte, als Carol am Morgen darauf das Restaurant betrat.

Sie freute sich auf das gemeinsame Frühstück mit der Frau, die ihr in der schwierigsten Zeit ihres Lebens zur Seite gestanden hatte.

Die beiden Frauen begrüßten sich mit einer Umarmung. Tia war wieder einmal sehr zufrieden mit der fachlichen Kompetenz des Spa-Teams.

Und Carol hatte ihren neuen Look sehr gekonnt in Szene gesetzt. Ihr Make-up war nahezu professionell und ihr neuer Pixie-Haarschnitt mit Gel perfekt gestylt. Sie trug einen Jeansrock, ein schwarzes T-Shirt mit dem Aufdruck einer Band aus den Sechzigerjahren und ein Paar Wedges.

Tia blickte an ihrem eigenen Etui-Kleid aus Leinen hinunter. Es hatte heute Morgen schick und sommerlich gewirkt, aber jetzt fühlte sie sich absolut altbacken damit.

Sie rief der Bedienung Carols Bestellung zu und blickte ihre Freundin dann über das rotkarierte Tischtuch an.

Irgendwie war Carol verändert, dachte sie, als die Bedienung die Getränke brachte. Und es hatte nichts mit dem Make-up zu tun.

„Das ist mal eine nette Abwechslung“, sagte Tia. „Ich esse normalerweise nur rasch im Stehen ein Fertigmüsli, ehe ich zur Arbeit fahre.“

„Hmm“, antwortete Carol.

„Wie geht’s dir so?“ Tia blies auf ihren heißen Tee und nippte dann daran. „Seit deiner großen Typveränderung haben wir uns gar nicht mehr gesehen.“

Carol riss ein Zuckertütchen auf und rührte den Inhalt langsam in ihren Kaffee. „Lassen wir den Small Talk. Ich weiß, dass mein Enkel bei dir war.“

„Stimmt. Er kam gestern in mein Büro“, gab Tia zu.

„Versteh mich nicht falsch. Er ist ein toller Mann, aber er hat die nervige Art seines Großvaters geerbt und treibt mich damit zurzeit in den Wahnsinn.“

„Er macht sich Sorgen“, erwiderte Tia. „Und auch wenn es mich nichts angeht, so fand ich die Geschichte mit dem Gefängnis doch auch ziemlich besorgniserregend.“

„Ach, das.“ Carol machte eine wegwerfende Handbewegung. „Peanuts. Man könnte meinen, ich hätte eine Bank überfallen.“

„Dann hat man dich gar nicht festgenommen?“

Die Bedienung kam mit zwei Tellern, auf denen sich Pfannkuchen mit Ahornsirup und Speck stapelten. „Darf es noch etwas sein?“, fragte sie.

„Nein danke“, antwortete Tia lächelnd, die es kaum erwarten konnte, wie die Geschichte weiterging.

„Also, was war wirklich los?“, fragte sie voller Neugier.

Carol legte ihre Gabel auf dem Teller ab. Sie blickte erst nach beiden Seiten, ehe sie sich geheimnisvoll nach vorn beugte. „Nun, ich war auf einer Party.“

„Aha.“ Tia nahm einen ersten Bissen von ihrem Pfannkuchen.

„Und zwar nicht auf einem Tanzabend im Seniorenheim, sondern auf einer richtigen Party, wo sich alle amüsierten“, erklärte Carol. „Ich habe gegessen, getrunken, und ich habe getanzt. Es war wundervoll. So viel Spaß hatte ich seit Ewigkeiten nicht mehr.“

Nun wurde es langsam interessant, fand Tia.

Carols Augen funkelten fröhlich. „Ich habe beim Poker sogar achthundert Dollar gewonnen.“

„Wirklich? Ich wusste gar nicht, dass du spielst.“

„Mein Vater hat mir das schon als Kind beigebracht und im College habe ich meine Lehrbücher mit meinen Gewinnen bezahlt.“ Carol seufzte. „Seit Jahrzehnten hatte ich nicht mehr gespielt und ganz vergessen, wie viel Spaß es mir macht.“

„Aber warum hast du dann damit aufgehört?“

Carol zuckte mit den Schultern. „Das Leben war schuld, vermute ich. Die Ehe, die Mutterschaft, ein Ganztagsjob, der Tod meiner Tochter und die Erziehung meines Enkels“, erklärte sie. „Ich hatte immer so viel zu tun. Als Ethan dann sein Jura-Studium abgeschlossen hatte und ich in Pension ging, starb mein Mann. Und ich hatte die Dinge, die ich wirklich liebte, ganz aus den Augen verloren.“

Carol lächelte und strich über Tias Hand. „Ich muss mich bei dir bedanken“, sagte sie. „Irgendwie habt ihr – du und dein Team – hinter meine hausbackene Fassade geschaut und mein wahres Ich wieder zum Vorschein gebracht.“

Tias Herz schwoll an vor Stolz. Max hatte recht gehabt. Sie hatte ihren Job gut gemacht.

Und Ethan Wright lag falsch. Er musste mit seiner Großmutter reden. Wenn sie ihm das erzählte, was sie gerade Tia erzählt hatte, dann musste sogar ihr sturer Enkel ihr Glück erkennen und sich für sie freuen.

„Und wie passt der Gefängnisaufenthalt in diese Geschichte?“

Carol zog ihre Hand zurück und griff nach ihrer Kaffeetasse. „Nun, bei all dem Spaß ist es wohl ein wenig laut geworden. Die Nachbarn meiner Freundin Edna riefen die Polizei, die uns aufforderte, es etwas ruhiger angehen zu lassen. Und das versuchten wir. Wirklich.“

„Die Polizei musste ein zweites Mal kommen“, vermutete Tia.

Carol nickte. „Aber diesmal war es ein anderer Beamter − und der war nicht so nett. Im Gegenteil. Er war unhöflich und grob.“

„Oha!“

„Genau. Normalerweise bin ich sehr umgänglich, aber das ging echt zu weit. Ich sagte ihm, er solle auf seinen Ton achten, woraufhin er erwiderte, ich solle mich nicht so aufspielen, er könne auch anders. Langer Rede kurzer Sinn – wir gerieten in Streit. Und letztendlich nahm er mich unter dem Vorwand des Hausfriedensbruchs mit.“

Wieder wunderte sich Tia, warum Ethan sich die Geschichte nicht aus der Sicht seiner Großmutter hatte erzählen lassen.

„Trotzdem kann ich nicht glauben, dass er dich verhaftet hat.“

Carol schüttelte den Kopf. „Hat er auch nicht. Ich wurde nur zwei Stunden lang auf der Wache festgehalten und dann rief er Ethan an, meinen einunddreißigjährigen Enkel, der mich abholen sollte“, berichtete sie. „Als wäre ich senil oder eine kleine Göre, deren Eltern zum Schuldirektor zitiert werden.“

Carol hielt kurz inne, um wieder zu Atem zu kommen.

„Und was tat Ethan? Statt ihm die Leviten zu lesen, bedankte er sich bei dem Beamten. Und danach hatte er nichts Besseres zu tun, als zu dir zu rennen. Als sei ich vier Jahre alt und nicht vierundsiebzig.“

Tia räusperte sich. „Er hält mich für schuldig. Er glaubt, ich stecke wie eine böse Puppenspielerin hinter all deinen jüngsten Veränderungen.“

„Tja, da ist er ziemlich schief gewickelt.“ Carol holte ein zusammengefaltetes Stück Papier aus ihrer Handtasche. Sie faltete es auseinander und schob es über den Tisch.

„Was ist das?“, fragte Tia.

„Die Liste mit all den Dingen, die ich in meinem Leben noch tun möchte“, erwiderte Carol stolz.

„Du hast es also wirklich getan“, sagte Tia. „Ich bin beeindruckt.“

„Anfangs war ich mir nicht so sicher. Es fühlte sich an, als stünde ich schon mit einem Fuß im Grab. Aber je länger ich darüber nachdachte, umso mehr gefiel mir der Gedanke, die Dinge aufzuschreiben, die ich noch ausprobieren möchte. Egal, wie frivol oder töricht sie sind.“

Tia nahm die getippte Liste und sah sie sich näher an. Sie umfasste beinahe einhundert Punkte, einschließlich Fallschirmspringen, einer Fahrt auf einer Harley und Pokerspielen bei einem nationalen Wettbewerb. Außerdem einem Kneipenzug über den Broadway und einer Fahrt auf der größten und steilsten Achterbahn des Landes.

„Das ist aber eine ziemlich ehrgeizige Liste“, sagte Tia, als sie sie ganz durchgelesen hatte. „Beim Gedanken an die Sache mit der Achterbahn dreht sich mir schon der Magen um.“ Sie lachte.

Dann fiel ihr am Ende der Liste noch ein handgeschriebener Punkt auf.

Der Traumprinz.

„Was bedeutet das?“, fragte Tia.

„Nichts.“ Carol schüttelte den Kopf und errötete.

„Wirst du etwa rot?“, fragte Tia neugierig nach.

„Natürlich nicht. Mach dich nicht lächerlich.“ Carol nahm Tia rasch die Liste aus der Hand. „Das ist nur so dahingekritzelt.“

Die beiden Frauen sahen einander in die Augen. Und plötzlich ging Tia ein Licht auf.

„Wer ist er?“, fragte sie.

Mit einer Handbewegung hielt sie Carol davon ab zu leugnen. „Ich weiß längst, dass es da einen Ihn gibt. Du hast förmlich gestrahlt beim Hereinkommen, und jetzt wirst du rot.“

Carol seufzte ein wenig verträumt. „Er heißt Glenn Davies und war meine große Liebe“, gab sie zu. „Und ist es immer noch, glaube ich.“

Tia lehnte sich nach vorn. Jetzt war sie wirklich neugierig. „Seit wann trefft ihr euch?“

„Seit einer Woche.“ Carol biss sich auf die Unterlippe. „Er ist gerade erst zurück in die Stadt gezogen. Wir sind uns in der vergangenen Woche zufällig in die Arme gelaufen und seitdem fast unzertrennlich.“

„Ihr habt es ja ganz schön eilig, oder?“, stellte Tia fest.

„Wir haben schon viel zu viel Zeit verschwendet. Und doch – wenn wir zusammen sind – schmelzen die Jahrzehnte einfach so dahin.“

„Was ist damals geschehen, dass ihr nicht zusammengekommen seid?“

Carol zuckte mit den Schultern. „Es ist die übliche Geschichte. Gutes Mädchen verknallt sich in einen bösen Jungen. Ich war blutjung und meine Eltern waren gegen unsere Beziehung. Nach der High School bekam er einen Job in einem anderen Bundesstaat und bat mich mitzukommen. Ich wollte, aber ich konnte es nicht ertragen, meine Eltern leiden zu sehen. Erst vor ein paar Tagen habe ich ihn wiedergesehen, siebenundfünfzig Jahre später.“

Jetzt fasste Tia über den Tisch und legte ihre Hand auf Carols. „Das freut mich für dich.“

„Danke, meine Liebe“, sagte Carol. „Jetzt haben wir aber genug über mich geredet. Das langweilt mich nun langsam.“ Sie sah Tia eindringlich in die Augen. „Du bist ganz anders heute. Irgendetwas beschäftigt dich, das spüre ich.“

Doch Tia schüttelte den Kopf. „Nur die liebe Arbeit.“

Die Versuchung, sich Carol anzuvertrauen, war groß. Sie hatte außer Max niemanden, mit dem sie reden konnte.

Ihr Bruder Cole war im Ausland und machte sein Ding, und ihre Schwester Lola, das derzeitige Gesicht von Espresso Cosmetics, war geschickter darin, Probleme zu schaffen, als Lösungen zu finden.

„Jetzt komm schon“, drängte Carol sie. „Ich kenne dich, seit du siebzehn bist. Ich sehe es dir an, wenn du Sorgen hast.“

Tia atmete tief durch. „Ich habe gestern wieder einmal versucht, mit meinem Vater über Espressos finanzielle Situation zu sprechen. Es wäre eine glatte Untertreibung zu sagen, es läuft nicht gut.“

„Mir war es nicht bewusst, dass die Lage so ernst geworden ist.“

Die Bedienung kam an den Tisch, und Tia gab ihr das Okay, den Tisch abzuräumen. Sie hatte ohnehin keinen Appetit mehr, wenn sie an die gestrige Szene mit ihrem Vater dachte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, ihn je so wütend gesehen zu haben.

Tia verzog ihr Gesicht. „Die Profite aus dem Spa-Bereich halten uns gerade so über Wasser.“

„Was ist mit Cole?“, fragte Carol. „Als deine Mutter krank war, hat er die Firma doch quasi allein geleitet. Sicherlich kann er …“

Langsam schüttelte Tia den Kopf, als ihr Handy klingelte.

Sie warf einen Blick auf das Display und sah, dass es Max war. Normalerweise rief er so früh am Morgen nicht an, also musste es etwas Wichtiges sein.

„Geh ruhig ran“, ermunterte Carol sie.

Wenige Augenblicke später beendete Tia das Gespräch.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Carol.

Tia verdrehte die Augen. „Es geht um Lola. Anscheinend gibt es Probleme wegen des Fotoshootings für die neue Frühjahrskampagne in Albuquerque. Lola weigert sich hinzufahren“, erklärte sie. „Bist du mir böse, wenn wir hier abbrechen?“

Tia gab der Bedienung ein Zeichen und zahlte die Rechnung. Ihre Schwester kannte die prekäre finanzielle Situation der Firma ganz genau. Sie hatten weder die Zeit noch das Geld für irgendwelche Eskapaden.

Carol warf einen Blick auf ihre Uhr. „Natürlich nicht, meine Liebe. Ich bin ohnehin in ein paar Minuten mit Glenn verabredet.“

Tia hörte kaum mehr zu. In Gedanken war sie schon dabei, ihrer verwöhnten Schwester ein wenig Vernunft einzubläuen.

3. KAPITEL

Dass er seinen Flug nach Hawaii auf den späten Abend verschoben hatte, erwies sich schon jetzt als eine gute Entscheidung. Er war spät aufgestanden, beim Friseur gewesen und hatte die seltene Freude genossen, die ganze Zeitung beim Kaffee zu lesen.

Mit dem Unterarm wischte er sich den Schweiß von der Stirn und joggte auf der Stelle, bis die Ampel grün wurde. Er hatte vor, bis zum Haus seiner Großmutter zu laufen und so die sprichwörtlichen zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.

Mal sehen, was die Unterhaltung mit Tia bewirkt hatte.

Eine halbe Stunde später hatte er die Auffahrt zum Haus seiner Großeltern erreicht, in dem er seine Kindheit verbracht hatte. Er sah, dass sich der Vorhang am vorderen Fenster des Nachbarhauses bewegte, und wenig später stand Alice Fenton auf ihrer Veranda.

„Guten Tag, Miss Al…“

Der Gruß blieb ihm im Hals stecken, als er feststellte, dass die Freundin seiner Großmutter offensichtlich deren neueste modische Gewohnheiten übernommen hatte. Sie trug Jeansshorts, ein T-Shirt und hochmoderne Sneakers.

Bei ihrem Anblick schüttelte er den Kopf. Tia Gray hatte einiges zu verantworten. Er konnte nur darauf hoffen, dass das Frühstück mit ihr seine Großmutter wieder zur Vernunft gebracht hatte.

„Carol ist nicht zu Hause.“ Alice kam Stufe für Stufe die Verandatreppe herunter und hielt sich dabei am Geländer fest.

„Das macht nichts. Sie wird sicher bald zurück sein“, erwiderte Ethan. „Ich gehe schon mal rein und warte auf sie.“

Er suchte in dem üppigen Blumenbeet voller Petunien, Ringelblumen und Geranien nach dem Stein, unter dem seine Großmutter den Ersatzschlüssel versteckte.

Als er sich mit dem Schlüssel in der Hand wieder aufrichtete, stand Alice neben ihm.

„Aber Carol ist ausgegangen, mein Lieber.“

„Was soll das heißen, ausgegangen?“, fragte Ethan und verspürte vages Unbehagen. „Hat sie gesagt, wohin?“

Alice legte einen Finger auf ihre Lippen und verzog konzentriert das Gesicht. Äußerlich ruhig wartete Ethan auf ihre Antwort.

„Ach, jetzt erinnere ich mich.“ Alices Gesicht leuchtete auf. Sie schnippte mit den Fingern. „Sie wollte los, um einige Dinge von ihrer To-do-Liste zu streichen.“

Seit wann hatte seine Großmutter eine To-do-Liste? Ethan runzelte die Stirn. Er brauchte gar nicht lange zu überlegen, von wem diese alberne Idee kam. Von Tia Gray natürlich.

Wieder kamen ihm ihre Wahnsinnsbeine in den Sinn.

Rasch schob er die Bilder beiseite. Konzentrier dich, befahl er sich.

„Was hat sie sonst noch gesagt?“, fragte er. „Sagte sie, wann sie wieder zurück sein würde?“

„Oh, sie kommt heute nicht mehr zurück. Sie hat mich gebeten, ihre Blumen für die nächsten zwei Wochen zu gießen, weil sie mit ihrem Freund auf eine Abenteuerreise geht.“

„Freund!“

Alice zuckte zusammen, und Ethan bedauerte augenblicklich seinen scharfen Ton. Alices Worte hatten ihm schlicht den Boden unter den Füßen weggezogen. Dass seine Großmutter eine männliche Bekanntschaft hatte, hörte er zum ersten Mal. In den vier Jahren seit dem Tod seines Großvaters hatte sie nicht einen Hauch von Interesse an Männern gezeigt.

Frustriert fuhr Ethan sich durch sein kurz geschnittenes Haar. „Tut mir leid, dass ich laut geworden bin, Miss Alice. Hat dieser Freund auch einen Namen?“

„Er heißt Glenn und ist ein Silberfuchs, wie wir Ladys in einem bestimmten Alter es nennen.“ Sie stieß ihm ihren knochigen Ellbogen in die Seite. „Deshalb habe ich beschlossen, mich etwas im Stil deiner Großmutter herauszuputzen. Ich möchte mir auch so eine heiße Bekanntschaft einfangen. Schließlich bin ich nur ein paar Jährchen älter als Carol.“

Sie blickte an sich hinunter und richtete den Blick dann wieder auf Ethan. „Was meinst du, kann ich es mit deiner Großmutter aufnehmen?“

„Sie sehen sehr gut aus, Miss Alice.“ Wieder atmete er tief durch. „Können Sie mir vielleicht noch irgendetwas über diesen Glenn mitteilen? Oder wohin sie gefahren sein könnten? Wissen Sie seinen Nachnamen oder was für ein Auto er fährt?“

Langsam schüttelte die alte Dame den Kopf. „Tut mir leid. Seinen Nachnamen weiß ich nicht.“

Mit dem Schlüssel in der Hand ging Ethan zur Veranda hinauf. Er musste unbedingt eine Kopie dieser To-do-Liste finden. Oder irgendwelche Hinweise auf diesen geheimnisvollen Glenn.

„Hör zu, Ethan“, rief Alice hinter ihm her. „Sie sind nicht mit einem Auto weggefahren. Deine Großmutter saß hinten auf Glenns Harley.“

Ethan drehte sich um. Er musste sich verhört haben.

„Auf einem M-Motorrad?“, stotterte er.

„Jawohl“, bestätigte Alice. „Und zwar auf einem richtig großen. Mir tun jetzt noch die Ohren weh von dem Lärm dieser Maschine.“

Ethan ließ sich auf die oberste Stufe fallen und verbarg den Kopf in den Händen. Das wurde ja immer schlimmer. Warum nur war er nicht früher hergekommen? Er hatte sich darauf verlassen, dass Tia wieder einrenken würde, was sie angerichtet hatte. Wie dumm von ihm!

Alice legte ihre zarte Hand auf seinen Arm. „Es gibt überhaupt keinen Anlass zur Besorgnis“, munterte sie ihn auf.

„Und wieso nicht?“

„Sie trugen beide einen Helm.“

Im Haus seiner Großmutter versuchte Ethan erst einmal, sich zu beruhigen.

Er nahm das schnurlose Telefon vom makellosen Tresen in der Küche und gab die Handynummer seiner Großmutter ein. Daran hätte er natürlich als Erstes denken müssen. Er würde sie einfach fragen, wo sie war, und sie darum bitten, an Ort und Stelle zu bleiben, damit er sie abholen und nach Hause bringen konnte.

Während sich die Verbindung aufbaute, trommelte er mit den Fingerspitzen seiner freien Hand auf der Arbeitsfläche.

„Nimm schon ab, Großmutter“, murmelte er nervös.

Dann hörte er es. Aus dem Nebenzimmer erklang ein leises Klingeln.

„Verdammt.“ Er ballte die Hand zur Faust.

Er ging dem Klingeln nach und sah das Handy seiner Großmutter auf dem Schreibtisch in ihrem Schlafzimmer. Daneben lag ein Blatt Papier mit seinem Namen darauf.

Er begann zu lesen. Allerdings war die Unterhaltung mit Alice aufschlussreicher gewesen.

Sie schrieb im Grunde nur, dass sie weggefahren war, um einige Dinge von ihrer sogenannten To-do-Liste zu streichen.

Kein einziges Wort von ihrem Freund Glenn.

Ethan ging ins Arbeitszimmer und fuhr den Computer hoch, den er ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Vielleicht würde er ja hier einen Hinweis auf ihren Aufenthaltsort finden. Er gab To-do-Liste in der Suchfunktion ein − und schon öffnete sich ein Dokument mit diesem Titel.

Erleichtert stieß er den Atem aus. Wenigstens etwas.

Seine Erleichterung ließ sehr schnell nach, als er die Liste durchging. Er scrollte langsam durch die einzelnen Punkte und seine Augen wurden immer größer.

Seilrutschen.

Fallschirmspringen.

War seine Großmutter verrückt geworden? Das konnte sie gleich vergessen! Nichts davon würde sie machen. Nicht nach ihren gesundheitlichen Problemen vor wenigen Monaten. Man sollte meinen, als ehemalige Krankenschwester müsste sie es besser wissen.

Auf einer Harley durch das Land fahren.

Ethan runzelte die Stirn. Er wollte auf keinen Fall die Verantwortung dafür tragen, dass seine Großmutter ihr Leben auf dem Rücksitz eines Motorrads riskierte.

In Las Vegas heiraten mit Elvis als Standesbeamten.

„Um Himmels willen, nein!“ Ethans Stimme hallte durch das Haus.

Hawaii konnte warten. Er musste seine Großmutter finden, und er würde sie notfalls mit Gewalt zurück nach Hause bringen.

Und er wusste genau, wer ihm dabei helfen würde.

Tia streifte die Pumps ab, sank tiefer in den weichen Ledersessel und legte die Füße auf die glatte Oberfläche ihres Glasschreibtisches.

Sie hatte nicht damit gerechnet, einen guten Teil des Tages damit zu verbringen, ihre Schwester in ein Flugzeug nach New Mexico zu verfrachten, wo das Shooting für die Frühjahrskampagne stattfand. Anschließend hatte sie am Telefon eine Stunde lang mit Engelszungen auf den wütenden Fotografen eingeredet, der auf Lola warten musste.

Gleich am Morgen war sie ins Büro ihres Vaters gefahren, um ihren Standpunkt noch einmal klar zu machen. Leider ging die Unterredung genauso schief wie am Tag zuvor.

Jetzt war sie physisch und psychisch erschöpft.

Sie rutschte in eine bequemere Position und schloss die Augen. Sie wollte sich für eine oder zwei Minuten ausruhen und sich dann eine Tasse starken Tees holen, um mit neuer Energie an die Papierstapel auf ihrem Tisch heranzugehen.

Das Spa hatte noch zwei Stunden lang geöffnet, doch die anderen Angestellten hatten pünktlich um fünf Feierabend gemacht.

Sie atmete tief ein und aus.

„Ms. Gray.“

Beim Klang der tiefen Stimme schreckte Tia auf. Sie öffnete die Augen und sah Ethan Wright auf der Türschwelle stehen.

Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, war er nicht gut auf sie zu sprechen.

Wieder einmal.

Der Blick aus seinen dunkelbraunen Augen schien sie zu durchbohren, ehe er zu ihren Beinen wanderte, als wären sie eine Zumutung für ihn.

Sie hatte ihn ja schließlich nicht in ihr Büro gebeten, dachte Tia. Es war nach Geschäftsschluss, und es waren ihre Beine auf ihrem Schreibtisch, und es ging Ethan Wright überhaupt nichts an, was sie mit ihnen machte.

Trotzdem nahm sie sie mit Schwung vom Tisch und schlüpfte in ihre Pumps. Dabei musterte sie ihn heimlich.

Glatte gebräunte Haut, verträumte dunkle Augen und ein schlanker trainierter Körper. Nicht schlecht, dachte sie. Statt des Anzugs und der Krawatte von gestern trug er heute eine Baseballkappe, Kakihosen und ein schwarzes Poloshirt, dessen kurze Ärmel seine starken, muskulösen Arme betonten. Dann hatte ihre Erinnerung an ihn also nicht getrogen.

„Ethan, ich habe nicht damit gerechnet, dass wir uns wiedersehen würden“, sagte sie.

„Und ich habe nicht damit gerechnet, dass ich wiederkommen müsste.“

Tia erhob sich. Sie brauchte jetzt unbedingt diese Tasse Tee. „Ich wollte mir von unten gerade eine Tasse Tee holen. Soll ich Ihnen eine mitbringen?“

„Ich möchte keinen Tee“, erwiderte er, wobei er jede Silbe mit kaum verhaltener Wut betonte. „Wir beide müssen miteinander reden. Auf der Stelle.“

Tia verschränkte die Arme vor der Brust. „Mein Tag war lang, und ich habe viel zu tun“, erklärte sie knapp. „Ich habe heute Morgen mit Carol gesprochen, und sie erschien mir völlig vernünftig. Je länger ich mich mit ihr unterhielt, umso mehr wurde mir bewusst, dass Sie einmal in Ruhe mit ihr reden sollten.“

Er trat einen Schritt auf sie zu, und sie bemerkte, dass sein Haar unter der Baseballkappe frisch geschnitten war. Unter dem Schild funkelten seine braunen Augen scharf. „Ich kann nicht mit meiner Großmutter reden, Ms. Gray, denn sie ist weg.“

Tia spürte für einen kurzen Moment Nervosität in sich aufsteigen. Dann erinnerte sie sich daran, wie er mit dieser Gefängnisgeschichte übertrieben hatte, die sich danach als völlig harmlos herausgestellt hatte.

„Wahrscheinlich ist sie nur ausgegangen“, meinte Tia, ohne allerdings Glenn zu erwähnen. Irgendwie ahnte sie, dass Carol ihren alten Freund ihrem Enkel gegenüber nicht erwähnt hatte.

Sie verstand jetzt auch, dass Ethans maßlose Fürsorge seine Großmutter verrückt machte. Ihr selbst erging es schon ebenso.

„Nein, sie ist weg“, wiederholte Ethan. „Sie ist auf dem Rücksitz der Harley irgendeines alten Knackers auf und davon, um eine aberwitzige Liste abzuarbeiten.“

„Was?“ Tias Mund stand vor Überraschung kurz offen, ehe sich ihre Mundwinkel nach oben zogen. Rasch bedeckte sie ihren Mund mit einer Hand, um das erste Lachen des heutigen Tages zu verstecken. „Nun, schön für Carol.“

„Nichts an dieser Situation ist schön oder lustig“, knurrte der Mann ihr gegenüber. „Was genau haben Sie meiner Großmutter heute früh gesagt? Wussten Sie, dass sie mit einem Mann wegfahren wollte?“

„Sie hat nichts von einer Reise erwähnt“, erwiderte Tia seufzend. „Aber sie ist eine erwachsene Frau. Sie muss mich nicht um Erlaubnis bitten.“ Oder Sie.

Er fasste in seine Hosentasche und holte ein zerknittertes Stück Papier heraus.

„Was wissen Sie über das hier?“

Tia nahm das Blatt und streifte es an ihrem Bauch glatt. Es war eine Kopie der Liste, die Carol ihr gezeigt hatte – allerdings mit einigen roten Anmerkungen und Ausrufezeichen versehen, die vermutlich von Ethan stammten.

„Das ist Carols To-do-Liste“, sagte sie.

„Der Irrsinn dieser ganzen Geschichte scheint Sie gar nicht zu überraschen.“

„Ihre Großmutter ist erwachsen.“ Tia zuckte mit den Schultern und gab ihm die Liste zurück. „Es geht mich einfach nichts an.“

Ethans Augen wurden schmal. „Aber Sie kennen diese Liste, oder?“

„Sie sollten mit Carol reden.“

„Warum nur glaube ich, dass der ganze Blödsinn mit dieser Liste auf Ihrem Mist gewachsen ist?“

Tia ging um den Schreibtisch herum und ließ sich in ihren Sessel fallen. Sie blickte zu Ethan auf, der sie immer noch finster ansah und auf eine Antwort wartete.

„Und was wäre dabei, wenn Ihre Großmutter sich so richtig gut amüsiert, statt ihre Zeit mit Gartenarbeit und Kuchenbacken zu verbringen?“

Ethan stützte sich mit den Armen auf Tias Schreibtisch ab und lehnte sich nach vorne. Nahe genug, dass Tia beim Einatmen den Hauch von Sandelholz in seinem Aftershave bemerkte. Egal, wie bescheuert der Mann sich auch benahm, er duftete gut.

„Sie war vollkommen glücklich mit ihrem Leben, bis Sie daherkamen und ihr diese alberne Idee mit der To-do-Liste in den Kopf setzten.“

Tia erhob sich und stand ihm nun Auge in Auge gegenüber.

„Sie haben unrecht. Sie war nicht glücklich“, erwiderte sie. „Carol steckte in einem absolut langweiligen Leben fest und wusste nicht, wie sie sich daraus befreien sollte. Und falls ich tatsächlich einen winzigen Anteil daran hatte, dass sie es wagte, ihr Leben ein wenig aufregender zu gestalten, dann freue ich mich riesig darüber.“

Und sie hatte noch mehr auf Lager. „Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Ich glaube, sie sollten einfach mal ein bisschen runterkommen und ihr den Raum geben, den sie offensichtlich braucht.“

„Unfassbar.“ Ethan warf die Arme in die Luft und begann mit großen Schritten auf und ab zu gehen. „Nach all den Schwierigkeiten, die Sie verursacht haben, besitzen Sie die Frechheit, noch mehr von Ihren schrecklichen Ratschlägen auszuteilen. Sie sollten wirklich lieber bei Haarschnitten und Schlamm-Masken bleiben.“

„M-mein Rat ist nicht schrecklich“, stotterte sie. Sie hatte das Gefühl, ihr würde gleich der Kopf platzen.

Direkt vor ihrem Schreibtisch hielt Ethan inne. „Meine vierundsiebzigjährige Großmutter hat vor, aus einem Flugzeug zu springen. Und alles nur Ihretwegen.“

Tia stand auf, streckte ihren Arm über den Tisch und legte eine Hand auf Ethans Unterarm. Bei der Berührung seiner nackten Haut schoss ein Stromschlag durch ihren Körper.

Ihre Blicke trafen sich und Ethans harter Gesichtsausdruck wurde weicher. In diesem Moment hätte für Tia die Zeit stillstehen können.

Ihre Berührung war nur als versöhnliche Geste gedacht gewesen, doch etwas geschah zwischen ihnen. Etwas Magisches. In Tia erwachte der Wunsch, Ethan wäre aus einem ganz anderen Grund in ihr Büro gestürmt und hätte die Tür hinter sich versperrt. Dann hätte sie ihm ihre eigene Liste gezeigt. Eine To-do-Liste, in der es nur um knisternde Erotik ging.

Ethans Räuspern zerstörte die Magie, und Tia zog rasch ihre Hand weg. Er sah auf seinen Unterarm und dann zurück in ihr Gesicht. Doch sein Blick war wieder stählern wie vorher, und sie fragte sich, ob sie sich alles nur eingebildet hatte.

Bestimmt, dachte Tia. Vor lauter Arbeit und der Sorge um das Familienunternehmen hatte sie ihr gesellschaftliches Leben komplett vernachlässigt. Sie konnte sich kaum daran erinnern, wann sie ihr letztes Date gehabt hatte.

„Versuchen Sie doch mal, sich in Ihre Großmutter hineinzuversetzen“, begann sie. „Würden Sie Ihre besten Jahre lieber so verbringen, wie alle es von Ihnen erwarten, oder die schönste Zeit ihres Lebens erleben?“

Sein Blick war noch immer regungslos auf sie gerichtet.

Sie hielt den Atem an, während sie auf seine Antwort wartete, und endlich öffnete Ethan den Mund.

„Diesen Unsinn geben Sie also an Ihre Kunden weiter?“ Er lachte humorlos. „Nicht schlecht, Lady, das kann ich Ihnen versichern.“

Mit ihrer Geduld war sie jetzt allmählich am Ende. „Wenn Sie doch einfach einmal zuhören wollten …“

„Verschonen Sie mich mit ihren Sprüchen“, sagte er. „Da Sie Ratschläge so lieben, habe ich auch einen für Sie.“

„Ich höre gern, was Sie zu sagen haben, weil mir klar ist, dass Zuhören das Wichtigste überhaupt ist.“ Im Gegensatz zu Ihnen, dachte sie.

Wieder legte Ethan seine Hände flach auf ihren Schreibtisch und lehnte sich nach vorn.

Und wieder umwehte Tia dieser Hauch von Sandelholz, der ihre Sinne betörte.

„Ich rate Ihnen, eine Tasche zu packen, Ms. Gray, denn ich werde meine Großmutter suchen − und Sie kommen mit mir.“

Tia öffnete und schloss den Mund einige Male. Wahrscheinlich sah sie aus wie ein Fisch auf dem Trockenen.

„Sie belieben zu scherzen, nicht wahr?“, fragte sie schließlich.

Ethan sah auf seine Armbanduhr. „Ich gebe Ihnen eine Stunde. Entweder sind Sie dann beim Haus meiner Großmutter oder ich hole Sie hier ab.“

Er nahm den Notizblock von ihrem Schreibtisch und kritzelte einige Zahlen darauf. „Das ist meine Handynummer“, sagte er, als wäre alles abgemacht.

„Ich brauche Ihre Handynummer nicht, weil meine Antwort Nein ist. Ich fahre mit Ihnen nirgendwohin.“

Er verschränkte die Arme vor dem Oberkörper und diese Augen, in deren Blick sie sich vorhin fast verloren hätte, nahmen nun einen metallischen Schimmer an, der nichts Gutes verhieß.

„Das war keine Frage“, erwiderte er knapp. „Sie werden mich begleiten. Sie haben keine Wahl.“

Diese direkte Anweisung empörte sie. Dann beschloss sie, Taten statt Worte sprechen zu lassen. Sie wandte sich ihrem PC zu und öffnete eine Datei. Sie hatte zu arbeiten.

Ihr langjähriger Assistent Max hatte aus hundert Bewerbern für den Managerposten im Espresso Salon Charlotte die besten zehn herausgefiltert. Mit fünf von ihnen würde sie ein persönliches Gespräch führen.

Nach einigen Minuten sah sie von ihrem Bildschirm auf.

„Sind Sie immer noch hier?“

Wieder warf er einen Blick auf seine Uhr. „Sie verschwenden wertvolle Zeit fürs Packen.“

„Sie sind derjenige, der Zeit verschwendet. Meine Zeit“, erklärte Tia. „Ich sagte Nein und meinte auch Nein.“

Sie machte eine Kopfbewegung zur Tür. „Sie finden sicher allein hinaus.“

Erstaunlicherweise ließ er sich in den Sessel vor ihrem Schreibtisch fallen. „Meiner Meinung nach haben Sie zwei Möglichkeiten.“ Sein Ton war kühl und abgeklärt. „Sie können mir bei der Suche nach meiner Großmutter helfen und Sie heil nach Hause zurückbringen, wo sie hingehört, oder ich erhebe morgen in aller Frühe Klage gegen Sie, Espresso Cosmetics, Espresso Spa und jeden, der mit Ihnen in Verbindung steht.“

Ethan Wright bluffte. Es konnte gar nicht anders sein.

Er schnaubte. „Haben Sie einen Hund? Den verklage ich auch.“

„Machen Sie sich nicht lächerlich. Es gibt keinerlei Gründe dafür“, antwortete sie.

Ethan zuckte mit den Schultern. „Jetzt vielleicht nicht, aber bis ich bei Gericht bin, habe ich eine ganze Liste.“

„Lächerlich“, konterte Tia. „Man wird es für einen Scherz halten.“

Eine Schweißperle lief über Tias Rücken hinab. Die Richtung, die dieses Gespräch nahm, gefiel ihr ganz und gar nicht. Sie konnte kaum glauben, dass sie ihn noch vor wenigen Augenblicken am liebsten über den Tisch gezerrt hätte, um ihn zu küssen.

„Wollen Sie es wirklich darauf ankommen lassen?“, fragte er. „Wie man hört, steht Espresso Cosmetics das Wasser bis zum Hals. Kann sich Ihr Familienunternehmen einen Prozess leisten, selbst einen lächerlichen? Ganz abgesehen von der Zeit und der negativen Berichterstattung.“

Nein, antwortete Tia insgeheim.

„Dann nehme ich Ihr Schweigen als ein Nein“, erklärte er. „Und ich nehme weiter an, dass Sie in“ – er nahm die kleine Silberuhr von ihrem Schreibtisch – „fünfundfünfzig Minuten fertig sein werden.“

Hätte Tia nur sich und Espresso zu berücksichtigen, dann hätte sie klein beigegeben. Aber da gab es ja noch Carol. Unmöglich konnte sie sie verraten, nicht nach allem, was sie für ihre kranke Mutter und die ganze Familie getan hatte.

„Ich mag keine Drohungen, und ich werde Ihnen nicht dabei behilflich sein, Carols Glück zu zerstören.“

„Wie Sie meinen, Ms. Gray.“ Er erhob sich. „Entweder sehe ich Sie nachher oder vor Gericht.“

Zum zweiten Mal innerhalb von zwei Tagen starrte Tia auf seinen breiten Rücken, während er ihr Büro verließ. Und wieder drückte seine Körpersprache die Zuversicht aus, dass sie seinen Anordnungen Folge leisten würde.

Nur würde sie es diesmal nicht tun.

Sie überlegte sich ihren nächsten Schritt. Sie musste den Leiter der Rechtsabteilung von Espresso Cosmetics darüber informieren, was womöglich auf sie zukäme. Das konnte sie mit einem Telefonat erledigen.

Doch sie musste auch zu ihrem Vater nach Hause fahren und ihm die Sache persönlich erklären. Und Victor Gray würde mit Sicherheit nicht hören wollen, dass die Firma womöglich kurz davor stand, ihretwegen in eine unschöne gerichtliche Auseinandersetzung verwickelt zu werden.

Als das Telefon klingelte, zuckte Tia zusammen. Zu ihrer Überraschung meldete sich Carol.

Sie klang glücklich. Ihre Fröhlichkeit festigte nur noch Tias Entscheidung, keine Rolle in Ethans Spiel zu übernehmen. Allerdings musste sie ihre Freundin warnen.

„Nur damit du Bescheid weißt, dein Enkel rastet völlig aus“, sagte Tia.

„Ich rufe von meinem neuen Handy aus an, sonst hätte ich sicher schon ein Dutzend Anrufe von ihm auf der Mailbox“, sagte Carol.

„Es ist viel schlimmer! Er will dir hinterherfahren und mich dazu zwingen, ihn zu begleiten.“

„Eigentlich sollte er auf Hawaii sein, aber ich habe mir so etwas Ähnliches schon gedacht. Deshalb rufe ich auch an“, fuhr Carol fort. „Du musst mir einen riesigen Gefallen tun.“

Tia hörte zu, während ihre Freundin ihren Plan darlegte. Es stimmte, Ethans Flegelhaftigkeit war außer Kontrolle geraten, und er musste in seine Schranken gewiesen werden. Aber das konnte sie unmöglich tun.

Oder doch?

4. KAPITEL

Ethan tippte mit dem Finger auf das Handy und beendete das kurze Telefonat.

Dann hatte Tia ihre Meinung also geändert.

Er hatte auch nichts anderes erwartet.

Sein schlechtes Gewissen belastete ihn nicht weiter. Natürlich hätte er niemals einen Prozess in Gang gesetzt, der keinerlei Erfolgsaussichten gehabt hätte. Aber das musste Tia ja nicht wissen.

Er stieß einen tiefen Seufzer aus. Er konnte seine Großmutter und ihren neuen Biker-Freund natürlich allein ausfindig machen, doch er brauchte Tia, um seine dickköpfige Großmutter davon zu überzeugen, diesen verrückten Trip zu beenden.

Er warf die Reisetasche, die er ursprünglich als Handgepäck für seine Hawaii-Reise gepackt hatte, in den Kofferraum seines Wagens und fuhr den Audi rückwärts aus der Garage.

Tia hatte ihn darum gebeten, sie bei sich zu Hause abzuholen, und er hatte zugestimmt. Da er angenommen hatte, sie würde in dem palastartigen Anwesen ihrer Familie oder zumindest in der Nähe davon in einer bewachten Wohnanlage leben, war er ziemlich erstaunt gewesen, als sie ihm die Adresse genannt hatte.

Damit hatte sie ihn nicht zum ersten Mal am heutigen Tag erstaunt. Beim Gedanken an ihre unglaublich langen Beine auf ihrem Schreibtisch schoss ihm das Blut in den Unterleib.

Ethan umklammerte das Lenkrad mit beiden Händen, während er zu ihrer Wohnung fuhr. Wie sollte er nur den Anblick dieser Beine in der Enge seines Wagens ertragen? Nun, er war ein erwachsener Mann und würde sich zu beherrschen wissen, selbst wenn er sich physisch zu Tia hingezogen fühlte.

Dank der Suche im Computer seiner Großmutter wusste er ungefähr, wo er sie und ihren sogenannten Freund finden würde, und er vermutete, dass er sie in einem oder in höchstens zwei Tagen eingeholt haben würde.

Zwanzig Minuten später fand er einen freien Parkplatz vor Tias Wohnhaus. Allerdings stand Tia nicht wie versprochen vor der Tür.

Er überprüfte die Uhrzeit auf seinem Handy, atmete tief durch und rief sie an.

„Ich warte draußen“, sagte er, nachdem sie abgehoben hatte. „Der Motor läuft“, fügte er hinzu und hoffte, sie damit zur Eile anzutreiben.

„Tut mir leid, ich wollte wirklich fertig sein“, sagte sie. „Aber es kam in der Firma im letzten Moment noch etwas dazwischen. Und jetzt bin ich noch beim Packen. Kommen Sie doch einfach so lange herein.“

Tia klang atemlos. Er stellte sich vor, dass sie vermutlich wie die meisten Frauen, die er kannte, ewig brauchen würde, um ein paar Dinge in eine Tasche zu werfen, wenn er ihrem Vorschlag nicht folgte.

Missmutig stellte er den Motor ab und stieg aus.

Er klopfte zweimal an die Vordertür und wartete, während er rote Geranien in einem Blumentopf betrachtete.

Autor

Phyllis Bourne
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