Ewig werde ich dich lieben

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Er war und ist ihre ganz große Liebe: Jesse Calder! Trotzdem wagt Abby nicht an einen Neuanfang zu glauben. Zuviel scheint zwischen ihnen zu stehen: Vor sechs Jahren schwor er ihr ewige Treue, als sein Vater erkrankte und er nach Hause zurückkehren musste. Seitdem hat Abby nichts mehr von ihm gehört. Und jetzt will Jesse sie erneut erobern! Doch Abby verschweigt Jesse etwas ganz Entscheidendes...


  • Erscheinungstag 21.06.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733778583
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Abigail Martin wanderte unter der großen, alten Trauerweide am Ufer des Bachs umher, der sich über die Ranch ihrer Eltern schlängelte. Die Augustsonne war bereits vor über zwei Stunden untergegangen, aber die Hitze war geblieben. Sie bemerkte es kaum, während sie ungeduldig über das ausgedörrte Gras lief. Er hätte inzwischen bei ihr sein sollen.

Wo steckte Jesse?

Ihr Vater hatte den großen, gut aussehenden Rancharbeiter vor zwei Monaten angeheuert, kurz bevor sie über die Sommerferien vom College in Arizona nach Hause gekommen war. Auf den ersten Blick hatte sie sich hoffnungslos in ihn verliebt. Seine Art, sie anzusehen, zu küssen und zu umarmen verriet ihr, dass er ihre Gefühle erwiderte, doch ausgesprochen hatten sie es nie. Häufig trafen sie sich zu zärtlichen Schäferstündchen unter ihrem Baum am Bach oder auf dem Heuboden.

Im dunstigen Mondschein spähte Abigail zu den Nebengebäuden, die das Haupthaus umgaben, aber sie sah kein Anzeichen eines nahenden Reiters. Sie hasste es, sich heimlich herumzudrücken, aber ihre Mutter war strikt dagegen, dass sich ihre beiden Töchter mit Rancharbeitern einließen. Jesse hatte ihr gesagt, dass er kein einfacher Cowboy sei, ihr aber momentan nicht mehr anvertrauen könne. Er hegte große Pläne für die Zukunft, und sie war überzeugt, dass sie einen wesentlichen Bestandteil dieser Pläne darstellte. Zum gegebenen Zeitpunkt wollten sie ihrer Familie ihre Gefühle füreinander offen eingestehen. Bestimmt würden ihre Eltern Jesse akzeptieren, sobald sie ihn richtig kennen lernten.

Nervös rückte sie den langen blonden Pferdeschwanz zurecht und lauschte angestrengt. Ja, nun hörte sie das Klappern von Pferdehufen nahen. Kurz darauf kam Jesse in Sicht. Der Abendwind zauste sein schwarzes Haar. Wie jedes Mal, wenn sie ihn erblickte, schlug ihr Herz höher.

Er schwang sich aus dem Sattel und band sein Pferd neben ihrer Stute an einen Ast. Er lächelte nicht wie gewöhnlich, und deshalb rann ein ängstlicher Schauer über ihren Rücken. Doch er eilte zu ihr und schloss sie fest in die Arme. Trotzdem spürte sie, dass etwas nicht stimmte.

„Was hast du?“, fragte sie, und eine böse Vorahnung ließ ihre Stimme zittern.

Widerstrebend wich er zurück. „Ich muss sofort nach Kalifornien. Mein Vater hatte einen Herzanfall.“ Seine Stirn war sorgenvoll gerunzelt. Zärtlich streichelte er ihr Gesicht. „Ich komme zurück, so schnell ich kann.“

„Es tut mir so Leid wegen deines Vaters.“ Abigail wusste natürlich, dass er gehen musste, aber sie hasste es dennoch. „Du hast seit Sonnenaufgang gearbeitet. Du wirst doch hoffentlich fliegen und nicht fahren, oder?“

Jesse schüttelte den Kopf. „Bis morgen Mittag sind alle Flüge ausgebucht. Wenn ich durchfahre, komme ich früher an.“ Er zögerte, als er die Betroffenheit in ihrem Blick sah. Er schuldete ihr eine Erklärung, aber dazu war keine Zeit. Sobald sein Vater nicht mehr in Lebensgefahr schwebte, wollte er zurückkommen und ihr alles erläutern. „Mach dir keine Sorgen um mich.“

Er beugte sich zu ihr, zog sie fest in die Arme und küsste sie hart, bevor er auf seinen schwarzen Hengst sprang.

Plötzlich verunsichert, was seine Gefühle für sie anging, blickte sie zu ihm auf. „Du kommst doch wieder, oder?“

„Ja, sobald ich kann.“ Er fasste die Zügel, wendete das Pferd und ritt davon.

Abigail blickte ihm nach, bis er ihrer Sicht entschwand, und murmelte: „Vergiss mich nicht …“

1. KAPITEL

Er war unterwegs, um sich seiner Vergangenheit zu stellen, um zu büßen, um ein Unrecht wieder gutzumachen. Und um eine verlorene Liebe wieder zu sehen.

Der heiße Sommerwind zerrte an seinen Haaren durch das offene Fenster des Bronco. Jesse Calder war durch und durch ein Naturmensch und bediente sich selten einer Klimaanlage, denn er bevorzugte den Geruch von Erde und Pflanzen.

Er war an Pinien, Fichten und Wacholder vorbeigefahren. So weit das Auge reichte, erstreckten sich nun Baumwollfelder auf einer Straßenseite und auf der anderen Weideland, auf dem Vieh unter den wachsamen Blicken von Cowboys graste. Kakteen und Gebüsch bildeten eine gänzlich andere Flora als in Kalifornien, seiner Heimat.

Déjà vu. Jesse verspürte eine unangenehme Vertrautheit, und doch empfand er diese Fahrt von Kalifornien nach Arizona ganz anders als jene vor sechs Jahren in seinem neuen roten Sportwagen mit offenem Verdeck. Damals war er fünfundzwanzig und lebensfroh gewesen. Er hatte vor Gesundheit gestrotzt und geglaubt, die ganze Welt läge ihm zu Füßen.

Erstaunlich, wie schnell sich das ganze Leben ändern kann. Nachdenklich musterte er den Little Colorado River, der sich parallel zum Highway schlängelte. Es war Anfang Juni, genau wie damals bei seiner ersten Fahrt, und der Asphalt glänzte in der Sommerhitze, doch damit endete die Übereinstimmung.

Es herrschte nicht viel Verkehr auf der Route 180 an diesem Spätnachmittag. Also schaltete er den Tempomat ein und sog tief den stechenden Geruch nach Leder und Rindern ein. Viehzucht lag ihm im Blut, wie seinem Zwillingsbruder Jake. Er war in das Leben eines Ranchers geboren worden und hatte sich darüber hinaus bewusst dafür entschieden, in guten wie in schlechten Zeiten.

Vielleicht ist damals wegen der Täuschung alles schief gelaufen.

Damals hatte Cameron Calder beschlossen, sein Gestüt Triple C um der Konkurrenzfähigkeit willen zu diversifizieren. Also hatte er seine Söhne zum Studium der Zucht von Schaf und Rind ausgeschickt – Jake nach Montana und Jesse nach Arizona. Da der Name Calder im Westen sehr bekannt war, hatten sie auf seine Anordnung hin Pseudonyme benutzt, was in Rancherkreisen nicht unüblich war. In jenem Sommer hatte Jesse sich den Nachnamen Hunter zugelegt, und das hatte sein ganzes Leben verändert.

Gedankenverloren strich er sich über seinen kurzen Bart und erinnerte sich, dass weder er noch Jake begeistert von dem Sommer in der Fremde und dem Schwindel gewesen war. Aber sie hatten sich nicht gegen den Wunsch ihres Vaters stellen wollen, von dem sie ab ihrem zweiten Lebensjahr, nachdem ihre Mutter die Familie verlassen hatte, allein aufgezogen worden waren.

Vern Martin, der Besitzer der Rinderfarm in Arizona, war zunächst nicht gerade angetan von Jesse gewesen, hatte ihn für einen Faulpelz gehalten, der all sein Geld für schnelle Autos ausgab, für einen Frauenheld mit fragwürdiger Zukunft. Als Mutter zweier junger Töchter hatte Joyce Martin sich noch ablehnender verhalten. Aber Vern hatte dringend Arbeitskräfte gebraucht und Jesse daher angeheuert.

Harte Arbeit war Jesse nicht fremd, denn er hatte auf der Triple C schon seit seiner Kindheit mitgeholfen. Die Männer auf der Martin-Ranch arbeiteten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang unter der heißen Sonne Arizonas. Er hatte ohne Klagen mitgemacht, weil sein Vater es von ihm erwartete. Er hatte mit den anderen Männern in der Baracke geschlafen, Fragen gestellt, zugehört und gelernt. Schnell hatte er sich den Respekt der Arbeiter wie seines Vorgesetzten verdient. Für Vergnügungen war weder Zeit noch Energie geblieben.

Bis Abby in den Sommerferien vom College nach Hause gekommen war.

Sie war ganz einfach das hübscheste Mädchen, das Jesse je gesehen hatte, mit langen blonden Haaren und riesigen grünen Augen. Mit neunzehn war sie eine ausgezeichnete Reiterin gewesen, hatte sich lässig in Jeans und abgewetzten Stiefeln gekleidet. Sie kannte sich auf der Ranch aus und hatte unter der Aufsicht des Vorarbeiters Casey Henderson ihre bevorzugten Pferde versorgt.

Ihre zwei Jahre ältere Schwester Lindsay verließ selten das Haus ohne volles Make-up und Designerkleidung. Sie sprach kaum mit den Hilfskräften, die unter ihrer Würde zu sein schienen, aber sie flirtete gern. Auf Jesse hatte sie es besonders abgesehen gehabt, aber zu ihrer Verärgerung war er nicht darauf eingegangen.

Denn er hatte von Anfang an nur für Abby Augen gehabt – und sie für ihn. Bald hatten sie sich heimlich getroffen, trotz Joyce Martins sorgsamer Überwachung, und wundervolle Zeiten miteinander verbracht. Bevor er ihr jedoch seine wahre Identität hatte enthüllen können, war die Nachricht vom Herzanfall seines Vaters eingetroffen und hatte ihn veranlasst, unverzüglich nach Hause zu eilen. Er hatte ihr versprochen, schnellstens zurückzukehren, aber dann war das Undenkbare geschehen. Fünfzig Meilen von zu Hause entfernt war ein betrunkener Fahrer frontal mit Jesses Cabrio kollidiert.

Jesse erblickte Curlys Laden und bog vom Highway auf den Parkplatz ab. In dem Sommer, den er in dieser Gegend verbracht hatte, war er oft bei Curly zum Einkaufen und Plauschen eingekehrt.

Nun stieg er aus seinem Bronco und ließ die Schultern kreisen. Seit seinem Unfall schmerzte sein Körper, wenn er zu lange in derselben Position saß. Während er den Laden betrat, fragte er sich, ob der alte Besitzer ihn erkennen würde. Nach mehreren Operationen sah er anders aus. Außerdem hinkte er, wenn er müde war, und er hatte sich den Bart stehen lassen, um die Narben im Gesicht zu verbergen.

Vor allem aber hatte sich sein Wesen verändert. Vor sechs Jahren hatte ihn eine innere Unruhe geprägt, ein Verlangen, alles zu sehen und zu tun, sein Leben in vollen Zügen auszukosten. Nun war er ruhiger, in sich gekehrter, mehr im Einklang mit sich selbst. Dem Tode nahe, über eine Woche im Koma, Monate der Physiotherapie und über ein Jahr der Rekonvaleszenz hatten einen anderen Menschen aus ihm gemacht.

Er stieß die Tür auf und wartete, bis sich seine Augen vom grellen Sonnenschein an das schummrige Licht gewöhnten. Lebensmittelkonserven stapelten sich in Regalen an drei Wänden. In Kühlvitrinen lagerten Milchprodukte und Getränke. Im hinteren Bereich befanden sich Tische mit Werkzeug und Arbeitskleidung. Mitten auf dem Fußboden standen Säcke mit Mehl, Zucker und Reis. Zwei Deckenventilatoren gaben ihr Bestes, um die heiße Luft zu bewegen.

Er atmete die Gerüche von Zimt, Staub und den Chilischoten ein, die in Kränzen von der Decke hingen. Der Laden war leer – abgesehen von Curly, der hinter der kurzen Theke an der Kasse stand. Sein weißes Haar war kraus wie immer. Niemand schien sich an seinen richtigen Namen zu erinnern.

Jesse nickte ihm zu und wanderte durch die Gänge. Im Laufe der sechs Jahre hatte sich kaum etwas verändert in diesem Laden, und das munterte ihn irgendwie auf. Es war nett zu wissen, dass in einer sich ständig verändernden Welt manche Dinge gleich blieben.

Mit einer eiskalten Dose Limonade und ein paar Tüten M&Ms schlenderte er zur Kasse.

„Ist das alles?“, erkundigte sich Curly.

„Ja.“ Jesse legte mehrere Geldscheine auf den Ladentisch. „Ziemlich ruhig heute.“

„Das liegt an dem Rodeo in Springerville. Das findet jedes Jahr um diese Zeit statt. Sind Sie neu hier oder nur auf der Durchreise?“

„Ich bin auf dem Weg zur Martin-Ranch. Sie haben Probleme mit einem Hengst, und …“

„Ja, ja, Remus. Hat sich verbrannt bei dem Feuer vor einiger Zeit. Ich habe gehört, dass Sie kommen. Aus Kalifornien, richtig?“

„Richtig.“ Jesse erinnerte sich, wie schnell sich Neuigkeiten in der eng verbundenen Ranchergemeinschaft herumsprachen. Forschend musterte er den Ladenbesitzer auf Anzeichen des Erkennens, während er ihm die Hand reichte. „Jesse Calder.“

Curly wischte sich die Finger an der Hose ab, bevor sie sich die Hände schüttelten. „Ich habe gehört, dass Ihr Daddy mit Pferden reden kann und sie ihm zuhören.“ Mit skeptischer Miene erklärte er: „Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie das gehen soll. Pferdeflüstern, nennt man das, richtig? Und Sie tun das auch?“

„So was in der Art.“ Jesse öffnete die Dose und nahm einen großen Schluck.

„Haben Sie was dagegen, wenn ich bei den Martins vorbeikomme und mir das mal ansehe?“

„Wenn es den Martins recht ist, soll es mir auch recht sein.“

Er hat keine Ahnung, wer ich bin.

Jesse kehrte zu seinem Auto zurück, stellte die Limonade in den Dosenhalter und startete den Motor. Er fragte sich, ob die Martins oder Casey ihn erkennen würden. Vielleicht war es besser, wenn sie seine wahre Identität nicht durchschauten.

Zurück auf dem Highway, runzelte Jesse gedankenverloren die Stirn. Täuschungen haben ihren Preis. Wie harmlos, wie begründet sie auch sein mag, eine Täuschung zerstört jede Glaubwürdigkeit, jedes Vertrauen. Und eine Lüge führt oft zu weiteren …

Wenigstens Abby hatte er alles erklären wollen. Gleich nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus hatte er bei den Martins angerufen. Lindsay hatte das Gespräch angenommen und ihm mitgeteilt, dass Abby verheiratet und weggezogen wäre. Das hatte ihn sehr verblüfft, denn einige Wochen zuvor hatte sie noch mit ihm geschlafen.

Auf seine Bitte, mit Vern zu sprechen, hatte Lindsay ihm unmissverständlich erklärt, dass er Persona non grata für die Martins wäre und sich nie wieder melden oder sehen lassen sollte.

Schockiert hatte Jesse den Hörer aufgelegt. Er wusste, dass Abby ihn nicht erreichen konnte, da sie seinen richtigen Nachnamen nicht kannte. Aber er konnte sich nicht vorstellen, dass sie innerhalb so kurzer Zeit jemand anderen kennen gelernt und geheiratet hatte. Das passte so gar nicht zu ihrem Wesen. Offensichtlich war sie nicht die Person, für die er sie gehalten hatte.

Es war ein wirklich glücklicher Zufall, dass die Martins von Jesse Calder und seiner Arbeit mit traumatisierten Pferden gehört hatten. Casey, der Vorarbeiter, hatte ihn angerufen und förmlich angefleht, sich Remus anzusehen. Trotz der Warnungen seiner Familie hatte Jesse sich dazu entschlossen – vor allem, da der Hengst der jüngsten Martin-Tochter gehörte.

Doch nun, als er das Tor zur Ranch passierte, beschlichen ihn Zweifel, ob es die richtige Entscheidung war.

Auf den ersten Blick entdeckte er einige Veränderungen. Das große, dreistöckige Ranchhaus wies einen frischen weißen Anstrich und neue grüne Fensterläden auf. Auf dem Rasen davor stand immer noch die alte Pappel, und die Veranda war von Blumen umgeben, die Joyce Martin damals selbst gepflanzt und gepflegt hatte. Ein Stück vom Haus entfernt befand sich ein neues, kleines Gebäude, das in Regenbogenfarben gestrichen war. Wozu das gut war, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen.

Er stellte den Bronco ab und stieg aus. Sein Rücken schmerzte höllisch nach der stundenlangen Fahrt – eine Altlast des Unfalls. Ihm waren Tabletten verschrieben worden, die er nicht nahm, weil sie seinen Verstand umnebelten. Wenn die Schmerzen unerträglich wurden, half ein steifer Scotch mehr und schmeckte besser als die Pillen.

Jesse nahm sich die Sonnenbrille ab, steckte sie in die Hemdtasche und wandte sich nach links. Er spazierte an zwei rustikalen Blockhütten vorbei, die er von früher erinnerte, und erblickte neben einem brandneuen Pferdestall, wonach er suchte: eine neu eingezäunte, runde Koppel, die er für die Arbeit mit dem Hengst brauchte.

Er schlenderte hinüber, stellte einen Fuß auf die unterste Sprosse und lehnte sich an die weiße Einzäunung. Sein geübtes Auge nahm jedes Detail wahr: das Schwingtor an einem Ende, das in Richtung Stall führte, und die glatt gestampfte Erde, die keinen Grashalm und kein Steinchen aufwies.

„Also, was meinen Sie dazu?“, ertönte eine Stimme hinter ihm. „Ist das rund genug für Sie?“

Jesse drehte sich um.

Casey Henderson sah immer noch aus wie ein Feuermelder mit seinem kurzen, stämmigen Körper, dem roten Gesicht und den roten Hosenträgern, die er immer trug. Eine schwarze Klappe verbarg sein linkes Auge – ein Souvenir aus seiner Rodeozeit.

„Ja, Sir, die Koppel ist genau richtig.“ Er streckte die Hand aus. „Jesse Calder.“ Ein Anflug des Erkennens schien über das Gesicht des Vorarbeiters zu huschen, aber vielleicht war es auch nur Argwohn.

Casey stellte sich vor und drückte ihm kräftig, aber kurz die Hand. Dann holte er ein rotes Taschentuch aus der Hosentasche seiner alten Jeans, nahm sich den schwarzen Hut ab und wischte sich über den fast kahlen Schädel. „Ich begreife immer noch nicht, wozu Sie unbedingt eine runde Koppel haben wollten.“

„Das werden Sie sehen, sobald ich mit Remus zu arbeiten anfange.“

Casey deutete mit dem Kinn zu dem großen Pferdestall aus Aluminium. „Dann sehen wir ihn uns doch mal an. Glauben Sie, dass Sie ihm helfen können?“

„Das wird sich zeigen“, erwiderte Jesse, während sie den Hof überquerten. Bei der Arbeit mit versehrten Pferden, zusammen mit seinem Vater wie auch allein, hatte er gelernt, dass die meisten gut auf ihre Methoden ansprachen – im Laufe der Zeit. Aber einigen wenigen war nicht zu helfen. „Was ist mit ihm passiert?“

„Tja, das ist echt eine traurige Geschichte. Abby, die jüngste Tochter der Martins, hat Remus vor drei oder vier Jahren gefunden. Anscheinend war er von seinem Besitzer längere Zeit misshandelt und dann einfach zurückgelassen worden. Er stand halb verhungert auf einer verdreckten Koppel. Abby hat ein echt weiches Herz und sich deshalb um ihn gekümmert.“

Jesses Interesse wuchs. Er erinnerte sich gut, wie sehr Abby Pferde liebte.

Sie erreichten den Stall. Casey blieb vor der Tür stehen und blinzelte in die Sonne hinauf. „Natürlich hat sie Vern überredet, den Hengst hierher zu bringen, und sie hat ihn gesund gepflegt. Außerdem hat sie ihn gezähmt. Er wurde richtig sanft.“

Hat Abby mit ihrem Mann damals hier auf der Ranch gelebt? Jesse überlegte, ob er danach fragen konnte, ohne sich zu verraten. Er war nicht grundsätzlich dagegen, seine Identität zu enthüllen, aber er hoffte auf eine Chance, vorher mit Abby reden und ihr alles erklären zu können.

„Dann ist das verdammte Feuer ausgebrochen.“ Casey setzte sich den Hut wieder auf und senkte den Blick. „Es war meine Schuld. Letzten Februar, in einer echt kalten Nacht, habe ich einen Heizofen in eine leere Box gestellt, weil der alte Stall damals unbeheizt war. Ich weiß nicht, wie es passieren konnte, aber das Ding ist irgendwie umgefallen und hat ein Feuer entfacht. Als ich und die Jungs es gemerkt haben, war der alte Remus ganz wild und hatte Verbrennungen an der linken Seite. Jetzt ist es gut verheilt, aber er traut niemandem, nicht mal Abby. Er lässt sich nicht anfassen und schon gar nicht reiten. Vern wollte ihn töten lassen, aber Abby hat es nicht zugelassen. Dann haben wir über Ihre Arbeit gelesen.“

Casey stopfte das Taschentuch zurück in die Hosentasche und öffnete die schwere Schiebetür. „Ich wäre sehr dankbar, wenn Sie ihn heilen könnten, und Abby wäre es erst recht.“

„Ich werde es versuchen, aber ich muss Ihnen sagen, dass ich es nicht für den Besitzer tue. Ich tue es für das Pferd. Wenn es niemanden an sich ranlässt, dann ist es unglücklich und verängstigt. Das muss geheilt werden.“

„Wie Sie es auch nennen, heilen Sie es einfach.“

„Abby wohnt also hier und kümmert sich noch um Remus?“ Jesse zuckte die Achseln unter Caseys forschendem Blick. „Ich habe gehört, sie wäre verheiratet und weggezogen.“

„Das stimmt, aber das ist eine Weile her. Ihr Mann ist gestorben, und sie ist wieder hierher gekommen.“ Casey deutete mit dem Kinn zu dem bunten Gebäude. „Das da ist ihr Schulhaus für die Kleinen in der Gegend, bevor sie zur normalen Schule kommen. Abby hat inzwischen ungefähr ein Dutzend Schüler, aber sie ist immer noch mächtig an Remus interessiert.“

Es überraschte Jesse nicht, dass sie mit Kindern arbeitete, denn sie hatte bereits vor all den Jahren davon geredet. Dass sie verwitwet sein könnte, daran hatte er allerdings überhaupt nicht gedacht. Er folgte Casey in den Stall und stellte fest, dass die Boxen, in denen nur etwa ein halbes Dutzend Pferde standen, sehr gepflegt und mit frischem Stroh ausgelegt waren.

„Die meisten Pferde sind noch draußen, aber sie kommen bald rein“, erklärte Casey. „Nur ein paar bleiben nachts auf der Weide.“

Am hinteren Ende des Gebäudes war ein kleiner alter Bereich mit einer einzelnen Box durch eine Trennwand abgeteilt. Jesse verlangsamte den Schritt, als er einen Rappen erblickte, der völlig reglos dastand.

„Das ist unser Remus“, sagte Casey und trat beiseite.

Die rechte Seite des Hengstes sah völlig normal aus. Aber links war versehrtes, vernarbtes Fell vom Kopf bis zur Flanke zu sehen. Die Wunde war offensichtlich gut verheilt. Der wahre Schaden befand sich in Remus’ Kopf.

Jesse trat einen Schritt näher und sprach mit leiser, sanfter Stimme. Das Pferd stellte ein Ohr nach vorn und das andere nach hinten, was von Aufmerksamkeit und Misstrauen kündete. Als er sich weiter näherte, legte es jedoch in einer aggressiven Geste beide Ohren an, schnaubte und stieg mit wildem Blick.

„Da sehen Sie, was ich meine“, sagte Casey mürrisch. „Böswilliges Viech. Es mag Sie auch nicht.“

„Ich hatte keine andere Reaktion erwartet nach allem, was es durchgemacht hat. Ich fange morgen früh mit ihm an.“

„Und Sie haben keine Angst, mit dem gefährlichen Biest in die runde Koppel zu steigen?“

„Ich muss zuerst sein Vertrauen gewinnen, bevor ich mit ihm arbeiten kann.“

„Vielleicht muss der Tierarzt ihm erst eine Beruhigungsspritze geben.“

„Nein, das will ich nicht.“

Verständnislos schüttelte Casey den Kopf, während sie den Stall verließen. „Tja, Sie müssen’s ja wissen. Es ist Ihre Beerdigung.“ Er wandte sich ab, um das Tor zu schließen. „Warten Sie einen Moment. Ich hab was vergessen“, sagte er und verschwand.

Jesse steckte die Hände in die Hosentaschen und blickte sich auf dem Gehöft um. Neben dem Pferdestall befand sich der riesige Rinderstall. Nun, im Sommer, graste das Vieh auf den Weiden. Nach und nach trudelten die Cowboys, die es hüteten, zum Abendessen ein. Durch die großen Fenster der Messe sah Jesse etwa ein halbes Dutzend Männer an den langen Tischen sitzen.

In der Ferne erklangen Pferdhufe. Er wandte sich dem Geräusch zu. Ein schlanker Fuchs galoppierte heran, geritten von einer Frau mit blondem Pferdeschwanz und geröteten Wangen. Auf Anhieb erkannte er Abby. Am anderen Ende des Hofs hielt sie an, glitt graziös aus dem Sattel und kraulte der Stute liebevoll den Kopf. Ein großer Mann mit O-Beinen kam aus dem Stall, nahm ihr die Zügel ab und sagte etwas, das Abby zum Lachen brachte.

Jesse kannte diesen melodischen, unbeschwerten Klang. Damals hatte sie sehr oft gelacht, und er fragte sich, ob dem immer noch so war. Ihr Anblick ließ ihn an ihre gemeinsame Zeit zurückdenken. Erinnerte sie sich mit Freude oder Kummer oder gar nicht daran? Wann und wie war ihr Mann gestorben? Aus der Ferne sah sie unverändert aus, aber vielleicht hatte sie sich ebenso gewandelt wie er.

„Das ist Abby, die jüngste Tochter“, erklärte Casey. „Ich bringe Sie erst mal unter und stelle sie Ihnen morgen vor.“ Er deutete zur Messe. „Ich hoffe, Sie haben Hunger. Unsere Carmalita ist das begehrteste Mädchen auf der Ranch, weil sie kocht wie ein Engel.“

Jesse löste den Blick von Abby und folgte Casey zu dem langen, flachen Gebäude.

„Vern hat die Hütte neben meiner für Sie herrichten lassen. Er dachte, Sie wollten ungestört sein und lieber nicht in der Baracke schlafen.“

„Das ist sehr fürsorglich von ihm“, murmelte Jesse.

Casey führte ihn in den Speisesaal und stellte ihn den Männern vor. Einige hatten von den Methoden der Calders gehört und brachten Neugier und Skepsis zum Ausdruck, aber Jesse riet ihnen nur, abzuwarten und sich erst eine Meinung zu bilden, nachdem er die Arbeit mit Remus begonnen hatte.

Wirklich nervös wurde er, als er von Casey in die Küche zu Carmalita geführt wurde. Damals vor sechs Jahren hatte er sich oft mit der dunkelhaarigen, dunkeläugigen Frau unterhalten, die seit über zwanzig Jahren als Köchin für die Martins arbeitete.

Mit einem Geschirrtuch über der Schulter stand sie am Herd und rührte in einem riesigen Topf, dem ein köstlicher Duft entströmte. Sie musterte Jesse so prüfend wie ein Hühnchen, das sie zum Dinner aussuchte. Ihm fiel auf, dass sie wie früher riesige Goldohrringe und eine Bauernbluse zu ihrem langen schwarzen Rock trug. Stumm hielt er ihrem Blick stand, während Casey ihn vorstellte.

Schließlich legte sie den Kochlöffel aus der Hand. „Sie kommen mir bekannt vor. Es liegt an diesen blauen Augen. Haben Sie einen Bruder?“

„Ja. Er heißt Jake, und wir sind Zwillinge.“

„Aha. Er war noch nie hier?“

„Ich glaube nicht“, erwiderte Jesse wahrheitsgemäß.

„Ich kannte einmal einen anderen Jesse.“ Gedankenverloren schüttelte sie den Kopf. „Wie auch immer, herzlich willkommen. Gehen Sie und bedienen Sie sich.“

„Danke sehr.“ Nun erst, nachdem er das köstliche Hähnchengulasch gerochen hatte, wurde ihm bewusst, wie hungrig er war. Er füllte einen Teller und setzte sich zu Casey an den nächsten Tisch.

Während Jesse zu essen begann, fragte er sich, wann Carmalita eins und eins zusammenzählen und sich an ihn erinnern würde. Ihm fiel auf, dass Casey seit dem Besuch in der Küche sehr schweigsam war. Sie hatten damals nicht viel miteinander zu tun gehabt, aber es war vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis der Vorarbeiter, der ein sehr ehrlicher und intelligenter Mensch war, auf die Wahrheit stoßen würde.

Schließlich fragte Jesse: „Betätigt sich Vern Martin aktiv auf der Ranch, oder überlässt er alle Entscheidungen Ihnen?“

Casey schluckte ein Stück Hühnchen, bevor er antwortete. „Er ist ziemlich aktiv. Ich war schon vor dreißig Jahren hier, als der alte Martin noch gelebt hat. Der hat geschuftet wie ein Pferd. Vern arbeitet nicht so hart, aber er weiß genau, was auf seiner Ranch vorgeht. Er bespricht alles mit mir, aber das Sagen hat er.“

„Und seine Frau?“ Jesse hatte Mrs. Martin als pingelig, herablassend und nörglerisch kennen gelernt, aber vielleicht war sie ja milder geworden.

„Joyce führt die Bücher. Sie geht kaum aus dem Haus. Hat einen schlimmen Rücken.“

Davon konnte Jesse ein Liedchen singen. „Sie haben noch eine Tochter, oder?“

Casey wischte sich die Hände an einer Serviette ab und nickte. „Die ist ganz anders als ihre Schwester. Hat sich vor sechs Monaten verlobt. Mit einem Burschen aus San Francisco. Ein netter Kerl, aber dann ist irgendwas vorgefallen und sie haben sich getrennt.“

Autor

Pat Warren
Mehr erfahren