From Ashes - Herzleuchten

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Cassidy Jameson hatte eine schwere Kindheit. Der einzige Mensch, dem sie in all den Jahren vertraut hat, ist ihr bester Freund Tyler. Er war immer für sie da und nimmt sie schließlich mit nach Texas, als er dort sein Studium beginnt. Für Cassidy beginnt ein neues Leben: in einer Wohngemeinschaft mit Tyler und seinem Cousin Gage. Nicht ganz leicht, mit zwei gut aussehenden Männern zusammenzuwohnen, die ihren Beschützerinstinkt voll ausleben …

»From Ashes nimmt uns nach einem furiosen Start mit auf eine spannende Reise durch die Höhen und Tiefen einer wundervoll gesponnenen Liebesgeschichte - mitreißend und bezaubernd.«
Jennifer L. Armentrout


  • Erscheinungstag 05.11.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783955768799
  • Seitenanzahl 464
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. Kapitel

Cassidy

»Kennst du überhaupt irgendjemanden, der dabei ist, Ty?«

»Nur Gage. Aber das ist gut, so lernen wir gleich neue Leute kennen.«

Ich grummelte vor mich hin. Ich war nicht gut darin, neue Freunde zu finden. Die meisten verstanden nicht, warum ich immer in Tylers Nähe sein musste, und wenn ich mit blauen Flecken oder genähten Wunden auftauchte, nahmen alle sofort an, dass ich mich entweder selbst verletzte oder dass Tyler mich misshandelte. Natürlich war das nicht ihre Schuld – wir gingen nie darauf ein, sodass die Gerüchte sich rasend schnell verbreiteten.

»Cassi, niemand wird etwas von deiner Vergangenheit wissen, deine letzten blauen Flecke sind in ein paar Wochen abgeklungen, und du bist jetzt da raus. Außerdem gefällt es mir nicht, dass du niemanden sonst hast. Glaub mir, ich verstehe es, aber es gefällt mir nicht, um deinetwillen. Du brauchst mehr Menschen in deinem Leben.«

»Ich weiß.« Instinktiv schlang ich die Arme um mich und verdeckte einige der Stellen, wo sich die blauen Flecke befanden. Gott sei Dank waren gerade keine sichtbar, wenn ich mich nicht bis auf die Unterwäsche auszog, aber von meinen Narben konnte man nicht das Gleiche behaupten. Wenigstens waren Narben bei Menschen etwas Normales, und die schlimmsten von ihnen lagen unter meiner Kleidung verborgen, also wirkte es nur so, als würde ich zu Unfällen neigen.

»Hey.« Tyler nahm eine meiner Hände und zog sie von meiner Seite. »Es ist vorbei, es wird nie wieder passieren. Und ich bin immer für dich da, ob du neue Freunde findest oder nicht. Ich bin da. Aber versuch es wenigstens. Das ist deine Chance, ein neues Leben anzufangen – steht dafür nicht auch dieser Lieblingsvogel von dir?«

»Der Phönix ist kein echter Vogel, Ty.«

»Ist doch egal, er ist dein Lieblingstier. Und steht er nicht dafür? Neuanfänge?«

»Wiedergeburt und Erneuerung«, murmelte ich.

»Ja, ist doch das Gleiche. Sie sterben, nur um wiederzukommen und ein neues Leben anzufangen, oder nicht? Und jetzt fangen wir ein neues Leben an, Cass.« Er schüttelte leicht den Kopf, und sein Gesichtsausdruck wurde vollkommen ernst. »Aber nicht, dass du mir spontan Feuer fängst und stirbst. Ich liebe dich zu sehr, und Feuer wäre auch nicht gut für die Ledersitze.«

Ich lachte schnaufend und stieß ihn mit der freien Hand gegen die Schulter. »Du bist so ein Mistkerl, Ty. Schön, wie du den liebevollen Augenblick, den wir da hatten, kaputt machst.«

Er lachte laut. »Aber im Ernst …« Er küsste mich auf die Hand, sah mir dann in die Augen und hielt meinen Blick ein paar Sekunden fest, ehe er wieder auf die Straße sah, »… ein neues Leben, Cassi, und das fängt jetzt gerade an.«

Tyler und ich hatten keine romantische Beziehung, aber wir hatten eine Beziehung, die selbst Menschen, mit denen wir groß geworden waren, nicht verstanden.

Wir waren nur ein Haus voneinander getrennt aufgewachsen, in einer Country-Club-Nachbarschaft. Unsere Väter waren beide Ärzte, unsere Mütter gehörten zu der Art Frauen, die zu Hause bei den Kindern bleibt und die Nachmittage damit verbringt, im Club zu tratschen und Martinis zu trinken. An meinem sechsten Geburtstag starb mein Dad an einem Herzinfarkt – ausgerechnet, als er bei der Arbeit war. Jetzt, wo ich älter bin, verstehe ich nicht, warum ihn niemand retten konnte. Er hatte doch in der Notaufnahme gearbeitet, Herrgott noch mal, und da konnte ihm niemand helfen? Aber damals hatte ich nur gewusst, dass mein Held nicht mehr bei mir war.

Dad arbeitete lange, aber ich war seine Prinzessin, und wenn er zu Hause war, gab es nur noch uns beide. Für mich trug er Krönchen und Federboas, um mit mir Teestunde zu spielen. Er kannte die Namen von all meinen Kuscheltieren und redete mit ihnen, als würden sie ihm antworten, und immer war er es, der mir abends noch eine Geschichte erzählte. Meine Mom war großartig, aber sie wusste, dass wir beide eine besondere Beziehung hatten, also blieb sie immer im Türrahmen stehen und sah uns lächelnd zu. Jedes Mal, wenn ich mir wehtat und er bei der Arbeit war, machte Mom ein großes Aufheben darum, dass sie nichts dagegen tun konnte und ich um mein Leben bangen musste, bis Dad nach Hause kam. Sie musste ihn dann angerufen haben, denn er kam nach Hause gerannt, als würde ich im Sterben liegen – auch wenn ich fast immer nur einen Kratzer hatte –, hob mich hoch, klebte mir ein Pflaster dorthin, wo es wehtat, und wie durch ein Wunder waren die Schmerzen verschwunden. Wie gesagt, mein Dad war mein Held. Jedes kleine Mädchen sollte so einen Dad haben. Aber jetzt hatte ich von ihm außer kostbaren Erinnerungen nur noch seine Liebe zum Phönix. Mom hatte zugelassen, dass Dad sich austobte und den großen Umriss eines Phönix direkt über mein Bett malte, als ich in den Kindergarten kam, ein Bild, das immer noch dort war, auch wenn Mom ständig damit drohte, es zu übermalen. Und obwohl ich versucht hatte, einen Ring zu behalten, den er fast sein ganzes Erwachsenenleben lang getragen hatte und auf dem sich ebenfalls ein Phönix befand, hatte Mom ihn kurz nach seinem Tod gefunden und versteckt, und seitdem hatte ich ihn nicht mehr gesehen.

Nachdem Dad gestorben war, begann meine Mom, zwanghaft zu trinken. In ihrem Morgenkaffee war Rum, um zehn Uhr morgens mixte sie die ersten Margaritas, nachmittags ging sie wie immer zum Martinitrinken in den Club, und wenn ich aus der Schule nach Hause kam, trank sie Scotch oder Wodka direkt aus der Flasche. Für ihre Freundinnen hatte sie noch Zeit, aber sie hörte auf, mich rechtzeitig für die Schule aufzuwecken, hörte auf, mir Essen zu machen, vergaß, mich von der Schule abzuholen – im Grunde vergaß sie, dass ich überhaupt existierte. Nach dem ersten Tag, an dem sie mich in der Schule vergessen hatte, und nachdem sie am Tag darauf nicht aufgetaucht war, weil sie ihr Zimmer nicht verlassen wollte, fing Tylers Mom, Stephanie, an, mich zur Schule zu bringen und wieder abzuholen, ohne ein weiteres Wort darüber zu verlieren. Sie wusste, dass meine Mom trauerte, nur nicht wie sehr.

Nachdem ich eine Woche lang nichts Sauberes zum Anziehen hatte, und nach einigen gescheiterten ersten Anläufen fing ich an, meine Wäsche selber zu waschen, ich versuchte, mir die Hausaufgaben selbst zu erklären, und ich schmierte Sandwiches mit Erdnussbutter und Marmelade für uns beide, ihres stellte ich ihr immer vor die Schlafzimmertür. Fast ein Jahr nach Dads Tod tauchte auf einmal Jeff auf. Er war reich, leitete irgendeine große Firma – sein Nachname tauchte in Mission Viejo, meiner kalifornischen Heimatstadt, überall auf –, aber bis zu dem Tag hatte ich ihn noch nie gesehen oder von ihm gehört. Eines Tages setzte Stephanie mich zu Hause ab, und er war eingezogen, Mom war bereits mit ihm verheiratet.

In der gleichen Nacht wurde ich zum ersten Mal geschlagen, und das von meiner eigenen Mutter. Meine liebe, zärtliche Mutter, die nicht einmal eine Spinne umbringen konnte, geschweige denn ihrer Tochter einen Klaps geben, wenn sie sich schlecht benommen hatte, schlug mich. Ich fragte, wer Jeff war und warum er wollte, dass ich Dad zu ihm sagte, und meine Mutter schlug mir mit der neuen Flasche Scotch, die sie gerade zu öffnen versucht hatte, auf den Rücken. Sie zerbrach nicht, aber ich hatte einen übel aussehenden blauen Fleck. Von da an verging kein Tag, an dem einer von beiden mir nicht eine Verletzung zufügte. Normalerweise mit Fäusten oder Handflächen, und ich begann mich darüber zu freuen, denn wenn sie anfingen, mit Kaffeebechern, Trinkgläsern oder Lampen zu werfen, oder wenn Mom ihre Absatzschuhe auszog und mir mit der Spitze des Stiletto-Absatzes mehrmals auf den Kopf schlug … dann wusste ich nicht, ob ich den nächsten Tag noch erleben würde. Ungefähr eine Woche nach dem ersten Schlag wurde ich zum ersten Mal mit Jeffs Steckschlüssel verprügelt, und das war auch die erste Nacht, in der ich mein Fenster öffnete, das Fliegengitter abnahm und mich an Tylers Fenster schlich. Mit sieben Jahren half er mir in sein Zimmer, gab mir einen von seinen Schlafanzügen, weil meiner mit Blut getränkt war, und hielt meine Hand, während wir auf seinem Bett einschliefen.

Während der letzten elf Jahre hatte Tyler mich angefleht, seinen Eltern erzählen zu dürfen, was los war, aber das konnte ich nicht zulassen. Wenn Tyler es ihnen erzählte, dann würden sie jemanden verständigen, und ich wusste, dann würde man mich von Tyler trennen. Mein Held war gestorben, und die Mutter, die ich geliebt hatte, war in einer Flasche verschwunden – auf keinen Fall würde ich zulassen, dass mir jemand auch noch Ty wegnahm. Ich hatte ihn davon nur überzeugen können, indem ich mich bereit erklärte, dass alle Versprechen nichtig waren, sollte er mich bewusstlos vorfinden, dann konnte er es erzählen, wem er wollte. Aber damit bewahrte nur Tyler Stillschweigen, an die Nachbarn hatten wir nicht gedacht …

Nach den ersten drei Jahren des Missbrauchs hörte ich auf, mich jede Nacht zu Tyler nach Hause zu schleichen. Ich ging nur noch an den Abenden zu ihm, an denen ich mit etwas anderem als Körperteilen geschlagen wurde. Aber Tyler wartete auf mich, egal was war. Er bewahrte in seinem Zimmer ein Erste-Hilfe-Set auf und säuberte und verband alles, was er konnte. Wir klebten Klammerpflaster auf beinahe alle Schnittwunden, aber dreimal zwang er mich doch, etwas nähen zu lassen. Wir erzählten seinem Dad jedes Mal, dass ich draußen beim Laufen über etwas gestolpert war. Ich bin nicht naiv, ich weiß, dass sein Dad mir nicht glaubte – besonders, weil ich nie laufen ging und mich nur für Sport interessierte, wenn er auf Tylers Fernseher lief –, aber wir achteten immer darauf, meine blauen Flecke vor ihm zu verstecken, und er versuchte nicht einmal herauszufinden, woher die Schnittwunden wirklich kamen. Ich saß an ihrem Küchentisch und ließ mich von ihm nähen, und sie verabschiedeten mich an der Haustür, wenn sie sich sicher waren, dass es mir gut ging, und dann wartete Tyler an seinem offenen Fenster, sobald ich um das Haus herumgegangen war. Jede Nacht hatte er Sachen bereitliegen, in denen ich schlafen konnte, und jede Nacht hielt er meine Hand und schmiegte seinen Körper an meinen, bis wir einschliefen.

Wenn Tyler mich also auf die Stirn, die Wange oder die Hand küsste, bedeutete das nie etwas Romantisches. Er tröstete mich nur auf die gleiche Weise, wie er es tat, seit wir Kinder waren.

»Cassi? Habe ich dich verloren?« Tyler wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht.

»Tut mir leid. Leben, Neuanfang, Freunde. Ja, das, äh – das wird – ich muss … Freunde.« Ich bin mir sicher, irgendwo in diesem Satz lag ein Sinn.

Ty lachte und drückte mein Knie. Nach ein paar Minuten des Schweigens wechselte er Gott sei Dank das Thema. »Also, was sagst du zu der Wohnung?«

»Sie ist toll. Bist du sicher, dass ich bei dir wohnen soll? Ich kann mir was Eigenes suchen oder auf dem Sofa schlafen …« Meine eigene Wohnung? Das war so weit hergeholt, dass es beinahe lustig war. Ich besaß nicht einmal einhundert Dollar.

»Auf keinen Fall, ich teile seit elf Jahren mein Bett mit dir, daran will ich jetzt auch nichts ändern.«

»Ty, aber was, wenn du eine Freundin hast? Willst du der wirklich erklären, warum ich bei dir wohne? Warum wir uns eine Kommode, einen Schrank, ein Bett teilen?«

Tyler sah mich eine Sekunde an, ehe er den Blick wieder auf die Straße richtete. Seine braunen Augen hatten sich verdunkelt, und seine Lippen waren zu einer festen Linie zusammengepresst. »Du bleibst bei mir, Cassi.«

Ich seufzte, sagte aber sonst nichts mehr. Wir hatten diesen Streit schon viele Male geführt. Jede Beziehung, die er je gehabt hatte, war letztendlich wegen mir in die Brüche gegangen, weil wir immer zusammen waren. Ich hasste es, dass ich seine Beziehungen kaputt machte, und immer, wenn er mit jemandem ausging, hörte ich sogar auf, in sein Zimmer zu kommen und seine Anrufe entgegenzunehmen, damit er sich stattdessen auf seine Freundin konzentrieren konnte. Das dauerte aber nie lange an. Er kam dann durch mein Fenster geklettert, hob mich aus dem Bett und trug mich zu sich nach Hause. Um meine Freunde mussten wir uns dabei nie Sorgen machen, weil ich noch nie einen gehabt hatte. So besitzergreifend wie Tyler war, versuchte keiner, mir irgendwie näherzukommen. Nicht, dass mich das störte – der einzige Mensch, für den ich je Gefühle gehabt hatte, war viel zu alt für mich und nur ein paar kurze Minuten Teil meines Lebens gewesen. Sobald ich ihn in der Tür hatte stehen sehen, fing mein Magen an zu flattern, und ich empfand diese merkwürdige Verbindung zu ihm, die ich bisher mit noch niemandem gespürt hatte, und auch nachdem er wieder gegangen war, träumte ich noch von seiner kühlen Eindringlichkeit und seinen hypnotisierenden blauen Augen. Ty wusste allerdings nichts von ihm, denn was würde das bringen? Ich war gerade erst sechzehn geworden, und er war ein Cop – ich wusste, dass ich ihn nie wiedersehen würde, und das hatte ich auch nicht. Und außerdem bereitete es mir Probleme, Männer, mit Ausnahme von meinem echten Dad und Ty, an mich heranzulassen, ob ich mich zu ihnen seltsam hingezogen fühlte oder nicht. Meine ohnehin schon zerrüttete Welt hatte sich völlig auf den Kopf gestellt, als ein neuer Mann unser Zuhause betreten hatte … da musste man doch Probleme mit dem Vertrauen bekommen.

Tyler hatte sich entschieden, die University of Texas in Austin zu besuchen, wo sein Cousin Gage bereits studierte, der zwei Jahre älter war als wir. Ich hatte von Ty mit den Jahren viel von Gage und dessen Familie gehört, da er sein einziger Cousin war, und ich freute mich wirklich, dass er dorthin ging. Gage war wie ein Bruder für ihn, und Tyler hatte ihn seit ein paar Jahren nicht gesehen. Sich eine Wohnung mit ihm zu teilen würde Ty also guttun. Ich war mir nicht sicher, was ich tun würde, wenn Tyler nicht mehr bei mir war. Ich wusste nur, ich musste das Haus verlassen, in dem ich aufgewachsen war. Ich musste nur noch einen Monat durchhalten, dann war ich achtzehn und konnte verschwinden. Aber Tyler hatte, typisch Tyler, meine Zukunftspläne bereits für mich gemacht. Er kam durch mein Fenster gekrochen, befahl mir, meine Sachen zu packen, und ehe er mich in seinen Jeep verfrachtete, hatte er Mom und Jeff ganz genau erzählt, was er von ihnen hielt. Ich hatte keine Zeit, mir über die Konsequenzen Gedanken zu machen, denn ehe ich mich’s versah, befanden wir uns auf dem Freeway in Richtung Texas. Wir brauchten für die Strecke etwas mehr als einen Tag, und jetzt, nachdem wir lange genug hier waren, um seinen Jeep ausgeladen und getrennt geduscht zu haben, waren wir auf dem Weg zu irgendeiner Feier am See, wo wir Gage und seine Freunde kennenlernen würden.

Gages Familie stammte nicht aus Austin. Ich wusste nicht, wo in Texas sie lebten, aber anscheinend besaßen sie eine Ranch. Nachdem ich das gehört hatte, musste ich mir auf die Innenseite der Wange beißen, um nicht weiter zu fragen, wie Gage so war. Ich begriff, dass wir jetzt in Texas waren, aber Austin hatte meine Vorstellung von Sandstraßen und Steppenläufern schon so weit übertroffen mit seinen Gebäuden in der Innenstadt und dem ganzen Grün. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen würde, mit einem echten Cowboy zu leben, in engen Wrangler-Jeans, mit einer großen Gürtelschnalle und einem Stetson, wie ich es aus Filmen und vom Rodeo kannte. Wahrscheinlich musste ich einfach jedes Mal anfangen zu lachen, wenn ich ihn sah.

Als wir an den See kamen und die neuen Leute trafen, atmete ich tief durch, um vergeblich zu versuchen, meine Nerven zu beruhigen. Ich traf nicht gerne neue Leute.

Tyler nahm mich an der Hand und drückte sie fest. »Ein Neuanfang, Cassi. Und ich bin direkt an deiner Seite.«

»Ich weiß. Ich schaffe das.« Er hielt seinen Jeep an, und ich nahm das sofort wieder zurück. Nix da. Nein, ich schaffe das nicht. Ich musste schnell überlegen, wo sich meine blauen Flecken befanden und ob sie auch wirklich von Kleidung verdeckt waren, auch wenn ich schon in der Wohnung genau nachgesehen hatte. Ich wollte einfach nicht, dass irgendwer hier wusste, was für eine Art Leben ich geführt hatte.

Ich sprang aus Tylers Jeep, atmete noch einmal tief durch und brachte mich mental in Stimmung. Neues Leben. Ich schaffe das. Ich drehte mich um, ging um den Wagen und hatte es nicht ganz bis zu Tyler geschafft, als ich ihn sah. Ich weiß nicht, ob ich bewusst die Entscheidung traf stehenzubleiben oder ob ich noch auf dem Weg zu Tyler war und es nicht merkte – alles, was ich noch sehen oder wahrnehmen konnte, war der Mensch, der ungefähr drei Meter entfernt stand. Er war groß, größer als Tyler mit seinen ein Meter achtzig, und trug weite, dunkelbeige Cargo-Shorts zu einem weißen Hemd, das er komplett aufgeknöpft trug. Darunter befanden sich gebräunte, durchtrainierte Brustmuskeln und ein Sixpack. Seine Arme waren ebenfalls muskulös, aber er sah nicht aus wie jemand, der Stunden im Kraftraum verbrachte oder Steroide einnahm. Ich kann seine Muskeln nur als natürlich beschreiben, als von der Arbeit geformt. Sein rabenschwarzes Haar hatte diesen zerzausten Look, als wäre er gerade aus dem Bett gestiegen, und meine Hand zuckte bei dem Gedanken daran, mit den Fingern hindurchzufahren. Aus der Ferne konnte ich seine Augenfarbe nicht erkennen, aber er hatte den Blick auf mich gerichtet, und sein Mund stand ein Stück offen. Er hielt eine Flasche Wasser in der Hand, die er angehoben hatte, als wollte er gerade einen Schluck trinken, ehe er mich sah. Ich hatte keine Ahnung, was da mit mir passierte, aber mein ganzer Körper begann zu kribbeln, und meine Handflächen wurden bei seinem Anblick feucht.

Ich hatte schon viele attraktive Männer gesehen – Tyler sah aus wie ein Abercrombie-&-Fitch-Model. Aber Mr. Neu hier konnte man nicht mit etwas so Degradierendem wie attraktiv beschreiben. Er sah aus wie ein Gott. Mein Atem ging schneller, und mein Blut fing an, sich zu erwärmen, als ich unbewusst einen Schritt auf ihn zuging. In dem Augenblick hüpfte eine große Blonde mit langen Beinen an seine Seite, schlang ihm die Arme um die Taille und küsste ihn auf seinen kräftigen Kiefer. Es fühlte sich an, als hätte mich jemand in den Bauch geboxt, und ich war sofort eifersüchtig auf dieses Mädchen, wer auch immer sie sein mochte. Kopfschüttelnd zwang ich mich, den Blick von ihnen zu lösen. Was zum Teufel, Cassidy? Beruhige dich.

»Cassi, kommst du?«

Ich blinzelte und sah zu Tyler hinüber, der mir die Hand entgegenstreckte. »Äh, ja.« Ich blickte noch einmal zu Mr. Neu und sah, dass er sich noch nicht gerührt hatte. Die lebhafte Blonde schwatzte ihm ein Ohr ab, und er schien sie nicht einmal zu hören. Ich spürte, wie mir Röte in die Wangen stieg von der Art, wie er mich ansah, als hätte er gerade zum ersten Mal die Sonne gesehen, und ging weiter zu Tyler.

Tyler zog mich an seine Seite und flüsterte mir ins Ohr: »Alles okay?«

»Ja, mir geht es gut«, versicherte ich ihm und versuchte jetzt aus einem ganz anderen Grund, mein klopfendes Herz zu beruhigen.

Er küsste mich auf die Wange und löste sich dann von mir. »Okay, dann lass mich dir Gage vorstellen.«

Ach ja. Gage. Tyler ließ meine Hand los, legte mir aber gleich seine in den Rücken und führte mich zu Mr. Neu und der langbeinigen Blondine. Oh nein. Nein, nein, nein, nein, nein.

»Was geht, Alter?« Tyler klopfte ihm auf den Rücken, und Mr. Neu löste langsam den Blick von mir und richtete ihn auf den Menschen, der ihn gerade berührt hatte.

Gage riss die Augen weit auf, als er Ty erkannte. »Tyler, hey! Mir war nicht klar, dass ihr schon da seid.«

Oh. Mein. Gott. Diese Stimme. Selbst an dem kurzen Satz hörte ich seinen Südstaaten-Dialekt. Sie war tief und rau, und ich hatte mit Abstand noch nie etwas gehört, das so sexy klang.

»Ja, wir sind gerade erst angekommen. Cassi, das ist mein Cousin Gage. Gage, das ist Cassi.«

Gage streckte die Hand aus. »Freut mich sehr, Cassi. Freut mich, dass ihr endlich da seid.«

Mir wurden die Knie weich, und ein elektrischer Schock durchfuhr mich, als ich ihm die Hand schüttelte. So wie er schnell auf unsere Hände hinabsah, hatte er es auch gespürt. »Freut mich auch.« Jetzt, wo er mir so dicht gegenüberstand, konnte ich seine leuchtend grünen Augen sehen, verborgen hinter dichten schwarzen Wimpern und Augenbrauen. Er war die Definition von Männlichkeit. Von seinem kräftigen Kiefer, seiner ausgeprägten Stirn, der definierten Nase bis zu den perfekten, küssenswerten Lippen schrie sein ganzes Aussehen Mann. Der einzige Kontrast zu seiner Männlichkeit waren die jungenhaften Grübchen, von denen ich mich nicht lösen konnte. Jepp, Gott war das einzige Wort auf der Welt, das zu ihm passte.

Unsere Hände lösten sich der großen Blonden nicht schnell genug, also streckte sie ihre eigene dazwischen. »Ich bin Brynn, Gages Freundin.« Sie kniff beim letzten Wort ihre Augen zusammen.

Ich hätte es nicht tun sollen, aber ich sah noch einmal zu Gage. Er hatte die Brauen entweder verwirrt oder verärgert zusammengezogen, als er Brynn ansah. Das muss ja wohl ein Witz sein, dachte ich. Mir war egal, dass ich ihn erst vor zwei Sekunden zum ersten Mal gesehen hatte – das konnte keine normale Reaktion sein für zwei Menschen, die sich gerade erst kennenlernten, und dann hatte er eine verdammte Freundin. So hatte es sich nicht einmal angefühlt, als der Cop vor meiner Tür gewesen war, und an ihn hatte ich fast zwei Jahre lang denken müssen!

Ich drückte die Schultern durch und ließ Gages Hand los. Stattdessen wandte ich mich an Brynn. »Freut mich wirklich sehr, Brynn!« Ich hoffte, mein Lächeln sah ehrlich aus. Ich konnte keine Feindin gebrauchen, besonders nicht, wenn sie mit dem Mann zusammen war, mit dem ich zusammenwohnen sollte. Aber verdammt, ich will nicht lügen – ich überlegte mir bereits, wie ich sie aus dem Weg räumen konnte.

Tyler und Brynn schüttelten sich die Hände, und dann sah sie wieder zu mir und bemerkte vermutlich, dass ich alles tat, um ihren Freund nicht anzusehen. Tyler und Gage unterhielten sich, und jedes Mal, wenn Gage etwas sagte, musste ich mich zwingen, nicht die Augen zu schließen und mich darin zu verlieren, wie seine Stimme mir Schauer über den ganzen Körper laufen ließ.

»Also, Cassi, wie wäre es, wenn ich dich den anderen Mädchen vorstelle?«, fragte Brynn schließlich freundlich.

Tyler sah begeistert aus. Genau das hatte er gewollt. »Klingt gut«, sagte ich und löste mich von den beiden Jungs. Es fühlte sich falsch an, sie zu verlassen, aber ich konnte spüren, wie Gage mich dabei beobachtete.

»Du und Tyler, hm?« Brynn gab mir einen Stups gegen die Schulter.

»Was meinst du?«

»Ihr zwei seid so ein süßes Paar.« Es war kein Kompliment, sondern reine Neugierde.

»Danke, aber nein, Tyler und ich sind beste Freunde, nicht mehr.«

»Bist du dir sicher? Ich habe doch gesehen, wie er dich ansieht, und er hatte den Arm um dich gelegt.«

»Wir sind nur irgendwie anders. Wir sind schon unser ganzes Leben lang beste Freunde.«

»Klar. Gehst du auch auf die UT?«, fragte sie und klang dabei ein bisschen zu neugierig.

»Äh, nein. Ich will überhaupt nicht aufs College gehen.«

»Warum bist du dann hier?« Wäre da nicht ihr spöttisch hochgezogener Mundwinkel gewesen, hätte es sich angehört, als wäre sie einfach interessiert.

»Ganz ehrlich? Keine Ahnung. Tyler hat meine Tasche gepackt und mich in seinen Jeep gesteckt. Anscheinend war es Gage egal, ob ich auch bei ihnen wohne.« Ich grinste und drehte mich um, damit ich mich den Mädchen vorstellen konnte, die jetzt neben uns standen.

Gage

Was zur Hölle war das? So etwas war mir noch nie passiert. Ein Blick auf Cassi und es fühlte sich an, als würde meine Welt stillstehen. Ich konnte nur noch daran denken, die Entfernung zwischen uns zu überwinden. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, aber ich musste zu ihr gehen. Leider war ich auf der Stelle erstarrt beim Anblick des schönsten Mädchens, das ich je gesehen hatte. Ihr langes braunes Haar war vom Wind zerzaust, und in ihren großen honigfarbenen Augen wollte ich mich verlieren. Sie sah so süß und zerbrechlich aus, dass ich die Arme um sie schlingen und sie vor allem Bösen der Welt beschützen wollte, aber etwas in ihren Augen verriet mir, dass sie sehr gut wusste, wie die Welt aussah, und dass sie sich um sich selbst kümmern konnte. Und deswegen war es auch so verdammt verwirrend, dass sie sich an meinen Cousin klammerte, als wäre er ein Rettungsring.

Tyler hatte mir erzählt, dass er eine Freundin mitbringen würde, die auch bei uns wohnen sollte, und natürlich wusste ich, dass sie ein Mädchen war. Ich erinnerte mich, ihren Namen im Laufe der Jahre gehört zu haben, aber immer, wenn er über sie redete, klang es so, als wären sie nur Freunde. Warum hielt er sie also an der Hand und küsste sie auf die Wange? Ich hatte das tiefe Knurren aus meiner Kehle nicht unterdrücken können, als ich das sah. Dann noch diese dämliche Brynn. Freundin? Im Ernst? Wir hatten vor einem Jahr zwei schreckliche Dates gehabt, und ich hatte ihr vor Ende des Schuljahres gesagt, dass ich keinerlei Beziehung wollte. Ich dachte, das wäre deutlich gewesen, da sie mir den ganzen Nachmittag aus dem Weg gegangen war, bis Cassi und Ty aufgetaucht waren.

Als Cassi zum ersten Mal sprach, musste ich mich zum Atmen zwingen. Ihre Stimme war weich und melodisch. Sie passte perfekt zu ihr. Sie war schmal, und auch wenn sie klein war, konnten ihre Beine in diesen Shorts jeden Mann flehend in die Knie zwingen. Ich konnte nicht aufhören mir vorzustellen, wie sie sich in meinen Armen anfühlen würde, wie sie in meinem Truck aussehen würde oder auf meinem Pferd. Und ja, ich will nicht lügen, ich stellte sie mir auch unter mir vor … aber ein Blick auf sie genügte, und es war unmöglich, das nicht zu tun.

Nachdem Brynn sie fortgeführt hatte, kostete es mich große Anstrengung, ihr nicht mehr nachzusehen, aber ich wollte Tyler nicht merken lassen, dass ich bereits heftig in sie verschossen war.

»Sie gehört mir, Gage. Lass uns das von Anfang an klarstellen.«

Okay, vielleicht hatte ich meine Emotionen doch schlechter verstecken können, als ich geglaubt hatte. »Dachte, du hättest gesagt, ihr wäret nur Freunde.«

»Sie ist meine beste Freundin, aber du wirst schon sehen. Sie gehört mir.«

Ich nickte und klopfte ihm auf den Rücken, nachdem ich mich gezwungen hatte, meine Faust zu öffnen. »Schon klar, Mann. Komm, ich besorge dir ein Bier.«

Während der Abend fortschritt, kam ich immer näher und näher dorthin, wo sie sich befand. Ich fühlte mich wie irgendein gruseliger Typ, der dabei war, ihre Nähe zu suchen, aber ich konnte nicht anders. Ich wollte sie reden und lachen hören; ich schwöre, es klang wie Engelsgesang, wenn sie lachte. Fast stöhnte ich laut auf – Engelsgesang? Was zum Teufel ist mit mir los?

Wir saßen alle um das Lagerfeuer herum, redeten und tranken. Ich war nur ein paar Schritte von Cassi entfernt, als sie aufstand und zu Jackie ging. Ohne das, was direkt danach passiert wäre, hätte ich Jake eins auf die Nase gegeben dafür, dass er sie anfasste. Mit einer Hand strich er vorne über ihren Oberschenkel, und mit der anderen griff er an ihren Po, sodass sie stolperte und direkt auf mich fiel. Ihr Bier durchtränkte mein Hemd.

Sie riss die großen Augen noch weiter auf und atmete scharf ein. »Oh Gott, es tut mir so leid!« Die Sonne ging schon unter, und es wurde langsam dunkler, aber ich konnte genau sehen, wie sie rot wurde. Ich bin mir sicher, Cassi erröten zu sehen war meine neue Lieblingssache.

Ich lachte und packte sie an den schmalen Schultern, um sie festzuhalten. Mein Hemd war mir vollkommen egal. »Alles in Ordnung?«

Ihre Augen richteten sich auf meine Lippen, und ihre Zähne sanken ein Stück in ihre Unterlippe. Ohne es zu merken, fing ich an, mich ihr entgegenzulehnen. Sie blinzelte schnell und sah hoch, dann sah sie Jake auf meiner Rechten an. »Mir geht es gut. Tut mir wirklich leid um dein Hemd.«

Ach, verdammt, das ist doch nicht normal. Sie spricht heute Abend zwei Sätze mit mir, und schon will ich sie küssen? »Mach dir keine Gedanken deswegen«, murmelte ich, während sie sich aufrichtete und weiter zu Jackie ging, nur um schnell von Tyler zur Seite gezogen zu werden, der ihr etwas ins Ohr flüsterte und die Arme um sie legte.

»Verdammt, als du gesagt hast, dein Cousin bringt ein Mädchen mit, hätte ich nicht gedacht, dass sie so heiß ist«, sagte Jake.

»Jake, fass sie noch einmal an und du wirst sehen, was dann verdammt noch mal passiert.«

»Woah, jetzt schon in das Mädchen von deinem Cousin verknallt, was? Versuchst du, bei der zu landen?«

Ich musterte Cassi in Tys Armen und schüttelte den Kopf, während ich gleichzeitig mein Bier an die Lippen hob und einen langen Schluck nahm. »Nope.« Ja, ja das werde ich.

»Gut, wenn du nicht willst, ich auf jeden Fall.«

»Jake«, knurrte ich.

»Schon gut, schon gut. Mach dich locker, Gage. Ich fasse sie nicht an, und du hast ja gehört … ihr geht es gut.« Jake beugte sich vor, um sich noch ein Bier aus der Kühltruhe zu nehmen, und ließ sich wieder in seinen Stuhl sinken, den Blick bereits von Cassi auf Lanie gerichtet.

Nachdem ich mich kurz umgesehen hatte und feststellte, dass Cassi und Tyler sich immer noch leise unterhielten, stand ich auf und ging dorthin, wo alle Trucks geparkt waren. Ich zog mein nasses Hemd aus und hängte es an die Ladefläche von meinem Truck, ehe ich mir ein sauberes vom Rücksitz nahm. Als ich mich umdrehte, kam Tyler gerade auf mich zu.

»Ich bin echt froh, dass du hier bist, Bro«, sagte ich.

»Ich auch.« Er nahm einen langen Schluck aus seiner Bierdose, ehe er sie auf die Heckklappe stellte. »Wir konnten nicht schnell genug kommen. Cali ging mir langsam wirklich auf die Nerven. Ich war bereit für etwas Neues. Und hey, ich weiß, das habe ich schon gesagt, aber ich weiß es wirklich zu schätzen, dass wir bei dir wohnen können. Mir ist klar, dass du jeden anderen bei dir hättest wohnen lassen können, und der hätte wahrscheinlich kein Mädchen im Schlepptau gehabt.«

»Keine Sorge, du bist doch Familie. Ehrlich gesagt, ich war irgendwie überrascht, als du gemeint hast, du würdest nach Austin kommen, um mit mir aufs College zu gehen. Nachdem du dich die letzten Jahre geweigert hast, mit Tante Steph und Onkel Jim zu uns auf die Ranch zu kommen, dachte ich einfach, du magst uns nicht mehr.«

»Ne, das hatte nichts mit dir zu tun. Ich wollte Cassi nur nicht alleine lassen. Tut mir leid, dass du das gedacht hast.«

Ich atmete tief durch und rief mir in Erinnerung, dass Cassi mit ihm nach Texas gekommen war. »Wirklich? Verstehe ich nicht, Ty, du hast gesagt, sie ist eine Freundin. Dann folgt sie dir hierher, und jetzt sagst du, du bist nicht zu Besuch gekommen, weil du sie nicht alleinlassen wolltest? Warum hast du nie erzählt, wie es wirklich mit euch beiden aussieht?«

»Es ist kompliziert. Wir waren wirklich nur Freunde. Aber sie braucht mich, ich konnte sie nicht einfach allein lassen. Und ich liebe sie, Alter.«

Verdammter Mist. Es fühlte sich an, als hätte mir jemand die Luft aus den Lungen gequetscht. Wie konnte ich dieses Mädchen bereits so sehr mögen, dass es mir körperlich wehtat, sie mir mit Ty vorzustellen? Oder irgendjemandem sonst? Mal im Ernst. Das war nicht. Normal. Verdammt. »Was meinst du damit, sie hat dich gebraucht?«

Tyler seufzte und schüttelte den Kopf. »Wie gesagt, das ist kompliziert.«

Wir schauten beide auf, als wir hörten, wie die Mädchen kreischten, und dann platschte es. Einige der Jungs warfen sie in den See, und ich konnte nicht anders, als zu Jake zu gehen, der sich Cassi schnappte und über die Schulter warf. Meine Hände waren bereits zu Fäusten geballt für den Augenblick, in dem er sie absetzen würde. Ihr langes Haar verbarg ihr Gesicht, während sie ihm mit den kleinen Händen auf den Rücken trommelte.

»Lass mich runter! Ich habe kein Badezeug an!« Sie klang so entschlossen für ein so kleines Ding, dass ich fast lächeln musste. Fast. »Das ist mein Ernst, lass mich sofort runter!«

»Jake, ich habe dir gesagt, du sollst sie nicht anfassen. Lass sie runter.« Ich stand direkt hinter ihnen. Cassi packte den Bund seiner Jeans, um sich hochzuschieben und mich anzusehen, aber Jake drehte sich um, sodass er mich ansah. Sie versuchte auch, ihn zu treten, und dass seine Hände so weit oben an ihren Schenkeln lagen, ließ mich wieder die Fäuste ballen.

»Komm schon, Gage.« Er klang genervt. »Alle anderen Mädchen sind auch drinnen.«

»Sie will eben nicht …« Jake ließ sie runter, aber dabei rutschte ihr Oberteil weit ihren Rücken hoch. Ich verschluckte mich an meinen nächsten Worten, und wenigstens zwei Leute hinter mir keuchten entsetzt auf. WAS ZUM TEUFEL?!

Tyler packte Cassi und fing an, sie davonzuzerren. Er sah sie mitfühlend an, und als unsere Blicke sich begegneten, wirkte er besorgt. Cassis Gesicht war wieder leuchtend rot angelaufen, und ihre Lippen waren fest zusammengepresst, als sie sich von Tyler zu seinem Jeep führen ließ.

Jake sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Wenn die anderen Jungs nicht auf die gleiche Weise reagiert hätten, hätte ich das auch geglaubt. Ich drehte mich um, folgte Tyler und Cassi zu seinem Jeep und wartete ab, bis wir außer Hörweite waren. »Was zum Teufel habe ich da gerade gesehen?«

Tyler half ihr in den Jeep, ehe er auf die Fahrerseite ging und dort die Tür öffnete. Cassi starrte stur geradeaus, die Zähne immer noch zusammengebissen.

»Ty, Alter, was war das?«

»Nichts. Wir sehen uns, wann immer du nach Hause kommst.«

»Das war nicht nichts!«

Er seufzte, trat von der Tür weg und beugte sich dicht zu mir, damit sie ihn nicht hören konnte. »Hör zu, wir haben versucht, genau das zu vermeiden, aber da du es schon gesehen hast, erkläre ich es dir später. Genau deswegen habe ich sie da weggeholt, also bringe ich sie jetzt zurück zur Wohnung, wenn es dir nichts ausmacht.«

Ich wartete nicht weiter. Ich rannte praktisch zu meinem Truck, schnappte mein nasses Hemd, während ich die Heckklappe schloss, sprang hinein und fuhr mit ihnen gemeinsam zurück. Eine Million Dinge gingen mir auf dem Weg zurück zur Wohnung durch den Kopf, und jedes einzelne ließ mich das Lenkrad fest umklammern. Es war dunkel genug, dass ich mir nicht sicher sein konnte, was ich gesehen hatte, aber es sah wie Blutergüsse aus. Jede Menge. Ich hatte schon von Leuten mit speziellen Krankheiten gehört, die davon übersät waren. Ich versuchte mir zu überlegen, was es sein konnte, und dachte an ihre viel zu kleine Gestalt. Wenn ihr Gesicht nicht so gesund gewirkt hätte, hätte ich genau das vermutet. Aber die Art, wie Tyler davon redete, dass er sie nicht zurücklassen wollte, konnte ich auch nicht außer Acht lassen. Ich weigerte mich, das Offensichtliche zu denken; auf keinen Fall konnte ihr jemand wehgetan haben. Ich würde denjenigen finden, wenn es so war.

Warum fühlte ich mich, als müsste ich sie beschützen? Ich kannte sie kaum, und wir hatten den ganzen Abend fast kein Wort miteinander gesprochen. So verhielt ich mich nicht einmal, wenn es um meine Schwestern ging, und die liebte ich über alles. Ich wusste nicht, was dieses Mädchen an sich hatte, aber es ging mir einfach unter die Haut. Und ich war mir noch nicht sicher, ob mir das gefiel oder nicht.

Die Fahrt dauerte ewig, und ich stieß einen langen Seufzer aus, als ich endlich in meine Parklücke fuhr. Als die beiden neben mir hielten, joggte ich zur Beifahrertür und öffnete sie. Cassis Gesicht ließ mich einen Schritt zurückweichen. Es war absolut keine Emotion darin, und auch wenn sie mich nicht ansah, wirkten ihre Augen tot. Ich streckte die Hand aus, um ihr herauszuhelfen, aber Tyler schob sich an mir vorbei, sah mich böse an und half ihr selbst heraus. Er behielt den Arm um sie gelegt, während er sie in unsere Wohnung führte und sie direkt in sein Zimmer brachte. Ich stand im Wohnzimmer und wartete darauf, dass sie wieder herauskamen, aber dreißig Minuten später hatte sich die Tür immer noch nicht wieder geöffnet. Schwer seufzend ging ich in mein Badezimmer, um zu duschen, da ich immer noch nach dem Bier roch, das Cassi über mich geschüttet hatte. Gott sei Dank hatte man mich beim Nachhausefahren nicht angehalten. Als ich wieder in mein Zimmer kam, saß Tyler auf meinem Bett.

»Sorry, Gage, sie wollte vorhin, als wir gekommen sind, nicht mit dir reden.«

»Ist sie krank, Ty?«

Tyler zuckte zusammen. »Was? Nein, sie ist nicht krank. Warum fragst – oh. Nein. Ist sie nicht.«

Ein Teil von mir war erleichtert, aber jetzt, wo ich wusste, dass es das nicht war, wurde mir schlecht bei dem Gedanken daran, was passiert sein musste. »Wolltest du sie deswegen nicht alleinlassen?«, fragte ich leise.

»Ja, genau deshalb.«

»Ihr Freund?«

Er schüttelte den Kopf.

»Eltern?« Ich biss fest die Zähne zusammen, als er nickte.

»Warte eine Sekunde.« Tyler ging schnell ans andere Ende der Wohnung, und ich hörte, wie seine Tür sich zweimal öffnete und schloss, ehe er zurück in mein Zimmer kam und die Tür hinter sich zumachte. »Ich wollte sichergehen, dass sie schläft; sie will nicht, dass du es weißt. Aber weil du es gesehen hast, muss ich es dir erzählen – ich muss es irgendwem erzählen.« Er ließ den Kopf in seine Hände sinken und atmete tief durch, als sein Körper anfing zu beben. »Ich habe elf Jahre lang niemandem davon erzählt. Weißt du, wie das gewesen ist, zu wissen, was passiert, und nichts sagen zu können?«

»Elf Jahre lang?!«, zischte ich und zwang mich, mich gegen die Wand zu lehnen, damit ich mich nicht auf ihn stürzte. »Das läuft elf Jahre lang so, und du sagst niemandem etwas? Was zur Hölle stimmt nicht mit dir?«

»Ich musste ihr versprechen, dass ich es nicht tue! Sie hatte Angst, dass man sie da wegholt.«

»Hast du es nicht gesehen? Ihr ganzer Rücken war schwarz und blau!«

Tyler ließ wieder den Kopf hängen. »Es hat auch schon schlimmer ausgesehen. Sie ist mit einer Gehirnerschütterung zu mir gekommen; ein paarmal konnte ich sie überreden, sich nähen zu lassen. Ich schwöre bei Gott, das Mädchen ist stärker als die meisten Männer, die ich kenne, denn sie hat sich ohne jede Betäubung von Dad in der Küche nähen lassen. Es ist auch vorgekommen, dass sie nicht mehr vom Boden aufstehen konnte. Als sie noch jünger war, hat sie dann stundenlang dagelegen, ehe sie sich regen konnte, aber als wir älter wurden und ihr ein Handy besorgt hatten, hat sie mir geschrieben, und ich habe sie abgeholt.«

Ich versuchte, die Übelkeit herunterzuschlucken, die mir die Kehle hochstieg. »So schlimm ist es gewesen, und du hast nie ein Wort gesagt. Was hättest du gemacht, wenn die sie irgendwann umgebracht hätten, Ty?«

Ein Schluchzen kam von dort, wo er zusammengekauert saß. »Ich hasse mich dafür, dass ich sie das habe durchmachen lassen. Aber jedes Mal, wenn ich die beiden zur Rede stellen wollte, ist sie ausgeflippt und hat mich gezwungen zu gehen, und wenn ich das tat, musste sie an dem Abend oder dem nächsten Tag eines von den Malen durchmachen, bei denen sie sie so heftig verprügelten, dass sie nicht mehr selbst aufstehen konnte.«

»Das ist keine Entschuldigung, du hättest sie von denen wegholen müssen. Onkel Jim hätte etwas tun können!«

»Hör zu, Gage, nichts, was du sagst, könnte dafür sorgen, dass ich mich noch schlechter fühle, als ich es schon tue! Ich bin derjenige, der das Blut von ihr waschen musste, ich bin es, der sie jedes Mal verbinden musste, wenn sie sich eigentlich hätte nähen lassen müssen. Ich musste einen kleinen Gefrierschrank für mein Zimmer kaufen, damit Eis da ist, wenn sie kommt!« Er zog sein Handy aus der Tasche, tippte ein paarmal auf den Bildschirm und unterdrückte ein weiteres Schluchzen, als er es mir reichte.

»Was ist das?« Egal woher diese frischen Prellungen stammten, sie waren eindeutig nicht durch Hände entstanden. Die kleinen Rechtecke kamen mir bekannt vor, aber ich konnte sie nicht richtig einordnen.

»Golfschläger. Davon habe ich auch nichts gewusst. Sie hat es mir erst auf dem Weg hierher erzählt, und ich habe die Fotos gemacht, ehe ich eben zu dir gekommen bin. Sie sagt, es ist gestern Morgen passiert, bevor ich gekommen bin und ihre Sachen gepackt habe.«

»Gibt es noch mehr Bilder?«

Er hob für eine Sekunde den Kopf, um zu nicken. »Seit ich mein erstes Handy bekommen habe, mache ich jedes Mal, wenn sie zu mir rübergekommen ist, Bilder, und ich verschiebe sie immer auf meine neuen Telefone, damit sie nicht verloren gehen. Von allen Fotos habe ich eine Sicherheitskopie abgespeichert. Sie hat nicht erlaubt, dass ich etwas sage, aber ich wollte die Bilder, nur für den Fall …« Er verstummte. Es gab sowieso keinen Grund, den Satz zu beenden. Ich hatte verstanden, worauf er hinauswollte.

Beim Durchblättern der Fotos konnte ich nicht glauben, dass das die gleiche süße Cassi sein sollte, die ich erst vor ein paar Stunden kennengelernt hatte. Prellungen aller Formen, Größen und Farben bedeckten ihren Körper, und es brachte mich um, sie anzusehen, aber ich konnte den Blick dennoch nicht abwenden. Man konnte sehen, wie die Verletzungen, die langsam verblassten, von neuen verdeckt wurden, und andere Bilder zeigten ihren Rücken, ihre Arme und ihr Gesicht mit Blut verschmiert. Was mich wirklich umbrachte, war, dass immer, wenn ihr Gesicht auf dem Foto zu sehen war, der gleiche Ausdruck darin lag, den ich gerade draußen gesehen hatte. Keine Gefühle, tote Augen und absolut keine Tränen.

»Was haben die ihr angetan?«

»Das willst du nicht wissen.«

Ich hatte bereits vor, mit meiner Schrotflinte nach Kalifornien zu fahren. »Was. Haben. Sie. Getan?«

Er schwieg so lange, dass ich schon glaubte, keine Antwort zu bekommen. »Als es angefangen hat, waren es normalerweise nur Schläge und Tritte. Je älter sie wurde, desto mehr nahmen sie das, was sie gerade in der Hand hatten oder sich schnell greifen konnten. Als das begann, ist sie nur noch zu mir gekommen, wenn es irgendwelche Gegenstände waren. Auf die Tage, an denen sie nur die Hände benutzten, hat sie sich geradezu gefreut.«

»Das, was ich heute Abend gesehen habe, war also noch nicht das Schlimmste, sagst du?«

»Lange nicht.«

»Was war es?«

Tyler seufzte und sah zu mir hoch. Tränen liefen ihm das Gesicht hinab. »Ich weiß nicht, es gab ein paar Male, die herausgestochen sind, aber ich kann nicht sagen, welches am schlimmsten war.«

Ich starrte ihn einfach weiter finster an. Er verdiente eine Tracht Prügel einfach dafür, dass er so lange nicht eingegriffen hatte. Sie war jetzt siebzehn oder achtzehn, also war sie sechs oder sieben gewesen, als die Sache angefangen hatte. Und er hatte es die ganze Zeit lang gewusst.

»Vor ein paar Jahren sind eines Abends die Cops aufgetaucht …«

»Ich dachte, du hast gesagt, sie hat dich nicht bei der Polizei anrufen lassen?«

»Das war ich auch nicht.« Er seufzte und fuhr sich noch ein paarmal mit den Händen durch die Haare. »Die alte Dame, die zwischen uns gewohnt hat, hat sie eines Abends schreien gehört und die Cops gerufen.«

Ich stieß mich von der Wand ab und breitete die Arme aus. »Du hattest die perfekte Gelegenheit und hast trotzdem nichts unternommen? Die haben nichts unternommen?!«

»Gage, ich wusste nicht einmal, dass die Polizei da war, bis sie mir ein paar Stunden, nachdem sie wieder weg war, geschrieben hat!«

»Was ist passiert?«, wollte ich wissen und zwang mich dazu, mich wieder an die Wand zu lehnen.

»Cassi hat ihnen die Tür aufgemacht, ihre Mom und ihr Stiefvater standen direkt hinter ihr. Sie hatte damals keine sichtbaren Prellungen, und sie alle leugneten die Schreie, auch Cass.«

Ernsthaft? Was sollte der Mist?

»Als die Cops wieder weg waren, hat ihre Mom sich die Pumps ausgezogen und den spitzen Absatz benutzt, um sie damit mehrfach auf den Kopf zu schlagen. Als ich bei ihr ankam, war da so viel Blut, Gage, und sie konnte danach für über eine Woche den Kopf nicht einmal auf ein Kissen legen. Ein anderes Mal hat ihr Stiefvater ein Glas Alkohol nach ihr geworfen, sie hat sich geduckt, und es ist an der Wand zersprungen. Da es sie nicht getroffen hatte, hat er sie am Hals gepackt, sie dorthin geschleift, wo die Scherben lagen, und ihr mit einer davon Stirn, Arme und Bauch aufgeschlitzt. Sie hat jeden Tag einen Schal getragen, bis die Fingerabdrücke verschwunden waren. Deshalb trägt sie so einen, wie sagt man? Pony. Sie hat diese Narben seit ihrem zehnten Lebensjahr, und die an ihrem Kopf fällt kaum noch auf, aber sie versucht trotzdem noch, sie zu verstecken. Sie versucht, sie alle zu verstecken, aber bei manchen geht das nicht, es sei denn, sie will auch im Sommer Jeans und lange Ärmel tragen.«

Ich stand schockstarr da und versuchte, eine Verbindung herzustellen zwischen dem Mädchen, von dem er mir erzählt hatte, und dem Mädchen, das ich gerade kennengelernt hatte. Selbst beim Anblick der Bilder passte es für mich immer noch nicht zusammen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass jemand sie so anfasste oder dass sie bereit war, es einfach zu ertragen. »Du bist wirklich armselig, Tyler.« Ich öffnete die Tür und stellte mich mit verschränkten Armen daneben.

Es sah aus, als würde er in sich zusammenbrechen. »Meinst du, das weiß ich nicht?«

Ich konnte nichts weiter zu ihm sagen. Sobald er mein Zimmer verlassen hatte, knallte ich die Tür hinter ihm zu und ließ mich aufs Bett fallen. Ich wollte, dass er in meinem Zimmer blieb und ich selbst zu ihr ging. Wollte sie halten und ihr sagen, dass niemand ihr jemals wieder wehtun würde. Aber aus irgendeinem Grund wollte sie ihn, und wir kannten einander nicht, das wäre also noch gruseliger, als mich an sie heranzuschleichen, um sie reden zu hören, wie ich es heute Abend getan hatte.

Ich zitterte am ganzen Leib bei dem Gedanken, dass jemand Hand an sie legen könnte, ganz zu schweigen von scharfen Gegenständen. Süße Cassi, sie verdiente Eltern und einen Mann, die sie zu schätzen wussten. Nicht solche, die sie schlugen, und einen Jungen, der es geschehen ließ. Ich schluckte ein drittes Mal, seit ich herausgefunden hatte, was passiert war, einen Würgereiz herunter und zwang mich, in meinem Bett zu bleiben.

Ich schloss die Augen und versuchte, meinen Atem zu beruhigen, indem ich mich auf ihr Gesicht konzentrierte und ihre honigfarbenen Augen, statt auf das, was ich auf ihrem Rücken gesehen hatte, und die Bilder auf Tylers Handy, die sich in mein Gedächtnis eingebrannt hatten. Ich stellte mir vor, wie ich mit den Händen durch ihr langes dunkles Haar fuhr. Wie ich meinen Mund auf ihren Hals und ihre Wangen presste und endlich auf ihre Lippen, die voll und einladend waren. Tyler hat sie nicht verdient. Überhaupt nicht. Ich stellte mir vor, sie in meine Arme zu schließen und mit zur Ranch zu nehmen, damit ich sie für den Rest ihres Lebens beschützen konnte. Aber sie hatte bereits ein Leben geführt, das sie sich nicht ausgesucht hatte, also würde ich diese Entscheidung nicht für sie treffen. Ich würde warten, bis sie ihn verließ und zu mir kam.

2. Kapitel

Cassidy

Wir waren keine sechs Stunden in Austin, ehe jemand die blauen Flecken entdeckt hatte. Und nicht nur irgendwer, Tylers Cousin, unser neuer Mitbewohner und der Typ, der mir in wachen Augenblicken einfach nicht mehr aus dem Kopf ging. Ich bat Tyler, ihm nichts zu erzählen – sollte er seine eigenen Schlüsse ziehen –, aber Tyler hörte natürlich nicht und erzählte ihm viel mehr, als er sollte. Ich konnte ihm aber keine Vorwürfe machen. Ich hatte ihn ein Geheimnis bewahren lassen, das kein Kind tragen sollte. Ich weiß, er dachte, ich würde schlafen, aber selbst wenn, wäre ich aufgewacht, als Gage angefangen hatte, Tyler anzubrüllen, oder als Tyler zurück in mein Zimmer gekommen war, um mich festzuhalten und mir zu sagen, wie leid es ihm tat, während er sich ausweinte. Vor langer Zeit hatte ich gelernt, dass ich noch fester geschlagen wurde, wenn ich weinte, bis ich endlich damit aufhörte, also war ich eine Meisterin darin, meine Gefühle abzuschalten. Aber ich wusste, hätte ich die Augen geöffnet und ihn weinen sehen, es hätte diese Mauer durchbrochen, und ich hätte mit ihm weinen müssen. Also lag ich ganz still da, die Gefühle abgeschaltet und die Augen geschlossen, während Tyler sich in den Schlaf weinte.

Als Tyler am nächsten Morgen unter der Dusche stand, schlüpfte ich in die Küche, um Kaffee aufzusetzen. Wir hatten mit den Jahren so viele Nächte ohne Schlaf verbracht, dass wir beide früh mit dem Kaffeetrinken angefangen hatten, und ich war froh, dass er mir jetzt nicht mehr einen Extrabecher herausschmuggeln musste, da seine Eltern nicht wirklich gewusst hatten, dass ich die ganzen Jahre lang so viele Nächte bei ihnen verbracht hatte.

Ich schloss leise die Tür und ging auf Zehenspitzen über den Parkettboden, als ich Gage entdeckte und mein Herzschlag sich sofort beschleunigte. Er trug lediglich Jersey-Shorts und Schuhe, sein Körper glänzte noch vor Schweiß. Mein Gott, er sah unglaublich aus. Mir stockte der Atem, so perfekt waren sein Körper und sein Gesicht. Ich hatte letzte Nacht kaum mehr als einen kurzen Blick auf seinen freien Oberkörper erhaschen können, ehe Tyler mich beim Starren erwischt hatte, und jetzt konnte ich den Blick nicht mehr von ihm lösen.

»Morgen.«

Ruckartig richtete ich den Blick endlich auf seine Augen. In diesem Licht und aus der Nähe konnte ich sehen, dass das Grün seiner Augen mit goldenen Flecken durchzogen war. Es waren die schönsten Augen, die ich je gesehen hatte. »Guten Morgen, Gage.«

»Wie, äh – wie geht es dir heute?«

Ich seufzte und ging zur Kaffeekanne. »Ich weiß, dass er mit dir gesprochen hat, ich konnte euch gestern Nacht hören. Ich will nicht, dass du dich in meiner Nähe unwohl fühlst, nur weil du etwas weißt.«

»Cassi, diese Dinge hätten dir nie passieren sollen. Er hätte es jemandem sagen müssen.«

Ich drehte mich um und entdeckte, dass er wieder direkt vor mir stand. »Er musste mir versprechen, dass er das nicht tut.«

»Dann hätte er eben nicht auf dich hören dürfen.«

»Du verstehst das nicht, Gage. Du warst nicht dabei. Ich konnte das nicht zulassen.«

Er kniff die Augen zusammen. »Nein, ich war nicht dabei. Aber wenn ich es gewesen wäre, hätte ich dafür gesorgt, dass etwas dagegen unternommen wird, schon nachdem es das erste Mal passiert ist. Warum hast du nichts gesagt an dem Abend, als die Cops aufgetaucht sind?«

Ich schüttelte den Kopf. Es brachte nichts zu versuchen, es ihm zu erklären.

Gage legte seine Hände an meine Wangen und beugte sich dichter zu mir. Ich schwöre, ich dachte, er wollte mich küssen, wie am Abend zuvor, und es war mir egal, dass ich ihn kaum kannte, ich wollte es auch. »Das hast du nicht verdient, Cassi, und das weißt du auch, oder?«

»Ja.«

Ehe ich merkte, was er da tat, hatte er mir den Pony aus der Stirn gestrichen und fuhr mit dem Daumen die Narbe entlang, die Jeffs Glas hinterlassen hatte. Ich erstarrte sofort am ganzen Körper, und Gages Blick verdunkelte sich, als er sie betrachtete. Er riss sich langsam von meiner Narbe los, sah mir in die Augen und sagte leise: »Du hast nichts davon verdient.«

Ich trat einen Schritt zurück, drehte mich um und starrte auf die fast volle Kaffeekanne.

Er fasste um mich herum und nahm zwei Becher vom Regal herunter, die er mit Kaffee füllte. »Tut mir leid, wenn du Sahne magst«, sagte er gedehnt. »Ich habe keine da.«

»Schon gut.« Ich seufzte erleichtert auf, als ich zum Kühlschrank ging und die Milch herausnahm. »Ich gehe später einkaufen und bringe welche mit.«

Als ich mit dem Einschenken fertig war, schraubte er die Packung für mich wieder zu und stellte sie zurück in den Kühlschrank. Dann kam er auf mich zu, legte einen Finger unter mein Kinn und neigte meinen Kopf zurück, bis ich ihn ansah. »Wie oft ist das vorgekommen, Cassi?«

Mein Atem ging schneller. Was hatte er an sich, dass ich mich in seine Arme werfen und sie nie wieder verlassen wollte? Er musste die Frage wiederholen, um mich aus meinem Tagtraum zu wecken. Ich lehnte an der Anrichte, konnte also nicht zurückweichen, aber ich neigte den Kopf fort von seiner Hand und starrte an seiner Schulter vorbei ins Wohnzimmer.

Er riet selbst, als er merkte, dass ich nicht antworten würde. »Jeden Tag?«

Ich antwortete immer noch nicht. An Wochenenden war es mindestens zweimal am Tag vorgekommen. Aber das wusste nicht einmal Tyler. Mein Körper begann zu beben, ohne dass ich es wollte, und ich hasste es, in seiner Gegenwart Schwäche zu zeigen.

»Nie wieder, Cassi«, flüsterte er, während er mein Gesicht studierte.

Mein Blick richtete sich sofort wieder auf ihn, und meine Kehle zog sich zusammen. Er klang, als würde es ihm Schmerzen bereiten, auch nur darüber zu reden, und ich hatte keine Ahnung, warum. Aber es wäre gelogen zu sagen, es hätte mich nicht dazu gebracht, seine Arme um mich spüren zu wollen. Ich räusperte mich und zwang mich, ihm weiter in die Augen zu sehen. »Cassidy.«

»Was?«

»Ich heiße Cassidy.«

»Oh.« Er sah mich zerknirscht an. »Entschuldige, das wusste ich nicht.«

»Nein. Ähm, Tyler gefällt es nicht. Er nennt mich immer Cassi. Ich wollte dir nur meinen richtigen Namen sagen.« Wollte ihn einfach nur in seiner rauen Stimme hören.

Er lächelte zärtlich, als er mich eine Minute lang ansah und dabei an seinem schwarzen Kaffee nippte. »Ich mag Cassidy, es passt zu dir.«

Oh Mist … jepp. Ich lag richtig damit, dass ich es ihn sagen hören wollte. Eine Gänsehaut überzog meine Arme, und ich schauderte sogar. Ja – seine Stimme war wirklich so sexy.

Als ich nichts weiter sagte, ging er um den Tisch und zog einen Stuhl für mich hervor. Dann wartete er ab, bis ich Platz genommen hatte. Wir saßen eine Weile schweigend da, ehe ich wieder zu ihm hochsah.

»Es ist vielleicht unhöflich, aber kann ich dich etwas fragen?«

Einer seiner Mundwinkel hob sich zu einem Lächeln. »Ich glaube, das mit den unhöflichen Fragen habe ich heute Morgen schon abgehakt, also bitte.«

Und jetzt auch noch diese blöden Grübchen! Ich verlor mich so sehr darin, sie anzustarren, dass ich vergaß, meine Frage zu stellen, und sein Mund sich zu einem vollständigen Gage-Lächeln bog. Wenn das so weiterging, musste ich in seiner Gegenwart eine Schlafmaske und Ohrstöpsel tragen, um mich nicht völlig zum Idioten zu machen. Auch wenn das nicht weniger idiotisch aussähe. »Ähm, na ja, Tyler hat gesagt, du lebst auf einer Ranch?«

»Tue ich.«

»Ich dachte irgendwie, du würdest mehr wie ein Cowboy aussehen …«

Gages Lachen hallte von den Wänden wider, und ich spürte, wie es meinen Körper entspannte, ihm einfach nur zuzuhören. »Und wie genau sollte ich aussehen?«

»Du weißt schon, Stiefel, Hut, große Gürtelschnalle, super enge helle Bluejeans«, antwortete ich etwas verschämt.

»Also, ich habe auf jeden Fall die Stiefel und den Hut, aber ich glaube nicht, dass meine Schwestern oder meine Mutter zulassen würden, dass ich mich wie mein Dad anziehe.«

»Oh.«

»Mein Dad hat sogar einen riesigen Schnurrbart, sieht aus wie Sam Elliott, der Schauspieler.«

Ich musste eine Sekunde überlegen, wer das war, und lachte dann. »Ernsthaft?«

»Ich schwöre, die zwei könnten Zwillinge sein.«

»Das würde ich gerne sehen. Und wo hattest du gestern Abend deinen Hut?«

Er zuckte mit den Schultern. »Das lasse ich alles auf der Ranch.«

»Was? Warum?«

»Ich trage das nicht aus modischen Gründen, und ich habe hier in dieser Hippie-Stadt nicht die Art Arbeit, bei der ich so etwas anziehen müsste.«

»Hippie-Stadt?«, hakte ich nach.

»Warte bloß, bis wir irgendwohin weggehen. Du wirst schon sehen.«

Ich nickte. »Was für eine Arbeit? Was für eine Ranch habt ihr?«

»Eine Rinderzucht, und zu meinen Aufgaben zählt alles, was am Tag anfällt. Mich um die Tiere kümmern, die Herde auf verschiedene Teile der Ranch treiben, Zäune reparieren, brandmarken …« Er verstummte. »Kommt darauf an.«

»Wie viele Kühe habt ihr?«

»Ungefähr sechzehn.«

Okay, ich wusste, dass ich von Ranches nichts verstand, aber ich hatte gedacht, man bräuchte mehr als sechzehn Kühe, um als Rinderzucht durchzugehen. »Ihr habt sechzehn Kühe?«

Er lachte schnaufend und lächelte mich breit an. »Hundert. Sechzehnhundert.«

»Wow, das sind eine Menge Kühe.«

Er zuckte mit den Schultern. »Bald bekommen wir noch mehr, genug Land haben wir.«

»Wie viele Morgen hat die Ranch?«

»Zwanzig.«

»Hundert?«

»Tausend.«

»Zwanzigtausend Morgen?!« Ich sperrte den Mund auf. Warum in aller Welt brauchte oder wollte jemand so viel Land?

»Jawohl, Ma’am.« Er drehte seinen Becher auf dem Tisch.

»›Ma’am‹? Ernsthaft?«

Eine seiner Augenbrauen hob sich. »Was denn?«

»Ich bin keine Oma – ich bin jünger als du.«

Gage verdrehte die Augen. »Ich wollte damit nicht sagen, dass du alt bist, das ist nur respektvoll.« Als er meinen Gesichtsausdruck sah, schüttelte er den Kopf und lachte. »Immer diese Yankees.«

»Äh, du hast wohl keine Ahnung, Cowboy … ich bin nicht aus den Nordstaaten.«

»Aus dem Süden bist du auch nicht. Yankee.« Er grinste, und wenn ich da schon glaubte, ich müsste dahinschmelzen, gab sein Zwinkern mir den Rest.

»Fängst du wieder von den Yankees an, Bro?«, fragte Tyler, als er in die Küche kam.

Gage zuckte bloß mit den Schultern, und wieder sahen mich seine grünen Augen unter diesen dunklen Augenbrauen hervor an. »Ihr hat nicht gefallen, dass ich sie ›Ma’am‹ genannt habe.«

»Gewöhn dich dran, Cassi, wir sind zwar in der Stadt, aber hier ticken sie anders.«

Ich grummelte in mich hinein, und Gage lachte.

»Und worüber unterhaltet ihr euch?« Tyler setzte sich auf meine andere Seite.

»Seine riesige Ranch, auf der es zu viele Kühe gibt«, antwortete ich.

»Da hat sie recht, es gibt bei euch viel zu viele Kühe«, sagte Tyler, während er von seinem Kaffee trank.

»Es würde dir gefallen.« Gage sah mich sehr merkwürdig an.

»Auf keinen Fall würde es das! Cassi macht sich nicht gerne schmutzig, und sie hasst Insekten. Eure Ranch wäre für sie der schlimmste Ort überhaupt.«

Gage warf seinem Cousin einen kurzen bösen Blick zu, dann sah er wieder zu mir. »Wir haben auch Pferde.« Ich keuchte auf. »Wirklich? Ich habe noch nie auf einem Pferd gesessen!«

»Acht Araber. Ich bringe dir Reiten bei, wenn ihr uns besuchen kommt.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, verschränkte die Arme und grinste Tyler an, als hätte er gerade irgendetwas gewonnen.

Tyler und ich wurden beide still. Mein Dad hatte mir versprochen, dass ich an meinem sechsten Geburtstag mit Reitunterricht beginnen durfte und er mir zum siebten ein Pferd kaufte. Offensichtlich war es dazu nie gekommen. Es war nicht so gewesen, dass wir kein Geld gehabt hätten, aber meine Mom hatte nicht einmal mehr für mich gekocht, auf keinen Fall hätte sie solche Dinge erlaubt. Es half auch nicht, dass ich Pferde zwar immer noch liebte, aber jedes Mal, wenn ich eines sah, an meinen Dad denken musste.

»Habe ich etwas Falsches gesagt?« Gage sah verwirrt aus, behielt den Blick aber auf Tyler gerichtet.

»Nein«, sagte ich sanft lächelnd. »Das wäre schön.«

Nach ein paar unangenehmen Minuten stand Gage auf und stellte seinen Becher in den Geschirrspüler, ehe er zurück in sein Zimmer ging. »Okay, ich gehe unter die Dusche. Wenn ihr heute irgendwas unternehmen wollt, lasst es mich wissen.«

Tyler rutschte mit seinem Stuhl dichter an mich heran. »Alles okay, Cassi? Ist es wegen deines Dads?«

»Nein, ist schon gut. Ich meine, ich habe an ihn gedacht. Ich kann nur einfach nicht glauben, dass er seit fast zwölf Jahren nicht mehr bei uns ist. Es fühlt sich an, als sollte ich darüber hinweg sein, ich war so jung, als es passiert ist, aber ich glaube, ich durfte nie richtig um ihn trauern, und deshalb ist es noch schwer für mich. Ich freue mich nicht auf meinen nächsten Geburtstag. Ich dachte immer, wenn ich erst von Mom und Jeff weg bin, kann ich meine Geburtstage wieder genießen, aber ich freue mich weniger als jemals zuvor darauf. Ich glaube, wir müssen mir einen neuen Geburtstag aussuchen, Ty.« Ich lachte leise. »Niemand will am Todestag seines Vaters Geburtstag haben.«

Er zog mich auf seinen Schoß und hielt mich locker fest, damit er meinem Rücken nicht wehtat. »Er war ein toller Dad. Du sollst nicht über ihn hinwegkommen, Cassi, du wirst ihn immer vermissen. Und es gibt keinen neuen Geburtstag, du behältst den, den du hast, und ich sorge dafür, dass er mit jedem Jahr besser wird.«

Ich ließ mich ein paar Minuten einfach von ihm halten, ehe ich wieder etwas sagte. »Danke, Ty, ich liebe dich.«

»Ich liebe dich auch, Cassi.«

Gage

Oh mein Gott, ihr Vater war an ihrem Geburtstag gestorben? Was war diesem Mädchen noch zugestoßen? Okay, ich gebe zu, ich hatte die Badezimmertür ein paar Minuten nur angelehnt, ehe ich sie geschlossen hatte und unter die Dusche gegangen war. Aber so still wie die beiden zum Schluss geworden waren, wusste ich, dass ich etwas Falsches gesagt hatte, und ich nahm an, Tyler würde darüber reden, sobald ich gegangen war. Ich wusste, dass ich sie am Haken hätte, sobald ich die Pferde erwähnte, und so war es auch, ich wusste nur nicht, dass mein Vorschlag mit dem Reitunterricht die Erinnerungen an ihren Dad wecken würde, der offensichtlich ganz anders gewesen war als ihre Mom oder ihr Stiefvater.

Dort mit ihr zu sitzen und zu reden, ehe Tyler reinkam, war der bisher beste Morgen meines Lebens gewesen, und er hatte nicht einmal zehn Minuten gedauert. Sie lächelte so viel, dass mir jedes Mal das Herz anschwoll, und mein Gott, dieses Lachen. Ich hatte recht – es klang wirklich wie irgendwelche blöden Engel. Ich wollte jedes Mal sterben, wenn sie sich entspannt in den Stuhl sinken ließ. Sie riss dann für den Bruchteil einer Sekunde die Augen auf, als hätte sie die Prellungen an ihrem Rücken einfach vergessen. Ich musste sie nicht fragen, um zu wissen, dass sie Schmerzen litt. Was ich gestern Abend gesehen hatte, konnte nicht angenehm sein. Doch trotz allem verblasste ihr Lächeln kein einziges Mal, und das brachte mich vielleicht sogar noch mehr um. Sie hätte depressiv sein oder weinen oder irgendetwas Ähnliches tun sollen. Was für ein Mensch macht so ein Leben durch, sogar noch vor zwei Tagen, und findet trotzdem noch einen Grund zu lächeln?

Als ich aus dem Badezimmer kam, saß sie immer noch auf Tylers Schoß, und ich stieß frustriert die Luft aus. Ich musste schnell über sie hinwegkommen, sonst würde es eine Herausforderung werden, mit ihnen zusammenzuwohnen.

»Hey, Gage?«, rief Tyler, ehe ich meine Tür schließen konnte.

»Was?«

»Hast du Lust, uns heute die Stadt zu zeigen?«

Nein. Ich will Cassidy die Stadt zeigen, und ich will, dass du wieder nach Kalifornien verschwindest. »Sicher.«

Ich schloss die Tür hinter mir und hatte gerade meine Jeans angezogen, als Tyler hereinkam.

»Alles okay, Alter? Wir müssen heute auch nicht weg, ich habe nur gefragt. Oder Cassi und ich ziehen alleine los. Ist egal, wie wir es machen, ich dachte nur, da du dich in der Gegend auskennst …«

Ich hatte Cassidy nie gefragt, warum Tyler ihren Namen nicht mochte. Er passte so perfekt zu ihr, und warum würde er ihr überhaupt sagen, dass er ihm nicht gefiel? Im Ernst, mit dem sollte ich verwandt sein? »Nein, schon gut, mir geht nur gerade viel durch den Kopf. Ich bin in einer Minute fertig, wir können jederzeit los.«

»In Ordnung, also, ich bin mir sicher, sie will noch duschen. Es dauert also noch ein bisschen«, rief er, während er mein Zimmer wieder verließ.

Ich nahm mir ein Hemd und ging ins Wohnzimmer. Tyler war nicht da, aber Cassidy saß am Küchentisch und betrachtete eindringlich ihre Hände. »Alles okay, Cassidy?«

Sie schreckte hoch und sah mich an. Ihre Stirn hatte sie in Falten gezogen und sah verwirrt und verletzt aus. Sie sagte nichts, sondern betrachtete einfach eine Minute lang mein Gesicht, ehe sie einen tiefen Seufzer ausstieß und aufstand, um in ihr Zimmer zu gehen.

»Tut mir leid, dass ich dich an deinen Dad erinnert habe. Ich habe es nicht gewusst.« Ich wusste es immer noch nicht. Was hatten Pferde mit ihrem Dad zu tun?

Cassidy blieb stehen und sah mich über die Schulter hinweg eine Sekunde lang an, dann ging sie weiter zur Tür.

Ich stand da, starrte ihre Tür an und kam mir wie ein Idiot vor, auch noch als Tyler aus dem Zimmer kam und anfing, eine Spielekonsole an den Fernseher anzuschließen. Hatte es Cassidy wirklich so verletzt, von mir Reitunterricht angeboten zu bekommen, dass das Mädchen, das gefragt hatte, warum ich mich nicht wie ein Cowboy anzog, einfach verschwunden war? Alles in mir schrie danach, ihr hinterherzugehen und mit ihr zu reden, aber dann hörte ich, wie die Dusche angedreht wurde, also lief ich zurück ins Wohnzimmer. Ich sagte Tyler, dass ich ihm beim Spielen zusehen würde, und ließ mich auf die Couch fallen. Ich versuchte, mir Cassidy nicht unter der Dusche vorzustellen, während ich dem Wasser beim Rauschen zuhörte, aber das war verdammt schwer. Also konzentrierte ich mich, so gut ich konnte, darauf, wie Tyler in seinem Spiel Menschen erschoss, und verdrängte jeden Gedanken an sie und an den Steifen, den ich unter einem Kissen zu verstecken versuchte.

Als Cassidy nach weniger als einer Stunde zurück ins Zimmer kam, war ihr Haar wild und leicht gewellt, und sie trug auch weniger Make-up als am Abend zuvor. Sie sah wunderschön aus. Ohne das dunkle Zeug um ihre Augen und die Schicht auf ihrem Gesicht sahen ihre honigfarbenen Augen noch heller aus, und man konnte die zarten Sommersprossen auf ihrer Nase erkennen. Das sollte nicht heißen, dass sie am Abend nicht großartig ausgesehen hätte, denn das hatte sie. Sie hatte mir den Atem geraubt. Aber mir gefiel dieser fast vollkommen natürliche Look noch besser. Sie trug grüne Chucks, Jeans, die sie bis zu den Waden hochgekrempelt hatte, und ein abgetragenes Konzert-Shirt der Band Boston. Boston. Das Mädchen ist perfekt.

»Ty, ich bin fertig.«

Sie hatte mich immer noch nicht angesehen, seit sie das Zimmer betreten hatte, und auch wenn ich das wollte, genoss ich es genauso, sie einfach nur betrachten zu können. Ich bemerkte, dass ihre Unterlippe voller war als ihre Oberlippe, und ihre Nase hätte nicht perfekter sein können, wenn sie sich diese selbst hätte aussuchen können. Ihr Blick richtete sich flackernd auf mich und dann gleich wieder auf Tyler. Ihre Wangen wurden rot, und ich konnte nicht anders, als zu grinsen. Auf keinen Fall empfindet sie nicht das Gleiche wie ich. Sie fing an, sich auf die Unterlippe zu beißen, und ich musste wieder daran denken, wie es sich anfühlen würde, diese Lippen zu küssen. Ich hatte noch nie ein Mädchen so sehr küssen wollen.

»Tyler!« Sie stieß ihm mit dem Fuß gegen das Bein, und er sah sie an, dann wieder auf den Bildschirm.

»Was ist?«

»Ich bin fertig, wollen wir los oder nicht?«

»Klar, lass mich noch das Match zu Ende spielen, dann können wir los. Acht Minuten ungefähr.«

Ich hatte mich bereits aufgesetzt, als sie das Zimmer betreten hatte, damit sie sich zu mir auf die Couch setzen konnte, und diesen freien Platz betrachtete sie jetzt, drehte sich dann aber um und ging in ihr Schlafzimmer. Sie blieb dort, während Tyler noch zwei Matches spielte, und kam erst heraus, als wir sie holen kamen.

An dem Nachmittag zeigte ich ihnen ganz Austin, und obwohl sie höflich war und antwortete, wenn ich ihr Fragen stellte, führte sie kein Gespräch mit mir und drängte sich immer an Tylers Seite, möglichst weit weg von mir. Vielleicht hatte ich mich geirrt, und sie spürte diese Verbindung zwischen uns doch nicht, denn es schien wirklich nicht so, als würde es ihr schwerfallen, mich nicht anzufassen. Und ich konnte mich gerade so davon abhalten, ihre Hand zu nehmen und sie an meine Seite zu ziehen.

Als wir auf dem Rückweg waren, fragte Cassidy, ob wir bei einem Supermarkt haltmachen könnten, und wir ließen sie die Einkäufe übernehmen, nachdem sie bei unseren Essenswünschen nur die Augen verdreht hatte.

»Keine Sorge«, flüsterte Tyler, während sie Packungen mit Rinderhack verglich, »sie kocht für sich selbst seit ihrem sechsten Lebensjahr, sie ist besser als meine Mom.«

Ich hatte mir deswegen keine Sorgen gemacht. Es war nur noch eine Sache mehr, vor der ich sie gerne beschützt hätte. Weil mein Dad und ich an den meisten Tagen von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang arbeiteten, war ich höchstens in der Küche, um beim Abwasch zu helfen. Ich dankte meiner Mom und meinen Schwestern jeden Tag dafür, dass sie das Essen zubereiteten, aber ich hatte mir nie vorstellen können, es selbst machen zu müssen, als ich noch ein Kind war. Ich würde ihnen noch einmal danken müssen.

Außer, dass wir für sie die Einkäufe ins Haus tragen durften, ließ Cassidy uns nicht helfen und fing sofort an, das Abendessen für uns drei zu kochen. Ich legte mich auf die Couch, nur um ihr dabei zusehen zu können, wie sie in der Küche herumwerkelte, während Tyler sich wieder seinem Videospiel widmete. Einmal sah es aus, als würde sie für ein paar Sekunden anfangen zu tanzen, ehe sie wieder aufhörte, und mein Gott, das war das Niedlichste, was ich je gesehen hatte. Als Ty vollkommen in sein Spiel versunken war, stand ich auf und schlenderte in die Küche, wo ich mich direkt hinter sie stellte.

»Brauchst du Hilfe bei irgendwas?«

Ihr Körper spannte sich einen Augenblick an, und als sie sich wieder entspannt hatte, drehte sie den Kopf, um mich anzusehen. »Nein, schon gut. Aber danke.«

»Kann ich trotzdem helfen?«

Sie sah mich weiter mit dem gleichen verletzten und verwirrten Ausdruck an wie am Morgen. »Ja, sicher. Du kannst den Salat machen.« Sie nahm ein paar Dinge aus dem Kühlschrank und brachte sie zu mir herüber, ehe sie ein paar andere Sachen, die sie im Supermarkt gekauft hatte, aus einer Schüssel auf der Anrichte nahm. »Schneid die in Würfel, und – Moment, magst du überhaupt Avocado?«

»Ich esse alles, Darlin’.«

Ihr Mund bog sich an den Winkeln nach oben, und ihre Wangen wurden rot. Ich lächelte in mich hinein und machte mir in Gedanken eine Notiz, sie öfter so zu nennen. »Wenn du sie nicht magst, kannst du sie ja einfach in meine Schüssel tun.«

Ich nahm ihr die Avocado aus der Hand und sah sie leicht verwirrt an. »Wie gesagt, ich esse alles. Aber wie schneidet man dieses Ding?«

Sie lachte sanft, nahm sie mir aus der Hand und schob mir stattdessen die Gurke und die Tomaten zu. »Würfel die hier zuerst, dann zeige ich dir, wie man eine Avocado schneidet.« Sie reichte mir ein Messer und drehte sich wieder zum Herd um.

Ich war einfach nur schrecklich darin, dieses Gemüse zu würfeln, aber in einer Küche mit ihr zu sein ließ mich die ganze Zeit lächeln, und was auch immer sie da kochte, roch verdammt gut. »Ich glaube, ich habe es richtig gemacht.«

»Man kann eigentlich nichts falsch dabei machen, Gemüse für einen Salat zu schneiden.« Sie drehte sich um und kontrollierte meine Arbeit. »Gut gemacht. Hast du noch nie irgendetwas in Würfel geschnitten?« Ich schüttelte den Kopf, und sie grinste mich an. »Wirklich? Dann hast du es toll hinbekommen. Jetzt zeige ich dir, was man mit denen macht.«

Sie schnappte sich beide Avocados und reichte mir eine, ehe sie ihr Messer nahm. Ich will nicht lügen, ich habe mich absichtlich dumm dabei angestellt, den Kern zu entfernen, damit sie endlich meine Hand nehmen und mir zeigen musste, wie es richtig ging. Ich hörte, wie sie die Luft einsog, sobald unsere Hände sich berührten, und ich musste den Blick abwenden, damit sie nicht sah, wie breit ich lächelte.

Verdammt. Ja.

Sie zeigte mir, was man mit dem Rest der Avocado machte, und ließ mich dann Schüsseln und Teller holen, während sie fertig kochte, was auch immer sie auf dem Herd hatte. Jedes Mal, wenn ich hinsah, schickte sie mich weg und sagte, ich dürfte ihre Geheimnisse nicht sehen. Ich wusste nicht, was den ganzen Tag los gewesen war, aber jetzt verhielt sie sich wieder so wie am Morgen. Jedes Lächeln und jede Berührung zogen mich nur noch weiter zu ihr hin.

Ich berührte ihren Arm, sodass sie zu mir hochschauen musste, und vergaß fast, was ich sie fragen wollte, sobald sie mir in die Augen sah. »Äh, habe ich dich heute Morgen irgendwie verärgert? Ich schwöre, das habe ich nicht gewollt. Ich hatte keine Ahnung, was mit deinem Dad ist.«

Sie senkte den Blick und sah dann wieder zum Herd. »Ich hatte auch nicht erwartet, dass du von ihm weißt. Und was, dachtest du, hätte mich verärgert?«

»Als ich gesagt habe, ich bringe dir Reiten bei.«

Cassidy schnaufte und schüttelte einmal knapp den Kopf. »Nein, Gage, das hat mich nicht verärgert. Ich würde wirklich gerne lernen, wie man reitet, wenn du es mir irgendwann zeigen willst.«

Dachte sie, ich würde es ihr anbieten, obwohl ich nicht wollte? Und wäre es schlimm, wenn ich fragte, was diese beiden Dinge miteinander zu tun hatten? »Natürlich werde ich das. Ich meine, ich habe gehört, was Tyler gesagt hat, aber ich glaube wirklich, dass dir die Ranch gefallen würde. Ich kann es nicht abwarten, dich dorthin mitzunehmen.« Ah, zu weit. Zu weit.

»Klingt toll.« Sie nahm einen Löffel, legte ihn dann gleich wieder hin und stützte sich mit beiden Händen auf die Anrichte, ehe sie mich wieder ansah. Sie öffnete den Mund und zog die Augenbrauen zusammen, dann schaute sie ins Wohnzimmer, wo Tyler saß, und wieder zu mir. »Das Abendessen ist fast fertig«, sagte sie leise. »Kannst du bitte den Salat auf den Tisch stellen?«

Als ich mich mit den Schüsseln umdrehte, sah ich, wie Tyler uns anstarrte, und unterdrückte ein Seufzen. Dafür würde ich später Ärger bekommen.

Cassidy hatte Fettuccine Alfredo mit knusprig frittiertem Hähnchen gemacht, und ich konnte nur sagen: Verdammt. Ich musste Tyler zustimmen, dass es besser schmeckte als bei Tante Steph und sie es sogar mit Mamas Küche aufnehmen konnte.

Ich stand auf, um zu helfen, als sie anfing, den Tisch abzuräumen, aber Tyler baute sich vor mir auf, ehe ich weit kommen konnte. »Ich meine es ernst, Alter, sie gehört mir.«

»Ich habe dich schon beim ersten Mal gehört.«

»Bist du dir da sicher?«

Ich sah mich nach Cassidy um. »Ja, ich bin mir sicher. Aber du bist derjenige, der sie hergebracht hat. Du kannst nicht verlangen, dass ich nie mit ihr rede oder ihr keine Hilfe anbiete, wenn sie uns Essen kocht. Wenn wir alle zusammenwohnen wollen, musst du darüber hinwegkommen, dass ich mit ihr befreundet sein werde.«

Er blieb ruhig und wartete lächelnd darauf, dass Cassidy wieder aus der Küche kam. »Es könnte mir nicht egaler sein, ob du mit ihr befreundet bist. Vergiss bloß nicht, dass ich es gewesen bin, der die letzten elf Jahre jeden Tag für sie da war. Nicht du. Ich sehe immer noch, wie du sie ansiehst, ich bin nicht blind, Gage.«

Cassidy

»Ich bin irgendwie müde, ich gehe ins Bett. Danke, dass du uns heute rumgeführt hast, Gage.«

Tyler stand auf und ging zu mir hinüber. »Willst du, dass ich mitkomme?«

Ich warf einen kurzen Blick hinter Ty auf Gage, der seinen Cousin unverhohlen feindselig anstarrte. »Nein, ihr zwei wollt euch bestimmt noch unterhalten, wir sehen uns später.«

»Schlaf gut, Cassidy«, sagte Gage.

Ich lächelte und winkte ihm zu wie ein Trottel. »Nacht.«

Tyler umarmte mich, und Gage zwinkerte, als ich ihn über Tys Schulter hinweg ansah. Ganz im Ernst, der Typ war so verwirrend! Ich ging in das Badezimmer, das ich mir mit Ty teilte, um mir das Gesicht zu waschen und die Zähne zu putzen, ehe ich mir einen Schlafanzug anzog und ins Bett kroch. Ich konnte draußen hören, wie die Jungs sich unterhielten, und als Gage anfing zu lachen, wurde mir am ganzen Körper warm. Ich seufzte und drehte mich auf die Seite. Ich verstand ihn wirklich überhaupt nicht. Erst hatte er eine Freundin, dann küsste er mich gestern Abend fast, und diesen Morgen hätte ich schwören können, dass er mit mir flirtete. Dann ärgerte er sich auf einmal, weil wir heute Morgen etwas unternehmen wollten, und Tyler hatte mir erzählt, als er mit ihm darüber reden wollte, hätte Gage gesagt, ihm gefiele es nicht, dass ich bei ihnen wohnte. Aber heute in der Küche hatte er immer wieder Gründe gefunden, mich anzufassen, und er hörte nicht auf, mich anzulächeln. Was zum Henker? Ich wusste überhaupt nicht, wie ich mich in seiner Nähe verhalten sollte.

Ich musste eingeschlafen sein, weil ich mich ein wenig benommen fühlte, als Tyler später am Abend neben mir ins Bett schlüpfte.

»Tut mir leid, wollte dich nicht wecken«, sagte er leise.

»Schon gut, ich wollte auf dich warten. Ich war wohl müder, als ich gedacht habe.«

Er zog mich dicht an seinen Körper und schlang die Arme um mich. »Du hattest drei lange Tage, du brauchtest den Schlaf.«

»Stimmt. Habt ihr beiden euch gut unterhalten?«

»Ja, es ist schön ihn wiederzusehen. Es ist lange her, seit wir zusammen etwas unternommen haben.«

»Tut mir leid, dass ich es kaputtmache. Du hättest mich wirklich nicht mitbringen sollen, Ty.«

Er lehnte sich ein Stück zurück, damit er mir ins Gesicht sehen konnte. »Cassi, ich werde dich überallhin mitnehmen. Und keine Sorge wegen Gage, er gewöhnt sich schon daran. Ich bin mir sicher, dass es nicht daran liegt, dass er dich persönlich nicht mag, es macht nur seine Beziehung zu Brynn kaputt, wenn er mit einem Mädchen zusammenwohnt.«

»Das will ich aber auch nicht.« Doch, doch, will ich. Ich hatte noch nie Eifersucht empfunden, bis ich Gage am Abend zuvor kennengelernt hatte, und es war ein wirklich hässliches Gefühl. »Wenn ich achtzehn bin, nehme ich mir eine eigene Wohnung, Ty.«

»Nein, das wirst du nicht tun. Er gewöhnt sich an dich, und ich will dich hierhaben, okay?«

Ich schmiegte mich an seine Brust und nickte. »Liebe dich.«

Tyler lehnte sich zurück und neigte mein Gesicht so, dass ich ihn ansehen musste. »Ich liebe dich auch, Cassi.« Seine Lippen legten sich auf meine, und ich wich zurück und stieß ihn so fest ich konnte gegen die Brust.

»Was soll das, Tyler?« Wir schliefen gemeinsam in einem Bett, aber wir hatten uns noch nie geküsst.

Autor

Molly Mc Adams
Molly McAdams wuchs in Kalifornien auf. Heute lebt sie mit ihrem Ehemann und ihren vierbeinigen Hausgenossen in Texas. Wenn sie nicht gerade an ihren erfolgreichen Romanen schreibt, reist sie gern und unternimmt lange Strandspaziergänge. Aber am liebsten kuschelt sie sich daheim auf die Couch, schaut Filme und zitiert aus Blockbustern.
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