Fernweh & Herzschmerz: Inselträume 1

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EINE INSEL, GESCHAFFEN FÜR DIE LIEBE

Aufgewühlt von dem Wiedersehen mit ihrem Jugendschwarm Jason ergreift Georgia die Flucht. Doch statt Ruhe und Abstand erwarten sie Konflikte und Verwirrung. Denn Jason ist ihr auf die einsame Insel in der Karibik gefolgt. Überwältigt vom Zauber des Augenblicks lieben sie sich - bis das alte Misstrauen neu erwacht …

DIE INSEL AM HORIZONT

Für die bildhübsche Tamara ist die Situation schwierig: Nach einem Schiffsunglück können sie und die Besatzung des Frachters sich zwar auf eine einsame Insel retten, aber die Männer sind sehr aufdringlich. Zum Glück macht der attraktive Keith ihr einen verlockenden Vorschlag …

INSELN DER ERFÜLLTEN TRÄUME

Die traumhaften Sonnentage auf Leons weißer Yacht sind eigentlich die ideale Kulisse für Jemmas Hochzeitsreise. Nur einen Schönheitsfehler haben die Tage in der Ionischen Inselwelt: Jemma befürchtet, dass der reiche Grieche Leon sie nur geheiratet hat, weil sie sein Kind erwartet...

INSEL DER SEHNSUCHT, INSEL DES GLÜCKS

Neben heftigem Zorn über ihre dreiste Entführung regt sich in Chloe auch so etwas wie Hoffnung, als sie ihrem Mann Leon auf der griechischen Insel Eos gegenübersteht. Denn bei allem Schmerz darüber, dass ihm seine Halbschwester damals offenbar wichtiger war als ihre Ehe, spürt Chloe, dass das Verlangen in Leons Blick Sehnsucht in ihr weckt …


  • Erscheinungstag 30.08.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733737665
  • Seitenanzahl 520
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Diana Hamilton, Kay Thorpe, Michelle Reid, Penny Jordan

Fernweh & Herzschmerz: Inselträume 1

IMPRESSUM

Eine Insel, geschaffen für die Liebe erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 1999 by Diana Hamilton
Originaltitel: „Mistress for a Night“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe ROMANA
Band 1332 - 2000 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Sabine Buchheim

Umschlagsmotive: GettyImages_LuckyBusiness

Veröffentlicht im ePub Format in 04/2018 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733756598

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

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1. KAPITEL

Jason Harcourt griff nach dem Telefon, hielt dann aber inne und ließ den Arm sinken. Entschlossen schob er beide Hände in die Taschen seiner abgetragenen dunklen Cordhose und straffte die breiten Schultern.

Der Raum engte ihn ein. Die überladenen französischen Antiquitäten, die Gemälde in den barocken Rahmen, die schweren Teppiche drohten ihn zu ersticken. Er ging zu den hohen, kunstvoll dekorierten Terrassentüren. Die dunklen Brauen über den grauen Augen zusammengezogen, blickte er finster in den winterlich-kahlen Park von Lytham Court hinaus.

Er hasste diesen Ort!

Es war sieben Jahre her, dass er zuletzt den Fuß über die Schwelle gesetzt hatte – abgesehen von der knappen Stunde, die er nach der Beerdigung von Harolds zweiter Frau Vivienne hier verbracht hatte –, und auch jetzt war er nur gekommen, weil ihm keine andere Wahl geblieben war. Lytham barg zu viele schlechte Erinnerungen.

Nach Viviennes Tod vor vier Jahren hatte er in gewisser Weise Frieden mit Harold geschlossen, dem Mann, der ihn vor fast dreißig Jahren nach der Hochzeit mit Jasons verwitweter Mutter adoptiert hatte. Als Dreijähriger hatte Jason ihn problemlos akzeptiert, zumal sein leiblicher Vater vor der Geburt des Sohnes bei einem Absturz in den Bergen umgekommen war.

Seine Mutter war an Leukämie gestorben, als er siebzehn gewesen war, und erst danach hatte er begonnen, seinen Adoptivvater mit anderen Augen zu betrachten.

Aber das war jetzt Vergangenheit, und der brüchige Frieden zwischen ihnen hatte nur überdauert, weil Jason darauf bestanden hatte, dass ihre seltenen Treffen im Londoner Club des alten Mannes stattfanden. Auf neutralem Boden. Inzwischen war er froh, dass er – wenn auch skeptisch – eingelenkt und Harolds Beteuerungen, er habe sich geändert, Glauben geschenkt hatte. Zumindest so viel war er seinem Adoptivvater schuldig gewesen.

Seine Zweifel waren jedoch in pure Ungläubigkeit umgeschlagen, als Harold ihm bei ihrer letzten Zusammenkunft vor zwei Monaten rundheraus verkündet hatte: „Georgia ist seit sechs Monaten wieder in England. Wir treffen uns ziemlich regelmäßig.“

Jason hatte bemerkt, wie die bloße Erwähnung ihres Namens Harolds müde, blasse Augen leuchten ließ und das hagere Gesicht des älteren Mannes belebte. Harold hatte seit Viviennes Tod langsam, aber sicher abgebaut, und allein dieser körperliche Verfall hatte Jason daran gehindert, den gemeinsamen Lunch abrupt zu beenden und aus der bedrückenden Atmosphäre des Clubs hinauszustürmen in die vermeintliche Normalität des Londoner Verkehrschaos.

„Du hast also immer noch Kontakt mit Georgia.“ In Jasons Worten schwang die alte Bitterkeit mit, die sich seiner stets bemächtigte, sobald er so unvorsichtig war, an Georgia zu denken.

„Seit Vivvie tot ist, ja. Möge sie in Frieden ruhen, aber sie war das einzige Hindernis dabei. Sie wollte nicht, dass man auch nur den Namen ihrer Tochter erwähnte.“ Harold schob seinen Teller beiseite.

Jason folgte seinem Beispiel. „Ich erinnere mich, dass du das Schweigen brechen und sie in New York anrufen wolltest, um sie über Viviennes Tod zu informieren“, begann er vorsichtig. Er hatte sich erboten, seine persönliche Abneigung außer Acht zu lassen und die Nachricht von dem tödlichen Autounfall zu überbringen, damit Harold diese Pflicht erspart blieb, doch der alte Mann hatte beharrt, es sei einzig und allein seine Aufgabe. Wie sich herausgestellt hatte, war alle Sorge überflüssig gewesen, sie hatte nicht einmal so viel Anstand gehabt, am Begräbnis ihrer eigenen Mutter teilzunehmen.

„Nun ja …“ Harold mied seinen Blick. „Es gab einige Dinge, die gesagt werden mussten, und ich habe sie gesagt“, erwiderte er geheimnisvoll. „Und ich denke, wir sind einander wieder recht nahe gekommen, seit die Angelegenheit bereinigt ist. Es ist nicht gut, alten Groll zu pflegen. Jedenfalls ist sie nun wieder nach England zurückgekehrt. Sie leitet in Birmingham ein Marketingteam der dortigen Niederlassung dieser Werbeagentur – du erinnerst dich sicher, dass sie ihre Freundin Sue begleitet hat, als deren Vater eine Filiale in New York eröffnete.“

Jason sah verzweifelt auf die Uhr. Er hatte genug. Natürlich erinnerte er sich!

„Wir könnten vielleicht mal ein Wochenende zu dritt auf Lytham verbringen“, schlug Harold vor. „Alte Streitigkeiten beilegen … Du und die kleine Georgia seid die einzigen Angehörigen, die ich noch habe.“

„Verschon mich mit diesen Sentimentalitäten.“ Jason warf seine Serviette auf den Tisch. „Das zieht bei mir nicht.“ Er stand auf.

„Es war zumindest einen Versuch wert.“ In den blassen Augen glomm plötzlich ein spöttischer Funken. „Du kommst doch, oder? Ich mache mit Georgia einen Termin aus. Es wird wie in alten Zeiten sein.“

Auf diese „alten Zeiten“ konnte Jason gut verzichten. „Vergiss es“, erklärte er und eilte hinaus.

Er hatte Harold nicht mehr wieder gesehen. Es war nicht seine Absicht gewesen, aber es hatte sich so ergeben. Nun, da Harold tot ist, tut es mir leid, dachte er, den Blick unverwandt auf die triste Landschaft gerichtet.

Inzwischen hatte es zu regnen begonnen. Eisige Tropfen prasselten gegen die Fensterscheibe, und der kurze Wintertag neigte sich dem Ende zu. Mrs. Moody, die Haushälterin, hatte ihm erzählt, dass für die Nacht ein schwerer Frosteinbruch vorhergesagt worden sei.

Die Straßenverhältnisse würden daher am nächsten Morgen ziemlich schlecht sein. Georgia würde es wahrscheinlich nicht riskieren, auf vereister Strecke zu fahren. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, einen Flug zu buchen, um dem Begräbnis ihrer Mutter beizuwohnen, also warum sollte sie bei Harolds dabei sein wollen?

Es sei denn, sie ist sich nicht völlig sicher, dass ihr Stiefvater ihr sein gesamtes Vermögen vererbt hat, und sie will sich darüber Klarheit verschaffen, überlegte Jason zynisch.

Ein entschlossener Zug umspielte seine Lippen, als er zum Telefon ging und den Hörer abnahm.

Georgia kramte gerade im untersten Regal des Küchenschranks nach einer Dose Instantkaffee, als das Telefon im Wohnzimmer klingelte.

„Ich gehe ran.“ Ben löste seinen großen, gertenschlanken Körper vom Türrahmen, an dem er bislang gelehnt und Georgias Suche beobachtet hatte. Das Lächeln, mit dem er sie bedachte, war ebenso sinnlich wie seine Stimme.

Während sie sich erneut dem Kaffeeproblem zuwandte, fragte sie sich unwillkürlich, warum sie sich so hartnäckig weigerte, sich mit ihm zu verabreden. Im Grund ihres Herzens kannte sie die Antwort. Es hatte nichts mit ihm und alles mit ihr zu tun.

Seit acht Monaten wohnten sie auf der gleichen Etage eines eleganten Herrenhauses aus der Jahrhundertwende, das in einzelne Apartments aufgeteilt worden war. Als sie nach sechsjährigem Aufenthalt in New York nach Birmingham zurückgekehrt war, hatte sie niemanden in der Stadt gekannt und war für Bens Freundschaft dankbar gewesen.

Häufig kam er abends vorbei, um mit ihr zu plaudern oder – wie jetzt – sich etwas zu borgen, manchmal brachte er eine Flasche Wein mit oder eine neue CD, von der er meinte, sie würde sie gern hören. Durchschnittlich einmal pro Woche schlug er ein gemeinsames Dinner vor, und anscheinend brach ihm nicht das Herz, wenn sie seine Einladung mit der gleichen Regelmäßigkeit ablehnte.

Sie wollte ihre zwanglose Freundschaft nicht durch Sex zerstören.

Als Georgia sich mit der Kaffeedose in der Hand aufrichtete, klingelte das Telefon noch immer. Es hatte einen beinahe bedrohlichen Klang. Sie eilte aus der Küche. Ben hatte den Apparat offenbar nicht gefunden – vermutlich lag irgendetwas darauf.

Deshalb hatte sie auch drei Wochen Urlaub genommen. Sie wollte endlich ihr Apartment in Ordnung bringen. Nachdem sie sich acht Monate lang in der Firma abgerackert hatte, war es an der Zeit, sich ein behagliches Heim zu schaffen.

Ben hatte mittlerweile das Telefon unter einem Stapel Vorhängen aufgestöbert. Sie hörte, wie seine sinnliche Stimme einen frostigen Tonfall annahm, als er mit dem Anrufer sprach. „Ja, das ist sie. Warten Sie einen Moment.“ Er reichte ihr den Hörer. „Es ist ein Mann“, erklärte er Georgia vorwurfsvoll. „Hat mir seinen Namen nicht verraten.“

Als ob kein anderes männliches Wesen außer ihm das Recht hätte, mit mir zu reden, dachte sie verärgert. Ohne auf Bens Stirnrunzeln zu achten, meldete sie sich am Apparat.

Falls es sich bei dem Anrufer um einen ihrer Mitarbeiter handelte, wollte sie nichts hören. Da sie soeben eine neue Werbekampagne für einen internationalen Eiskremkonzern präsentiert hatte, die von den Auftraggebern in den höchsten Tönen gelobt worden war, hatte sie sich den Urlaub redlich verdient.

Es war niemand aus ihrem Team. Es war Jason.

Sieben Jahre, sieben aufreibende Jahre, Jahre, die geprägt gewesen waren von Veränderung und dem inneren Kampf ums Vergessen, waren vergangen, seit sie das letzte Mal von ihm gehört oder ihn gesehen hatte. Und trotzdem besaß seine tiefe, ruhige Stimme noch immer die Macht, Georgia erstarren zu lassen: Herzschlag, Atmung, Hirnfunktion – all das schien ins Stocken zu geraten.

Warum rief er sie an?

„Bist du noch da?“

Der plötzliche Wechsel im Tonfall, die unterschwellige Härte, brachten sie jäh ins Reich der Lebenden zurück. Ihr Atem beschleunigte sich, ihr Herz raste, ihre Stimme bebte. „Ja, natürlich“, erwiderte sie. „Was willst du?“

Ihre Reaktion war zwar nicht sonderlich freundlich, aber es war auch nichts Freundliches an der Bitterkeit, die der bloße Klang seiner Stimme in ihr wachrief.

„Harold ist vor drei Tagen gestorben“, erklärte er kühl. „Es ging alles ganz schnell – eine Hirnblutung. Die Beisetzung findet morgen um elf statt. Ich finde, du solltest nach Lytham kommen und dich auf einen Aufenthalt von mindestens vierundzwanzig Stunden einrichten.“

Ein eiskalter Schauder lief Georgia über den Rücken. Trotz der Jeans und des warmen Pullovers fröstelte sie. Harold? Tot? Sie konnte es kaum glauben.

„Du kannst dich offenbar nicht entscheiden, ob du die Zeit erübrigen kannst“, fuhr Jason fort, als sie nicht antwortete. „Da Harold es mir erzählt hätte, wenn du verheiratet wärst, nehme ich an, du bist anderweitig mit dem Burschen liiert, der sich am Telefon gemeldet hat. Bring ihn mit, wenn du es nicht eine Nacht ohne ihn aushältst.“

„Ich würde dich und dein Benehmen niemandem zumuten, an dem mir etwas liegt.“ Sie war entsetzt, wie tief sie seine Unterstellung verletzte, sie könne nicht mal für eine Nacht auf einen Mann in ihrem Bett verzichten.

„Sei nicht kindisch“, entgegnete er gelangweilt. „Ich bitte dich nicht her, um das Vergnügen deiner Gesellschaft zu genießen, sondern weil du deinem Stiefvater Respekt schuldest – und noch einiges mehr.“

„Was soll das heißen?“ Worauf, zum Teufel, wollte er hinaus?

Er ignorierte ihren Einwurf. „Es gibt eine Menge zu regeln. Du weißt bestimmt längst, dass sein gesamter Besitz an dich geht. Das bedeutet, es müssen Entscheidungen getroffen, und es muss Verantwortung übernommen werden. Ich will sicherstellen, dass du deine Pflichten ernst nimmst – beispielsweise, was das Personal hier betrifft.“

Die Nachricht von Harolds Tod war ein Schock für sie gewesen, doch die Eröffnung, dass er – aus irgendeinem sonderbaren Grund – ihr sein Vermögen vermacht hatte, kam für sie noch überraschender. Sekundenlang war sie wie betäubt und achtete nicht auf Jasons weitere Worte.

Allmählich begann ihr Verstand wieder zu arbeiten. Ob Erbschaft oder nicht, es war ausgeschlossen, dass sie der Beerdigung fernblieb. Aber es war dunkel und regnete bereits seit vier Uhr nachmittags, der Wetterbericht hatte für die Nacht starken Frost vorausgesagt. Sie hatte keine Lust, ihr Leben – oder ihren neuen Sportwagen – zu riskieren, indem sie morgen früh über vereiste Straßen fuhr.

„Ich bin in ein paar Stunden bei dir“, versprach sie kurz angebunden und beendete das Gespräch.

Sollte Jason ruhig denken, sie könne es nicht abwarten, ihr Erbe anzutreten. Er hatte in den vergangenen sieben Jahren eine so schlechte Meinung über sie gehabt, dass sie in seinen Augen kaum noch tiefer sinken konnte.

Außerdem war ihr das jetzt völlig gleichgültig. Sie hatte sich sowohl innerlich als auch äußerlich von Grund auf verändert und ähnelte nicht im Entferntesten mehr dem naiven Teenager von einst. Sie hatte hart an sich gearbeitet, damit nichts sie mehr verletzen konnte – und schon gar nicht Jasons unverminderte Verachtung.

Nichtsdestotrotz stiegen ihr plötzlich Tränen in die Augen. Tränen, die ihrem jüngeren Selbst, lang vergessenen, aussichtslosen Träumen und einem verlorenen Kind galten.

Sie blinzelte sie fort und straffte die Schultern. Sie dachte nie an die Vergangenheit.

„Schlechte Nachrichten?“ Ben legte ihr den Arm um die Schultern.

„Mein Stiefvater ist gestorben“, erklärte sie angespannt. „Ich werde noch heute Abend nach Gloucester fahren, bevor die Straßen sich in eine Rutschbahn verwandeln.“

„Das tut mir leid.“ Er verstärkte seinen Griff und zog sie an sich. „Und wer war der Mann am Telefon?“

„Ist das so wichtig?“, fragte sie gereizt. Er benahm sich ja gerade so, als hätte er irgendwelche Rechte in ihrem Leben. Gleich darauf lenkte sie jedoch seufzend ein. „Mein Stiefbruder Jason. Ich kenne ihn kaum.“

Das war die reine Wahrheit. Jener Mann, von dem ihr anderes, längst vergessenes Selbst geglaubt hatte, es würde ihn mit ganzem Herzen und aus tiefster Seele lieben, hatte nie existiert. Aus Einsamkeit und mangelnder Liebe hatte sie sich einen Fantasieliebhaber erschaffen, einen perfekten Menschen – und für diese Jugendtorheit hatte sie bitter büßen müssen. Und trotzdem … Ein paar Sekunden lang hatte der Klang seiner Stimme sie berührt, als wäre der plumpe Teenager, der ihn so lange und so unerschütterlich geliebt hatte, zu neuem Leben erwacht und würde in ihrem erwachsenen Körper um Anerkennung kämpfen.

Das war natürlich Unsinn.

„Möchtest du, dass ich dich fahre?“, erkundigte Ben sich fürsorglich. „Wenn du zu aufgewühlt bist … Also, für mich wäre das kein Problem.“

Georgia presste die Lippen zusammen, um eine scharfe Erwiderung zu unterdrücken. Dann atmete sie tief durch. „Nein, danke. Ich bin nicht aufgewühlt – ehrlich.“

Ben vertrat die Auffassung, dass keine Frau im Stande wäre, ein Auto zu lenken, und das gesamte weibliche Geschlecht per Gesetz von den Straßen fern gehalten werden sollte. Als sie sich ihren lang gehegten Traum erfüllt und einen schnittigen Sportwagen gekauft hatte, war er beinahe in Panik geraten.

Momentan war sie allerdings nicht in der Stimmung, seine altmodischen Ansichten von der komischen Seite zu betrachten. Sie reichte ihm die Kaffeedose. „Deshalb bist du doch hier, oder?“

„Oh, nun ja … Pass auf dich auf. Rase nicht wie eine Verrückte.“

„Hör auf, mich zu bemuttern.“

„Du weißt – oder solltest es zumindest inzwischen wissen –, dass ich für dich keineswegs eine Mutter sein will.“ Er drückte erneut ihre Schultern, und diesmal bot er ihr nicht nur seinen Trost. „Warum erlaubst du mir nicht, dir zu zeigen, was ich gern sein möchte? Vielleicht bist du ja angenehm überrascht, und es gefällt dir.“

Georgia zuckte zusammen. Hatte sie ihm nicht mindestens ein Dutzend Mal gesagt, dass sie weder mit ihm noch mit irgendeinem anderen Mann eine sexuelle Beziehung eingehen wolle? Und zwar niemals.

Sex ruinierte Beziehungen. Er hatte Jason veranlasst, sie eine Nacht lang wie eine Geliebte zu behandeln und dann zu verachten. Er hatte ihre Mutter veranlasst, sie praktisch von dem Moment der Empfängnis abzulehnen, weil ihr Verlobter sich aus dem Staub gemacht hatte, als er von der Schwangerschaft erfuhr. Für Vivienne war sie stets nur eine ungewollte Belastung gewesen, ein Schandfleck in ihrem Leben.

Und Sex hatte an jenem schicksalhaften Tag auf Lytham auch Harolds Gedanken beherrscht und für sie alles zerstört. Ja, Georgia hatte schon vor langer Zeit entschieden, dass sie ohne Sex leben konnte.

Sie riss sich von Ben los. Wenn er die Botschaft bis jetzt nicht verstanden hatte, würde er es nie begreifen. Sie hatte keine Lust, noch mehr Zeit auf dieses Thema zu verschwenden.

„Ich muss packen. Mach die Tür hinter dir zu.“

Georgia fuhr schnell, aber sicher. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie ein Teil des lang gestreckten, flachen Sportcoupés. Sobald sie hinter dem Lenkrad saß, ließ die innere Spannung nach, das leise Brummen der kraftvollen Maschine, während sie Meile um Meile zurücklegte, verhieß grenzenlose Freiheit.

Bei Brockworth verließ sie die Autobahn und bog auf die Landstraße ab. In Richtung Lytham Court. Zu Jason.

Jason. Schäumte er vor Wut, weil er in Harolds letztem Willen nicht berücksichtigt worden war – im Gegensatz zu ihr, der zutiefst Verachteten?

Was erwartete er eigentlich von ihr? Ein spöttisches Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie über diese Frage nachdachte.

Ein in Tränen aufgelöstes Geschöpf, das er nach Belieben herumschubsen konnte? Jemand, dem er selbstherrlich die Klauseln des Testaments darlegen konnte, um dann überheblich in der Gewissheit zu verschwinden, dass sie seine Worte genauestens befolgen würde?

Und körperlich? Falls er überhaupt einen Gedanken an diesen Aspekt verschwendet hatte. Würde er eine ältere Ausgabe der vernarrten Achtzehnjährigen erwarten? Dass die üppigen Formen – der Fluch ihrer jungen Jahre – sich zu reifer Rundlichkeit entwickelt hatten? Dass sie das mausbraune Haar noch immer kurz trug, weil sie damit nichts Besseres anzufangen wusste? Dass sie ihn mit geradezu kindischer Bewunderung anhimmelte und wie früher ihre Garderobe im Kaufhaus erstand?

Nun, dann stand ihm eine echte Überraschung bevor!

Das gedämpfte, aber sonore Brummen eines fremden Automotors durchbrach die Stille auf Lytham Court. Jason schob die Papiere zusammen und deponierte sie wieder im Wandsafe, verschloss den Tresor und steckte den Schlüssel in die Tasche, dann ging er in die Halle hinaus.

In ein paar Stunden, hatte sie gesagt. Er wartete und versuchte, die verkrampften Schultermuskeln zu lockern. Er wartete und überlegte.

Er fragte sich, ob es ihm gelingen würde, mit ihr die Arrangements der Beisetzung zu besprechen und ihr zu raten, wie sie am besten mit dem gewaltigen Vermögen verfahren solle, das bald ihr gehören würde, ohne die bittere Verachtung durchklingen zu lassen, die er für sie empfand.

Er fragte sich, ob sie noch immer die Dreistigkeit haben würde, ihn mit großen, treuherzigen Augen anzublicken. Fragte sich einmal mehr, wie er je auf ihre vermeintliche Unschuld hatte hereinfallen können.

Er wartete und überlegte, ob sie ungeniert hereinkommen würde – schließlich war es ihr Haus oder würde es zumindest bald sein. Oder würde sie an der Tür läuten, so schüchtern und zurückhaltend wie einst – jedenfalls nach außen hin, während sie insgeheim nur ihren Vorteil suchte und sich keinen Deut um die Konsequenzen scherte?

Sie kam ungeniert herein. Sie blieb an der offenen Haustür stehen und schaute ihn an.

Er erwiderte ihren Blick, unfähig, dem Blick ihrer bernsteinfarbenen Augen auszuweichen, und unfähig zu glauben, was er sah.

2. KAPITEL

Als ihre Blicke sich trafen, stockte Georgia der Atem. Sieben Jahre hatten auf seinen attraktiv-markanten Zügen und an seiner breitschultrigen, schlanken Gestalt Spuren hinterlassen. Obwohl sie nie zurücksah, konnte sie nicht verhindern, dass ihre Gedanken in die Vergangenheit schweiften. Jasons Anblick genügte, um die Erinnerungen zu wecken …

Sie war achtzehn Jahre alt und bis über beide Ohren verliebt. Sie liebte ihn, seit sie ihn zum ersten Mal vor drei Jahren auf der Hochzeit ihrer Mutter mit seinem Adoptivvater Harold Harcourt gesehen hatte.

Er mochte sie, das wusste sie. Bei seinen gelegentlichen Besuchen auf Lytham Court, dem luxuriösen Familienbesitz, achtete er stets darauf, Zeit mit ihr zu verbringen, interessierte sich für sie und war immer nett. Ihre stille Hoffnung, seine Zuneigung könnte sich in etwas Ernsteres verwandeln, wurde zusätzlich durch eine Bemerkung von Mrs. Moody, der Haushälterin, genährt: Jason kam nie, wenn sie im Internat war, in das ihre Mutter sie unmittelbar nach der Geldheirat verfrachtet hatte.

Also saß sie, eine naive, pummelige Achtzehnjährige, noch lange, nachdem ihre Mutter und Harold sich zur Nacht zurückgezogen hatten, aufrecht im Bett und nahm all ihren Mut zusammen, um in Jasons Zimmer zu gehen und mit ihm zu reden. Sie wollte ihm von dem Job in New York erzählen, den man ihr angeboten hatte, und ihn fragen, ob er sie vermissen würde – falls es nämlich so sein sollte, würde sie nicht abreisen.

Seit sie nach den Abschlussprüfungen im Frühsommer nach Lytham Court zurückgekehrt war, hatte Harold ihr schreckliches Unbehagen eingeflößt. Er erkundigte sich ständig nach ihren Freunden und schien sie mit lüsternen Blicken förmlich auszuziehen – besonders wenn Vivienne, ihre Mutter, nicht in der Nähe war. Und ihre Mutter legte keinen Wert auf ihre Gesellschaft, das hatte sie noch nie getan. Wären nicht Jasons Besuche gewesen, hätte Georgia in diesem Sommer keinen Tag auf Lytham Court verbracht, sondern wäre der Einladung ihrer Freundin Sue gefolgt. Sie hätte mit Sue und deren Familie Pläne für die im November anstehende Übersiedlung nach New York geschmiedet und das Stellenangebot in der neuen Werbeagentur akzeptiert, die Sues Vater in den Staaten aufbauen sollte.

Aber wie hätte sie Jason verlassen können? Wie hätte sie abreisen können, solange auch nur ein Funken Hoffnung bestand, dass er sie irgendwann genauso lieben würde wie sie ihn?

Sues Anrufe, mit denen sie sie anflehte, sich endlich zu entscheiden, wurden immer drängender. Ja, sie, Georgia, musste eine Wahl treffen, und der einzige Mensch, der ihr dabei helfen konnte, war Jason.

Sie schlug die leichte Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. Bei seiner Ankunft zu dem lang ersehnten Wochenendbesuch hatte Jason das Abendessen abgelehnt und war direkt auf sein Zimmer gegangen.

„Ich habe mich wohl erkältet“, hatte er erklärt. „Die Beschwerden haben auf der Herfahrt begonnen. Am besten kuriere ich mich mit Aspirin und Whisky und halte mich von euch fern.“

„Tu das.“ Vivienne war in die entfernteste Ecke des Zimmers zurückgewichen und hatte mit den Händen herumgewedelt, als könnte sie so jeden Krankheitserreger abwehren. „Harold und ich wollen deine grässlichen Viren nicht!“

Harold hatte lediglich die Schultern gezuckt, und Georgia hätte die beiden am liebsten geohrfeigt. Merkten sie denn nicht, dass Jason schlecht aussah? War ihnen das egal?

„Ich koche dir Kakao und bringe ihn dir hinauf“, hatte Georgia sich erboten, um ihm zu zeigen, dass zumindest sie sich um seinen Gesundheitszustand sorgte. „Oder vielleicht eine Suppe?“

„Danke, Kleines.“ Jason hatte zum ersten Mal gelächelt, und seine Augen hatten aufgeleuchtet, als sein Blick auf ihr ruhte. „Ich habe wirklich keinen Appetit. Wir sehen uns morgen früh.“ Er hatte die Whiskyflasche von der Anrichte genommen und das Zimmer verlassen.

Georgia hatte also keine Gelegenheit gehabt, mit ihm zu reden. Aber das konnte sie nun nachholen.

Sie wollte ihn nicht lange stören – gerade lange genug, um ihm von der versprochenen Stellung zu berichten und ihm zu erzählen, was sie für ihn fühlte. Solange auch nur die geringste Chance bestand, dass er eines Tages ihre Gefühle erwidern könnte, wollte sie nicht durch den Atlantik von ihm getrennt sein.

Falls er ihr jedoch nicht mehr als Freundschaft bieten konnte, würde sie ein neues Leben in Amerika anfangen. Der Gedanke, ihm ihr Herz zu offenbaren, erschreckte sie, dennoch musste sie es tun. Sues Eltern würden nicht ewig auf ihre Entscheidung warten.

Zitternd vor Nervosität huschte Georgia den Flur entlang und in Jasons Zimmer.

Er war eingeschlafen, die Lampe auf seinem Nachttisch brannte noch. Ihr war also eine Gnadenfrist vergönnt, und sie begann, sich ein wenig zu entspannen. Obwohl sie wusste, dass sie jederzeit hinausschlüpfen und ihn dem heilsamen Schlaf überlassen könnte, brachte sie es nicht über sich.

Stattdessen ging sie zum Bett. Ihre nackten Füße verursachten auf dem dicken Teppich keinerlei Geräusch. Erst jetzt dämmerte ihr, dass sie in Anbetracht der ernsten Aussprache, die sie im Sinn gehabt hatte, zumindest einen Morgenmantel über das dünne Baumwollnachthemd hätte anziehen sollen, das ihre üppigen Formen kaum verbarg.

Aber die Nacht war warm, und Georgia hatte an nichts anderes denken können als an das, was sie ihm sagen wollte. Das war allerdings jetzt nicht mehr wichtig. Er schlief, und sie würde ihn nicht aufwecken.

Vorsichtig setzte sie sich auf die Bettkante. Er wirkte noch immer fiebrig. Feine Schweißperlen schimmerten auf seiner gebräunten Haut, das Laken war ihm bis zu den Hüften herabgerutscht. Ein leichter Whiskydunst umgab ihn, und plötzlich war Georgia froh über den Virus, denn der Alkohol hatte Jason betäubt.

Er war so schön. Er konnte jede Frau haben, die er wollte. Wie hatte sie nur so dumm sein können, auch nur eine Sekunde zu glauben, er würde sie begehren?

Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie blinzelte sie fort und sagte sich, sie müsse dankbar sein, dass ihr eine große Demütigung erspart geblieben sei.

Wäre er wach gewesen, und hätte sie ihm all den Unsinn erzählt, hätte sie sich und ihn in tiefe Verlegenheit gestürzt, das war ihr nun klar. Die Freundschaft und Zuwendung, die er ihr in der Vergangenheit bewiesen hatte, bedeuteten nur eines: dass er Mitleid für den unscheinbaren, plumpen Teenager empfand, der sich in der luxuriösen Umgebung von Lytham Court fehl am Platze fühlte, zumal Georgias Mutter offen zeigte, wie wenig ihr an ihrer Tochter gelegen war.

Sie würde also nach New York gehen und etwas aus ihrem Leben machen, aber zuvor wollte sie die kostbare, gestohlene Zeit mit dem Mann genießen, den sie von ganzem Herzen liebte. Nur noch ein paar Minuten, um sich stumm von ihm zu verabschieden.

Tränen glitzerten an ihren Wimpern, als sie zart, ganz zart seine nackte Schulter berührte. Sie wollte ihn keinesfalls wecken, doch sie brauchte eine Erinnerung daran, wie seine Haut sich anfühlte.

Er glühte vor Fieber. Sie hob die Hand und legte sie ihm auf die Stirn, strich ihm eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht und zeichnete dann, ohne sich ihrer Handlungen recht bewusst zu sein, die Konturen seiner Wange und seines Mundes nach. Einem inneren Zwang folgend, ließ sie die Finger über seinen Hals, seine Schulter und den muskulösen Arm hinabgleiten.

Plötzlich schlug er die Augen auf, packte ihre Hand und zog ihre Finger zu seiner breiten Brust. Dort presste er sie auf sein heftig pochendes Herz.

Nach dieser Geste blieb keine Zeit mehr für Erklärungen, was sie in seinem Zimmer wollte, denn er verschloss ihr den Mund mit einem wilden Kuss. Für Georgia versank die Welt um sie her. Es existierten nur noch sie und er und die Leidenschaft, die sie beide mitriss.

Sie brauchte ihn nicht mehr zu fragen, ob er sie je lieben könnte. Er hatte ihr die Antwort bereits gegeben.

Georgia erwachte in ihrem eigenen Bett, konnte sich jedoch nicht daran erinnern, wie sie dorthin gelangt war. Hatte Jason sie getragen? Sie war so glücklich, dass sie meinte, ihr Herz hätte Flügel. Jasons Liebesspiel hatte ihre kühnsten Träume übertroffen. Er hätte nicht so leidenschaftlich sein können, wenn er sie nicht lieben würde.

Voller Vorfreude eilte sie zum Frühstück hinunter. Heute würden sie reden. Sie musste sich wegen New York entscheiden, obwohl die Ereignisse der letzten Nacht dieses Problem eigentlich bereits gelöst hatten. Ihre Zukunft war hier bei dem Mann, den sie liebte.

Das elegant möblierte Esszimmer war leer. Ein kurzer Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie zu früh dran war. Mrs. Moody servierte das Frühstück immer erst gegen halb zehn. Georgias Mutter und Stiefvater standen erst spät auf.

Georgia lächelte verträumt, ihre Augen strahlten. Sie würde Jason das Frühstück auf einem Tablett hinauftragen. Saft, Toast, Honig und Kaffee. Sie würden sich in aller Ruhe unterhalten. Und wenn sie ihm von ihrer Liebe berichtete, würde er ihr sagen, dass er das Gleiche empfinde, und sie küssen. Dann würde er sie vielleicht auffordern, zu ihm ins Bett zu kommen, sie langsam ausziehen und dann …

Ihr Herz klopfte so wild, als wollte es zerspringen. Rasch drehte sie sich um und wollte zur Küche eilen, als Jason eintrat.

Unfähig, ein Wort herauszubringen, schaute sie ihn sehnsüchtig an. Er sah blass aus, die schiefergrauen Augen wirkten im Kontrast zu seinem hellen Teint dunkel, die feinen Linien an seinen Mundwinkeln waren tiefer als sonst.

Er fuhr sich durchs dichte dunkle Haar, eine Geste, der Georgia nur zu gern gefolgt wäre. Ihr war natürlich klar, dass sie an solche Dinge nicht denken durfte, solange es ihm nicht gut ging.

„Ich hole dir etwas zu essen“, bot sie besorgt an. „Kaffee, Saft, Eier – was du willst.“

Jason schüttelte den Kopf und schloss kurz die Augen. Als er sie wieder aufschlug, erkannte sie das Bedauern in seinem Blick, hörte es in seiner Stimme. „Was heute Nacht betrifft … Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich das, was passiert ist, bereue. Du weißt, ich mag dich, Georgia. Ich wollte dir auf keinen Fall wehtun.“

„Das hast du nicht!“, protestierte sie. „Wie kannst du das nur denken? Die letzte Nacht …“ Heiße Röte stieg ihr bei der erotischen Erinnerung in die Wangen. Er hatte ihr eine neue und völlig unerwartete Welt eröffnet. Sie schluckte trocken. „Die letzte Nacht war das Schönste, was ich je erlebt habe.“ Sie sehnte sich danach, zu ihm zu gehen und sich an seine breite Brust zu schmiegen, aber seine abweisende Miene hinderte sie daran. Tränen der Enttäuschung brannten ihr in den Augen. „Du darfst nicht bereuen, was letzte Nacht geschehen ist. Ich kann es nicht ertragen. Es war alles meine Schuld.“ Und das stimmte. Sie hätte es nie zulassen dürfen. Sie hatte seine Verletzlichkeit schamlos ausgenutzt.

„Nein.“ Er wandte sich von ihr ab und schob die Hände in die Taschen seiner engen Jeans. „Die Verantwortung liegt allein bei mir. Ich bin acht Jahre älter und sollte mehr Selbstbeherrschung haben, verdammt! Ich hätte dich in dein Zimmer und zu deinen Teddybären zurückschicken müssen.“

„Sag das nicht – ich bin kein Kind mehr!“ Seine Worte zerrissen ihr fast das Herz. Sie war im Begriff, alles zu verlieren, von dem sie gehofft hatte, sie hätte es gewonnen. Sie verlor ihn. Das durfte nicht sein. Sie würde es nicht erlauben. „Jason – ich liebe dich! Verstehst du?“

Er drehte sich zu ihr um. Für den Bruchteil einer Sekunde wirkten seine Züge weicher, und einen winzigen Moment lang flammte neue Hoffnung in ihr auf – um sogleich wieder zu erlöschen, als er leise erwiderte: „Glaub mir, das bildest du dir nur ein. Heute Nacht war das erste Mal für dich.“ Er sah sie so eindringlich an, als könnte er sie mit seinem Blick zwingen, das zu glauben, was er wollte. „Das ist nun mal so. Es ist nur natürlich, dass du dir einbildest …“

„Ich bilde mir nichts ein – zumindest so viel Verstand solltest du mir zubilligen“, unterbrach sie ihn empört. „Ich habe mich schon bei unserer ersten Begegnung in dich verliebt, und seither liebe ich dich.“ Er musste erfahren, wie tief und unerschütterlich ihre Gefühle für ihn waren. Er durfte nicht denken, dass sie nur aus einer Laune heraus mit ihm geschlafen hatte. Trotzig hob sie das Kinn.

„Du bist achtzehn, Georgia, und für heutige Verhältnisse geradezu unglaublich unschuldig. Falls du überhaupt etwas für mich empfindest, dann kann es nichts anderes sein als Schwärmerei.“ Er streckte die Hand nach ihr aus, zog sie aber sofort wieder zurück. „Glaub mir, Liebes, du bist noch viel zu jung, um deine eigenen Gefühle zu verstehen. Und ich habe nicht die Absicht, deine Unschuld noch mehr auszunutzen, als ich es bereits getan habe. Versuch zu vergessen, dass es überhaupt passiert ist. Du hast noch dein ganzes Leben vor dir. Ich werde für dich da sein, wann immer du mich brauchst, das weißt du.“

Ohne ein weiteres Wort, ohne einen Blick zurück verließ er den Raum, und eine Stunde später verließ er auch Lytham Court.

Georgia litt unbeschreiblich unter der Trennung.

Die folgenden Wochen durchlebte sie wie in Trance. Sie schlich durch das Haus, reizte ihre Mutter und veranlasste Harold zu viel sagenden Blicken und anzüglichen Bemerkungen.

„Schimpf nicht mit ihr, Vivvie. Sie hat Liebeskummer, merkst du das nicht? Hat dein Freund dich sitzen lassen, Süße? Dann ist er ein Dummkopf – so ein niedliches, wohlgeformtes Ding wie dich!“

Trotz allem konnte sie sich nicht zur Abreise überwinden. Sie hatte Sue und deren Eltern zwar mitgeteilt, dass sie sich entschlossen habe, das Angebot anzunehmen, aber bislang hatte sie die telefonischen Befehle ihrer Freundin ignoriert, sie möge sich „endlich aufraffen und zu uns kommen, damit wir planen, was wir im ‚Big Apple‘ anstellen können – sofern Dad uns überhaupt von unseren Sklavenjobs in der Agentur freigibt.“

Zum ersten Mal hatte Georgia kein Interesse an einer unbeschwerten Plauderei mit der lebhaften Sue gehabt.

Sie wartete auf Jason. Hoffte, er würde sich die Zurückweisung noch einmal überlegen, redete sich ein, er würde ihr nicht aus dem Weg gehen, sondern hätte nur einen weiteren Streit mit Harold gehabt. Die beiden standen sich nicht sehr nahe – genau wie sie und ihre Mutter. Oder vielleicht war er auch nur zu beschäftigt, um zu kommen. Er war erst kürzlich als Juniorpartner in eine renommierte Londoner Anwaltskanzlei eingetreten, die sich auf Bestechungs- und Betrugsfälle spezialisiert hatte, und musste sich möglicherweise auf seine Arbeit konzentrieren.

Tief in ihrem Herzen wusste sie jedoch, dass sie sich etwas vormachte. Er kam nur deshalb nicht, weil er sie nicht wieder sehen wollte.

Schließlich gab sie Sues Drängen nach und informierte ihre Mutter über ihre Zukunftspläne. Sie war gerade beim Kofferpacken, als sie eine Entdeckung machte, die sie aus ihrer Lethargie riss.

Sie war schwanger!

Georgia geriet in Panik. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Vivienne würde ihr weder Mitgefühl noch Verständnis entgegenbringen und sie sehr wahrscheinlich zu einer Abtreibung überreden wollen. Und was Harold betraf … Auf gar keinen Fall wollte sie sich seinen wissenden, gierigen Blicken aussetzen!

Jason war der Einzige, an den sie sich wenden konnte. Hatte er nicht gesagt, er sei immer für sie da, wenn sie ihn brauche? Und hatte er nicht dazu beigetragen, dass dieses neue Leben in ihr wuchs?

Spät am Abend, als sie sicher sein konnte, dass er in seinem Apartment war, wählte sie seine Londoner Nummer. Nachdem sie ihm alles erzählt hatte, hielt sie den Atem an. Ihr Puls raste.

„Du bist dir also völlig sicher?“ Mehr äußerte er nicht.

„Ich würde nicht anrufen, wenn …“

„Okay. Beruhig dich. Ich komme gleich morgen früh zu dir. Wir werden eine Lösung finden. Und Georgia … Mach dir keine Sorgen.“

Das war leichter gesagt als getan.

Sie lag die ganze Nacht wach und fragte sich, ob seine „Lösung“ eine diskrete Abtreibung beinhalten würde. Niemals, selbst unter Druck, würde sie einwilligen, das Leben ihres ungeborenen Kindes zu beenden. Er oder sie war ein Teil von Jason, den ihr niemand nehmen konnte. Wenn sich die erste Aufregung gelegt hatte, würde sie in Ruhe darüber nachdenken, wie sie das Kind allein aufziehen konnte.

Jason traf am nächsten Morgen um acht Uhr, also lange bevor Harold und Vivienne aufstanden, auf Lytham ein und lehnte Mrs. Moodys kühles Angebot ab, ihm Frühstück zu machen. Die Haushälterin redete nie mehr als unbedingt nötig, und Georgia hatte sie noch nie lächeln gesehen, aber der Blick, den die Frau ihr und Jason zuwarf, sprach Bände.

Jason nahm sie beim Arm und führte sie aus dem Haus in den sorgsam gepflegten Garten. „Wir heiraten so schnell wie möglich.“

Eine Hochzeit mit Jason war das, wonach sie sich immer gesehnt hatte … Georgia sank auf eine prunkvoll verzierte schmiedeeiserne Bank. Ihr brach der kalte Schweiß aus. „Das musst du nicht.“

„Ich weiß, dass ich es nicht muss. Niemand zwingt mich mit geladener Waffe dazu.“

Er hatte sich über sie gebeugt, den Rücken der Sonne zugewandt. Sein Gesicht lag im Schatten, sodass sie seine Miene nicht erkennen konnte. Trotzdem wusste sie, dass sein Gesicht genauso ausdruckslos und frei von Emotionen war wie seine Stimme.

„Es ist der einzige Ausweg“, fügte er hinzu. „Ein Abbruch kommt nicht in Frage, also denk nicht einmal darüber nach. Ich bin der Vater und sowohl für dich als auch für das Baby verantwortlich. Mein Kind soll den bestmöglichen Start ins Leben haben und eine richtige Familie mit beiden Elternteilen als Bezugspersonen. Und das bietet nur die Ehe.“

Das war genau das, was sie wünschte, aber würde es auch funktionieren? Er liebte sie nicht, und ohne die Schwangerschaft wäre er ihr wahrscheinlich weiter aus dem Weg gegangen.

Während sie die Hände auf dem Schoß faltete, fuhr er fort: „Ich kann nicht bleiben. Im Moment stecke ich bis über beide Ohren in Arbeit, aber in der nächsten Woche werde ich das Aufgebot bestellen. Nach der Hochzeit kannst du bei mir einziehen, und sobald ich mehr Zeit habe, suchen wir uns etwas Passenderes. Ein Apartment in der Stadt ist nicht gerade die ideale Umgebung für ein Kind.“

Dies war nicht unbedingt der Heiratsantrag, den Georgia sich erträumt hatte. Sie presste die Lippen zusammen.

„Es wird alles gut, das verspreche ich“, beteuerte er sanft. „Wir werden eine gute Ehe führen.“ Er strich ihr leicht über das kurze Haar. „Aber nun muss ich gehen, heute in einer Woche bin ich wieder hier. Wir teilen die Neuigkeit den Eltern beim Dinner mit. Sag solange nichts. Falls es Ärger gibt, werde ich ihn auf mich nehmen.“

Eine gute Ehe. Wenn er das Beste daraus machen wollte, würde sie es auch tun. Als Gattin eines aufstrebenden jungen Anwalts musste sie jedoch ihr Äußeres verändern, und so verbrachte sie fast die ganze Woche auf der Suche nach passender Garderobe, denn wie sollte er stolz auf eine Ehefrau sein, die in unvorteilhaft weiten Hosen und Tops herumlief?

Erst am Nachmittag des großen Tages fand sie das perfekte Kleid für das bedeutsame Dinner. Sie wollte etwas tragen, das dem Anlass angemessen war, um vor Harold und Vivienne älter und weltgewandter zu erscheinen und Jason zu beweisen, dass sie wirklich bereit war, sich Mühe zu geben.

Georgia betrat, mit Tüten und Schachteln beladen, das Haus durch den Küchentrakt, wo ihr Mrs. Moody begegnete.

„Mrs. Harcourt hat dich gesucht. Du findest sie im Wintergarten.“

„Danke.“ Mehr war nicht zu sagen.

Mrs. Moody ermutigte niemanden zum Plaudern. Zum ersten Mal fühlte Georgia sich jedoch nicht durch die ernste Miene und den frostigen, missbilligenden Blick eingeschüchtert. Und während sie auf ihr Zimmer eilte, um sich für Jason und die bevorstehende Ankündigung umzukleiden, wuchs ihr Selbstvertrauen noch mehr. Vivienne konnte warten, Georgia hatte Wichtigeres zu tun, als den endlosen Klagen ihrer Mutter zuzuhören.

Nach Viviennes Hochzeit mit Harold Harcourt, für den sie eine Zeit lang aushilfsweise als Privatsekretärin gearbeitet hatte, war Georgia von der verschwenderischen Ausstattung seines Hauses und seinem unermesslichen Reichtum überwältigt gewesen. Da sie derartigen Luxus nicht gewöhnt gewesen war, hatte sie aus Furcht, auch nur eine falsche Bewegung zu machen, zutiefst verunsichert reagiert.

Ihre Mutter hingegen hatte den neuen Lebensstil wie selbstverständlich akzeptiert, als hätte sie nicht immer jeden Penny zweimal umdrehen müssen, um sich und ihr ungewolltes Kind zu ernähren. Sie genoss es, dass ihr jeder Wunsch von den Augen abgelesen wurde. Nach all den vermeintlichen Entbehrungen besaß sie plötzlich mehr Modellkleider, als sie je tragen konnte, und verfügte überdies über ein Ferienhaus in der Karibik.

Nun, Vivienne konnte all das gern behalten! Georgia war im Begriff, ein neues Leben zu beginnen – mit Jason und ihrem Baby. Vorsichtig hob sie das schwarze Kleid aus einer der Schachteln und breitete es auf dem Bett aus.

Es hatte Klasse. Der asymmetrisch geschnittene schwarze Seidenjersey saß perfekt. Zugegeben, es war kurz – der Rock endete gut zehn Zentimeter über ihren Knien –, und das Oberteil ähnelte einem Mieder. Bei der Anprobe hatte es sie schlank aussehen lassen, sinnlich, aber nicht übergewichtig.

Schlichte schwarze Pumps mit geradezu atemberaubend hohen, schmalen Absätzen vervollkommneten das Outfit und verliehen ihr die Größe, die die Natur ihr verwehrt hatte. Zu ihrem Leidwesen hatte Georgia zu wachsen aufgehört, als sie die Eins fünfundfünfzig erreicht hatte.

Nach dem Duschen tupfte sie Parfüm auf ihren Körper – einen verführerischen, exotischen und schamlos teuren Duft. Zu Harolds Verteidigung musste gesagt werden, dass er ihr ein großzügiges Taschengeld zahlte. Sie hatte es bislang kaum angerührt, aber an diesem Tag hatte sie ihr Konto geplündert.

Es hat sich gelohnt, dachte sie, als sie in diesen dunkelroten Hauch von einem Nichts schlüpfte, das man ihr als Unterwäsche verkauft hatte. Da sie sonst nur praktische, unscheinbare Sachen trug, errötete sie beim Anblick ihres Spiegelbildes.

Der tief ausgeschnittene BH formte ihre Brüste und brachte sie vorteilhaft zur Geltung, der winzige Slip betonte ihre Weiblichkeit. Würde Jason sie begehren, wenn er sie so sah? Würde er sie als sinnliche Frau und nicht nur als ungeschicktes Trampel betrachten? Würde er zu dem Schluss gelangen, dass eine Ehe mit ihr mehr war als bloße Pflichterfüllung? Würde er sie für sexy halten?

Ein Geräusch verriet, dass jemand das angrenzende Schlafzimmer betreten hatte. Unwillkürlich beschleunigte sich ihr Herzschlag. Normalerweise kam niemand – auch nicht Mrs. Moody – in ihre Räume, denn sie kümmerte sich selbst darum.

Jason?

Es konnte nur er sein. Er hatte versprochen, pünktlich zum Dinner hier zu sein. Da bis zum Essen noch eine Stunde Zeit war, hatte er vermutlich beschlossen, zunächst unter vier Augen mit ihr zu reden, bevor sie später ihre Hochzeitspläne verkündeten.

Wie hypnotisiert beobachtete sie, dass der Porzellanknauf der Badezimmertür sich um eine halbe Umdrehung bewegte.

Noch vor wenigen Wochen hätte sie erschrocken nach einem Handtuch gegriffen, um ihre Blöße zu bedecken, und beinahe wäre sie auch jetzt diesem Impuls erlegen, aber dann sagte sie sich, dass es keinen Grund gab, sich vor dem Mann zu schämen, den sie aus ganzem Herzen liebte, vor dem Mann, der bald ihr Ehemann sein würde und der das kostbare neue Leben gezeugt hatte, das in ihr heranwuchs.

Außerdem würde sie nun Antworten auf die Fragen erhalten, die sie erst vor wenigen Sekunden beschäftigt hatten!

Und dann wurde es auf einmal um sie her ganz still und dunkel. Harold stand auf der Schwelle der geöffneten Tür und starrte sie an. Georgia erwiderte den Blick, viel zu schockiert und verlegen, um sich von der Stelle zu rühren.

Sein Blick verursachte ihr Übelkeit. Sein Gesicht war gerötet, seine Augen funkelten gierig. Sie versuchte, sich zu bewegen, ein Badelaken vom Handtuchtrockner zu nehmen und sich zu bedecken, aber ihre Füße waren wie angewurzelt.

„Nun, wenn das keine Augenweide ist!“

Er ist hinter mir her, dachte Georgia entsetzt. Wenn sie doch nur nicht so linkisch wäre und mit der schrecklichen Situation besser umgehen könnte!

„Du hast bislang dein Licht unter den Scheffel gestellt.“

Der lüsterne Klang seiner Stimme riss sie aus ihrer Lethargie. Sie sprang vor und wollte sich ein Handtuch schnappen.

Blitzschnell versperrte Harold ihr den Weg. Für einen Mann seiner Statur bewegte er sich mit erstaunlicher Behändigkeit. „Du brauchst mir gegenüber doch nicht so schüchtern zu sein, Süße“, spottete er.

Panik erfasste sie. Vielleicht war dies nur wieder einer seiner geschmacklosen Scherze, mit denen er sich auf ihre Kosten lustig machte, aber wetten wollte sie darauf nicht. Es gab nur eine Möglichkeit, seinen begehrlichen Blicken auszuweichen: Sie musste sich verhüllen.

Verzweifelt griff sie nach dem Frotteetuch, das hinter ihm hing, doch er kam ihr zuvor und hielt sie fest. Mit einem boshaften Kichern begann er, ihren Körper zu betasten.

Und dann brach die Hölle los.

Zu jedem anderen Zeitpunkt wären Georgia das verzerrte Gesicht ihrer Mutter und deren raue Stimme wahrscheinlich komisch erschienen. Beides stand in krassem Gegensatz zu dem perfekten Make-up und dem rauchgrauen eleganten Seidenkostüm, das Viviennes gertenschlanke Figur umschmeichelte.

„Was, zum Teufel, ist hier los? Hal? Antworte mir gefälligst!“

Unvermittelt wurde Georgia fortgestoßen. Sie zitterte am ganzen Leib und wusste nicht, was sie tun oder sagen sollte. Einerseits war sie froh, dass die schreckliche Belästigung ein Ende gefunden hatte, andererseits fürchtete sie, ihre Mutter könnte Zeugin dieser demütigenden Szene gewesen sein.

Sie war überzeugt, noch nie etwas so Schlimmes erlebt zu haben – und wurde sogleich eines Besseren belehrt. Jason war nämlich auch hier. Bitterkeit und Zorn spiegelten sich auf seinen Zügen wider, und das war schlimmer als alles andere.

„Vivvie, Liebes“, begann Harold, „du darfst jetzt nichts Böses denken.“ Er fuhr sich durch das schüttere Haar und hätte vermutlich seine Krawatte gerichtet, wenn er eine getragen hätte. „Ich sage es dir nur ungern, aber du sollst keinen falschen Eindruck bekommen. Ich bin nur hier, weil ich ihr eine Nachricht von ihrer Freundin überbringen wollte. Diese Sue Soundso hat pausenlos angerufen. Ich wollte dir die Mühe ersparen, Liebling. Doch dann ist das kleine Flittchen halb nackt vor mir herumgetanzt.“ Er seufzte scheinheilig. „Bislang habe ich nichts davon erwähnt, weil ich dich nicht beunruhigen wollte – aber sie stellt mir schon seit Wochen nach. Und jetzt … Nun ja, sie hat sich mir förmlich an den Hals geworfen, wie du dich sicher selbst überzeugen konntest.“

Die Blicke aller Anwesenden waren auf Georgia gerichtet. Angesichts der unverhohlenen Abscheu konnte sie sich kaum aufrecht halten, geschweige denn verteidigen.

Wie konnte Harold nur so widerwärtige Dinge über sie behaupten? Sie bebte am ganzen Körper. Ihr Protest war nur ein Flüstern. „Ich habe es nicht getan. Nein, das habe ich nicht!“

Sie wusste, dass es nicht sonderlich überzeugend klang, und ihre Mutter schrie hysterisch auf sie ein. Viviennes Worte drangen wie durch einen dichten Nebel zu ihr und ergaben keinen Sinn. An ihren hasserfüllten Blicken erkannte Georgia, dass sie ihr nicht glaubte.

Warum sollte sie auch? Warum sollte sie die Wahrheit glauben, wenn dadurch ihre Ehe gefährdet war? Warum sollte sie Reichtum, Luxus und Bequemlichkeit opfern, wenn sie alles behalten konnte, indem sie sich blind und taub stellte?

Jasons geringschätzige Miene sprach Bände. Auch er glaubte ihr nicht. Den Heiratsantrag hatte er nur aus Pflichtbewusstsein gemacht. Er liebte sie nicht, hatte sie nie geliebt und würde sie nie lieben, und nun verachtete er sie. Er hatte sie nur in sein Bett gelassen, weil sie sich ihm förmlich aufgedrängt hatte.

„Warum lassen Männer sich immer von ihren Hormonen leiten?“ hatte Sues Mutter einmal kopfschüttelnd gefragt und sich über die jüngsten Eskapaden ihres einundzwanzigjährigen Sohnes beklagt. Guy hatte einer Frau aus dem Nachbarort nachgestellt, die doppelt so alt gewesen war wie er und Gerüchten zufolge keinen guten Ruf genoss.

Jason hatte sich ebenfalls von seinen Hormonen leiten lassen, sein Urteilsvermögen war durch Alkohol getrübt gewesen, und nun bereute er es zutiefst. Falls ihm an ihr überhaupt etwas gelegen gewesen wäre, hätte er sie verteidigt oder zumindest ihre Version der Geschichte hören wollen.

Aber er äußerte kein Wort, und sie erkannte, dass ihm diese Farce einen perfekten Ausweg bot. Wenn er Harold glaubte, stand es ihm frei, auch alles andere zu glauben – dass sie sich nach ihrem ersten intimen Erlebnis jedem Mann an den Hals geworfen hatte, weil sie versessen auf Sex war, ja, er konnte sich sogar einreden, dass das Kind nicht von ihm war!

Tränenblind taumelte Georgia aus dem Bad, die Arme fest vor den Brüsten verschränkt, in dem vergeblichen Bemühen, so viel wie möglich von sich und den lächerlichen roten Dessous vor Jasons wütendem Blick zu verbergen.

Er versuchte nicht, sie aufzuhalten oder ihr zu folgen, und damit erlosch auch der letzte winzige Hoffnungsfunke in ihr. Während sie im Schlafzimmer hastig die Jeans und den Pullover zusammensuchte, die sie vorhin ausgezogen hatte, und dann ihre Schuhe und Handtasche nahm, hörte sie nebenan Jasons kalte Stimme, das schrille Zetern ihrer Mutter und Harolds leise gestammelte Erklärungen.

Die drei würden noch eine ganze Weile über ihr schamloses Verhalten diskutieren und gemeinsam überlegen, wie man sich künftig vor ihrem verderblichen Einfluss schützen könne.

Georgia floh auf den Korridor hinaus, um die empörte Debatte nicht länger mit anhören zu müssen. Erst im Flur streifte sie ihre Sachen über und lief die Treppe hinunter.

Als sie ihren kleinen Wagen aus der Garage holte, wusste sie bereits, wohin sie wollte. Zu Sue.

Glücklicherweise war sie viel zu beschäftigt damit gewesen, in Boutiquen herumzustöbern und ihre Zukunft mit Jason zu planen, um ihre Freundin anzurufen und ihr zu erzählen, was passiert war und dass sie nun doch nicht nach Amerika gehen würde.

Kate und Robin Ansley, Sues Eltern, würden sich nicht von ihr abwenden, dessen war sie sicher. Gegenwärtig waren beide jedoch in New York. Robin war bereits seit Wochen dort und richtete eine Filiale seiner in London beheimateten Werbeagentur ein, und Kate war ihm unlängst gefolgt, um ein Heim für die Familie zu finden.

Die Ansleys hatten sie liebevoll in ihrem Kreis aufgenommen und würden auch jetzt alles tun, um sie zu unterstützen. Und Sue würde ihr bis zum bitteren Ende beistehen.

3. KAPITEL

Georgia kehrte jäh in die Gegenwart zurück. Die Bilder aus der Vergangenheit ließen sie jedoch nicht los. Jasons Blick, in dem sich Verachtung und kaum verhohlene Feindseligkeit widerspiegelten, verriet ihr, dass Harold nie die Wahrheit über die Ereignisse an jenem Abend erzählt hatte.

Vielleicht war es nicht aus böser Absicht geschehen, und ihm hatte einfach der Mut dazu gefehlt. Jason konnte ziemlich Furcht einflößend sein, wenn er es darauf anlegte.

Sie jedenfalls hatte schon vor langer Zeit Frieden mit dem Mann ihrer Mutter geschlossen. Er war am Tag nach Viviennes Beisetzung nach New York geflogen, um persönlich die Nachricht von ihrem tödlichen Autounfall zu überbringen. Georgia hatte ihn, nach allem, was er getan hatte, nicht sehen wollen, doch sein verändertes Äußeres hatte sie so schockiert, dass sie ihm zugehört hatte.

Der Tod seiner Frau und dessen Umstände hatten ihn bewogen, sich selbst einer gründlichen Prüfung zu unterziehen – und das Ergebnis hatte ihm nicht gefallen. Er war nicht im Stande gewesen, sich für die Lügen zu entschuldigen, die er damals verbreitet hatte, und für den seelischen Schaden, den er ihr und letztendlich auch seiner Frau zugefügt hatte.

Es war schwer gewesen, ihm zu vergeben, aber angesichts eines Menschen, der so offensichtlich von Schuld gequält wurde wie er, war ihr gar nichts anderes übrig geblieben. Nach seiner Rückkehr nach England hatte er ihr oft geschrieben, und gelegentlich hatte sie seine Briefe beantwortet, und seit sie wieder im Lande war, hatte er sie einmal monatlich in Birmingham besucht, um sie zum Lunch auszuführen.

Ihre letzte Verabredung hatte sie allerdings abgesagt, weil sie zu beschäftigt mit ihrer Präsentation gewesen war. Nun wünschte sie, sich die Zeit genommen zu haben. Harold hatte immer so einsam gewirkt, so übertrieben glücklich in ihrer Gesellschaft. Er hatte nie von ihrer Schwangerschaft erfahren, das hatte ihr die Sache leichter gemacht, denn so konnte er nicht davon sprechen.

Jason war groß, über eins achtzig, und Georgia musste den Kopf zurücklegen, um ihm ins Gesicht zu sehen. Unverhohlener Abscheu spiegelte sich auf seinen Zügen wider. Hatte er sich je gefragt, was aus ihrem Baby geworden war? Hatte es ihn überhaupt interessiert? Hatte Vivienne ihm von der Fehlgeburt berichtet, oder hatte keiner von ihnen dieses Thema für erwähnenswert gehalten?

Er hatte in all den Jahren keinen Versuch unternommen, mit ihr in Verbindung zu treten. Er hatte sich von ihr und dem Ungeborenen abgewandt.

Sie hatte jeden Gedanken an die Fehlgeburt verdrängt, es tat einfach zu weh. Georgia schloss kurz die Augen, um den Schmerz zu verbergen. Dennoch spürte sie überdeutlich, dass er sie eindringlich betrachtete. Sie schlug die Lider wieder auf und begegnete fest seinem feindseligen Blick. Sie kannte diesen Mann nicht, der sowohl ihre Existenz als auch das Schicksal ihres gemeinsamen Kindes ignoriert hatte. Sie wollte ihn auch gar nicht kennen.

Der Wandel, der mit Georgia vor sich gegangen war, überraschte Jason.

Statt des molligen Teenagers, an den er sich erinnerte, stand eine schlanke, aber wohlgeformte Frau vor ihm, die einen ebenso schlichten wie eleganten cremefarbenen Pullover – zweifellos ein italienisches Modell – und hautenge Designerjeans trug. Die neue Georgia war Lichtjahre entfernt von der linkischen kleinen Fünfzehnjährigen, die er vor zehn Jahren auf Harolds und Viviennes Hochzeit zum ersten Mal gesehen hatte.

Er war damals dreiundzwanzig gewesen und hatte noch nie zuvor in seinem Leben ein solches aufrichtiges Mitleid verspürt wie für dieses unglückliche Geschöpf in dem schrecklichen blauen Satinkleid, das jede Rundung höchst unvorteilhaft betonte. Ein lächerlicher Kranz aus blauen Blumen saß gefährlich schief auf dem mausbraunen, lieblos gestutzten Haar, in den unübersehbar zitternden Händen hielt sie den Brautstrauß ihrer Mutter, ein Bouquet aus weißen Lilien.

Der verängstigte Ausdruck in ihren großen Augen weckte in ihm den Wunsch, sie zu beschützen – insbesondere dann, wenn Vivienne geringschätzig eine perfekt gezupfte Braue hochzog, wann immer ihre völlig verunsicherte Tochter eine unpassende Bemerkung oder ungeschickte Bewegung machte.

Vivienne hatte für ihre Tochter keine Zeit, das war ihm von Anfang an aufgefallen, und später hatte er auch erfahren, warum.

Aber Georgias nervöses, schüchternes Lächeln – das er ihr viel zu selten hatte abringen können – war schön, vertrauensvoll und unschuldig gewesen, ihr Blick hatte an ihm gehangen, als wäre er ein Fels in der Brandung.

Jetzt jedoch empfand er kein Mitleid, nicht für sie. Sie hatte jegliche Zuneigung, die er für sie verspürt hatte, genauso getötet wie ihr Kind. Ihm war übel vor Abscheu gewesen, als Vivienne ihm von der Abtreibung erzählt hatte.

Ihrem Aussehen nach zu urteilen, brauchte Georgia auch kein Mitleid. Und mochte ihr Lächeln – sollte sie je ihre hochmütige Miene ablegen – auch so strahlend sein wie ein Sonnenaufgang, ihn würde es kalt lassen.

Georgia brach das lange Schweigen. „Ich brauche die Fernbedienung, um das Garagentor zu öffnen.“ Autoschlüssel baumelten von ihrem Finger.

Sie hatte irgendetwas mit ihrem Haar angestellt. Es fiel ihr in weichen Wellen über die Schultern und schimmerte im Schein der Deckenlampe wie kostbare Seide.

Jason ging auf sie zu und streckte die Hand aus. „Ich parke das Auto für dich und bringe dein Gepäck herein.“

„Nein.“ Instinktiv umfasste sie die Schlüssel fester. „Niemand außer mir rührt diesen Wagen an.“

Sie besaß also einen wunden Punkt. Na und, sagte Jason sich schulterzuckend und folgte ihr hinaus ins Freie. Beim Anblick des vor der Garage stehenden Flitzers zog er erstaunt die Brauen hoch. Kein Wunder, dass sie so eigen war!

Der windschnittige, leistungsstarke Wagen stammte fraglos aus dem gleichen Land wie ihr Pullover. Entweder verdiente sie in ihrem Job ein Vermögen, oder sie hatte einen reichen Liebhaber.

Nach ihrem Aussehen zu urteilen und nach dem, was er von ihr wusste – insbesondere von ihren Qualitäten im Bett – tippte er auf den reichen Liebhaber. Jason betätigte die Fernbedienung, warf sie Georgia zu und teilte ihr kühl mit: „Schließ hinter dir ab. Du schläfst in deinem alten Zimmer. In zehn Minuten können wir essen. Mrs. Moody hat auf dich gewartet.“

Während er sprach, hatte er das aufgleitende Doppeltor der Garage beobachtet, nun wandte er sich wieder zu ihr um. Ihr Haar schimmerte in der Notbeleuchtung, und in ihren bernsteinfarbenen Augen stand so eindeutig die Botschaft Arrogantes Scheusal!, als hätte sie die Worte laut gesagt.

Er reagierte auf die stumme Herausforderung mit einem leichten Neigen des Kopfes und einem frostigen Lächeln, dann kehrte er ins Haus zurück.

Sie würde den Weg allein finden. Was immer sie sonst noch vergessen haben mochte – ihre Moral, ihre Verantwortung gegenüber dem neuen Leben, das sie einst in sich getragen hatte, und auch ihm selbst gegenüber –, sie würde kaum den Weg zu den Räumen vergessen haben, die einst ihr gehört hatten. Und ihre Koffer konnte sie ebenfalls allein tragen!

Höflichkeit kostete nichts, was aber Georgia betraf, war Jason nicht einmal dazu bereit. Wäre sie noch so verschüchtert und unscheinbar gewesen, wie er sie von früher in Erinnerung hatte, hätte er vielleicht versucht, ein Mindestmaß an guter Erziehung zu zeigen. Aber dieses neue, dreiste, superselbstsichere Geschöpf hatte von ihm nichts zu erwarten.

Nach der Beisetzung, sobald er sich davon überzeugt hatte, dass sie ihre neuen Pflichten ernst nehmen würde, wäre Georgia Blake auf sich allein gestellt.

Ihr altes Zimmer. Georgia sah sich angewidert um.

Sie hatte schon immer die kleinmädchenhaften Pink- und Pfirsichtöne verabscheut, die Vivienne für das Dekor ausgesucht hatte, die verspielten Rüschen und Bordüren sowie die zierlichen, in Weiß und Gold gehaltenen Möbel, die aussahen, als würden sie in tausend Stücke zerfallen, sobald man ihnen auch nur nahe kam. Sie hatte sich stets wie ein ungeschickter Elefant in einer Feengrotte gefühlt, war aber viel zu verunsichert und voller Furcht vor dem Spott ihrer Mutter gewesen, um sich dagegen aufzulehnen.

Wenn Jason nur einen Funken Feingefühl gehabt hätte, hätte er Mrs. Moody gebeten, eines der zahlreichen Gästezimmer für sie herzurichten.

Glücklicherweise würde sie den Raum, in dem sie größte Demütigung und Qual erlebt hatte, höchstens einige Nächte benutzen müssen. Wenigstens waren alle Sachen, die sie am Abend ihrer Flucht zurückgelassen hatte, aus den Schubladen und Schränken verschwunden. Wahrscheinlich hatte Mrs. Moody die Sachen auf Viviennes Anweisung hin weggeworfen.

Georgia warf ihre Reisetasche auf die gerüschte, pinkfarbene Tagesdecke, stellte sich vor den Spiegel und fuhr sich durch die zerzauste Mähne.

Die „Maus“ gehörte der Vergangenheit an. Nach den traumatischen Verlusten – Jason, ihr Baby, das Recht, jemals wieder nach Lytham zu kommen oder weiteren Kontakt zu ihrer Mutter zu haben –, hatte sie sich das Haar wachsen lassen, weil es ihr herzlich gleichgültig gewesen war. Und der Babyspeck war dahingeschmolzen, weil sie nur noch im Essen herumgestochert hatte.

Sie beschloss, sich zum Essen nicht umzuziehen. Jason würde sie so akzeptieren müssen, wie sie war. Vivienne hatte stets darauf bestanden, dass sich die Familie zum Dinner umkleidete. Georgia erinnerte sich nur zu gut daran, dass sie die gewohnten weiten Hosen und Tops, die ihre kleinen Sünden so barmherzig kaschiert hatten, gegen die rüschenbesetzten engen Hänger hatte tauschen müssen, die ihre Mutter für ein junges Mädchen als passend erachtet hatte.

Vielleicht hatte Vivienne diese sackartigen Gewänder auch nur deshalb ausgesucht, weil sie genau gewusst hatte, dass ihre Tochter darin besonders unvorteilhaft aussehen und der Kontrast zu ihrer eigenen eleganten Erscheinung besonders krass wirken würde.

Georgia wollte sich dadurch nicht mehr kränken lassen. Warum sollte sie? Vivienne war tot, die Vergangenheit war tot, und Jason – obwohl er attraktiver und lebendiger denn je schien – war es für sie ebenfalls. Der Aufenthalt auf Lytham brachte zu viele unangenehme Erinnerungen mit sich, und wenn es stimmte, was Jason über ihr Erbe gesagt hatte, würde sie sich dieses Anwesens schneller entledigen, als ihr neuer Wagen von null auf hundert brauchte.

Sie traf Jason im Frühstückszimmer an. Er hatte sich auch nicht umgezogen. Die alten Regeln galten also nicht mehr. Eigentlich schade, dachte sie, während sie seine muskulöse Gestalt in Jeans und Pullover betrachtete. Es hätte ihr größtes Vergnügen bereitet, ihn durch ihr unerschütterliches Selbstvertrauen zu beeindrucken – und zu ärgern.

„Können wir essen?“ Musste sie ihn unbedingt anschauen, als würden sie kurz vor dem Kampf des Jahrhunderts stehen? Er hob den Deckel von der dampfenden Kasserolle, die Mrs. Moody mit einer Schale Kartoffeln vor fünf Minuten aufgetragen hatte, und fand den aromatischen Duft unerklärlicherweise abstoßend.

„Ich bin nicht hungrig“, entgegnete sie und schenkte sich aus der geöffneten Rotweinflasche ein Glas ein. Nach kurzem Zögern – um es besonders beleidigend wirken zu lassen – füllte sie auch sein Glas. Dann nahm sie ihres und ging damit zu einem der Sessel neben dem Kamin, in dem ein behagliches Feuer brannte. „Aber lass dich von mir nicht stören.“

Hexe! dachte er wütend. Wer hätte geahnt, dass die verletzliche, sanftmütige Georgia sich in ein solches Biest verwandeln würde? Andererseits … Wer hätte sich träumen lassen, dass die gleiche scheinbar liebevolle Kindfrau ihr gemeinsames Baby so eiskalt und skrupellos abtreiben würde, ohne ihn vorher zu informieren?

Jason deckte die Auflaufform wieder zu und rückte sich einen der Stühle zurecht, um Georgia anzusehen. Es war an der Zeit, zum Thema zu kommen: die Details der morgigen Beisetzung, den genauen Umfang ihrer sehr beträchtlichen Erbschaft und den Vortrag über ihre Verantwortung dem Personal gegenüber, falls sie sich entscheiden sollte, die Immobilie zu Geld zu machen.

Stattdessen jedoch hörte er sich verächtlich fragen: „Ist das dein Trick, um dünn zu bleiben? Indem du hungerst? Es gab Zeiten, da hast du alles in dich hineingestopft, was du finden konntest.“

Der Blick aus diesen feindseligen stahlgrauen Augen und die finster gerunzelte Stirn hätten die alte Georgia in die Flucht geschlagen. Die neue hingegen zuckte mit keiner Wimper.

„Ich bin doch nicht dünn.“ Provozierend langsam strich sie sich mit der Hand über den Körper und lenkte dabei absichtlich Jasons Aufmerksamkeit auf die sanfte Wölbung ihrer Brüste und die überaus weiblichen Hüften. „Sagen wir lieber ‚schlank‘.“ Sie lächelte spöttisch.

Ihm stockte der Atem. Sofort fielen ihm wesentlich unschmeichelhaftere Namen für sie ein als nur „Hexe“.

Georgia war zu einer verführerischen Frau gereift, aber Äußerlichkeiten bedeuteten gar nichts. Er bevorzugte zugegebenermaßen die üppigen Kurven des unglaublich liebebedürftigen Geschöpfes, das für jene kurze Nacht ihm gehört hatte, als er von der Kombination aus Tabletten und Alkohol so berauscht gewesen war, dass er vergessen hatte, sich wie ein verantwortungsbewusster Erwachsener zu benehmen.

Sieben Jahre lang verdrängte Erinnerungen an jene unbeschreibliche Nacht stürmten auf ihn ein. Er griff nach seinem Glas und wünschte, es würde Stärkeres enthalten als nur Wein.

„Ich versichere dir, normalerweise habe ich einen gesunden Appetit“, erklärte sie leise. „Es ist nur so, dass ich im Gegensatz zu früher keinen Trost mehr beim Essen finde.“

Zugegeben, das ergab einen Sinn. Als Kind hatte sie ein liebloses, weitgehend einsames Leben geführt, war ins Internat verbannt und offen ermuntert worden, während der Ferien so viel Zeit wie möglich bei ihrer Freundin zu verbringen – und zwar nur, weil die elegante Vivienne befürchtet hatte, ihre heranwachsende Tochter könnte ihren neuen, mondänen Lebensstil stören.

Jason erinnerte sich, dass er bei der Ankunft zu einem seiner Wochenendbesuche Georgia einmal mit hochrotem Kopf, schuldbewusst und voller Krümel in der Küche angetroffen hatte, wo sie gerade von Mrs. Moody gemaßregelt wurde, weil sie ein ganzes Blech frisch gebackener Plätzchen verputzt hatte. Er wollte weder an das Mitleid denken, das er für sie empfunden hatte, noch an sein verzweifeltes Bemühen, sie von der demütigenden Szene abzulenken, deren unfreiwilliger Zeuge er geworden war. Er hatte behauptet, völlig verspannt von der langen Fahrt zu sein, und ihr vorgeschlagen, ihn bei einem Spaziergang über die Felder zu begleiten. Nein, er wollte sich an überhaupt nichts erinnern, was mit Georgia zusammenhing.

Es war natürlich seine Schuld. Warum hatte er auch ihre Essgewohnheiten erwähnen müssen? Er bedauerte den Mangel an Selbstbeherrschung, der zu dieser Bemerkung geführt hatte. Es sollte nicht wieder passieren.

„Richtig.“ Knapp und emotionslos erläuterte er ihr die Arrangements für die Beerdigung, dann fuhr er mit unveränderter Stimme fort: „Da du dir nicht die Mühe gemacht hast, zur Beisetzung deiner Mutter anzureisen, nehme ich an, dass du zu Harolds gekommen bist, weil er dich über den Inhalt seines Testaments informiert hat. Trotzdem …“

„Moment mal!“ Georgia vergaß ihre kühle Zurückhaltung, als sie aufsprang und ihr fast leeres Weinglas geräuschvoll auf den Tisch stellte. „Ich war aus geschäftlichen Gründen nicht in der Stadt und wusste nichts von Viviennes Tod, bis Harold nach New York kam. Er kam übrigens am Tag nach ihrer Beerdigung, also kannst du dir deinen Zynismus sparen. Außerdem irrst du dich. Harold hat mit mir nie über seinen letzten Willen oder seine finanziellen Angelegenheiten gesprochen.“

„Nein?“ Skeptisch zog er die Brauen hoch. „Und worüber habt ihr dann bei euren intimen Verabredungen zum Lunch geplaudert? Oder willst du mir das lieber nicht erzählen? Wusstest du eigentlich, dass er all die Briefe, die du ihm aus New York geschrieben hast, aufgehoben hat?“, fügte er beinahe gelangweilt hinzu.

Was, zum Teufel, wollte er damit andeuten? Georgia konnte ihr Temperament kaum noch zügeln. Sie hatte sich nicht getäuscht: Harold hatte die Sache offenbar nie aufgeklärt. Jason glaubte heute wie damals, dass sie sich hemmungslos jedem männlichen Wesen an den Hals geworfen hätte.

Jahrelang hatte sie hart daran gearbeitet, in Bezug auf Jason jedes Anzeichen von Emotionen zu unterdrücken. Sie hatte ernsthaft geglaubt, es geschafft zu haben und für ihn nur noch eiskalte Verachtung zu empfinden. Ihm gegenüber auch nur die geringste Gefühlsregung zu zeigen war absolut tabu.

Er sah sie fragend an und schenkte ihr wortlos Wein nach. Sie atmete tief durch und versuchte sich zu entspannen. Er konnte sie nicht verletzen, das würde sie nicht zulassen.

Als sie sich wieder unter Kontrolle hatte, sagte sie ruhig: „Du hast also meine Briefe gefunden. Ich bin sicher, du hast sie gründlich studiert.“

Hoffentlich hatte er sie gelesen! Es waren reine Pflichtbriefe gewesen und auch nicht sehr viele. Sie hatte sie geschrieben, weil ihr der einsame, von Schuld gequälte alte Mann leidgetan hatte und es ihr unhöflich erschienen war, nicht wenigstens auf ein oder zwei von den Dutzenden zu antworten, die er ihr geschickt hatte. Pflichtbriefe. Außer Bemerkungen über ihre Arbeit und das Wetter stand nichts Bedeutsames darin.

Jason verriet ihr allerdings nicht, ob er sie gelesen hatte oder nicht. Während er ihr das Glas über die glänzende Tischplatte zuschob, rief sie sich insgeheim zur Ordnung. Es war ihr völlig egal, was er von ihr dachte!

„Vergiss es.“ Das Thema schien ihn zu langweilen. „Nimm deinen Wein, und setz dich. Wenn du wirklich keine Ahnung hast, werde ich dich jetzt über die Einzelheiten seines Testaments unterrichten.“

Sie griff nach dem Glas, aber sie setzte sich nicht. Die Zeiten, da sie über glühende Kohlen gelaufen wäre, wenn er es verlangt hätte, waren längst vorbei. Stattdessen ging sie ans Fenster, zog die schweren champagnerfarbenen Vorhänge auf und blickte hinauf zu den Sternen.

Draußen herrschte klirrender Frost, aber die Atmosphäre im Zimmer war noch kälter, als Jason nüchtern feststellte: „Du erbst alles, was er hatte. Wie du weißt, hat er nach der Hochzeit mit deiner Mutter seine Firma verkauft – ich hatte ihm bereits erklärt, dass ich am Immobiliengeschäft nicht interessiert bin. Er hat den Erlös geschickt investiert und hinterlässt dir ein gewaltiges Aktienpaket. Die laufenden Einkünfte und Zinsen erlauben dir ein mehr als komfortables Leben, ohne dass du je wieder arbeiten musst. Außerdem gehört dir dieses Haus mit der gesamten Einrichtung. Ich könnte mir vorstellen, dass du es nicht behalten und lieber veräußern willst.“

Er betrachtete sie eindringlich. Ihr Profil, das sich deutlich vom Nachthimmel abhob, hätte aus Marmor gemeißelt sein können. Keine Reaktion. Sie gab weder vor, von so viel Großzügigkeit überwältigt zu sein, noch deutete irgendetwas auf Habsucht hin. Im Gegensatz zu ihrem jüngeren Ich, das so klar und ungekünstelt gewesen war, spielte die neue Georgia mit verdeckten Karten.

Wider Willen empfand Jason Respekt für sie und fragte sich, ob vielleicht seine nächste Bemerkung sie aus der Reserve zu locken vermochte. „Da Harold dies versäumt hat, schlage ich vor, du setzt Mrs. Moody eine Rente aus, falls du dich tatsächlich entscheiden solltest, das Haus zu verkaufen. Solange ich zurückdenken kann, hat sie sich hier um alles gekümmert. Ich weiß, sie ist nicht gerade sehr charmant, aber sie meint es gut. Dann wäre da noch Baines. Er hat seit über dreißig Jahren den Garten für lächerlich geringes Gehalt gepflegt. Er und seine Frau besitzen ein kleines Cottage, sie haben also nicht so viel zu verlieren wie Mrs. Moody. Trotzdem sollte er meiner Meinung nach etwas bekommen.“

Endlich erfolgte eine Reaktion und bewies – als hätte Jason noch eines Beweises bedurft! –, dass seine Einschätzung ihres Charakters richtig gewesen war. Langsam drehte sie sich zu ihm um. Ihre bernsteinfarbenen Augen funkelten, ein geringschätziges Lächeln umspielte ihre Lippen.

„Braucht sonst noch jemand eine Abfindung? Du vielleicht? Ich könnte es mir durchaus vorstellen, da Harold ja auch für dich keine Vorkehrungen getroffen hat. Wie viel hättest du denn gern? Würde dir die Hälfte reichen? Oder denkst du, du solltest alles bekommen?“

Sie bereute nicht ein Wort. Kein einziges. Er war Harolds Adoptivsohn, natürlich musste es ihn zutiefst kränken, dass alles an sie ging, die Ausgestoßene. Sie war allerdings nicht gewillt, ihre Besorgnis dem Mann zu zeigen, der sich in dem Moment, als sie ihn am dringendsten gebraucht hatte, so nachdrücklich von ihr abgewandt hatte.

Selbstverständlich wollte sie dafür sorgen, dass Mrs. Moody und Baines eine großzügige Anerkennung für den jahrelangen treuen Dienst erhielten, allerdings hatte sie nicht vor, ihm dies zu sagen. Sollte er ruhig glauben, er hätte noch immer alle Fäden in der Hand. Sie hatte gehofft, ihr ironischer Kommentar hätte ihn in die Schranken verwiesen, doch Jason lehnte sich völlig unbeeindruckt zurück und lächelte sogar!

„Meinetwegen kannst du alles haben“, erklärte er seelenruhig. „Ich bin darauf nicht angewiesen. Ich habe sogar mein Studium mit dem Treuhandvermögen finanziert, das meine Mutter mir hinterlassen hat. Seit meinem achtzehnten Lebensjahr habe ich von Harold keinen Penny genommen, und ich will auch jetzt nichts.“ Er presste die Lippen zusammen. „Ich bin sicher, du hast es mehr als verdient.“

„Wenn du meinst.“ Georgia zuckte scheinbar gelangweilt die Schultern, um zu unterstreichen, dass er sie nicht mehr verletzen konnte.

Sie leerte ihr Glas in einem Zug. Sie brauchte etwas, das ihr beim Einschlafen half. Gleich darauf wünschte sie, den Wein nicht so hastig getrunken zu haben, denn sie fühlte sich auf einmal so sonderbar.

„Wenn das alles war, gehe ich jetzt ins Bett.“ Sie wandte sich zur Tür. Langsam und vorsichtig, da sie nicht sicher war, ob ihre Beine sie tragen würden.

Jason beobachtete sie. „Nicht ganz.“

Sie blieb stehen und stützte sich Halt suchend auf einen Stuhl. Der Boden schien unter ihren Füßen zu schwanken. „Was noch?“, fragte sie aufsässig. Er durfte keinesfalls merken, dass sie beschwipst war, sonst würde er sich womöglich auf ihre Kosten amüsieren.

„Blue Rock.“ Er sah sie prüfend an.

Georgia war blass, ihre Augen wirkten übergroß. Plötzlich schien sie völlig durcheinander zu sein. Sie war viel zu weltgewandt, um sich von ein paar Gläsern Wein aus der Fassung bringen zu lassen. Er vermutete, dass ihre mehr als rosigen Zukunftsaussichten sie so verstört hatten. Das Wiedersehen mit ihm konnte nicht daran schuld sein, denn sie besaß kein Gewissen. Nun, er hatte noch etwas für sie, worüber sie sich freuen konnte.

„Die Insel, das Haus und alles, was sich darin befindet. Harold ist nach ihrem Unfall nicht mehr dorthin zurückgekehrt. Anscheinend hat Vivienne eine Menge persönlicher Dinge auf Blue Rock aufbewahrt. Ich schätze, ihre Garderobe dürfte dich nicht so sehr interessieren, aber wahrscheinlich ist dir an ihrem Schmuck gelegen.“ Er stand auf. Er hatte genug von ihrer Gesellschaft. „Falls du mit deinem Freund hinfliegen willst, seid ihr in den besten Händen. Blossom und Elijah wohnen noch immer im Anbau und kümmern sich ums Haus.“

Im Zimmer war es so still, dass er ihre Atemzüge hören konnte. Georgias Nähe ließ das Blut schneller durch seine Adern fließen. Der bloße Gedanke, sie könnte seinen Vorschlag aufgreifen und mit ihrem gegenwärtigen Freund – der Bursche, der sich am Telefon gemeldet hatte? – auf der Insel Urlaub machen, verursachte ihm Übelkeit.

Das hatte er sich ganz allein selbst zuzuschreiben. Er hatte unvorstellbar verantwortungslos gehandelt, war mit den Konsequenzen seines bodenlosen Leichtsinns konfrontiert worden und hatte es schließlich geschafft, das Ganze hinter sich zu lassen.

Zumindest hatte er sich das eingebildet.

Sie leibhaftig vor sich zu sehen, so hinreißend sexy und gefasst, berührte eine wilde, bislang verborgene Seite seines Charakters. Er wollte sie dafür büßen lassen, dass sie so verdammt begehrenswert war, wollte sich dafür bestrafen, weil er sie begehrte, und mit dem Schicksal hadern, weil es sie wieder zusammengeführt hatte.

Kurz angebunden wünschte er ihr eine gute Nacht und verließ den Raum, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen. Er konnte es nicht. Sie anzusehen löste einen unbeschreiblichen Schmerz in ihm aus.

4. KAPITEL

Der Traum hatte Georgia in letzter Zeit seltener heimgesucht. Aber in dieser Nacht träumte sie von dem Baby. Dem Baby, das tot war.

Als sie aufwachte, wurde sie von Schuldgefühlen gequält, sie weinte und weinte und konnte nicht aufhören. Der Traum war diesmal umso schlimmer gewesen, als er so lange ausgeblieben war.

Während der Beerdigung und des anschließenden Empfangs für die wenigen Trauergäste wirkte sie gefasst und ruhig, obwohl sie noch immer den Tränen nahe war. Ihr Schmerz galt jedoch nicht Harold, mit dem sie längst Frieden geschlossen hatte, sondern ihrem Baby, beim dem ihr das nicht möglich gewesen war. Sie würde dieses Versäumnis nie nachholen können und ewig unter der Schuld leiden. Wenn sie sich etwas mehr zusammengenommen und sich nicht so vollständig ihrer Verzweiflung über Harolds Lüge und Jasons Verachtung hingegeben hätte, wäre ihr die Fehlgeburt womöglich erspart geblieben, und sie hätte das Baby vielleicht behalten.

Georgia hatte sich bemüht, die Spuren der ruhelosen, beklemmenden Nacht zu beseitigen, und mehr Make-up aufgelegt als sonst. Sie trug ein schlichtes schiefergraues Kostüm, statt einer Bluse verdeckte ein Seidenschal den Jackenausschnitt. Ihr Gesicht fühlte sich sonderbar starr, fast wie versteinert an. Als sie Jasons prüfenden Blick bemerkte, fragte sie sich unwillkürlich, ob er den Grund für ihren Kummer kannte.

Natürlich nicht. Er hatte ihr und ihrem gemeinsamen Baby den Rücken gewandt und sie aus seinen Gedanken verbannt. Er wusste nicht, was mit dem Kind geschehen war, das er gezeugt hatte – außer Sue und deren liebevoller, hilfsbereiter Familie war niemand eingeweiht.

Und er hatte sich nicht einmal danach erkundigt, weil es ihn nicht interessierte. Es interessierte ihn nicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen war, ob sich das Kind in der Schule gut machte, ob es glücklich und gesund war. Wenn es noch gelebt hätte.

Der Schmerz war immer da und würde nicht weggehen, solange sie auf Lytham blieb. Also musste sie fort, und zwar so schnell wie möglich.

Während Jason die letzten Gäste hinausbegleitete, begann sie, Teller und Gläser auf ein Tablett zu stellen. Dann trug sie das Geschirr in die Küche.

Mrs. Moody, deren Augen gerötet waren, verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie müssen das nicht machen, das ist meine Aufgabe – noch habe ich einen Job.“

„Darüber würde ich gern mit Ihnen reden.“

Georgia stellte das schwere Tablett auf eine der makellos glänzenden Arbeitsflächen. Tapfer versuchte sie, den immer stärker werdenden Schmerz zu ignorieren. Da sie bald abreisen würde, war dies vermutlich die letzte Gelegenheit, unter vier Augen mit der Haushälterin zu sprechen. Sie wollte nie wieder Lytham betreten und den Furcht einflößenden Geistern der Vergangenheit begegnen.

„Falls Sie keine anderen Pläne haben, würde ich Sie bitten, sich um das Haus zu kümmern, bis alles geregelt ist. Ich treffe mich gleich mit dem Anwalt meines Stiefvaters.“ Georgia hatte ihn am Morgen angerufen und mit ihm einen Termin für vier Uhr vereinbart. „Ich möchte ihm sagen können, dass Sie bleiben. Er wird dann dafür sorgen, dass Ihr Gehalt und alle Rechnungen bezahlt werden.“

Mrs. Moodys ausdruckslose Miene machte es nicht gerade leichter.

Georgia atmete tief durch und erklärte: „Ich habe für Lytham keine Verwendung und werde es irgendwann verkaufen.“

„Das dachte ich mir.“

Erstaunt begegnete Georgia dem kühlen Blick der Haushälterin. Die ältere Frau – war sie je verheiratet gewesen, oder sprach man sie aus reiner Höflichkeit mit „Mrs.“ an? – reagierte angesichts der drohenden Entlassung, des Verlusts ihres Heims und der äußerst geringen Chance, eine neue Anstellung zu finden, unglaublich gelassen.

„In diesem Fall bekommen Sie eine Pension aus dem Nachlass meines Stiefvaters, die Ihnen einen sorgenfreien Lebensabend sichert. Das ist einer der Punkte, die ich heute Nachmittag mit dem Anwalt klären will.“ Auch für Baines, den Gärtner, würde sie Vorkehrungen treffen, da Harold dies versäumt hatte. Außerdem galt es, Blossom und Elijah und das Haus auf Blue Rock zu berücksichtigen.

Allmählich wich die Anspannung, die Georgia bislang gequält hatte. Sie hatte getan, was eigentlich Harolds Pflicht gewesen wäre, und erwartete dafür weder Zustimmung noch Protest oder überschwängliche Dankbarkeit. Das war nicht Mrs. Moodys Art. Plötzlich brach der Schmerz wieder durch, diesmal mit fast unerträglicher Intensität, der Kummer über Verrat und grausamen Verlust. Rasch wandte sie sich zum Gehen, bevor die Gefühle sie überwältigen konnte.

„Ich nehme an, Sie kommen nicht zurück, um die Nacht hier zu verbringen“, sagte Mrs. Moody.

Georgia schüttelte stumm den Kopf und kämpfte mit den Tränen.

„Dann habe ich etwas für Sie, falls Sie noch ein paar Minuten Zeit haben.“

Etwas für sie? Georgia drehte sich verwundert um.

Mrs. Moody hatte früher nicht mal ein Lächeln für sie übrig gehabt. Was, um alles in der Welt, wollte sie ihr jetzt geben? Die Haushälterin ging zu einem der hohen Einbauschränke und holte einen ramponierten Umzugskarton heraus, den sie auf den Tisch stellte.

„Nachdem Sie das Haus verlassen hatten und zu Ihrer Freundin gezogen waren, bat mich Ihre Mutter, Ihr Zimmer auszuräumen. Ich dachte mir, dass es einen Streit gegeben hatte, denn ich sollte alles, was Ihnen gehörte, von einer Wohlfahrtsorganisation abholen lassen.“ Versonnen ließ sie die Hand über die Kiste gleiten. Dann trat sie einen Schritt zurück und überraschte Georgia mit dem Geständnis: „Mein Mann starb noch vor unserem ersten Hochzeitstag. Wir hatten kein Kind. Aber hätten wir eines gehabt, weiß ich genau, dass ich es nie aus meinem Leben streichen könne, ganz gleich, was vorgefallen wäre. Ich dachte, Ihre Mutter würde eines Tages vielleicht einlenken, oder Sie würden zurückkommen. Also habe ich ein paar Sachen beiseitegelegt. Kleinigkeiten. Souvenirs.“

Gerührt öffnete Georgia den Karton und fand Dinge, die sie an das unschuldige, naive Geschöpf erinnerten, das sie einst gewesen war. Fragmente der Vergangenheit, die sie nie wieder hatte sehen wollen.

Ein altes Tagebuch mit romantischen Ergüssen – unbeholfene Liebesgedichte, geschrieben von einem Kind, das sich eingebildet hatte, leidenschaftlich verliebt zu sein. Jasons Foto, einem Familienalbum entnommen und in einem Silberrahmen gefasst. Ihre Plattensammlung, durchweg sentimentale Balladen. Ein Schal, den Jason an einem bitterkalten Winterwochenende getragen und dann liegen gelassen hatte. Der Schal und das Foto hatten sie überallhin begleitet – ins Internat, zu Sue und nach Lytham.

Andere Gegenstände: ihre Lieblingsbücher, ein paar Schmuckstücke, die ihre Großmutter ihr geschenkt hatte – billig, aber für Georgia von unermesslichem Wert, denn zumindest Gran hatte sie geliebt und ihr die hübschen, funkelnden Dinger gekauft, wann immer sie es sich hatte leisten können. Für derartige Extravaganzen war kein Geld übrig gewesen, bevor ihre Mutter Harold geheiratet hatte, und zu diesem Zeitpunkt war Gran bereits drei Jahre tot gewesen.

„Danke“, sagte Georgia. „Das war sehr freundlich von Ihnen.“

Um ihre Fassung war es geschehen, die Tränen ließen sich nicht länger zurückhalten. Mrs. Moody war nicht dumm, sie musste gemerkt haben, dass der plumpe Teenager wie eine Klette an Jason gehangen und ihn angehimmelt hatte. Vielleicht hatte sie die sentimentalen Erinnerungsstücke aufgehoben, weil sich hinter dem grimmigen Äußeren eine romantische Seele verbarg.

Vielleicht hatte die Frau geglaubt, Jason würde die neue, schlanke Georgia in einem anderen Licht betrachten …

Unsinn, sagte Georgia sich energisch. Wenn es mir gelingen würde, das Haus zu verlassen, ohne ihm noch einmal zu begegnen, wäre ich nicht nur froh, ich wäre außer mir vor Freude!

Nachdem die letzten Gäste sich verabschiedet hatten, schloss Jason die Haustür und lehnte sich dagegen. Tiefe Stille umgab ihn. Es war alles reibungslos verlaufen – lediglich Georgias unverhohlener Kummer hatte ihn überrascht. Sie hatte zwar versucht, ihren Schmerz zu verbergen, aber er hatte gemerkt, dass sie von Trauer fast überwältigt wurde.

Bereits zu Lebzeiten seiner Mutter hatte Jason gewusst, dass Harold fremdging. Bedeutungslose, kurze Affären – eine Siebzehnjährige ohne einen Funken Verstand, die er als Hilfe für Mrs. Moody engagiert hatte, die neunzehnjährige Tochter eines ortsansässigen Gastwirts – alles junge, einfältige Dinger. Die Liste war endlos. Als Harold jedoch behauptet hatte, Georgia habe sich ihm an den Hals geworfen, hatte Jason kein Wort davon geglaubt und war geblieben, um ihm die Leviten zu lesen, nachdem Georgia aus dem Zimmer geflohen war.

Doch nun kamen ihm zum ersten Mal Zweifel, und er war sich nicht mehr so sicher. Sie hatte mit Harold korrespondiert und sich nach ihrer Rückkehr nach England mit ihm getroffen. Harold hatte ihr seinen gesamten Besitz vermacht – ein beachtliches Vermögen –, und ihre Trauer heute war echt gewesen.

Jason gelangte zu dem Schluss, dass er damals nicht die echte Georgia gekannt hatte. Während er sie gegen Harolds Anschuldigungen verteidigt und Vivienne lautstark für ihren Mann Partei ergriffen hatte, war Georgia zu ihrer Freundin gefahren und hatte wahrscheinlich bereits die Abtreibung geplant.

Die Ereignisse vor sieben Jahren liefen wie ein Film vor seinem inneren Auge ab.

Als er den Wagen gefunden hatte, mit dem sie geflüchtet war, hatte er sich gesagt, dass sie bei ihrer Freundin Sue und in Sicherheit sei. Er hatte nur ein paar Stunden auf Lytham bleiben wollen – gerade lange genug, um ihre Hochzeitspläne zu verkünden. Anschließend hatte er nach London zurückfahren wollen, um sich um einen wichtigen Fall zu kümmern.

Als er wieder in seinem Apartment eingetroffen war, hatte er sofort bei Sue angerufen. Ihr Bruder Guy hatte sich am Apparat gemeldet. Georgia sei bei ihnen und schlafe, und, ja, er würde ihr ausrichten, dass Jason angerufen habe.

Jason hatte in den darauf folgenden Tagen immer wieder versucht, mit Georgia Kontakt aufzunehmen, um ihr zu versichern, dass er für sie und das Kind da sei. Aber er erhielt keine Antwort. Da er in der Kanzlei unabkömmlich gewesen war, hatte er in seiner Verzweiflung mit Vivienne telefoniert und ihr mitgeteilt, dass sich unter Sues Nummer niemand melde.

„Hast du ein schlechtes Gewissen?“ hatte sie kühl gefragt. „Und dabei hast du so selbstgerecht geklungen, als du den armen Harold beschimpft hast! Georgia hat mich noch am gleichen Abend angerufen und mir von ihrer Schwangerschaft erzählt. Falls das stimmt – und offen gestanden ist mir das völlig gleichgültig –, dann beweist das nur, dass sie tatsächlich Harold nachgestellt hat und nicht umgekehrt, wie du gemeinerweise behauptet hast. Wenn es dein Kind ist, dann hat sie dich ebenfalls eingewickelt, und du hattest nicht einmal so viel Vernunft wie Harold, ihr zu sagen, sie möge sich zum Teufel scheren. Wie auch immer … Du brauchst dir über dieses Problem nicht mehr den Kopf zu zerbrechen. Es ist gelöst. Sie ist es los, und du kannst dich bei mir bedanken, dass ich ihr diesen Rat gegeben habe. Du kannst sie nicht erreichen“, fügte Vivienne hinzu. „Diese Freundin und deren Bruder haben meine Tochter heute früh aus der Privatklinik abgeholt und sie zum Ferienhaus der Familie am Meer gebracht, damit sie wieder zu Kräften kommt. Wie ich schon sagte: Das Problem ist gelöst, und das war’s. Ich habe Harold nichts von der widerwärtigen Geschichte erzählt und wäre dir dankbar, wenn du den Namen dieses kleinen Flittchens in meiner Gegenwart nicht mehr erwähnen würdest.“

Er hatte Viviennes Wunsch erfüllt. Er hatte Lytham nie wieder besucht und Georgia Blake und das, was sie dem Kind angetan hatte, auf das er sich zu seinem eigenen Erstaunen maßlos gefreut hatte, aus seinem Leben und seinen Gedanken gestrichen.

Und nun war sie – aus purer Notwendigkeit – zurückgekehrt.

Es ist bald vorbei, tröstete er sich im Stillen. Er musste nur noch sicherstellen, dass sie mit Harolds Anwalt sprach – er hatte ihr die Telefonnummer gleich als Erstes am Morgen gegeben. Sobald er sich überzeugt hatte, dass für Baines und Mrs. Moody eine angemessene Regelung getroffen war, konnte er nach London zurückfahren.

Jason überlegte. Er würde vielleicht Sylvia anrufen und sie zum Dinner einladen. Sie gingen schon seit fast einem Jahr gelegentlich miteinander aus. Sylvia war Journalistin, überaus attraktiv und mit ihrer Karriere verheiratet. Sie waren gern zusammen, genossen den Sex und waren beide nicht an einer dauerhaften Beziehung interessiert.

Ihm war das nur recht. Er hatte die Absicht – und vermutlich auch die Fähigkeit – verloren, sich emotional an eine Frau zu binden, seit …

Er ging auf den Wirtschaftstrakt zu. Zuerst wollte er Mrs. Moody über seine Abreise informieren, anschließend Georgia suchen, um ihr zu sagen, was er zu sagen hatte, und dann von hier verschwinden.

Georgia begegnete ihm, als sie die Küche verließ. Sie trug einen Umzugskarton, und ihr Gesicht war tränenüberströmt. In ihren großen Augen stand ein gequälter Ausdruck.

Er hätte sagen sollen, was er sagen wollte. Dann hätte er sich umdrehen und einen Schlussstrich unter die Sache ziehen können.

Stattdessen jedoch betrachtete er sie so eindringlich, als wollte er sich jede Einzelheit ihres Gesichts einprägen: das prachtvolle, leicht zerzauste Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel, die tränenfeuchten dunklen Wimpern, die ihre bernsteinfarbenen Augen umrahmten, die zarten Wangen, die die Rundlichkeit der Jugend verloren hatten …

Verärgert über seine Reaktion, schob er die Hände in die Hosentaschen und bemühte sich um einen besonders verächtlichen Tonfall. „Meine Güte, Georgia, man könnte meinen, du würdest um einen glühend verehrten Liebhaber trauern und nicht um einen ältlichen Stiefvater, den du nur selten getroffen hast!“

Er hätte es wirklich dabei belassen sollen. Als er sah, wie sie unter seinen boshaften Worten zusammenzuckte, bereute er die Bemerkung sofort. Er wollte sich dafür entschuldigen, doch sie unterbrach ihn.

„Du hast nie begriffen, dass Harold an jenem Tag gelogen hat, oder?“ Unverhohlener Schmerz schwang in ihrer Stimme mit. Sie hasste den Mann in dem maßgeschneiderten grauen Anzug, den Mann mit dem abweisenden Gesicht und dem erbarmungslosen Blick! „Oder hast du diese Lügen bereitwillig geglaubt, weil sie dir einen willkommenen Ausweg boten? Du hast dich von mir und unserem Baby abgewandt und wahrscheinlich deinem Schutzengel gedankt, dass du nun nicht mehr diesen fetten Teenager heiraten musstest, der dich nur lächerlich gemacht hätte.“ Sie atmete tief durch. „Ich habe mir das Kind mehr als alles andere auf der Welt gewünscht. Aber dich hat nicht einmal interessiert, was aus uns geworden ist! Warum sollte ich mich also jetzt vor dir rechtfertigen?“ Trotzig warf sie den Kopf zurück und drängte sich an Jason vorbei. „Du stehst mir im Weg. Ich habe eine Verabredung in Gloucester.“

Glück gehabt, dachte Georgia auf dem Heimweg nach Birmingham. Knapp fünf Minuten nach der Konfrontation mit Jason hatte sie Lytham verlassen, ohne ihn noch einmal zu sehen. Der Termin mit dem Anwalt war schnell erledigt gewesen, und inzwischen hatte sich der Berufsverkehr gelegt.

Außerdem wusste sie nun, was sie als Nächstes tun würde. Die Vorhänge und Regale, die in ihrem Apartment angebracht werden mussten, konnten warten.

Sie würde den Rest ihres Urlaubs auf Blue Rock in der Karibik verbringen. Sie würde den tristen englischen Winter hinter sich lassen, den Mann mit den kalten grauen Augen vergessen, am feinen weißen Strand in der Sonne liegen, in kristallklarem blauem Wasser schwimmen, den Duft von Oleander einatmen und sich von Blossoms fantastischen Kochkünsten verwöhnen lassen.

Sie würde gründlich abschalten und ihren Seelenfrieden wieder finden.

5. KAPITEL

Der aufgeheizte weiße Sand war selbst durch die Baumwollshorts zu spüren. Georgia stand auf und klopfte sich den feinen Kies von den Beinen. Sie war seit drei Tagen auf Blue Rock und hatte schon eine leichte Sonnenbräune angenommen.

Mehr war nicht passiert. Und ihr Seelenfrieden, um dessentwillen sie hierhergekommen war, hatte sich auch nicht eingestellt. Wie hatte sie nur glauben können, es würde ihr gelingen, sich Jason aus dem Kopf zu schlagen? Er geisterte nachts durch ihre Träume und schlich sich tagsüber pausenlos in ihre Gedanken.

Es wäre besser, wenn ich den Urlaub abbrechen und wieder an die Arbeit zurückkehren würde, dachte sie verärgert. Nach dem Verlust ihres Babys hatte sie viele Monate gebraucht, um sich zu fangen. Seither war der Beruf zum Mittelpunkt ihres Lebens geworden, und wenn sie erst wieder in der gewohnten Tretmühle steckte, würde es ihr vermutlich leichter fallen, die Vergangenheit zu vergessen.

Sie bemerkte, dass Elijah das Boot von der Anlegestelle am anderen Ende der kleinen Bucht fortlenkte. Das leise Tuckern des Dieselmotors drang zu ihr herüber. Sie hob die Hand, um ihre Augen vor den gleißenden Sonnenstrahlen zu schützen, und fragte sich, ob er zum Fischen oder zum Markt nach San Antonio, Blue Rocks größerer Schwesterinsel, fuhr.

Georgia wünschte, sie wäre bei ihm. Ihr wäre jede Beschäftigung recht gewesen, um sich von Jason abzulenken. Das Wiedersehen mit ihm hatte sie zutiefst aufgewühlt und den Schmerz mit unverminderter Heftigkeit zurückgebracht.

Auf einmal vernahm sie Blossoms Stimme. „Sie kommen sofort zurück, Miss Georgie, und setzen sich einen Hut auf! Haben Sie mich gehört?“

Der Befehl duldete keinen Widerspruch. Lächelnd drehte Georgia sich um und winkte.

Seit ihrem letzten Besuch auf der Insel, anderthalb Jahre nach der Hochzeit von Harold und Vivienne, hatte sich kaum etwas geändert. Blossom hielt es nach wie vor für ihre Pflicht, jeden herumzukommandieren. „Zu Ihrem eigenen Besten“, wie sie dabei stets betonte, und Elijah, ihr leidgeprüfter, aber nichtsdestotrotz ergebener Ehemann gehorchte noch immer auf den kleinsten Wink. Der einzige Unterschied, den Georgia zu früher erkennen konnte, bestand darin, dass Elijahs krauses Haar weiß und Blossoms breite Hüften noch breiter geworden waren.

Sie bahnte sich den Weg hinauf zum Haus durch üppig blühende Frangipanisträucher und Bougainvilleen, die auf den Klippen wucherten.

„Wollen Sie wie ein gekochter Hummer aussehen?“, rief Blossom. „Herein mit Ihnen. Im Haus wartet eisgekühlte Limonade auf Sie.“

„Sie haben völlig recht – wie immer“, bestätigte Georgia. Ihre Miene war ernst, nur ihre Augen funkelten. Niemand außer Blossom durfte mit ihr reden, als wäre sie noch ein Kind.

Nach dem Schnee und Eis in England war das karibische Klima traumhaft, aber trotz der frischen Meeresbrise konnte die sengende Sonne großen Schaden anrichten. Georgia beschloss, einen stärkeren Sunblocker aufzutragen und einen breitkrempigen Hut aufzusetzen, bevor sie erneut hinausging.

Blossom hatte jedoch andere Pläne mit ihr.

„Sie haben gerade noch Zeit, sich ein bisschen frisch zu machen und einen Blick auf die Sachen Ihrer armen Mutter zu werfen, bevor Ihr Gast eintrifft. Dies ist jetzt Ihr Haus, und Sie müssen sich darum kümmern. Mr. Harold ist nie wieder hier gewesen, um alles zu ordnen. Zu viele traurige Erinnerungen.“ Blossom überquerte bereits den smaragdgrünen Rasen, der dank Elijahs unermüdlicher Pflege makellos dicht war.

Stirnrunzelnd holte Georgia sie ein. „Ich erwarte keinen Gast, Blossom.“ Die Haushälterin musste irgendetwas missverstanden haben.

Entrüstet drehte die Frau sich um und stemmte die Hände in die Hüften. „Aber natürlich tun Sie das, Miss Georgie. Was ist nur in Sie gefahren, dass Sie es vergessen haben? Mr. Jason hat vorhin aus St. Vincent angerufen. Das Lufttaxi landet in ein paar Stunden auf San Antonio. Elijah holt ihn ab und bringt frischen Fisch mit.“ Sie setzte ihren Weg fort. „Wie ich schon sagte: Sie haben noch Zeit, sich hübsch zu machen und sich im Zimmer Ihrer armen Mutter umzusehen. Es wäre nicht recht, alles so zu lassen, und Sie können die Sachen nicht durchsehen, während Sie Mr. Jason unterhalten müssen.“

Georgia erschrak. Jason war ihr hierher gefolgt und hatte das Haushälterehepaar offenbar in dem Glauben gelassen, sie hätte ihn eingeladen. Es war ihr unbegreiflich.

Sie hatte den Eindruck gewonnen, ihre Gegenwart wäre ihm ebenso zuwider wie ihr seine. Die gegenseitige Verachtung hatte eine unerträgliche Spannung geschaffen und den Aufenthalt auf Lytham überschattet.

Leider konnte sie nicht einfach in einen Bus steigen und verschwinden. Um Blue Rock zu erreichen und wieder zu verlassen, bedurfte es einer logistischen Meisterleistung. Sie würde also hier mit ihm gefangen sein, bis sie ihre Abreise zu einem früheren Termin arrangieren konnte.

Gefangen, ohne sich irgendwo verstecken zu können.

Georgia war die breite Treppe, die zu der schattigen, das gesamte Gebäude umlaufenden Veranda führte, bereits halb hinaufgestiegen, als sie unvermittelt stehen blieb und die Schultern straffte. Was, zum Teufel, war nur los mit ihr? Der Instinkt, vor Unannehmlichkeiten die Flucht zu ergreifen und sich zu verstecken, war ein altes Verhaltensmuster, das zu einem verunsicherten, leicht zu beeindruckenden Teenager passte.

Inzwischen galten andere Regeln. Sie behauptete sich. Sie konnte jedem die Stirn bieten. Auch Jason.

Als die kleine Maschine zur Landung auf San Antonio ansetzte, erfasste Jason ein leichtes Unbehagen. Schon bald würde er Georgia gegenübertreten, sich der Vergangenheit stellen müssen, damit er sie endlich begraben konnte.

Nach allem, was sie über das Baby gesagt hatte, war der Drang, ihr zu folgen und auf einer klärenden Aussprache zu bestehen, um herauszufinden, ob auch ihn ein Teil der Schuld traf, immer stärker geworden. Wenn er nachdrücklicher darauf gedrungen hätte, dass sie erfuhr, wie sehr er sich wünschte, sowohl für sie als auch für das Kind zu sorgen, wäre sie vielleicht nicht in Panik geraten und in einer Abtreibungsklinik gelandet.

Damals jedoch war für ihn die Sehnsucht nach einer eigenen Familie so neu und fremd gewesen, dass er sie nicht verstanden hatte. Wie hätte er ihr etwas erklären können, das ihm selbst unerklärlich gewesen war?

Während die Maschine auf die Hütte zurollte, die als „Flughafengebäude“ diente, gestand Jason sich widerstrebend ein, dass er nur nach Ausflüchten suchte.

Außerdem hatte die Sache noch einen Haken: Georgias Verhältnis zu Harold.

Als sein Stiefvater sie beschuldigt hatte, ihn verführen zu wollen, hatte Jason die Behauptung als Unsinn abgetan. Er hatte schließlich seit Jahren gewusst, wie Harold war. Außerdem war dieser Aspekt in den Hintergrund getreten, als er von der Abtreibung erfahren hatte.

Anfänglich war er viel zu wütend über das Ende des Lebens gewesen, für dessen Entstehung er die Verantwortung trug, um Georgia deshalb zur Rede zu stellen, und als er sich endlich wieder beruhigt hatte, war es zu spät gewesen. Vivienne hatte ihm nämlich mitgeteilt, dass ihre Tochter nach Amerika gegangen war, ohne offenbar auch nur das geringste Bedauern zu empfinden. Danach hatte er hart gearbeitet, um sie aus seinen Gedanken zu verbannen.

Das war ihm sogar gelungen – bis sie nach England zurückgekehrt war und Harold ihm von diesen Verabredungen zum Lunch erzählt hatte. Wie, um alles in der Welt, war es ihr gelungen, ihn zu überreden, ihr das gesamte Vermögen zu hinterlassen? Nachdem Jason die neue, souveräne Georgia gesehen hatte – eine Frau, die unbeschreiblichen Sexappeal besaß –, und da er Harold von früher kannte, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass es eine harmlose Erklärung gab.

Jason löste den Sicherheitsgurt und erhob sich. Harolds Reichtum war ihm herzlich gleichgültig, ihn interessierten lediglich dessen Motive. Er war nur aus einem einzigen Anlass hier: um die Wahrheit herauszufinden. Die Wahrheit über Georgias Gründe für die Schwangerschaftsunterbrechung und ihre Beziehung zu Harold. Sobald er dieses Ziel erreicht hatte, konnte er sie wieder vergessen. Ein für alle Mal.

Als Georgia das Boot die Landzunge umrunden und in die Bucht einbiegen sah, ließ sie die Lamellen der Jalousie herunterschnappen und wandte sich vom Fenster ab.

Ein letzter prüfender Blick in den hohen Spiegel, und sie war bereit, dem ungebetenen Gast gegenüberzutreten. Sie trug eine graubraune Baumwollhose und ein dazu passendes leichtes Top, das Haar hatte sie zu einem schlichten Zopf geflochten. Ein kühles, dezentes Outfit. Der einzige Farbtupfer war der leuchtend rote Lippenstift. Ein Zeichen ihres Trotzes.

Sie verließ rasch das Zimmer, bevor Blossom sie rufen und auffordern konnte, sich wie eine gute Gastgeberin zu benehmen. Ihre nackten Füße verursachten auf dem kühlen Marmorboden kein Geräusch. Sie durchquerte den Eingangsbereich und trat durch die geöffneten Doppeltüren hinaus auf die schattige Veranda.

Bis hierhin und nicht weiter.

Es hatte Zeiten gegeben, da wäre sie beim geringsten Hinweis auf seine Ankunft Jason erwartungsvoll und mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen entgegengeeilt.

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