Flucht aus dem goldenen Käfig

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Heimlich flüchtet die blutjunge Lady Jennifer aus dem goldenen Käfig, zu dem das Anwesen ihres Gatten Julian Stapleford, Marquis of Wroxam, für sie geworden ist. Erst neun Jahre später kehrt sie nach London zurück, entschlossen, sich von Julian scheiden zu lassen. Niemals darf er erfahren, dass sie einen gemeinsamen Sohn haben, denn das Recht, ihr den Jungen für immer zu nehmen, wäre auf seiner Seite! Und so verbirgt sie Charles vor Julian, der ihr noch immer so kühl und distanziert wie damals entgegentritt. Insgeheim jedoch ist er von Jennifer entzückt: Sie ist gereift, erwachsen geworden und dazu strahlend schöner Mittelpunkt jeder Gesellschaft. Als er dann doch erfährt, dass sie einen gemeinsamen Sohn haben, lässt er Jennifer und Charles sofort nach Wroxam Park bringen - mit der brennenden Hoffnung im Herzen, hier mit Jennifer erneut die Liebe zu finden...


  • Erscheinungstag 07.09.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733763336
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Lady Carstairs blickte gelangweilt aus dem Fenster des Salons. Plötzlich bemerkte sie draußen auf dem Berkeley Square eine elegante Kutsche, die von einem Gespann prächtiger Rappen gezogen wurde und in diesem Moment vor einem der Häuser auf der anderen Seite des Platzes zum Stehen kam. Neugierig beobachtete Ihre Ladyschaft, wie kurz darauf eine Dame dem Gefährt entstieg und eine Weile regungslos an dem vornehmen Gebäude hochschaute.

„Gütiger Himmel!“, rief sie aus. „Ob es einen Todesfall bei den Staplefords gegeben hat, Serena? Aber ich habe nichts dergleichen gehört!“

Ihre Tochter sah von dem Buch auf, das sie sich am Morgen aus der Leihbibliothek geholt hatte, und kniff die kurzsichtigen Augen zusammen, um einen Blick nach draußen zu werfen. „Nur weil die Dame schwarz gekleidet ist, bedeutet das noch lange nicht, dass sie Trauer trägt“, entgegnete sie. „Es gibt viele Frauen, die eine Vorliebe für diese Farbe hegen.“

Lady Carstairs war die vernünftige Art ihrer älteren Tochter häufig ein Ärgernis. In diesem Fall jedoch war sie gewillt, darüber hinwegzugehen. „Natürlich hast du recht. Der Schleier dient vermutlich nur dem Zweck, ihr Gesicht zu verbergen.“ In ihren Augen war plötzlich ein boshaftes Funkeln zu erkennen. „Und ich für mein Teil kann es der Dame auch kaum verdenken, falls sie tatsächlich vorhaben sollte, diesen gefühllosen Menschen aufzusuchen.“

Serena vermochte ein Lächeln nicht zu unterdrücken. Ihre Mutter ließ keine Gelegenheit aus, eine abfällige Bemerkung über den hochmütigen Marquis of Wroxam fallen zu lassen, der es tatsächlich wagte, Lady Carstairs’ Existenz komplett zu ignorieren. „Du hast bisher noch nie ein gutes Wort für Seine Lordschaft übrig gehabt, Mama, und vielleicht hast du damit auch recht. Er hat zweifelsohne nicht umsonst den Ruf, außerordentlich hochnäsig zu sein. Doch ich muss sagen, dass ich sein Benehmen bei den wenigen gesellschaftlichen Anlässen, bei denen ich ihn beobachtet habe, stets nur als tadellos bezeichnen konnte.“

„Ha!“, höhnte Lady Carstairs. „Aus gutem Grund! Bestimmt möchte er dem stolzen Namen, den er trägt, nicht noch mehr Schaden zufügen, als er das bereits getan hat. Schließlich gab es vor Jahren genug Gerede, nachdem seine junge Frau auf einmal verschwunden war.“

„Ich habe davon gehört.“ Serena runzelte die Stirn. „Obwohl ich das Gerücht, dass er sie umgebracht haben soll, nicht einen Moment lang glaube.“

Diesmal ließ Lady Carstairs ihrer Verärgerung freien Lauf. „Und weshalb nicht, wenn ich fragen darf? Stehst du mit dem Marquis auf derart vertrautem Fuß, dass du behaupten kannst, er habe ganz sicher nichts mit ihrem Verschwinden zu tun?“

„Nein, Mama“, erwiderte Serena in ihrer gelassenen Art. „Ich habe bisher noch kein einziges Wort mit ihm gewechselt. Wahrscheinlich weiß er nicht einmal, dass es mich gibt. Aber nach dem, was ich gehört habe, bin ich der Ansicht, dass er zu klug ist, um sich zu einer so törichten Handlung hinreißen zu lassen. Es erscheint mir wenig schlüssig, dass er Lady Jennifer Audley überhaupt geheiratet haben sollte, wenn er das nicht wirklich gewollt hat. Geld kann bei der Wahl der Tochter des verstorbenen Earl of Chard keine Rolle gespielt haben, denn der Marquis gehört schließlich zu den reichsten Männern des Landes.“

„Ich muss zugeben, dass du recht haben könntest“, räumte Ihre Ladyschaft widerwillig ein.

„Wenn er ihren Tod verursacht haben soll, dann müsste er doch einen guten Grund dafür gehabt haben. Hätte er sich etwa für eine andere Frau entschieden, wäre ihm sicher daran gelegen gewesen, dass man den Leichnam seiner ersten Gattin findet – doch das war nicht der Fall, wie du weißt“, erinnerte Serena ihre Mutter.

Lady Carstairs nickte nachdenklich.

„Sein Name ist während der letzten Jahre mit allen möglichen Damen in Verbindung gebracht worden. Aber ich habe nie gehört, dass er vorgehabt hätte, eine von ihnen zu heiraten. Zudem ist er ein strikter Verfechter der Schicklichkeit. Wie man sich erzählt, hat er bisher noch keiner seiner Geliebten gestattet, ihn in Wroxam Park aufzusuchen. Auch in seinem Stadthaus lässt er nur ungern Besuche zu. Frauen ohne Begleitung sind ihm sowieso nicht willkommen. Deshalb frage ich mich“, fügte Serena hinzu und schaute nochmals zum Fenster auf den Platz hinaus, „ob diese Dame überhaupt eingelassen werden wird.“

Genau dieser schwierigen Entscheidung sah sich der Lakai Thomas gegenüber, als er besagter Dame wenige Augenblicke später die Tür öffnete. Er kannte die Einstellung seines Herrn, was Frauen ohne angemessene Begleitung anbetraf, und auch wenn diese Besucherin ehrenwert wirkte und nicht unvermögend sein konnte, ihrer Kutsche und der Kleidung nach zu urteilen, zögerte der junge Bedienstete.

„Was ist hier los?“, wollte plötzlich eine strenge Stimme hinter ihm wissen. Thomas trat eilig zur Seite. Er war mehr als erleichtert, den weiteren Verlauf der Dinge seinem Lehrmeister Slocombe überlassen zu können.

Ein rascher Blick genügte dem erfahrenen Butler, um sich davon zu überzeugen, dass die Besucherin ehrbar war. Doch er gestattete sich nicht, sich von dieser Überlegung beeinflussen zu lassen. „Lord Wroxam ist nicht zu Hause, Madam“, erklärte er höflich, aber entschieden. „Ich würde Ihnen vorschlagen, morgen wiederzukommen, wenn Ihnen das recht ist.“

„Nein, Slocombe, das ist mir ganz bestimmt nicht recht“, gab die Besucherin zur Verblüffung der beiden Diener mit ruhiger Stimme zur Antwort. „Sie werden mir nicht noch einmal den Eintritt in dieses Haus verwehren. Treten Sie beiseite!“

Es war weniger der kühle, gebieterische Tonfall, der den Butler dazu veranlasste, den Befehl sogleich zu befolgen, als vielmehr eine lang vergessene Erinnerung, die ihm plötzlich kam. Ein eisiger Schauder lief ihm über den Rücken.

Er schloss leise die Haustür und drehte sich dann zu der schlanken Gestalt um, die inzwischen im Foyer stand. Eine böse Vorahnung breitete sich in ihm aus, während er versuchte, die Gesichtszüge hinter dem Schleier auszumachen. „Wenn Sie so gut wären, mir Ihren Namen und Ihr Anliegen zu nennen“, sagte er in einem Ton, der seine übliche Contenance deutlich vermissen ließ. „Vielleicht könnte ich Ihnen behilflich sein, solange Seine Lordschaft nicht hier ist.“

Für einen Augenblick herrschte Schweigen. Dann hob die Dame langsam die Hand und schob den Schleier zurück. „Ich bin mir sicher, dass Sie genau wissen, wer ich bin, Slocombe.“

Thomas, der sich neugierig im Hintergrund hielt, vermochte kaum seinen Augen zu trauen. Es war nicht so sehr der Anblick des schönen, von kastanienbraunen Locken umrahmten Gesichts der Dame, das ihn vor Überraschung nach Luft schnappen ließ, sondern vielmehr die plötzlich aschfahle Miene seines sonst so beherrschten Lehrmeisters.

„M-Mylady … Sie sind es also tatsächlich“, stammelte Slocombe. Er bemerkte in seiner Fassungslosigkeit gar nicht, wie der junge Lakai davonschlich. Thomas brannte darauf, den anderen Bediensteten – und Leidensgenossen – mitzuteilen, dass der unerbittliche Gebieter dieses Haushalts zum allerersten Mal die Haltung verloren hatte.

„Wie Sie sehen.“ Aus der Stimme der mit „Mylady“ angesprochenen Dame war keinerlei Regung herauszuhören. „Wie Sie wissen, kenne ich mich in diesem Haus nicht aus. Also können Sie mir tatsächlich behilflich sein, Slocombe, indem Sie mich in die Bibliothek geleiten. Dort werde ich bestimmt das Nötige finden, um eine Nachricht für Seine Lordschaft zu schreiben.“

Wie mechanisch gehorchte der Butler ihrem Befehl. Er führte sie durch das mit schwarzem und weißem Marmor ausgelegte Foyer und öffnete eine Tür an dessen rückwärtigem Ende. Die Besucherin schritt hoheitsvoll an ihm vorbei. Ein schwaches Lächeln spielte um ihre Lippen, während sie sich im Raum umsah.

„Ja“, murmelte sie und trat zu einem Schreibsekretär. „Genau so hatte ich mir die Bibliothek vorgestellt.“

Sie nahm gelassen Platz, holte ein Blatt Papier aus der obersten Schublade und griff nach einer Feder, die auf dem Tisch lag. Nicht eine Sekunde lang hielt ihre schmale, weiße Hand während des Schreibens inne. Die Dame wusste anscheinend genau, was sie mitteilen wollte. Nach wenigen Minuten setzte sie ihre Unterschrift ans Ende des Briefs, schüttete Sand über die feuchte Tinte, faltete das Papier und versiegelte es.

„Bis zum heutigen Tag habe ich Ihnen noch nie einen Befehl erteilt, Slocombe“, erinnerte sie den Butler und erhob sich. „Doch jetzt gebe ich Ihnen einen weiteren. Ich vertraue Ihnen dieses Schreiben an, das Sie Ihrem Herrn bei seiner Rückkehr persönlich überreichen werden.“

Slocombe nahm den Brief entgegen. „Wie Sie wünschen, Mylady“, sagte er, trat einen Schritt zurück und beobachtete, wie sie anmutig zur Tür ging. „Mylady, ich …“

Als er verstummte, drehte sie sich zu ihm um. Sie schaute ihn mit ihren außergewöhnlich grünen Augen an, die nichts mehr von jener Wärme zeigten, an die er sich aus ihrer Jugend erinnern konnte. „Reue ist ein ebenso bitteres Gefühl wie Schuld, nicht wahr, Slocombe? Ganz gleich, wie sehr wir es uns auch wünschen mögen – keiner von uns kann die Vergangenheit ungeschehen machen. Ich würde Ihnen also raten, keine Zeit damit zu verschwenden, es zu versuchen. Guten Tag.“ Mit diesen Worten verschwand sie und ließ den Butler mit seinen Erinnerungen und seinem schmerzlichen Bedauern zurück.

Traurig schüttelte Slocombe den Kopf. Er wusste nicht, was er von dieser unerwarteten Wendung der Dinge halten sollte. Eins jedoch war gewiss – die Rückkehr Ihrer Ladyschaft bedeutete, dass im Hause der Staplefords nichts mehr so sein würde, wie es einmal war.

Eine Stunde später betrat die Dame, die bei Lord Wroxams Butler einen so starken Eindruck hinterlassen hatte, ein Haus in einem anderen eleganten Viertel der Stadt. Nachdem sie abgelegt hatte, ging sie schnurstracks in den sonnendurchfluteten Salon. Sie hatte es sich gerade in einem Sessel am Fenster bequem gemacht, als die Tür geöffnet wurde und eine junge Frau in ungefähr demselben Alter hereinkam.

„Ah, Mary!“ Lady Jennifer Stapleford, Marchioness of Wroxam, streckte der Eintretenden die Hand entgegen. „Wolltest du sehen, ob ich meine Probe gut überstanden habe?“

Mary nahm die Hand und drückte sie zärtlich, ehe sie die schlanken Finger wieder losließ. Aufmerksam betrachtete sie das hübsche Gesicht ihrer Herrin und Freundin. „Ich muss sagen, dass Sie höchst zufrieden aussehen, Miss Jennifer.“

„Nun, der Besuch verlief erstaunlich schmerzlos. Aber das lag vermutlich daran, dass er selbst nicht anwesend war.“

„Und wo war er?“

„Ich hielt es für besser, nicht nachzufragen. Slocombe ist im Gegensatz zu dir ein sehr korrekter, steifer Diener. Er würde niemals etwas mitteilen, wenn er nicht darauf angesprochen wird.“ Sie lächelte. „Mein unerwartetes Auftauchen hat den armen Mann ziemlich aus der Fassung gebracht.“

„Ich werde ihn noch viel mehr aus der Fassung bringen, wenn ich diesen Burschen jemals in die Finger bekommen sollte!“

Jennifer lachte. „Deine Treue mir gegenüber in allen Ehren, Mary, aber du tust dem armen Slocombe Unrecht. Er hat nur die Anweisungen seines Herrn bis ins kleinste Detail befolgt, als er mir vor Jahren den Eintritt ins Stadthaus verwehrte. Ich bin überzeugt, dass er glaubte, mein Onkel würde mich bei sich aufnehmen. Ach, wenn wir schon von meinem liebevollen Verwandten sprechen …“

Sie erhob sich, trat zum Sekretär, nahm die Liste, die sie am Morgen erstellt hatte, und warf einen Blick darauf. „Heute Abend ist der Ball bei den Chards. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass Lady Jennifer Audley Stapleford, die Marchioness of Wroxam, ihre Rückkehr in die Gesellschaft verkündet. Mein Onkel hat mir vor Jahren kein Asyl gewährt. Es wird bestimmt amüsant, seine Reaktion zu beobachten, wenn ich heute Abend uneingeladen auf seinem Ball erscheine.“

Mary betrachtete ihre junge Herrin nachdenklich. „Miss Jennifer, glauben Sie wirklich, dass Sie das tun sollten? Manchmal wäre es mir lieber, wenn wir in Irland geblieben wären. Dort befanden Sie sich in Sicherheit.“

„Ich werde auch hier sicher sein“, erwiderte Jennifer. „Ich habe dir bereits erzählt, dass mein Onkel ein sehr schwacher, unentschlossener Mensch ist. Er wird mir keine Schwierigkeiten machen.“

„Ich habe nicht ihn gemeint, sondern Ihren Mann. Wenn auch nur die Hälfte der Geschichten, die man sich erzählt, wahr ist …“

„Warum wirst du nur immer so irisch“, unterbrach Jennifer sie, „wenn du dich über etwas aufregst, Mary?“

„Weil ich Irin bin. Und stolz darauf.“

„Mit Recht. Aber Wroxam wird nicht vor morgen zurück sein. Es besteht also nicht die geringste Gefahr, dass ich ihm schon heute Abend gegenüberstehen werde.“

„Früher oder später wird es aber geschehen.“

„Das ist unvermeidbar. Doch ich bin darauf vorbereitet.“

Mary dachte einen Moment lang nach. „Aber wenn er es erfährt, Miss?“

„Ich habe mir große Mühe gegeben zu verhindern, dass das passiert.“ Jennifer zwang sich zu einem aufmunternden Lächeln. „Komm schon, Mary, du musst dir keine Sorgen machen. Hilf mir lieber, mich für mein Debüt in der Londoner Gesellschaft hübsch herzurichten.“

Seit Jennifer vor einem Monat in der Hauptstadt eingetroffen war, hatte sie ihre Anwesenheit absichtlich geheim gehalten. Dennoch wollte sie sich nicht in dem Haus, das sie gemietet hatte, verstecken. Sie hatte sich vielmehr vorgenommen, so viele Sehenswürdigkeiten wie möglich zu besuchen.

Während eines Einkaufsbummels hatte sie bei einem berühmten Schneider in der Bond Street zufällig erfahren, dass ihr Onkel und seine Gattin einen Ball zum Beginn der Saison geben würden. Dem Klatsch nach handelte es sich um eine großartige Festlichkeit, die von den angesehensten Mitgliedern der Gesellschaft beehrt wurde.

Wann ihr zum ersten Mal die Idee gekommen war, bei diesem Ball zu erscheinen, wusste Jennifer nicht mehr. Der einzige Grund für ihre Rückkehr nach England lag darin, dass sie mit ihrem Mann sprechen und ihn dazu bewegen wollte, endlich ihre katastrophale Ehe zu beenden. Das war auch jetzt noch ihr eigentliches Ziel. Aber sie wollte auch ihren Aufenthalt in der Hauptstadt genießen. Immer wieder war ihr das Vergnügen versagt worden, eine Ballsaison in London zu erleben, und nun bot sich ihr die einmalige Gelegenheit, das Versäumte endlich nachzuholen.

Als sie an diesem Abend die breite Treppe im Haus ihres Onkels hinaufschritt, fand sie die Situation höchst amüsant. Der Diener, der ihr den eleganten Abendumhang abgenommen hatte, war nicht einmal auf den Gedanken gekommen, nach einer Einladungskarte zu fragen. Wie anders war vor vielen Jahren der Empfang gewesen! Ihr Onkel hatte sie damals alles andere als herzlich begrüßt. Diesmal würde sie ihm bestimmt nicht mehr die Gelegenheit geben, sie so abfällig zu behandeln.

Als sie oben angelangt war und den Gang entlang zum bereits vollen Ballsaal schritt, stellte sie zu ihrer Zufriedenheit fest, dass sie gerade im rechten Moment eingetroffen war. Der Earl of Chard und seine Gattin hatten zweifelsohne angenommen, dass sie die letzten Gäste begrüßt hatten. Sie warteten nicht mehr bei der Tür, befanden sich jedoch noch immer in der Nähe. So konnten sie auch den Diener hören, der mit lauter Stimme Lady Jennifers Ankunft verkündete.

Das überraschte Schweigen, das daraufhin folgte, ließ Jennifer beinahe ihre Haltung verlieren. Am liebsten wäre sie beim Anblick der verblüfften Gesichter in lautes Lachen ausgebrochen. Sie betrat selbstbewusst den Saal. Ihr perfekt geschnittenes schwarzes Abendkleid betonte ihre hübsche Figur und brachte ihre makellose weiße Haut hervorragend zur Geltung.

„Guten Abend, Onkel Frederick“, grüßte sie, als sie vor ihren Verwandten stand.

Der ungläubige Blick Lord Chards erheiterte sie. Früher hätte sie sich niemals dazu überwinden können, ihm auch nur die Andeutung eines Lächelns zu schenken. Doch inzwischen hatte sie begriffen, dass ihr Vater und sein jüngerer Bruder sich zu keiner Zeit nahe gestanden hatten. Sie konnte es ihrem Onkel im Grunde gar nicht zum Vorwurf machen, dass er sich nicht in den Angelegenheiten einer Nichte, die er kaum kannte, engagieren wollte. Außerdem stand ihr Mann im Ruf, jeden, der ihm in die Quere kam, gnadenlos zu verfolgen. Nur ein Narr oder ein besonders tollkühner Mann hätte es gewagt, sich mit dem Marquis of Wroxam anzulegen.

„Ich kann gut verstehen, dass es Sie überraschen muss, mich nach all den Jahren plötzlich wieder zu sehen. Ich bin aber wirklich Ihre Nichte, Onkel.“ Ohne ihm Gelegenheit zu geben, ihr zu antworten, wandte sich Jennifer an die Countess – eine Dame, an die sie sich kaum mehr erinnerte. „Madam, es ist schon lange her, seitdem wir uns das letzte Mal begegnet sind. Ich glaube, wir haben uns seit dem Ableben meiner armen Mama nicht mehr gesehen.“

„Das … das stimmt“, stammelte Ihre Ladyschaft mit gepresster Stimme. Sie warf einen raschen Blick auf das perfekt frisierte, kastanienbraune Haar, die grünen Augen und den schlanken Hals ihres Gegenübers.

„Ich hoffe, Sie verzeihen mir meine Unverfrorenheit, uneingeladen auf Ihrem Ball zu erscheinen.“

„Da gibt es doch nichts zu verzeihen“, antwortete die Countess, die allmählich wieder die Fassung zurückgewann, während ihr Mann noch immer stumm vor Staunen neben ihr stand. „Natürlich sind Sie uns sehr willkommen.“

Jennifer bezweifelte zwar, dass dies der Wahrheit entsprach. Doch sie wollte die beiden nicht länger quälen. Deshalb nutzte sie die Gelegenheit, als ein weiterer Spätankömmling eintraf, und schlenderte weiter in den Ballsaal.

Indessen breitete sich die Neuigkeit von ihrer Ankunft wie ein Lauffeuer unter den Anwesenden aus. Sie vermutete, dass es in wenigen Minuten keinen einzigen Gast mehr geben würde, der nicht wusste, wer sie war. Schon bald richteten sich viele Augen auf sie – einige voller Bewunderung, andere neugierig oder verblüfft. Während Jennifer durch den Raum ging, dachte sie daran, wie sehr sie bei ihrem ersten Besuch in London derartige Blicke eingeschüchtert hätten. Doch inzwischen war sie eine selbstbewusste junge Frau, die keine Angst davor hatte, stolz ihren Kopf hochzuhalten und die vielen Fremden um sich herum genau zu mustern.

Wenn ihre Kindheit und ihre Jugend anders verlaufen wären und sie vor fünfzehn Jahren nicht ihre Mutter verloren hätte, wären die Anwesenden an diesem Abend wahrscheinlich keine Fremden für sie gewesen. Dann hätte sich auch ihr Vater sicher weiterhin um seinen Landsitz gekümmert, anstatt die meiste Zeit des Jahres in London zu verbringen, wo er gewaltige Summen Geldes am Spieltisch verlor. Seine häufige Abwesenheit hatte bedeutet, dass nur wenige Leute ihr Gut besuchten. Jennifer konnte sich noch recht gut an die Einsamkeit ihrer jungen Jahre erinnern. Außer den Bediensteten und ihrer Gouvernante hatte sie kaum Gesellschaft gehabt.

Eigentlich war allgemein angenommen worden, dass ihre Heirat mit dem Marquis of Wroxam – sie war damals sechzehn Jahre alt gewesen – ihre Lage verbessern würde. In gewisser Weise traf das auch zu. Sie hatte mehr Freiheiten genossen und während der Monate in Wroxam Park neue Freunde gewonnen. Das Hinscheiden ihres Vaters kurz nach ihrer Hochzeit hatte ihr allerdings gesellschaftliche Zurückhaltung auferlegt. So wurde ihr Debüt in der Londoner Gesellschaft auf den folgenden Frühling verschoben – ein Zeitpunkt, zu dem Wroxam und seine Marchioness bereits wieder getrennte Wege gingen.

„Wer? Wer soll das sein, Serena?“ Die Worte, die mit einer schrillen, durchdringenden Stimme geäußert wurden, rissen Jennifer aus ihren düsteren Gedanken. Sie wandte den Kopf und entdeckte eine ältere Dame, die ein violettes Kleid und einen hässlichen Turban in derselben Farbe trug und sie neugierig anstarrte. „Sie sind also Caroline Westburys Tochter, nicht wahr?“

„Caroline Westbury war meine Mutter – das stimmt“, erwiderte Jennifer. Die Direktheit der Frau belustigte sie. „Und mit wem habe ich die Ehre, Madam?“

„Darf ich Ihnen meine Patin, die Dowager Lady Fairfax, vorstellen?“

Jennifer wandte den Blick zu der jungen Frau, die neben der Dowager gesessen und sich jetzt erhoben hatte. „Und ich bin Serena Carstairs“, fügte diese hinzu.

„Es freut mich, Sie kennen zu lernen, Miss Carstairs“, entgegnete Jennifer und schenkte der Dame, die sehr angespannt aussah, ein warmes Lächeln.

„Ich habe auch Ihren Vater gekannt“, verkündete die Dowager, der die ganze Situation anscheinend überhaupt nicht unangenehm war. „Ein charmanter Draufgänger!“ Sie schaute zu ihrem Gastgeber am anderen Ende des Saals. „Ganz im Gegensatz zu seinem Bruder. Welch ein Langweiler das doch ist!“

„Patin, bitte!“, flehte Serena und warf Jennifer einen entschuldigenden Blick zu. Diese war keineswegs beleidigt; die Dowager hatte schließlich nur die Wahrheit gesprochen. Dennoch bemühte sie sich zu ihrer eigenen Überraschung sogleich darum, ihren Onkel zu verteidigen.

„Er besitzt gewiss nicht denselben Charme, den mein Vater einmal gehabt hat. Mein Onkel ist ein wesentlich nüchternerer Mann. Doch das muss nicht schlecht sein. Wenigstens zieht er den Namen, den er trägt, nicht in den Schmutz.“

„Es lässt sich natürlich nicht leugnen, dass Ihr Vater in seinen letzten Jahren ziemlich über die Stränge geschlagen hat“, gab die Dowager zu. „Soweit ich mich erinnern kann, hat er sich nach dem Tod Ihrer Mutter arg verändert. Sollten Sie übrigens nicht auch tot sein? Da sieht man wieder, dass man dem ganzen Gerede, das man so hört, keinen Glauben schenken darf. Nicht wahr, Serena?“

Die junge Frau sah ganz danach aus, als ob sie sich am liebsten in Luft aufgelöst hätte. „Bitte vergeben Sie meiner Patin. Sie ist gerade siebzig geworden und überlegt sich nicht immer, was sie sagt.“

„Sie müssen sich nicht entschuldigen, Miss Carstairs“, versicherte ihr Jennifer. „Ich schätze es, wenn man offen spricht. Und ich fand ihre Äußerungen … sehr aufschlussreich.“ Ihre Augen funkelten. „Ich hatte keine Ahnung, dass man mich für tot hielt. Darf ich fragen, woran ich gestorben sein soll?“

Serena wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie wollte auf keinen Fall die törichten Gerüchte, die seit Jahren die Runde machten, wiederholen. Doch leider musste sie feststellen, dass die schöne Marchioness sehr überzeugend sein konnte, wenn sie wollte.

„Wroxam soll also mein Leben zu einem frühzeitigen Ende gebracht haben?“

Die Belustigung, die aus ihrer Stimme klang, war so ansteckend, dass Serena kichern musste. „Aber niemand mit Verstand hat diesem Gerede jemals Glauben geschenkt.“

„Das vielleicht nicht. Doch nehme ich an, dass selbst mein abgebrühter Gatte es beunruhigend gefunden haben muss, als Mörder verdächtigt zu werden.“

„Das weiß ich nicht, Mylady. Ich kenne Seine Lordschaft nicht“, gab Serena offen zu, „auch wenn wir während unseres Aufenthalts in London im Haus meines Onkels am Berkeley Square wohnen dürfen.“ Sie zögerte. „Wollten Sie heute übrigens Seiner Lordschaft einen Besuch abstatten?“

Jennifer schaute sie verblüfft an. „Sie müssen aber sehr gute Augen besitzen, um mich durch meinen Schleier hindurch zu erkennen.“

„Oh nein, Mylady, meine Augen sind sogar ziemlich schlecht. Es lag vielmehr an der Art und Weise, wie Sie den Saal betraten. Ich erinnerte mich daran, dass die Dame, die heute Lord Wroxam einen Besuch abstatten wollte, einen ebenso anmutigen Gang hatte.“

Jennifer fühlte sich durch das Kompliment geschmeichelt. Sie lächelte. „Ich wollte heute tatsächlich meinen Mann aufsuchen“, bestätigte sie. „Aber leider war er nicht zu Hause.“

„Er hält sich bereits seit einigen Tagen nicht in London auf. Ich glaube, er ist bei einem Rennen, das er allerdings verloren hat.“ Serena lachte etwas beschämt. „Ich bin auch nicht besser als die anderen Klatschbasen. Aber leider wird ein Gentleman wie Ihr Mann genau beobachtet.“

Jennifer geleitete ihre neue Bekannte zu zwei freien Stühlen. „Auch mich hat dieses Rennen sehr interessiert … Aber nun sagen Sie, Miss Carstairs“, fuhr sie fort, nachdem sie es sich bequem gemacht hatten, „sind Sie das erste Mal in London?“

„Du meine Güte – nein! Ich habe vor einigen Jahren bereits eine Saison mitgemacht. Es war eine Katastrophe“, gab sie freimütig zu. „Mein Vater wollte, dass ich es noch einmal probiere, ehe meine Schwester nächstes Jahr ihr Debüt gibt. Ich bin mir sicher, dass Louisa großen Erfolg haben wird. Sie ist viel hübscher als ich.“

Die Marchioness musterte ihr Gegenüber aufmerksam. Es stimmte, dass Serena nicht besonders hübsch war. Doch sie besaß schöne graue Augen und eine makellose Haut, und Jennifer mochte die junge Frau.

„Für mich ist das mein erster Aufenthalt in London“, vertraute sie ihr an. „Ich habe bereits einige Sehenswürdigkeiten besucht. Würden Sie mich wohl morgen Nachmittag irgendwohin begleiten? Es gibt so vieles, was ich noch nicht kenne.“

Als sie aufblickte, entdeckte sie ihren Onkel und seine Frau, die eiligen Schrittes auf sie zusteuerten. Jennifer erhob sich rasch. „Vielleicht finden wir später eine Gelegenheit, uns weiter miteinander zu unterhalten, Miss Carstairs.“

Wie viele andere folgten auch Serenas Augen der Marchioness durch den Ballsaal, als sie sich entfernte. Sie hatte sich nie überlegt, wie wohl die Frau des strengen Marquis of Wroxam sein mochte; doch eigentlich überraschte es sie keineswegs, dass sie eine solche Schönheit war. Allerdings hatte sie nicht erwartet, dass sie so charmant und natürlich sein konnte – so ganz ohne Hochmut und somit das genaue Gegenteil ihres Gatten.

Serena sah sich um. Ob wohl die anderen Gäste ebenfalls überlegten, wo sich die Marchioness all die Jahre über aufgehalten hatte? Und was mochte die Ehe auseinander gebracht haben? Serena hätte es niemals gewagt, derart persönliche Dinge zu fragen. Aber sie wünschte sich, die hinreißende Lady Wroxam besser kennen zu lernen.

2. KAPITEL

Am Tag darauf kehrte der Marquis of Wroxam nach London zurück. Da er den Einspänner selber lenkte und sich auf den dichten Verkehr in der Innenstadt konzentrieren musste, konnte er sich nicht mit seinem Freund Theodore Dent, der neben ihm saß, unterhalten.

Dieser indes schien sich keineswegs zu langweilen, sondern beobachtete interessiert das Treiben auf den Straßen. Als sie durch eines der eleganten Viertel der Stadt fuhren, fiel ihm auf, dass ihre Kutsche neugierig gemustert wurde. Dem Marquis war schon als jungem Mann viel Aufmerksamkeit gezollt worden. Doch diesmal schienen die Blicke noch gespannter als sonst zu sein.

„Julian, hast du dich in letzter Zeit etwa noch hochmütiger als sonst benommen und irgendjemanden besonders brüskiert?“

Seine Lordschaft zog eine seiner dunklen Augenbrauen hoch. „Wenn man dir zuhört, mein lieber Theodore, könnte man beinahe glauben, dass ich meine Mitmenschen gern vor den Kopf stoße.“

„So weit würde ich nicht gehen. Aber es lässt sich nicht leugnen, dass es dir völlig gleichgültig ist, wenn du es tust.“

Der Marquis lächelte. „Ich habe mich schon so manches Mal gefragt, warum ich dich zu meinen Freunden zähle. Es muss wohl an deiner bestechenden Ehrlichkeit liegen. Warum nimmst du an, dass ich in letzter Zeit jemanden beleidigt haben könnte?“

„Weil uns die Leute höchst merkwürdige Blicke zuwerfen.“

„Ich nehme an, dass sie eher dich als mich begutachtet haben“, erwiderte Julian trocken. „Wenn du dich wie eine überdimensionale Wespe kleidest, sollte dich das auch nicht weiter verwundern.“

Theodore Dent warf einen Blick auf seine gelb-braun gestreifte Weste, die seine ziemlich breite Brust bedeckte. „Leider entbehrst du jeglicher Fantasie, wenn es um Kleidung geht, mein Lieber. Ich verstehe absolut nicht, warum man dich als eine Leitfigur für guten Geschmack betrachtet.“ Er sah, wie der Marquis erneut lächelte, und fuhr fort: „Die Leute kümmern sich grundsätzlich nicht um mich – ganz gleich, was ich trage. Ich glaube eher, dass man bereits von deinem Verlust auf der Rennbahn weiß.“

„Da könntest du recht haben“, entgegnete Seine Lordschaft, der es sich nicht anmerken ließ, wie sehr es ihn ärgerte, gegen die irische Stute verloren zu haben. „Hast du eigentlich herausgefunden, wem das Pferd gehört?“

„Ja, dem jungen Lord Fanshaw. Ich habe auch in Erfahrung gebracht, dass das Tier aus O’Connells Stall stammt. Allerdings gab man mir zu verstehen, dass es nicht zu verkaufen wäre.“

„Schade“, meinte der Marquis und lenkte den Einspänner vor seine Stadtresidenz, „sonst hätte ich vielleicht ein Angebot gemacht.“

Sobald er angehalten hatte, wurde auch schon die Haustür geöffnet, und ein Lakai eilte die Stufen herab. Falls Seine Lordschaft den seltsamen Blick bemerkte, den ihm der Bedienstete zuwarf, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Er führte seinen Freund ohne Umwege in die Bibliothek.

Dort angekommen, füllte er zwei Gläser mit Wein und reichte eines davon Mr Dent, der es sich in einem Sessel am Kamin bequem gemacht hatte.

Dann schlenderte Julian zu seinem Schreibtisch und lehnte sich gegen das wuchtige Möbelstück. Er begann die Papiere, die auf ihn warteten, durchzusehen, bis er auf einen Brief stieß, den sein taktvoller Sekretär nicht geöffnet hatte. „Warum Deborah mir ständig schreiben muss, ist mir ein Rätsel“, murmelte er ungeduldig.

Er erbrach das Siegel, entfaltete das Schreiben und hielt es auf Armeslänge von sich, um die Zeilen besser lesen zu können. „Aha, ich fehle ihr, und sie wirft mir vor, ein Unmensch zu sein, weil ich lieber zu einem Rennen fahre, als sie zu sehen.“

Ungeduldig warf er das Blatt in den Papierkorb. „Wonach sie sich in Wahrheit sehnt, ist eine Brosche, die zu den Ohrringen passt, die ich ihr geschenkt habe. Ich bin ihrer wirklich leid; sie ist so aufdringlich und gierig geworden. Es ist an der Zeit, dass ich einen Ersatz für sie finde. Was meinst du, Theodore?“

„Wie du weißt, erteile ich niemals Ratschläge, wenn es sich um Herzensangelegenheiten handelt“, erwiderte sein Freund.

„Machen wir uns nichts vor, Theodore. Es geht bei diesen Frauen nie um mein Herz.“

„Du bist ein kalter Fisch, nicht wahr, mein Guter? In den letzten Jahren hattest du ein halbes Dutzend Geliebte, die dir alle gleichgültig waren.“

„Ich muss zugeben, dass es mich keine Überwindung gekostet hat, jede dieser Verbindungen von einem Tag auf den anderen abzubrechen.“

Julian schaute auf, als der Butler die Bibliothek betrat. „Was gibt es, Slocombe?“

„Verzeihen Sie die Störung, Mylord. Aber ich wurde angewiesen, Ihnen diesen Brief bei Ihrer Rückkehr persönlich zu übergeben.“

Der Marquis zeigte keinerlei Reaktion, als er das Schreiben entgegennahm, das Siegel erbrach und die Zeilen rasch überflog.

„Einen Moment, Slocombe“, sagte er, als sich der Butler dezent zurückziehen wollte. „Wann wurde das abgegeben?“

„Es wurde nicht abgegeben, Mylord. Ihre Ladyschaft kam gestern Nachmittag persönlich vorbei. Sie hat den Brief hier in der Bibliothek geschrieben.“

Für den Bruchteil einer Sekunde verhärteten sich Julians markante Gesichtszüge. Doch als er sprach, spiegelten sich keinerlei Gefühle in seiner Stimme wider. „Sind Sie sich sicher, dass sie es war?“

„Ganz sicher, Mylord.“

Der Marquis of Wroxam nickte und bedeutete dem Butler damit, zu gehen. Dann trat er zum Fenster, wo er blicklos hinausstarrte.

„Ich hoffe, es sind keine schlechten Nachrichten“, sagte Mr Dent.

„Ich weiß es nicht“, erwiderte sein Freund. „Es sieht so aus, als ob meine Frau es sich in den Kopf gesetzt hätte, wieder aufzutauchen.“

Theodore wusste nicht recht, ob er richtig gehört hatte. „Du meinst Jennifer?“

Seine Lordschaft drehte sich um und wies auf den Schreibtisch. „Lies selbst.“

Theodore zögerte einen Augenblick, sprang dann jedoch auf. „Gütiger Himmel“, murmelte er, als er den Brief gelesen hatte. „Kann es wirklich wahr sein? Nach so vielen Jahren!“

„Du hast also auch angenommen, dass sie tot ist?“ Der Tonfall des Marquis zeigte deutlich, dass ihn nichts mehr überraschen konnte.

„Nun, ja … Eigentlich schon“, gab Theodore widerstrebend zu. „Sie war damals schließlich spurlos verschwunden. Bist du wirklich sicher, dass Jennifer diese Zeilen geschrieben hat? Erkennst du ihre Schrift?“

„Nein, das nicht. Aber ich habe auch erst einmal einen Brief von ihr gelesen, kurz vor ihrem Verschwinden.“

„Es könnte also ein Betrug sein?“

„Nein, das glaube ich nicht. Slocombe hat sie eindeutig erkannt – das hast du doch gehört.“ Seine Lordschaft kehrte zum Schreibtisch zurück und nahm Theodore den Brief ab. „Ich wusste nicht, dass sie eine so elegante Schrift hat. Ganz anders als Deborahs kindliches Gekrakel.“

„Nun, was hast du erwartet? Jennifer ist schließlich keine …“ Theodore brach ab, als er das spöttische Funkeln in den grauen Augen seines Freundes bemerkte. Er schüttelte den Kopf. „Weißt du, Julian, ich konnte nie glauben, dass Jennifer wirklich getan hat, was du ihr vorwirfst. Ich habe es nie ganz verstanden. Sie betete dich an.“

„Meinst du vielleicht, ich habe dich angelogen?“, entgegnete der Marquis.

„Natürlich nicht.“ Theodore sah seinen Freund traurig an. „Du wirst sie doch aufsuchen?“

„Vielleicht.“

Theodore verstand nicht, wie der Marquis so ruhig bleiben konnte. „Bist du denn überhaupt nicht neugierig? Willst du denn nicht wissen, wo sie sich die ganze Zeit über versteckt hat?“

„Mein lieber Theodore, ich habe Neugier schon immer für gewöhnlich gehalten. All die Jahre habe ich ohne meine Frau überlebt … Und ich bin sicher, dass ich es auch weiterhin aushalten werde.“

Mr Dent mochte über die Haltung seines Freundes überrascht gewesen sein. Doch die meisten Mitglieder der Gesellschaft waren geradezu fassungslos, wie scheinbar gleichgültig der Marquis of Wroxam auf das Auftauchen seiner schönen Gemahlin reagierte.

Autor

Anne Ashley
Die Engländerin schreibt historical romances und entspannt sich gerne in ihrem Garten. Diesen hat sie bereits öfter zugunsten des Fondes der Kirche in ihrem Dorf der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
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