Frei für die Liebe

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Ann ist auf betörende Weise anders als die Luxusfrauen, die der New Yorker Anwalt Eddy Winters sonst kennenlernt hat. Nur darf sie nie erfahren, warum er wirklich in ihrem Landgasthaus abgestiegen ist. Er soll nämlich gegen Ann ermitteln …


  • Erscheinungstag 31.01.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733773212
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Eddy Winters ging zu der riesigen Glasfront hinüber und starrte mit brütender Miene auf die trostlose Landschaft hinaus.

Etwa zu diesem Zeitpunkt hätte er mit einer langbeinigen Blondine namens Ingrid in einer luxuriösen Skihütte in den Bergen von Vermont eintreffen sollen. Wenn Hank Lewis ihm nicht dazwischengefunkt hätte.

„Nimm’s leicht“, murmelte er vor sich hin. „Das ist zwar keine Skihütte, aber Schnee ist reichlich vorhanden.“

Doch leider war keine willige Frau da, um ihm das Bett zu wärmen – wenn er überhaupt noch ins Bett kam.

Nach zwei Schneestürmen in den vergangenen zwei Wochen wirkte Wisconsin so ungastlich wie ein unerforschter Planet nach einer Eiszeit. Inzwischen schneite es zwar nicht mehr, aber die Temperaturen waren weit unter den Gefrierpunkt abgesunken.

Er wandte sich vom Fenster ab und bahnte sich einen Weg zwischen weinenden Babys, lärmenden Kindern, gereizten Eltern und schlummernden Geschäftsleuten hindurch.

„Immer noch kein Taxi?“, fragte er die junge Frau am Schalter der Fluglinie.

Sie blickte nicht einmal von ihrem Computer auf. „Noch nicht, Sir.“

Eddy seufzte. „Und wie steht es mit einem Leihwagen?“

„Tut mir leid, auch noch nichts.“

Dieselben Antworten hatte er seit der Landung in Milwaukee alle Viertelstunde erhalten.

Er kehrte zu der Glasfront zurück und beobachtete die Räumfahrzeuge, die in der Abenddämmerung versuchten, die Rollbahnen von Schnee und Eis zu befreien. Aus den Lautsprechern hinter ihm ertönten in regelmäßigen Abständen Durchsagen über gestrichene Flüge und Verspätungen.

Für einen Profi wie dich ist der Job ein Kinderspiel, hatte Hank ihm versichert und hinzugefügt, dass es sich nicht einmal lohnen würde, den Koffer auszupacken.

„Tja, da hatte er irgendwie recht“, sagte Eddy leise vor sich hin, denn er hatte gar kein Gepäck bei sich.

Seine Koffer befanden sich auf dem Weg nach Tahiti. Er stellte sich seine Hemden, Pullover und Jeans im tropischen Sonnenschein unter einer Palme vor und wünschte inbrünstig, er könnte folgen.

Eine Weile lang beobachtete er einen Schneepflug bei der Räumung einer Rollbahn. Dann blickte er zur Uhr. Das „Northcott Inn“, hatte ihm vor zwei Stunden versprochen, ihm eine Limousine zu schicken. Mit einem ungehaltenen Seufzer beschloss er, das Hotel noch einmal anzurufen. Als er sich umdrehte, stieß er jedoch mit einer Gestalt zusammen, die eine Kapuze und einen Becher mit kochend heißem Kaffee trug.

„Oje! Entschuldigung.“ Sie zog das durchnässte Sweatshirt von seiner Brust, schürzte die Lippen und begann zu pusten.

„Was tun Sie denn da?“

Sie hob den Kopf. „Ich versuche, Sie abzukühlen, bevor Sie sich verbrennen.“

Eddy erhaschte einen flüchtigen Blick auf eine niedliche, sommersprossige Nase und einen kleinen, aber sinnlichen Mund, bevor sie den Kopf wieder senkte und weiterpustete.

Wenn sie glaubte, einen Mann abkühlen zu können, indem sie die weichen, vollen Lippen schürzte und blies, dann stimmte offensichtlich irgendetwas nicht mit den Männern von Milwaukee.

Oder vielleicht hatte er nur einen zu langen, zu frustrierenden Tag hinter sich. Mit Daumen und Zeigefinger hob er ihr Kinn. „Ich glaube, Sie sollten jetzt lieber damit aufhören.“

Ihre Augen hatten die Farbe von altem Brandy. Zumindest glaubte er es. Die übergroße, fellbesetzte Kapuze verhüllte nicht nur ihr halbes Gesicht, sondern sie wandte zudem sehr hastig den Blick wieder ab.

Sie kramte in einer riesigen Schultertasche und holte ein Päckchen Papiertücher hervor. „Hier, lassen Sie mich versuchen …“

Eddy blickte auf die behandschuhte Hand, die sein Sweatshirt betupfte, und auf ihren gesenkten Kopf. Sie war groß, aber viel mehr war nicht festzustellen. Der grüne, daunengefütterte Anorak verhüllte ihre Gestalt, und die übergroße Kapuze verlieh ihr eine wunderliche Anonymität.

Das Phantom des Flughafens, schoss es ihm unwillkürlich durch den Kopf.

Ein Phantom, das eindeutig zu viel Erregung in ihm entfachte.

Er legte eine Hand auf ihre und hielt sie fest. „Ist ja schon gut. Wirklich. Außerdem“, fügte er neckend hinzu, „ist es das Netteste, was mir am heutigen Tag passiert ist.“

Sie hob erneut den Kopf, und er glaubte, Überraschung – oder Verwirrung? – auf ihrem Gesicht zu erkennen, bevor sie es hastig wieder abwandte.

„Na ja, noch mal Entschuldigung“, murmelte sie und schlurfte in unförmigen Fellstiefeln davon.

Kopfschüttelnd blickte Eddy ihr nach. Phantom oder nicht, sie war ganz anders als die Frauen, zu denen er sich gewöhnlich hingezogen fühlte. Seine Vorliebe galt graziösen, eleganten Frauen, die nicht mit anderen zusammenstießen, nichts verschütteten, nicht schlurften – und nicht überraschten. Mit einer solchen Frau wäre er jetzt zusammen, wenn er nicht wegen Hank Lewis auf einem Flughafen festsäße.

Nun, vielleicht sollte er Hank dafür danken. Der Verzicht auf endlos lange Tage in einer Skihütte mit der schönen, aber berechenbaren Ingrid erschien ihm plötzlich nicht mehr wie ein großer Verlust. Nein, er würde sie nicht sehr vermissen. Dennoch, irgendetwas vermisste er. Er verspürte eine Rastlosigkeit, eine Unzufriedenheit, die er nicht zu deuten vermochte. Sein Leben verlief, so wie er es sich eingerichtet hatte, so wie er es wollte. Und trotzdem …

Automatisch blickte er in die Richtung, die das Phantom eingeschlagen hatte. Es war keine Spur von ihm zu sehen. Sehr schade. Er hätte etwas Zerstreuung gebrauchen können und gern herausgefunden, was sich unter der übergroßen Kapuze verbarg. Was immer es sein mochte, er hätte wetten können, dass es eine Überraschung war.

Eddy hatte sich gerade auf einen der unbequemen Plastikstühle gesetzt, als er über Lautsprecher ausgerufen wurde. Er ging zum Informationsschalter und fragte: „Haben Sie mich ausgerufen? Edmund Winters?“

„Ja, Mr …“

„Sie sind Edmund Winters?“, warf eine vage vertraute Stimme neben ihm ein.

Er drehte sich um und starrte auf die sommersprossige Nase und die vollen Lippen. „Das Phantom des Flughafens“, murmelte er und dachte, dass er vielleicht doch noch herausfinden würde, was sich unter der Kapuze verbarg.

„Ich komme vom ,Northcott Inn‘“, erklärte das Phantom.

Das „Northcott Inn“, zog für gewöhnlich zwei Sorten von Gästen an: ältere Paare, die schon seit ewigen Zeiten Geburtstage oder Hochzeitstage oder ihren Urlaub dort verbrachten, oder aber Geschäftsmänner mit kurzen, ergrauten Haaren, die längst aus der Mode geratene, dreiteilige Nadelstreifenanzüge trugen. Kurzum Gäste, die so sehr Gewohnheitstiere waren, dass sie immer wieder zurückkehrten, obwohl das verblichene, alte Hotel längst nicht mehr das war, was es einst gewesen war.

Dieser Mann jedoch wirkte überhaupt nicht wie ein Gewohnheitstier. Sein dunkles, von Silberfäden durchzogenes Haar reichte ihm bis auf die Schultern, sehr breite Schultern, und war aus der hohen, für die Jahreszeit ungewöhnlich gebräunten Stirn gekämmt.

Ein Skifahrer, dachte Ann mit einem Anflug von Neid und sah im Geiste sonnige Pisten, Glühwein und schöne Menschen vor sich.

Sie reichte ihm die Hand. „Ich bin Ann Madison, Ihr Chauffeur.“ Zu spät wurde ihr bewusst, dass sie noch immer den dicken, mit inzwischen kaltem Kaffee getränkten Handschuh trug. „Oh, tut mir leid.“

„Kein Problem. Ich kann das Koffein gebrauchen.“

Sie lachte und wrang den Handschuh aus. Als sie wieder aufblickte, wurde sie sofort ernst. Der Mann sah atemberaubend gut aus. Und sie hatte bisher nichts zuwege gebracht, als ihn äußerlich mit schlechtem Flughafenkaffee zu versorgen.

Ein toller erster Eindruck, dachte sie und wünschte, sie hätte andere Stiefel und den anderen Mantel angezogen. Mit synthetischem Fell im Gesicht und an den Füßen war es ihr unmöglich, sich würdevoll zu geben.

Andererseits war dieser Edmund Winters auch nicht gerade vornehm gekleidet. Statt eines langweiligen, altmodischen Anzugs trug er verblichene Jeans und einen Lederblouson über einem verblichenen, schwarzen Sweatshirt.

Ann ließ den Blick verstohlen über seine Gestalt gleiten. Zugegeben, die Jeans saßen wie angegossen, die Jacke sah butterweich aus und betonte bewundernswert breite Schultern und muskulöse Arme. Er wird sich allerdings wünschen, weniger sexy und dafür praktischer gekleidet zu sein, sobald ihn die kalte Abendluft trifft, dachte sie wissend.

Als ihr Blick sein Gesicht erreichte, funkelten seine Augen vor Belustigung. „Bin ich Ihnen recht?“, fragte er.

Oh, er war ihr allerdings recht, und zwar für wesentlich interessantere Vorhaben als die Fahrt zum Hotel. Doch sie schob diesen Gedanken beiseite, um ihn später einmal in einer kalten, einsamen Nacht wieder hervorzuholen. „Ich habe nur gerade gedacht, dass es ziemlich kalt draußen ist und dass Sie nicht dafür gekleidet sind.“

„Ich habe wärmere Sachen eingepackt, aber die haben sich entschlossen, auf Milwaukee zu verzichten und nach Tahiti zu fliegen“, entgegnete er schmunzelnd.

Ann lachte auf und wandte hastig den Blick ab, denn sein Schmunzeln wirkte äußerst verwirrend. Sie musterte die Wegweiser über der Rolltreppe, so als wäre Englisch eine ihr unbekannte Sprache. „Möchten Sie einen heißen Kaffee, bevor wir die Fahrt antreten?“

„Nein, danke, ich hatte schon welchen.“

Sie wagte einen flüchtigen Seitenblick auf sein Gesicht. Er lächelte erneut. „Oh … ja, das ist wohl wahr“, stammelte sie und drehte sich zur Rolltreppe um. „Wir müssen uns beeilen“, verkündete sie über die Schulter. „Ich stehe gleich am Eingang in der Abschleppzone.“

Sie führte ihn hinaus in die Nacht und schlurfte durch den Schnee zu ihrem verrosteten, verbeulten Oldtimer.

„Moment mal!“, rief er fassungslos hinter ihr.

Sie drehte sich um. „Stimmt was nicht?“

„Soll das die Limousine vom Northcott Inn sein?“

„Nein, der Hotelwagen wollte nicht anspringen.“

Er zog die Augenbrauen hoch. „Und das Gefährt da wollte?“

„Es ist hier, oder?“, entgegnete sie bissig. Ihr Wagen sah vielleicht nicht besonders verlässlich aus, aber er war es. Wesentlich verlässlicher als die Limousine – oder alles andere im Northcott Inn. Doch das sollte er selbst herausfinden.

Zitternd vor Kälte schloss sie die Fahrertür auf und wartete ungeduldig, doch er blieb am Straßenrand stehen. „Mr Winters, es ist eiskalt hier draußen. Können wir endlich fahren?“

Er ging zur Beifahrertür und zog daran. „Sie ist abgeschlossen“, stellte er tonlos fest.

„Nein, ist sie nicht. Sie …“

„Ann“, unterbrach er mit übertriebener Geduld, während er weiterhin an der Tür rüttelte, „sie ist eindeutig abgeschlossen.“

„Würden Sie mich bitte ausreden lassen, Mr Winters?“, entgegnete sie in zuckersüßem Ton. „Sie ist nicht abgeschlossen, sie lässt sich nur nicht öffnen. Sie müssen von dieser Seite aus einsteigen.“

„Unglaublich“, murmelte er und ging zögernd zur Fahrertür.

Als er sich bückte und in den Wagen spähte, wünschte Ann, sie hätte die Überreste von Jasons letzter Mahlzeit weggeworfen. Sie hatte die Angewohnheit, die Verpackung von Schokoriegeln auf den Boden zu werfen und halb leere Kaffeebecher auf dem Armaturenbrett stehen zu lassen, aber sie hatte schließlich auch nicht erwartet, einen vornehmen Passagier zu befördern. Außerdem sah Edmund Winters in verwaschenen Jeans und abgewetzter Lederjacke gar nicht so vornehm aus.

„Steigen Sie ein, Mr Winters. Oder haben Sie Angst, dass Ihr Sweatshirt schmutzig wird?“, spottete sie, bevor sie sich beherrschen konnte. Es war nicht die feine Art, mit einem Gast zu sprechen, aber sie hatte nicht die Absicht, sich zu entschuldigen. Dass er umwerfend aussah, gab ihm noch lange nicht das Recht, sich in dieser Eiseskälte so schwierig zu verhalten.

Edmund Winters richtete sich auf, drehte sich zu ihr um und stützte einen Ellbogen auf das Wagendach. Seine Augen glitzerten wie Eis, und sein voller Mund verzog sich zu dem Anflug eines Lächelns.

Ann stockte der Atem. Welch ein Gesicht! Er hatte eine lange, gerade Nase, hohe Wangenknochen und ein markantes Kinn mit verwegenen, dunklen Bartstoppeln. Eine Windbö wehte ihm die silbrig gesträhnten Haare ins Gesicht. Als er sie mit einer Hand zurückkämmte, sah sie einen Diamanten an seinem linken Ohr funkeln.

Ein moderner Pirat, durchfuhr es sie, und im Geiste sah sie ihn über Skipisten sausen und mühelos Skihaserl vernaschen.

Na schön, er mochte ein Charmeur sein, doch sie war nicht in der Stimmung, sich bezirzen zu lassen. Ihr war nach Wärme zumute.

Seufzend steckte sie die Hände tiefer in die Taschen. „Hören Sie, von mir aus können Sie gern versuchen, ein Taxi oder einen Leihwagen aufzutreiben. Aber wenn Sie mit mir kommen wollen, dann steigen Sie bitte ein, bevor ich mir den Po abfriere.“

Während Eddy auf den Fahrersitz kletterte und dann zur anderen Seite hinüberrutschte, fragte er sich, was für einen Po sie wohl haben mochte. Ihre freche Äußerung überraschte ihn und steigerte seine Neugier. Die Frauen, die er kannte, fuhren Porsche oder BMW und hätten eine Woche lang geschmollt, wenn sie mit einer Klapperkiste wie dieser hätten fahren müssen.

Ann setzte sich hinter das Steuer und drehte den Zündschlüssel. Der Motor sprang sofort an. Eine weitere Überraschung. „Ich bin beeindruckt“, gestand er. „Was ist denn Ihr Geheimnis?“

„Ich backe Kekse für meinen Mechaniker.“

„Wirklich?“

„Schokokekse.“

„Ja, dann“, bemerkte er, so als würde das die Sache hinreichend erklären.

Sie fuhr los. Der Wagen holperte über einen festgefahrenen Schneehügel, den die Räumfahrzeuge zurückgelassen hatten. Die Klappe des Handschuhfachs sprang auf und traf Eddy am Knie.

Er rieb es sich und schloss gleichzeitig die Klappe. Prompt öffnete sie sich erneut und traf diesmal seine Hand.

„Das tut mir leid“, entschuldigte Ann sich leise.

„Wenn Sie Ihrem Mechaniker eine Schokoladentorte backen …“, setzte Eddy an, doch als sie auf die Straße einbog, war er zu beschäftigt, sich gegen die Tür zu stemmen, um den Satz zu vollenden. Sie besaß nicht nur das lose Mundwerk, sondern auch den Fahrstil eines New Yorker Taxifahrers. „Sagen Sie, Ann, fahren Sie nicht ein bisschen zu schnell für den Straßenzustand?“

„Keine Sorge. Ich bin an diese Witterungsverhältnisse gewöhnt. Außerdem ist hier draußen kaum Verkehr“, entgegnete sie leichthin, während sie einen Bus rasant überholte.

Sie reihte sich vor dem Bus ein, und die Klappe des Handschuhfachs traf erneut sein Knie. Er blickte auf die Straße und sah Bremslichter aufleuchten. „Der Wagen da vorn scheint anzuhalten.“

Ann sauste an ihm vorbei, und ein halber Becher kalter Kaffee ergoss sich auf Eddys Schoß.

Sie blickten einander an. „Ich weiß“, sagte er, „es tut Ihnen leid. Schalten Sie einfach die Heizung ein, ja?“

„Sie ist an.“

Eddy stöhnte, hob zwei Servietten vom Boden auf und tupfte sich die Hose ab. „Was ist los? Sind Ihnen die Schokokekse ausgegangen?“

„Wenn Sie sich vernünftig angezogen hätten, wäre Ihnen nicht so verdammt kalt – egal, was Ihnen in den Schoß fällt. Ehrlich, man könnte glauben, Sie wären unterwegs zu einem Picknick.“

Er nahm einen halben Schokoriegel vom Sitz neben sich. „Da Sie offensichtlich Essen und Getränke mitgebracht haben, ist die Vermutung gar nicht so abwegig. Andererseits würde nicht die Hälfte der Erfrischungen an mir kleben, wenn Sie nicht wie eine Verrückte führen.“ Zum ersten Mal an diesem langen, anstrengenden Tag lächelte er aufrichtig. „Ich kann Ihnen zwar keine Kekse bieten, aber wenn Sie mich heil zum Northcott Inn bringen, teile ich diesen Schokoriegel mit Ihnen.“

Seine neckische Stimme klang so verführerisch, als würde er ihr wesentlich mehr als einen Schokoriegel verheißen.

Natürlich, welcher moderne Pirat verfiel nicht einer Frau in künstlichem Fell und mit einem Wagen, der ihm all die Annehmlichkeiten eines verrückt gewordenen Erfrischungsautomaten bot? spottete sie im Stillen über sich selbst.

Konzentriere dich auf die Straße! ermahnte sie sich dann im selben Augenblick.

Wie auf Stichwort tauchte aus dem Nichts ein Wagen auf und überquerte die Kreuzung dicht vor ihnen. Ann riss das Lenkrad herum und geriet ins Schleudern. Um Haaresbreite verpasste sie den anderen Wagen. Sie wollte schon erleichtert aufatmen, als sie merkte, dass sie geradewegs auf eine Straßenlaterne zurutschten.

„Festhalten!“, schrie sie und war plötzlich überzeugt, dass sie nie wieder Gelegenheit haben würde, Schokoriegel zu essen.

Mehrmals trat sie heftig auf die Bremse und geriet erneut ins Schleudern. Der Wagen rutschte wenige Zentimeter am Laternenpfahl vorbei in eine meterhohe Schneewehe.

Plötzlich war es sehr still ringsumher. Der Himmel war kohlschwarz. Unheimliche Schatten umgaben die Straßenlaternen. Der andere Wagen war nirgendwo zu sehen.

Ann lehnte die Stirn an das Lenkrad. Als Edmund Winters ihren Arm berührte, zuckte sie zusammen und schrie auf.

„Sind Sie verletzt?“, fragte er sanft.

Sie legte sich eine Hand auf das pochende Herz und schüttelte den Kopf. „Sie … Sie haben mich nur erschreckt. Ich bin wohl etwas durcheinander.“

„Hier. Vielleicht hilft ein bisschen Schokolade.“

Sie blickte auf den Riegel, den er ihr hinhielt. „Aber ich habe Sie eigentlich noch nicht heil zum Hotel gebracht.“

Er lächelte, und ihr Herzschlag beruhigte sich langsam wieder. Ja, es schien überhaupt nicht mehr zu schlagen. Das einzige Geräusch im Wagen war ein Knacken, als Anns Fahrgast ein Stück vom Riegel abbrach, bevor er es ihr an die Lippen hielt.

Sie öffnete den Mund, spürte seine Fingerspitzen an den Lippen und kühle, harte Schokolade auf der Zunge.

„Besser?“, fragte er sanft.

Sie nickte und beobachtete, wie er mit kräftigen, weißen Zähnen in den Riegel biss. Dann dachte sie unwillkürlich: Schade, dass ich keine Mund-zu-Mund-Beatmung brauche.

Hastig verscheuchte sie diesen törichten Gedanken. Sie öffnete die Tür, soweit die Schneewehe es zuließ, und zwängte sich hinaus.

Edmund Winters folgte ihr. „Gehen wir ein Telefon suchen.“

„Wozu?“

„Um einen Abschleppwagen zu rufen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Geht nicht. Ich habe kein Geld dafür.“

„Dann zahlen Sie doch mit Kreditkarte. Das Hotel wird es Ihnen ersetzen.“

„So, wie die Dinge stehen, bricht eher vorzeitig der Frühling herein, als dass ich es ersetzt kriege.“

Er bedachte sie mit einem scharfen Blick. Verständlicherweise. Schließlich hätte sie ihren Brötchengeber einem zahlenden Gast gegenüber nicht kritisieren sollen.

Sie hielt es für klug hinzuzufügen: „An einem Abend wie diesem würde ein Abschleppwagen ewig brauchen. Wir haben die Wahl, an einer Kohlendioxidvergiftung zu sterben oder zu erfrieren.“

Eddy blickte sich um. Ringsumher wirkte alles finster und verlassen. Zweifellos aufgrund der Wetterlage. „Okay, was schlagen Sie also vor?“

„Dass wir uns an die Arbeit machen.“

Eddy stapfte durch den Schnee zur Vorderseite ihres Wagens. „Das verdammte Ding hängt fest. Es ist unmöglich, es ohne Abschleppwagen zu befreien.“

„Pessimist“, murmelte Ann und stieg ein. Der Motor sprang sofort an, aber als sie einen Gang einlegte und Gas gab, drehten die Räder durch und wirbelten Eddy Schnee ins Gesicht. Sie kicherte unterdrückt, während er sich über die Augen wischte.

„Ich hatte wohl recht“, bemerkte er triumphierend, als sie wieder ausstieg.

„Das wird sich zeigen.“ Sie stapfte zum Kofferraum und holte eine Miniaturschaufel hervor.

Eddy schüttelte den Kopf und spottete: „Was wollen Sie denn mit dem kleinen Ding anfangen?“

Sie reckte trotzig das Kinn vor. „Ich werde den Wagen freischaufeln.“ Sie zog am Stiel und verkündete stolz: „Da! Eine normale Schaufel. Jason hat sie mir zu Weihnachten geschenkt.“

„Ihr Mechaniker?“

„Mein Sohn. Und jetzt gehen Sie aus dem Weg, damit ich uns hier rausschaufeln kann.“

Er schüttelte den Kopf. „Sie warten im Wagen. Geben Sie mir das Ding.“

„Seien Sie kein Macho. Wir wechseln uns ab. Ich fange an.“

Also lehnte Eddy sich an den Wagen und beobachtete, wie das Phantom des Flughafens mit unerschöpflichem Elan den Schnee attackierte.

Nach fünf Minuten dämmerte ihm, wie klug es von ihr gewesen war, die erste Schicht zu übernehmen. Er fror. Er steckte die Hände unter die Achselhöhlen, um sie zu wärmen, und spazierte auf und ab.

„Sie können im Wagen warten“, schlug Ann vor.

Ihr Ton verriet ihm, dass sein Unbehagen sie amüsierte. Schließlich ging er zu ihr und streckte die Hand aus. „Geben Sie mir das Ding. Sie warten im Wagen.“

Sie überließ ihm die Schaufel. „Mir ist ja nicht kalt.“

Eddy begann zu graben. Der Wind blies ihm die Haare in die Augen. Seine Ohren drohten abzufrieren. Anns riesige Kapuze mochte albern aussehen, aber er wünschte sich genauso eine.

Nach fünf Minuten glaubte Ann, den Wagen freibekommen zu können, aber sie beschloss, Eddy noch ein wenig leiden zu lassen. Außerdem war es recht unterhaltsam, ihn bei der Arbeit zu beobachten. Sein Blouson rutschte bei jeder Bewegung hoch und enthüllte schmale Hüften und einen knackigen Po.

Ann seufzte. Sosehr sie sich auch amüsierte, war es an der Zeit, das Schauspiel zu beenden. Er sah zwar athletisch, aber durchgefroren aus.

„Das müsste reichen!“, rief sie über den Wind hinweg. „Gehen Sie beiseite und erleben Sie einen Profi am Werk.“

Er lachte. „Das schaffen Sie nie!“

Ann stieg ein und kurbelte das Fenster herunter. „Wagen Sie es, mit mir zu wetten?“

Er schüttelte den Kopf. „Ich nutze eine Frau niemals aus.“

„Das kann ich mir denken“, murmelte sie und startete den Motor. Sie legte den Rückwärtsgang ein und gab Gas. Die Räder drehten durch.

„Ich hab’s Ihnen ja gesagt!“, rief er.

Ann lächelte nur. Sie fuhr abwechselnd vorwärts und rückwärts, sodass sich der Wagen aufschaukelte und schließlich freikam. Dann hielt sie neben Eddy an und fragte zuckersüß: „Kann ich Sie mitnehmen?“

Er grinste. „Seien Sie nicht so hämisch, und lassen Sie mich rein. Ich bin am Erfrieren.“

Mit einem herzhaften Lachen befolgte sie die Aufforderung.

Eine halbe Stunde später lenkte sie den Oldtimer auf den Parkplatz des Northcott Inn. „So, da wären wir.“

„Heil angekommen. Wieso können Sie so gut bei Schnee und Eis fahren?“

„Wenn man lange genug in Wisconsin lebt, lernt man es. Gibt es da, wo Sie herkommen, keinen Schnee?“

„In New York gibt es reichlich Schnee. Aber ich hatte noch nie einen eigenen Wagen.“ Er musterte ihr Gesicht und fügte hinzu: „Ich schulde Ihnen noch einen Bissen von meinem Schokoriegel.“

Er drehte sich zu ihr um und schob ihre Kapuze zurück. Sie schluckte, als sie seine Hand in ihren Haaren spürte. Es war so kalt im Wagen, dass ihr Atem zu sehen war, dennoch wurde ihr plötzlich heiß. Mit der anderen Hand hielt er ihr den Riegel an die Lippen. Sie wollte eigentlich ablehnen, aber wer konnte schon einem Piraten mit Feuer und Eis in den Augen widerstehen?

Er schob ihr die Schokolade zwischen die geöffneten Lippen und führte den Riegel dann an seinen Mund. Mit der Präzision eines Piratenmessers trennten seine kräftigen Zähne ein Stück ab.

Sie beobachtete ihn beim Kauen und fragte sich unwillkürlich, welch andere Aufgaben diese vollen, festen Lippen mit solcher Behändigkeit wohl zu vollbringen vermochten.

„Was … was tun Sie denn da?“, stammelte sie, als er auf dem Sitz zu ihr herüberrutschte.

Er grinste. „Ich muss doch auf Ihrer Seite aussteigen.“

„Oh ja, natürlich.“ Sie öffnete die Tür und fragte sich, was sie denn gedacht hatte. Dass ein derart gut aussehender Mann wie er überwältigt war von Verlangen nach einer fünfunddreißigjährigen Mutter, die gut zehn Pfund zu viel wog, eine Schrottkiste fuhr und ihn mit heißem und kaltem Kaffee überschüttete?

Sie stieg aus, und er folgte. Der kalte Wind wehte ihm das Haar aus der gebräunten, hohen Stirn. Sein Ohrring funkelte, seine eisblauen Augen glitzerten.

Er war kein Mann für die praktisch veranlagte Ann Madison. Und er war gewiss kein geeigneter Vater für Jason. Und je eher sie ihn im Hotel ablieferte und sich verabschiedete, umso eher konnte sie all ihre verrückten Fantasien verdrängen und zu ihrem Sohn nach Hause gehen.

2. KAPITEL

„Das Hotel liegt gleich um die Ecke“, informierte Ann. „Folgen Sie mir.“

Eddy tat das nur zu gern. Die Straßenlaternen waren außer Betrieb, vermutlich durch den Sturm von der Stromversorgung abgeschnitten, aber der Schnee reflektierte den Mondschein und erhellte die Finsternis, sodass er Anns Haar mit jedem ihrer energischen Schritte auf ihren Schultern tanzen sah. Sie stellte in vielerlei Hinsicht eine Überraschung dar. Und nicht nur, weil sie ungeschickt genug war, um ihn mit Kaffee zu begießen, und geschickt genug, um einen Wagen aus einer Schneewehe zu befreien.

Der Anblick ihres üppigen, kastanienbraunen Haares raubte ihm den Atem. Und ihre cognacfarbenen Augen unter den geschwungenen Brauen, die ihr stets einen verwirrten, fragenden Ausdruck verliehen, wirkten trotz der Kälte erwärmend. Vor allem aber war sie gewiss nicht auf den sinnlichen Mund gefallen. Sie war keineswegs ein Phantom, sondern eine provozierende Mischung aus Dame und Frauenzimmer.

Sie bogen um die Ecke und erreichten das Northcott Inn. Eddy hatte das Gebäude vor langer Zeit im Sommer zuletzt gesehen. In dieser Nacht, viele Jahre und viele Erfahrungen später, ragte es wie ein Schloss aus Eis auf. Eisblumen zierten die Bogenfenster, und die breite Treppe, die zu der kunstvoll geschnitzten Tür führte, war unter hohem Schnee begraben.

Er verspürte den plötzlichen Drang, Ann auf den Armen wie eine Prinzessin zu ihrem Schloss hinaufzutragen, doch sie stieg bereits die Stufen hinauf. Eddy blieb stehen und sah sie im Geiste in weißen Pelz gehüllt und von Mondschein überflutet vor sich.

Er schüttelte sich. Der lange, anstrengende Tag hatte ihn offensichtlich verwirrt, ebenso wie die Erinnerungen an eine lieblichere, unschuldigere Zeit. Nicht zu vergessen: Ann.

Er nahm zwei Stufen auf einmal, um ihr zu folgen. Die Tür ächzte, als Ann sie öffnete. Er folgte ihr hinein.

Nur ein Feuer im Kamin beleuchtete das Foyer. Der flackernde Schein fiel auf geblümte Chintzsofas und rosenfarbene Schaukelstühle. Es sah heimelig, einladend aus. Erinnerungen überwältigten ihn. Er kannte diese Sofas.

„Da bist du ja!“, rief eine Stimme aus der Dunkelheit. „Ich dachte schon, du kommst überhaupt nicht mehr zurück! Der Strom ist ausgefallen, und die Gäste maulen. Seit zwei Stunden teile ich Kerzen aus!“

Eddy sah eine junge Frau mit kurzen, blonden Haaren die Treppe hinunterkommen. Sie trug einen Kandelaber in einer Hand, dessen Flammen sich in unzähligen Ohrringen widerspiegelten.

„Tut mir leid, Lara, aber der Straßenzustand ist katastrophal. Wenn du Mr Winters unterbringst, kümmere ich mich um die anderen Gäste.“

Lara blieb abrupt stehen. An ihren winzigen Füßen glänzten silberfarbene Stiefel im Feuerschein. „Mr Winters?“

„Mr Winters“, bestätigte Ann. „Du weißt doch, der Gast, den ich vom Flughafen abgeholt habe.“

Lara verzog das Gesicht. „Oje!“

„Was soll das heißen?“

Autor

Nikki Rivers
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