Ewiger Sommer Brasiliens

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Als Antónia erfährt, dass ihre richtige Mutter in Brasilien wohnt, nimmt sie Kontakt auf. Schon kurz darauf sitzt sie im Flugzeug - und ist Stunden später in einer anderen Welt. Der gutaussehende Brasilianer Jaime de Almeida beginnt sofort, mit ihr zu flirten …


  • Erscheinungstag 28.07.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733758332
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Im Büro war es still, ein leichter Geruch nach Leder war zu verspüren, und der Staub flimmerte im Sonnenlicht, das vom großen Fenster hereinfiel. Dem jungen Anwalt war unbehaglich zumute, als er beobachtete, wie die Hände der Klientin beim Entziffern der ihr so vertrauten Handschrift zitterten und sie mit den Tränen kämpfte. Er wünschte, sein Vater hätte einen Kollegen dieses Gespräch führen lassen. Normalerweise war sie ein stets gut gelauntes, attraktives Mädchen, doch das schwarze Kleid und vor allem der Kummer ließen jetzt ihre immer leicht gebräunt wirkende Haut und das blonde Haar seltsam leblos erscheinen. Heute trug sie das schulterlange Haar nicht wie sonst offen und lockig, sondern es war mit einer schwarzen Schleife straff zurückgebunden. Ihre geschwollenen roten Augenlider bemerkte man daher sofort.

Schließlich faltete sie die Seiten wieder sorgfältig zusammen, bevor sie sie umständlich in den Umschlag zurücksteckte. Paul Deeping wartete schweigend, während sie sich mit einem Taschentuch die Tränen abtrocknete und versuchte, die Fassung wiederzugewinnen. Schließlich sah sie auf und lächelte tapfer.

„Entschuldige bitte, Paul. Du weißt, dass ich gewöhnlich nicht so schnell in Tränen ausbreche. Aber der Brief meiner Mutter hat mir doch sehr zugesetzt. Sie schreibt genauso anschaulich, wie sie spricht … sprach, meine ich.“

„Ich persönlich finde, ein paar Tränen schaden nicht, Antónia. Meine Eltern fanden deine ruhige Verfassung gestern auf der Beerdigung sogar fast unnatürlich.“

„Vielleicht, aber ich bemühe mich, meinen Kummer nicht in der Öffentlichkeit zu zeigen.“

Paul betrachtete sie wohlwollend. „Hat dich der Brief sehr aufgeregt?“

„Ja. Ich wusste zwar, dass ich ein Adoptivkind bin. Doch ich dachte immer, meine Herkunft wäre unbekannt. Jetzt ist es für mich natürlich überraschend zu erfahren, dass meine Adoptivmutter meine leibliche Mutter kannte und sogar während der Geburt dabei war. Ich bin die Tochter einer der Studentinnen, denen Mutter, ich meine Janet Grant, Zimmer vermietet hatte.“

„Ich verstehe deine Verwirrung, Antónia. Janet Grant war die einzige Mutter, die du je gehabt hast. Und eine wundervolle noch dazu.“

Antónia nickte heftig, während ihr schon wieder die Tränen kamen. Sie schluckte und versuchte zu lächeln. „Du hast ja Recht, Paul. Natürlich haben wir uns hin und wieder gestritten, und manchmal war sie auch ein wenig zu selbstherrlich. Dennoch war sie immer für einen Spaß zu haben und verlor ihren Sinn für Humor nicht einmal mitten in der schlimmsten Schimpfkanonade über mein unordentliches Zimmer.“

„Hat deine Mutter eigentlich etwas über finanzielle Dinge geschrieben?“

„Nein, in ihrem Brief geht es mehr um die junge Studentin, die schwanger aus dem Urlaub kam und von ihren Eltern hinausgeworfen wurde, als diese davon erfuhren.“ Antónia schaute betroffen auf. „Wie kann man nur so herzlos sein?“

Paul räusperte sich. „Du darfst nicht vergessen, dass ihre Eltern einer anderen, eher prüden Generation angehörten. Wie dem auch sei, das Mädchen ging dorthin zurück, wo man sie schon einmal herzlich aufgenommen hatte – zu deinen Eltern. Sie mochten sie, glaube ich, sehr gern.“

Antónia seufzte. „Nach meiner Geburt, schreibt Mutter weiter, gab das Mädchen ihr Sprachenstudium auf und ging nach London. Alles Weitere soll sie mir selbst erzählen.“ Antónia sah Paul eindringlich an. „Würdest du mir bitte ihren Namen nennen?“

Er nickte langsam. „Sicher, ihr Mädchenname ist Moore. Mehr kann ich dir leider nicht sagen, denn für den Fall, dass du sie nicht kennenlernen möchtest, will sie lieber anonym bleiben.“

„Ich verstehe.“ Antónia strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Wie kommt sie nur darauf, dass ich sie nicht kennenlernen will?“

Paul Deeping lehnte sich zurück. „Miss Moore lässt dir eben die Wahl. Du kannst selbst entscheiden, ob du sie treffen möchtest oder nicht. Es muss ihr damals sehr schwer gefallen sein, dich wegzugeben. Erst fünf Tage nach der Geburt war sie in der Lage, wieder aufzustehen und die Grants zu verlassen. Sie hatte also genug Zeit, dich lieb zu gewinnen. Vielleicht litt sie danach an Schuldgefühlen und meint jetzt, du würdest nichts von ihr wissen wollen, weil sie dich damals weggegeben hat.“ Paul nahm eine Akte aus der Schreibtischschublade. „Nun zu den finanziellen Regelungen.“

Es überraschte Antónia nicht zu hören, dass das Haus belastet war und dass nach dem Verkauf des gesamten Besitzes nichts übrig bleiben würde. Nach dem Tod ihres Mannes hatte Janet Grant ständig Geldsorgen gehabt. Antónia hatte versucht, durch Ferienjobs ihren Teil zum gemeinsamen Lebensunterhalt beizutragen. Umso mehr verwunderte sie nun Pauls Mitteilung, dass trotzdem eine kleine Summe zur ihrer Verfügung stand, die für ihre Ausbildung zurückgelegt worden war.

„Wirklich? Ich kann mir nicht vorstellen, wie meine Mutter das geschafft haben soll. Ich erinnere mich, dass das Geld immer knapp bei uns war.“

„Antónia, dieses Geld hat nicht Mrs. Grant für dich gespart, sondern deine leibliche Mutter. Bei der Adoption stellte sie einige Bedingungen. Sie wollte deinen Namen aussuchen, etwas zu deiner Ausbildung beitragen, sobald sie dazu in der Lage wäre, und sie wollte, dass du nichts von ihrer Existenz wusstest, solange Janet Grant noch lebte. Als Miss Moores Eltern starben, hinterließen sie ihrer Tochter nur eine bescheidene Erbschaft. Sie war aber zu stolz, ihren Erbteil für sich selbst zu verwenden, und überschrieb das Geld auf deinen Namen. Später hat sie dieses Konto noch durch eigene Ersparnisse aufgestockt.“

„Jetzt weiß ich, warum ich eine so teure Schule besuchen konnte.“ Antónia schlug die Beine übereinander. „Wovon lebt sie denn? Und ist sie verheiratet?“

„Ja, sie ist verheiratet. Aber mehr kann ich dir wirklich nicht sagen, Antónia, wir haben doch schon darüber gesprochen. Da ist aber noch eine wichtige Sache, die ich dir sagen muss. Nach dem Verkauf des Hauses wirst du dir eine Wohnung und Arbeit suchen müssen. Staatliche Hilfe kannst du wegen deiner Erbschaft nicht in Anspruch nehmen.“

Auf der Heimfahrt im Bus war Antónia tief in Gedanken versunken. Zu viele Dinge stürmten in zu kurzer Zeit auf sie ein. Da war der Kummer über den Verlust der Mutter, dazu die Beerdigung und jetzt hatte sie plötzlich eine neue Mutter, die sogar ihre Ausbildung stillschweigend finanziert hatte.

Zu Hause las sie den Brief ein zweites Mal.

„… Als alte Freundin von mir getarnt, hätte deine leibliche Mutter dich gerne einmal besucht. Sie tat es jedoch nicht mit Rücksicht auf mich. Dabei hätte ich noch nicht einmal etwas dagegen gehabt, glaube ich jedenfalls …“

Im restlichen Teil des Briefes schrieb Janet Grant, dass sie sich nichts sehnlicher wünscht als eine glückliche Zukunft für Antónia. Erst jetzt begriff Antónia, dass sie von heute an mehr oder weniger allein auf der Welt war. Sie hatte plötzlich das Bedürfnis, in Ruhe nachzudenken, und beschloss, ein Bad zu nehmen. Wenn sie entspannt im heißen, duftenden Wasser lag, konnte Antónia schon immer am besten überlegen.

Die letzten Monate waren von hektischer Betriebsamkeit gewesen. Zuerst das ständige Lernen für die Abschlussarbeiten, dann die Prüfungen selbst und später eine endlose Serie von Partys. Kurz nach dem Sommerfest im College kam dann der unheilvolle Anruf ihrer Tante. Antónia fuhr natürlich sofort nach Hause, denn sie wusste, dass ihre Mutter seit Langem unter zu hohem Blutdruck litt und ständig Medikamente einnehmen musste.

Als Antónia zu Hause eintraf, lag Janet bleich und abgespannt im Bett. An der fröhlichen Art ihrer Mutter hatte sich zum Glück nichts geändert. Antónia versuchte ihre Angst zu überspielen und übernahm sofort tatkräftig den Haushalt. Sie verabschiedete die Mieter, die wie jedes Jahr in den Semesterferien abreisten, putzte, kochte und war davon überzeugt, dass alles wie bisher weitergehen würde. Janet Grant erholte sich jedoch nicht mehr von dem Schlaganfall. Eines Abends rief sie ihre Tochter zu sich und sagte, dass ein Brief für sie bei Deeping & Sons bereitliege für den Fall, dass ihr selbst etwas zustoßen sollte. Antónia nahm ihre Mutter wortlos in die Arme, wurde aber nach kurzer Zeit von ihr hinausgeschickt. In dieser Nacht erlitt Mrs. Grant einen zweiten tödlichen Anfall.

Während das Badewasser empfindlich kühl wurde, fasste Antónia mehrere Entschlüsse. Das Haus musste sofort verkauft werden, denn ohne ihre Mutter hatte es jegliche Geborgenheit verloren. Des Weiteren gestand sie sich verwirrt ein, war sie sehr gespannt darauf, ihre leibliche Mutter, Miss Moore, kennenzulernen. Antónia beruhigte sich mit dem Gedanken, dass Janet Grant es bestimmt nicht geschätzt hätte, wenn sie den Rest ihres Lebens in Trauer verbringen würde.

Antónia zog sich an, um sofort Paul anzurufen und ihn von ihrem Entschluss in Kenntnis zu setzen. Paul versprach, alles Nötige in die Wege zu leiten. Außerdem wollte er sich bei ihr melden, sobald sich etwas Neues ergeben hätte.

Nachdem Antónia sich mit Kaffee gestärkt hatte, fühlte sie sich besser, wusste aber nicht recht, was sie tun sollte. Sie wünschte nun, sie hätte nicht allen Bekannten und Freunden, die ihr über die ersten Tage hinweghelfen wollten, abgesagt. Mutter wäre mit Sicherheit dagegen gewesen, genauso wie gegen das schwarze Kleid. Sie war überhaupt der Meinung, dass man das Leben immer genießen sollte. Antónia beschloss, sich schon morgen wieder bei einigen Freundinnen zu melden und sich gleich danach auf Arbeits- und Wohnungssuche zu machen.

Das Läuten der Türklingel unterbrach Antónias Gedankenfluss. Für einen Besuch war es eigentlich schon recht spät. Sie hoffte, dass der oder diejenige, wer es auch sein mochte, die Geduld verlieren würde. Doch nach dem zweiten Klingeln öffnete sie die Tür schließlich einen Spalt breit und blickte einen fremden, aber außerordentlich gut aussehenden Mann fragend an.

„Sind Sie Miss Grant?“ fragte er mit leichtem Akzent.

Antónia nickte nur. Sie war zu sehr damit beschäftigt, seine klassischen Gesichtszüge und die schwarz gelockten Haare zu betrachten.

„Ich habe Ihre Adresse von Mr. Paul Deeping. Es tut mir leid, Sie so spät noch zu stören. Vielleicht hätte ich doch besser bis morgen warten sollen, aber ich war so neugierig darauf, Sie kennenzulernen.“

„So, waren Sie das?“

Er lächelte sympathisch und hob die kräftigen Arme in einer komischen Geste der Entschuldigung. „Könnte ich wohl einen Moment hereinkommen, Miss Grant?“

„Sie sagten, Sie kämen von Mr. Deeping?“

„Nicht direkt. Ich sollte Sie eigentlich erst morgen bei ihm im Büro treffen, aber ich dachte, ich könnte ebenso gut gleich jetzt hereinschauen …“

„Können Sie mir bitte sagen, wer Sie sind?“

„O natürlich, entschuldigen Sie. Mein Name ist Mario de Almeida. Ich bin sozusagen Ihr … Stiefbruder.“

Antónia war äußerst erstaunt. „Mein Stiefbruder!“ Mehr konnte sie nicht herausbringen, denn das Telefon klingelte. Sie schaute auf den Apparat, dann auf den Mann und überlegte, was sie tun sollte.

„Ich warte eben hier draußen, bis Sie fertig sind“, sagte Mario de Almeida und trat mit einer leichten Verbeugung einen Schritt zurück.

Antónia wollte ihm die Tür nicht vor der Nase zumachen, also ließ sie sie offen. Am Telefon war Paul, um ihr mitzuteilen, dass sie morgen eine Verabredung mit einem Verwandten ihrer Mutter habe und doch ins Büro von Deeping & Sons kommen möge.

„Wenn du Mr. de Almeida meinst, Paul, dann bist du etwas zu spät, er steht nämlich schon hier vor der Tür. Ich überlege gerade, ob ich ihn hereinlasse oder nicht.“

„Vernünftiges Mädchen. Aber sei unbesorgt, er ist der Sohn deiner Mutter. Sie ist leider verhindert, deshalb ist Mario de Almeida sofort hergeflogen, um mit dir zu sprechen.“

„Hergeflogen? Von woher, Paul?“

„Aus Brasilien. Vielleicht ist es ganz gut, wenn ihr euch heute schon miteinander bekannt macht, aber ich möchte euch trotzdem beide morgen früh im Büro sehen. Und jetzt bitte ihn doch hinein, er findet unseren Märzabend bestimmt nicht gerade angenehm warm.“

Tatsächlich sah Mario de Almeida schon ziemlich durchgefroren aus, als Antónia ihn nun unbesorgt einließ. „Danke“, sagte er und rieb sich die Hände. „England ist ein wunderschönes Land, nur das Wetter ist entschieden zu frostig.“

„Auf jeden Fall“, Antónia lächelte zum ersten Mal. „Mr. de Almeida, entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie nicht gleich hereingelassen habe. Seit ich hier allein wohne, bin ich etwas vorsichtiger.“ Sie überlegte schnell, was der Kühlschrank noch zu bieten hatte. „Kann ich Ihnen als Entschädigung einen kleinen Imbiss anbieten?“

„Nein, vielen Dank, ich habe schon gegessen.“

„Vielleicht etwas zu trinken? Whisky oder lieber Sherry?“

„Bei einem kleinen Whisky würde mir bestimmt gleich wärmer werden.“ Mario de Almeida lächelte dankbar.

„Anscheinend sind Sie noch nie im Winter in England gewesen.“ In der Küche stellte Antónia Whisky, Ginger-Ale und Gläser auf ein Tablett. Dann ging sie ins Badezimmer und betrachtete sich im Spiegel. Erleichtert stellte sie fest, dass ihre Augen nicht mehr verweint aussahen. Mehr als sich kurz mit den Fingern durch das füllige Haar streichen konnte sie nicht, denn sie wollte den Gast nicht warten lassen. Doch sie war auch mit ihrem ungeschminkten Gesicht zufrieden. Amüsiert stellte Antónia sich vor, was Janet über diesen attraktiven Überraschungsbesuch gesagt hätte. Sicher eine kurze, aber treffende Bemerkung.

Der Brasilianer stand auf, um Antónia höflich das Tablett abzunehmen. Er mixte ihr einen Whisky mit viel Ginger-Ale, so wie sie es am liebsten hatte. Sich selbst schenkte er Whisky pur ein. Dann setzte er sich und schaute sie über den Glasrand hinweg ernst an. „Zunächst, Miss Grant, möchte ich Ihnen meine aufrichtige Anteilnahme aussprechen. Ich gehe auch sofort wieder, falls Sie sich durch mich in irgendeiner Form gestört fühlen.“

„Aber nein, ehrlich gesagt habe ich alle gebeten, mich allein zu lassen, aber dann fühlte ich mich plötzlich doch unwohl in dem großen Haus. Vorher war es hier immer laut und lebendig, weil wir einige Zimmer an Studenten vermietet hatten. Sie sind inzwischen alle abgereist.“

„Eigentlich hatte ich nicht erwartet, Sie allein anzutreffen, ich dachte, ein paar Verwandte würden bei Ihnen sein.“

„Nein, ich wollte niemand um mich haben.“ Antónia sah ihn fragend an. „Mr. de Almeida …“

„Bitte sag doch Mario und du zu mir, wir sind ja schließlich Geschwister.“

„Gut, Mario. Ich wollte gerade fragen, wie es zu diesem Verwandtschaftsverhältnis gekommen ist.“

„Du wunderst dich wahrscheinlich, warum ich hier bin und nicht Diana.“

„Diana?“

Mario nickte. „Miss Diana Moore ist deine leibliche Mutter – und meine Stiefmutter. Sie heißt jetzt Diana de Almeida.“

Antónia dachte angestrengt nach. Bedeutete dies, dass sie auch einen Stiefvater hatte, eine komplette Familie also? Wie auch immer, feststand, dass ihre wieder entdeckte Mutter sich Tausende von Kilometern entfernt in Brasilien aufhielt.

Mario beugte sich lächelnd vor und begann zu erklären. „Mein Vater, Francisco de Almeida, lernte Diana vor zwölf Jahren an der britischen Botschaft in Rio kennen – und sie heirateten. Vorher war er jahrelang Witwer gewesen. Nach siebenjähriger Ehe mit Diana starb er und hinterließ meinem Bruder Jaime und mir das Unternehmen. Wir besitzen mehrere Eisenerz-Bergwerke. Ich reise oft nach Nordamerika, während Jaime sich mehr um die Geschäfte in Brasilien kümmert. Diana lebt jetzt in Lagoa del Rey, unserem Ferienwohnsitz. Sie liebt die Abgeschiedenheit und will mindestens so lange dort wohnen bleiben, bis Marisa ins schulpflichtige Alter kommt.“

„Wer ist Marisa?“

Er lachte schon wieder sein ansteckendes, jungenhaftes Lachen. „Oh, ich vergaß dir zu erzählen, dass du eine fünfjährige Schwester hast. Sie liegt momentan mit Windpocken im Bett und ist der Grund dafür, dass Diana nicht herkommen konnte. Ausgerechnet jetzt musste sie Windpocken bekommen! Nun ja, Jaime war sehr beschäftigt, also bin ich an Dianas Stelle geflogen. Sozusagen als ihr Abgesandter.“

„Ich verstehe.“ Sie füllte Marios Glas nach. „Und mit welcher Botschaft hat Diana dich hergesandt?“

„Wie du weißt, war es nicht einmal sicher, dass es überhaupt zu einem Gespräch kommen würde. Ich wäre sofort wieder zurückgeflogen, wenn Mr. Deeping gesagt hätte, dass du Diana nicht kennenlernen möchtest. Aber das willst du doch, oder?“

„Ja sicher, sehr gern sogar. Nur im Moment kann ich beim besten Willen nicht nach Brasilien reisen.“

Mario blickte sie fragend an. „Warum nicht? Mr. Deeping sagte, du hättest die Schule abgeschlossen und würdest noch nicht arbeiten. Was hält dich also hier? Irgendein Freund vielleicht?“

Gegen ihren Willen errötete Antónia. „Nein, nichts dergleichen.“ Sie überlegte. „Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll …“

„Hast du vielleicht kein Geld?“

Antónia errötete noch mehr. „Ich bin nicht gerade arm wie eine Kirchenmaus, und wenn ich erst eine Arbeitsstelle habe, werde ich bestimmt gut zurechtkommen. Einen Flug nach Brasilien kann ich mir zurzeit aber wirklich nicht leisten.“

„Nun, dann lies doch erst einmal diesen Brief von Diana.“

Mario reichte ihr einen Umschlag, auf dem lediglich „Antónia“ stand. Sie öffnete ihn vorsichtig und fand ein Flugticket sowie einen Brief.

Liebe Antónia, wenn du diese Zeilen liest, weiß ich, dass du mich kennenlernen möchtest. Deshalb habe ich dir einfach einen Flug gebucht und schlage vor, du fliegst gleich mit Mario zurück nach Lagoa del Rey. Ich bin sicher, dir wird ein Tapetenwechsel gerade jetzt gut tun. Liebe Antónia, ich habe Janet sehr gern gehabt, und es tut mir so leid, dass ich nicht auf der Beerdigung sein konnte. Es wäre so schön, wenn du kommen könntest. Janet hatte dies auch oft in ihren Briefen geschrieben, aber ich wollte nicht schon damals in euer Leben treten.

Du bist hier sehr willkommen und kannst bleiben, solange es Dir gefällt. Ich freue mich schon, dich nach all den Jahren wieder zu sehen.

Diana

„Du kommst also mit?“ fragte Mario, sobald Antónia aufblickte.

„Ich weiß noch nicht. Es kommt alles so überraschend.“

„Für uns warst du auch eine Überraschung, kleines Schwesterherz. Diana hat meinem Vater nie von dir erzählt und Jaime und mir erst, als sie die Nachricht von Mrs. Grants Tod erhielt.“

„Dann war es also ein Schock für euch, von mir zu erfahren?“

Mario stand auf. „Unsinn, Antónia, eher eine glänzend gelungene Überraschung.“ Er küsste sie leicht auf die Wange.

Verwirrt lehnte Antónia sich zurück.

Marios Augen bekamen einen merkwürdigen Ausdruck. „Ist denn nicht einmal ein brüderlicher Kuss erlaubt, querida?“

„Aber du bist doch gar nicht mein richtiger Bruder.“

Mario sah auf und lachte sie an. „Nein, zum Glück nicht.“

2. KAPITEL

Antónia war nervös beim Landeanflug. Zwischen den majestätisch wirkenden Berggipfeln lag der Boa-Vista-Flughafen. Mario ließ sie nicht einen Moment aus den Augen, um keine ihrer wechselnden Gefühlsregungen zu verpassen. Er nahm ihre Hand und schaute sie aufmunternd an. „Wir sind gleich da. Wie fühlst du dich?“

„Sehr aufgeregt.“

„Warum eigentlich? Diana ist so nett, ein richtiger Schatz, du brauchst dir wirklich keine Gedanken zu machen.“

„Ich weiß, aber es kam alles so plötzlich.“

Der Verkauf des Hauses war schneller und reibungsloser als erwartet verlaufen. Antónias Tanten waren eine große Hilfe bei den Reisevorbereitungen. Sie versicherten ihr auch, dass sie nach ihrer Rückkehr bei einer der beiden übergangsweise einziehen könnte, solange sie noch keine eigene Wohnung habe. Beide waren tief beeindruckt von Mario, ebenso Antónias Freundinnen, die sich zu einer spontanen Abschiedsparty versammelt hatten. Jane wollte sogar Genaueres von Mario wissen. „Hast du vielleicht Brüder, die ebenso nett sind wie du?“

Mario wurde kein bisschen verlegen. „Ich habe einen Bruder, Jaime, aber er ist mir nicht sehr ähnlich.“

Antónia war erleichtert. Zwei so gut aussehende Männer wie Mario um sich zu haben, wäre doch zu viel gewesen. Aber Mario wäre auch ohne sein ansprechendes Äußeres ein sehr attraktiver Mann gewesen. In der kurzen Zeit vor der Abreise hatte er Antónia durch seine fröhliche und warmherzige Art von ihrem Kummer abgelenkt. Abends hatten sie oft in gemütlichen Restaurants gegessen. Antónia dachte auch gern an den gemeinsamen Einkaufsbummel. Für Diana hatten sie eine Jacke aus Kaschmir gefunden, denn die Abende konnten während der Regenzeit am Lagoa del Rey kühl werden. Antónia kaufte ein paar leichte Sachen für sich, bevor sie mit Mario in einem Spielzeuggeschäft nach etwas Geeignetem für Marisa suchten.

Die Landebahn lag jetzt deutlich erkennbar unter ihnen. Antónias Spannung wuchs, je näher das Zusammentreffen mit Diana rückte. Was wäre, wenn sie einander nicht leiden könnten? So etwas kommt ja vor. Ein anderer Gedanke, so sehr sie auch versuchte ihn zu unterdrücken, quälte Antónia außerdem. Wer war ihr Vater? Vielleicht ein Kellner in dem Ferienort, in dem Diana vor zweiundzwanzig Jahren ihren schicksalhaften Urlaub verbracht hatte?

„Carinha.“ Mario unterbrach ihre Gedanken. „Mach bitte nicht so ein Gesicht. Niemand will dir etwas zuleide tun, ich schwöre es.“ Er lehnte sich zu ihr hinüber. „Allerdings, ich gebe es zu, manchmal reizt mich die Vorstellung, an deinem niedlichen kleinen Ohr zu knabbern.“

Antónia lachte und fühlte sich sofort besser. Er verstand es meisterhaft, ihr aus bedrückten Stimmungen herauszuhelfen. Sie verließen das Flugzeug und gingen bei strahlendem Sonnenschein zur Flughafenhalle. Als sie das Gepäck hatten und durch den Zoll gekommen waren, sah Antónia Mario fragend an. „Werden wir nicht abgeholt?“

„Diana wartet zu Hause auf uns. Aber hier ist schon Sabino.“ Er winkte aufgeregt einem dunkelhäutigen Mann zu, der wartend die Ankommenden betrachtete.

„Como vai, Senhor Mario?“ Er blickte Antónia lächelnd an und verstaute das Gepäck im Kofferraum des Kombi. Die vorderen Sitze boten genug Platz für drei Personen. Antónia saß in der Mitte und betrachtete aufmerksam die ungewohnte exotische Landschaft. Mario hatte seinen Arm um ihre Schultern gelegt, und sie empfand seine Wärme als angenehm. Die hohen Berge faszinierten sie genauso wie die Vegetation rechts und links der Straße. Mario zeigte auf die Silhouette der Stadt Boa Vista, die sich weiß und geometrisch verschachtelt vom blauen Himmel abhob. „Es sind nur noch ein paar Kilometer Sandweg bis zum Lagoa del Rey.“ Er begann eine kurze Unterhaltung auf Portugiesisch mit Sabino. Dann wandte er sich wieder Antónia zu. „Am Lagoa del Rey geht es allen gut. Seit Marisa sich von den Windpocken erholt hat, ist sie genauso quirlig wie vorher. Alle sind schon sehr gespannt auf dich und freuen sich sehr darauf, dich endlich kennenzulernen.“

Antónia holte tief Luft. „Sehe ich einigermaßen akzeptabel aus?“

„Sabino findet dich muito bonita, dem kann ich voll und ganz zustimmen.“

Antónia war nicht restlos überzeugt. Aber zumindest hatte ihr weißes Leinenkostüm die lange Reise erstaunlich gut überstanden. Der staubige Weg schlängelte sich jetzt in Kurven durch die rötlichen Berge immer weiter nach unten. Schließlich wurde der Blick auf den großen, im Sonnenlicht glitzernden See frei.

„Lagoa del Rey“, meinte Mario.

Staunend bewunderte Antónia das idyllische Haus am Berghang auf der anderen Seite des Sees. Sie hatte es sich viel kleiner vorgestellt und längst nicht so hübsch. Das rote Ziegeldach harmonierte gut mit den weißen Wänden und den farbenfroh blühenden Sträuchern ringsherum. An einem Steg hielt Sabino an. Er trug ihre Koffer in ein kleines Motorboot. Mario dankte dem davonfahrenden Chauffeur mit einem Wortschwall, sprang ins Boot und half Antónia hinein. „Die Straße führt einmal um den See herum. Wir nehmen die Abkürzung.“ Er startete geschickt den Motor. Die Gischt spritzte auf, und das schnittige Boot schoss wie ein Pfeil über das von der untergehenden Sonne bunt gefärbte Wasser.

Antónia war auf einmal sehr froh, in diesem herrlich abenteuerlichen Land zu sein. Sie nahm sich fest vor, alle Leute hier, besonders natürlich Diana, zu mögen.

Sie hatten das andere Ufer erreicht. Mario stoppte den Wagen vor einem kleinen Pfad. Sie stiegen aus und gingen durch einen blühenden Garten zum Haus hoch. Zu jeder anderen Zeit wäre Antónia stehen geblieben, um diese fremdartigen Bäume und Gewächse zu bewundern, aber jetzt konzentrierte sich ihre ganze Aufmerksamkeit auf die blonde Frau mit dem dunkelhaarigen Kind an der Hand, die die Verandatreppe herunterkam. Mario lief los und umarmte sie ungestüm, dann winkte er Antónia heran, hatte dabei aber noch seinen Arm um die schlanke Taille der Frau.

„Komm, kleine Schwester, dies ist Senhora Diana de Almeida. Diana, darf ich bekannt machen, Miss Antónia Luisa Grant.“

Das war also Diana. Einen Augenblick lang musterten sie sich schweigend, dann löste sich Diana aus Marios Umarmung, lächelte und nahm Antónias Hand. „Hallo, Antónia, ich freue mich so, dich zu sehen.“

Antónia suchte nach angemessenen Worten. „Hallo, ich freue mich auch.“ Sie lächelte unsicher. Diana war viel jünger, als sie erwartet hatte. Gut sah sie aus, mit sorgfältig gepflegtem Haar und grauen Augen. Ihrem feinen Gesicht sah man keineswegs an, dass sie über vierzig war.

Diana ließ Antónias Hand los, denn das Kind machte lautstark auf sich aufmerksam. „Marisa, dies ist deine Schwester Antónia. Ich habe dir schon erzählt, dass sie kein Portugiesisch versteht, also begrüße sie in ihrer Sprache, bitte.“

Das kleine braun gebrannte Gesicht unter den schwarzen Locken sah rebellisch drein.

„Hallo, Marisa.“ Antónia lächelte das Kind an.

Autor

Catherine George
Die öffentliche Bibliothek in ihrem Heimatort nahe der walisischen Grenze war der Ort, an dem Catherine George als Kind in ihrer Freizeit meistens zu finden war. Unterstützt wurde sie dabei von ihrer Mutter, die Catherines Lesehunger förderte. Zu einem Teil ist es sicher ihrer Motivation zu verdanken, dass Catherine George...
Mehr erfahren