Für immer in meinem Herzen

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Als die angehende Ärztin Reese Powell ihn zum ersten Mal sieht, ist sie fasziniert. Denn Caleb Stoltz ist groß, blond und sehr sexy. Ohne darüber nachzudenken, steht Reese ihm nach dem Unfall seines Neffen bei. Mit Caleb kann sie reden wie mit sonst niemandem. Statt wie ihre Eltern Forderungen zu stellen, weckt er ihre Lebensfreude neu und zeigt echtes Interesse an ihr als Mensch. Doch Caleb macht nur für die Genesung seines Neffen einen Ausflug in die moderne Welt, bevor er zurückkehrt in seine Amish-Gemeinde. Damit ihre Liebe eine Chance hat, muss Reese kämpfen.

»In ruhigem Erzählstil, flüssig lesbare, gute Unterhaltung.«
EKZ Bibliotheksservice

»Eine unvergessliche Geschichte über Liebe, Verlust, Familie und Freundschaft, die lange nach dem Umblättern der letzten Seite im Leser nachklingt.«
Booklist über »Was mein Herz dir sagen will«

»Klug, kreativ und genial, hier hat sich Susan Wiggs selbst übertroffen. Ich habe das Buch verschlungen und so schnell umgeblättert, dass ich mich am Papier geschnitten habe.«
SPIEGEL-Bestsellerautorin Debbie Macomber über »Dich im Herzen«


  • Erscheinungstag 01.03.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783955768997
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für meine geliebte Tochter Elizabeth,
die den Märchen niemals entwachsen darf –
ich widme dir dieses Buch aus so tief greifenden Gründen, dass alles einfach unter uns bleiben soll.

Prolog

An dem Tag, an dem du geboren wurdest, als du erst ein paar Stunden auf dieser Welt warst, habe ich dich in eine alte Apfelkiste gelegt und dich zurückgelassen, als wärst du ein Stück meines schlagenden Herzens. Ein Angebot an einen Gott, an den ich nicht glaubte, an den nicht zu glauben ich mich aber nicht traute. Man könnte sagen, du warst ein menschliches Opfer, aber in dem Moment fühlte es sich an, als wäre ich das Opfer, nicht du.

Denn in diesem Moment ist etwas in mir gestorben.

Auch wenn ich zu jung war, um irgendetwas zu wissen, war ich wirklich der Überzeugung, dass ich dich einem besseren Leben überlassen würde … Ich wollte dich nicht weggeben, aber ich hatte Angst davor, was passiert, wenn ich es nicht täte.

Nach allem, was wir in jenem Jahr durchgemacht haben, war ich mir meiner selbst bewusst genug, um zu erkennen, dass meine Jugend und Ignoranz eine Gefahr für dich darstellten. Und ich war klug genug, um herauszufinden, was ich tun konnte. Ich wusste nichts über die moderne Welt, über Städte, Gesetze, die erbarmungslosen Verbindungen des Herzens. Ich wusste nur, dass du mit einer anderen Zukunft besser dran wärst. Mit einer anderen Familie, die dich leitet. Mit einem anderen Leben, weit weg von Middle Grove.

Zu der Zeit verstand ich sehr gut, was in einem Krankenhaus passiert. Dort werden Menschen gerettet. Dort wurde ich gerettet. Also habe ich dich an einen Ort gebracht, von dem ich wusste, dass man auch dich dort retten würde.

Natürlich wurde das so nicht in den Zeitungen berichtet. Die Presse konzentrierte sich einzig auf die sensationellsten Aspekte des Falles: ein ausgesetztes Baby, ein geheimnisvolles Rätsel, das gelöst werden musste, ein schreckliches Familiengeheimnis, gehütet von einer misstrauischen, verschlossenen Gemeinde, die sich vom Rest der Welt abschottete.

Aber die Zeitungen haben das falsch verstanden.

1. TEIL

ERNTE

August

Eine Schwierigkeit ist die erste Phase eines Wunders.

Amisches Sprichwort

1. Kapitel

Silbern blitzte der Jet am Morgenhimmel. Caleb Stoltz schob seinen Hut auf dem Kopf zurück und schaute dem Flugzeug hinterher. Vor dem makellosen Blau des Sommerhimmels glitzerte der Rumpf wie ein seltenes Juwel – kostbar und außer Reichweite.

»Hey, sieh nur, Onkel Caleb. Flugzeugspuren«, sagte Jonah und zeigte auf die beiden weißen Streifen, die dem Weg des Flugzeugs am Himmel folgten.

Caleb grinste seinen Neffen an und reichte ihm den halb vollen Milcheimer aus dem Milchhaus. »Die nennt man Kondensstreifen. Verschütte die Milch nicht«, ermahnte er ihn. »Ich komme gleich zum Frühstück hinein.«

Mit dem Eimer in der Hand ging der Junge auf das weiße Holzhaus zu. Seine staubigen nackten Füße hinterließen flache Abdrücke auf der trockenen Erde. Jonahs dünne Beine, gebräunt von einem Sommer im Wasser der Crystal Falls oben am Bach, ragten beinahe wie Fremdkörper aus seiner lumpigen schwarzen Hose, die ihm vor Kurzem noch gepasst hatte. Jetzt, mit elf, wuchs der Junge wie Mais im Sommer. Caleb würde Hannah überreden müssen, ihm vor dem Schulanfang in ein paar Wochen eine neue Hose zu nähen. Wenn die Kinder nicht ständig wachsen würden, hätte er kein Gefühl für den Verlauf der Zeit.

Auf einer Farm zählten die Jahreszeiten, nicht die Jahre.

Caleb spülte schnell den Milchschuppen aus. Der Wasserstrahl zischte auf dem Betonboden und ließ feine Tröpfchen auf seine Arbeitsschuhe regnen. Dann stellte er das Wasser ab, wickelte den Schlauch auf und verließ den Schuppen, wobei er noch einmal zu den wolkigen Kondensstreifen hinaufschaute, die sich langsam auflösten. Der Jet war lange fort, auf dem Weg nach New York oder Bangkok oder an einen anderen Ort, den Caleb niemals besuchen würde. Er betrachtete die Flugbahn und fragte sich, warum es Bahn genannt wurde, wenn es doch keine sichtbaren Schienen gab, nichts, das den Weg markierte, außer unsichtbarer Luft. Erst nachdem das Flugzeug vorbeigeflogen war, konnte man seine Route erahnen.

Wenn Rebecca bei ihm gewesen wäre, hätte sie die Augenbrauen zusammengezogen und ihn für seine müßigen Gedanken gescholten. Daraufhin hätte er sie herausgefordert zu beweisen, dass Gedanken überhaupt müßig sein konnten, und sie hätte verständnislos die Stirn in Falten gelegt. »Ich schwöre es, Caleb Stoltz«, hätte sie gesagt und das Thema gewechselt. Wie es eben ihre Art war.

Ah, Rebecca. Sie war die Herausforderung eines jeden Tages. Das Problem lastete schon viel zu lang auf seinem Gewissen. Es war an der Zeit, sich dem Unausweichlichen zu stellen. Sie hatten so etwas wie eine Übereinkunft. Rebecca glaubte, dass sie in naher Zukunft ihre Uhr von ihm bekäme, das traditionelle Verlobungsgeschenk, und sie würde Caleb im Gegenzug ein besticktes Tuch schenken, um ihre Zustimmung zu signalisieren. Auch wenn sie nicht begierig darauf war, Calebs Nichte und Neffen aufzuziehen und sich um seinen Vater zu kümmern, war sie doch gewillt, ihre Pflicht zu tun.

Caleb musste sich die Wahrheit eingestehen, die er tief in seinem Inneren verspürte, seitdem die Kirchenältesten ihm mitgeteilt hatten, dass er und Rebecca Zook heiraten sollten. Und über diese Wahrheit zu reden, würde unangenehm werden. Er verspürte durchaus Zuneigung für Rebecca, aber nicht die tiefe Liebe, die einen Mann und eine Frau ein Leben lang verbinden würde. Er war sich nicht einmal sicher, ob es so eine Liebe überhaupt gab.

Es wäre nicht fair, sie hinzuhalten.

Für einen Moment blieb er im Garten stehen und betrachtete die Farm, nahm den Anblick des breiten Tals in sich auf, das am Fuße der Pocono Hills lag. Die Felder waren eine bunte Patchworkdecke aus Mais, Weizen, Alfalfa und Sorghumhirse, die sich, so weit das Auge reichte, über eine hügelige Landschaft erstreckte. In der Ferne waren Eli Kemp und seine Söhne dabei, Weizen zu ernten. Ihre Sicheln schwangen im Rhythmus eines Liedes, das sie sangen, und der Klang schallte in der Stille des Morgens über das Tal. Wie fleißige Soldatenameisen bewegten sie sich die Reihen entlang, die gebogenen Klingen fällten die Halme, die ordentlich zu einer Seite fielen. Elis Frau folgte ihnen und band die Garben zusammen.

Das ist Middle Grove, dachte Caleb. Glaube, Arbeit und Familie, zusammengenäht vom Faden ihrer gemeinsamen Hingabe. Andere Farmer im Distrikt mochten die süße Luft einatmen und ein stummes Gebet sprechen. Danke für diesen Tag, o Herr. Aber nicht Caleb. Schon sehr, sehr lange nicht mehr.

Von der Nachbarfarm durchbrach das Dröhnen eines hydraulischen Motors die Ruhe des Morgens. Das mechanische Keuchen übertönte den Gesang der Kemps. Die Hauber machten sich bereit, heute das Silo zu füllen. Der von einem Dieselmotor angetriebene Schredder würde den Mais zerhacken, damit er in den Getreidespeicher geblasen werden konnte.

Caleb würde hinübergehen, nachdem er mit Rebecca gesprochen hatte. In der Zwischenzeit sorgte er dafür, beschäftigt zu bleiben. Er mochte es, etwas zu tun zu haben. Das hielt ihn davon ab, zu sehr über die Dinge nachzudenken. Die Sonne stand am Himmel, es gab Arbeiten zu erledigen, und diese Arbeiten gingen schneller von der Hand, wenn die Nachbarn alle mit anpackten.

Er nahm den breitkrempigen Hut ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann ging er ins Haus. Trotz der offenen Fenster war es in der Küche erstickend heiß. Die Tür des alten, gusseisernen Ofens öffnete sich mit einem metallischen Quietschen, als Calebs Nichte Hannah ihn weiter anheizte, um Kaffee zu kochen. Rauch und der Geruch nach verbranntem Toast hüllte den Raum in einen grauen Dunst.

»Hannah hat wieder das Toast anbrennen lassen«, verkündete Jonah unnötigerweise.

Seine Schwester, sechzehn und so unbegreiflich wie eine außerirdische Lebensform aus einem Science-Fiction-Roman, stemmte die Hände in die Hüften. »Ich hätte gar nichts anbrennen lassen, wenn du nicht die Milch verschüttet hättest.« Sie warf einen bösen Blick auf die bläulich-weiße Pfütze auf dem ausgetretenen Linoleumboden.

»Nun, ich hätte die Milch nicht verschüttet, wenn du mich nicht Brutzbaby genannt hättest.«

»Aber das bist du doch«, gab sie zurück. »Ständig schmollst du.«

»Ha. Bald wirst du heiraten und ein echtes Baby bekommen, dann weißt du, wie das ist.«

»Hey, hey.« Caleb hob die Hand und bat um Ruhe. »Es ist noch nicht einmal sieben Uhr, und ihr beide kabbelt euch schon.«

»Aber sie hat mich …«

»Es reicht, Jonah.« Caleb hatte die Stimme nicht erhoben, aber der scharfe Tonfall bot der Frechheit seines Neffen Einhalt. Die Geschwister stritten sich oft, doch sie hatten auch eine tiefe Verbindung zueinander, durch die sie sich sehr nahestanden. Nach einer schrecklichen Katastrophe zu Waisen geworden, teilten sie ein Gefühl der Verletzlichkeit, das sie enger als andere Geschwister zusammenrücken ließ. »Habt ihr etwas gegessen?«

»Er hat sich aus seinen Cornflakes wieder einen Weintraubenmatsch gemacht«, sagte Hannah. »Das ist widerlich.« Jonahs seltsame Angewohnheit, Weintraubengelee in seine Cornflakes zu geben, ekelte sie.

»Immer noch besser als verbranntes …« Jonah fing Calebs Blick auf und schloss den Mund.

»Geh rüber zu den Haubers«, sagte Caleb zu ihm. »Sag ihnen, dass ich bald komme.«

»Okay.« Jonah setzte sich seinen Hut auf und ging zur Tür.

»Pass in der Nähe der Maschinen auf, hörst du?«, rief Caleb ihm nach, denn der Schredder hatte scharfe Klingen und unten im Silo lief ein großer Bohrer.

»Keine Sorge, ich helfe schon aus, seit ich so klein wie ein Grashüpfer war«, entgegnete Jonah mit einem selbstbewussten Grinsen, das Calebs Gereiztheit wie immer sofort verschwinden ließ. »Oh! Beinahe hätte ich meinen Glückspenny vergessen.« Er flitzte in sein Zimmer und kehrte mit dem Glücksbringer zurück. Es handelte sich um eine Münze, die in der Pennypresse in der alten Wassermühle in Blakeslee flach gedrückt worden war. Ein Andenken an Jonahs einzigen Ausflug außerhalb von Middle Grove. Er steckte die Münze in seine Tasche und öffnete dann die Fliegengittertür.

»Wir sehen uns zum Mittagessen«, sagte Caleb.

»Okay.«

»Und knall die Tür nicht …«

Die Tür fiel krachend ins Schloss.

»… so zu«, beendete Caleb kopfschüttelnd den Satz.

Hannah wischte die Milch auf, während Caleb sich an der Küchenspüle wusch. Durch das Fenster über dem Becken sah er Jonah flink wie ein Kaninchen über das Feld zu den Silos laufen. Jubilee, die Collie-Mischlingshündin, die dem Jungen überallhin folgte, rannte an seiner Seite. Mit einem Mal sprang Jonah hoch in die Luft und landete mit den Händen auf der Erde in einem Handstand. Das war eine Spezialität des Jungen, ein Ausdruck der überwältigenden Freude seines jungen, geschmeidigen Körpers. Und vielleicht seine Art, diesen perfekten Sommermorgen zu feiern.

In der Küche hing ein unangenehmes Schweigen so dick wie der Rauch in der Luft. In letzter Zeit wusste Caleb nicht mehr, was er zu seiner übellaunigen Nichte sagen sollte. Sie war so jung gewesen, als er unter dem finsteren Schatten des Missmuts der Älteren Middle Grove verlassen hatte. Damals war er entschlossen gewesen, ein Leben außerhalb der Gemeinde zu finden. Aber er war zurückgekehrt, heimgeholt von einer schrecklichen Tragödie. Damals hatte sich Hannah bereits in eine dünne, nervöse Zwölfjährige verwandelt, die von Albträumen über ihre ermordeten Eltern heimgesucht wurde.

Jetzt war seine Nichte eine Fremde, das einzige Mädchen in einem Haushalt voller Männer, ohne eine weibliche Hand, die sie leitete. Sie hatte nur Caleb, der mangelhaft dafür gerüstet war, sich um sie und seinen Vater Asa zu kümmern – einen Mann, der sich mit eisernen Fäusten an die alten Wege klammerte. Inzwischen waren schon mehrere Freundinnen von Hannah getauft und jungen Männern versprochen worden. Er konnte sich seine kleine Nichte nicht einmal ansatzweise als Frau und Mutter vorstellen.

Nachdem er sich die Hände gewaschen und abgetrocknet hatte, stellte er ein Tablett mit dem Frühstück für seinen Vater zusammen und ließ es wie üblich auf dem Tisch stehen. Asa stand immer früh auf, um in der Ruhe des Werkzeugschuppens neben dem Haus Die Botschaft zu lesen. Caleb öffnete einen Küchenschrank und nahm ein Bündel Bargeld aus der Kaffeedose. Die Scheine steckte er in seine Brieftasche. Nach der Arbeit und nach dem Gespräch mit Rebecca wollte er zur Grantham Farm hoch, um ein neues Pferd zu kaufen. Baudouin, der kräftige Belgier, war alt. Er hatte in seinem Leben alles gegeben und sich seinen entspannten Ruhestand auf der grünen Wiese wohl verdient. Doch Caleb brauchte einen Ersatz. Um sich etwas Geld hinzuzuverdienen und die Rechnungen bezahlen zu können, führte er ein Gespann aus Zugpferden. Sie waren sehr gefragt, vor allem im Winter, wenn Auto stecken blieben und umgestürzte Bäume aus dem Weg geräumt werden mussten. Es war bemerkenswert, wie oft die Englischen ein Zuggespann benötigten.

Bei einem weiteren Blick aus dem Fenster sah er Jonah wie ein Äffchen auf dem Transportband herumklettern, mit dem die gebundenen Maiskolben in das Mahlwerk geschoben wurden. Der Junge liebte die Höhe und meldete sich immer freiwillig, wenn irgendwo Hilfe gebraucht wurde. Caleb hatte diese Arbeit auch immer gemocht. Von der hochgelegenen Öffnung des Silos sah die Welt ganz anders aus. Er hatte sich immer die Turmszene aus Herr der Ringe vorgestellt, dem verbotenen Buch, das ihm einst ein paar Stockschläge von seinem Vater eingebracht hatte, als er ihn beim Lesen erwischte. Während er die Stängel in den Schredder führte, hatte Caleb sich immer vorgestellt, dass die surrenden, glitzernden Messer zu einem gefährlichen Drachen gehörten, der den Turm bewachte.

»Das mit dem Toast tut mir leid, Onkel Caleb«, sagte Hannah und holte die verbrannten Reste aus dem Drahtgestell.

»Kein Problem.« Um die Stimmung etwas aufzuheitern, schnappte er sich ein Stück, biss hinein und tat mit geschlossenen Augen so, als würde er es genießen. »Ah«, sagte er. »Ambrosia.«

Sie lachte leise. »Ach, Onkel Caleb. Sei nicht albern.«

Er schluckte den Rest des Toasts hinunter und grinste, wobei er seine vom Toastbrotruß geschwärzten Zähne zeigte. »Wer ist hier albern?«

»Was ist Ambrosia überhaupt? Eins ist sicher, du benutzt gerne große Worte.«

»Ambrosia ist das, was die griechischen Götter gegessen haben«, erklärte er. »Also gehe ich davon aus, dass es bedeutet, irgendetwas ist so gut, dass man damit die Götter füttern kann.«

Bei der Erwähnung der griechischen Götter keuchte Hannah leise auf. Das war ein verbotenes Thema. Schnell wischte sie die Brotkrümel von der Arbeitsplatte. »Du bist so klug.«

»Nur weil ich die Bedeutung eines Wortes kenne, bedeutet das nicht, dass ich klug bin.«

»Na sicher tut es das. Ich habe Rebecca sagen hören, dass du fortgegangen und klüger wiedergekommen bist. Deshalb hast du dich immer noch nicht der Gemeinde angeschlossen – weil du den Kopf voller hochmütiger englischer Flausen hast.«

»Rebecca hört sich gerne reden.« Bei der Erwähnung ihres Namens spürte Caleb, wie ihm ein Schweißtropfen den Nacken hinunterrann. Rebeccas Ansicht, dass seine Zeit der Abwesenheit ihn hochmütig gemacht hatte, war noch ein Grund mehr, warum sie kein gutes Paar abgaben. Sich Bildung anzueignen machte einen Mann nicht hochmütig. Im Gegenteil, es war eine zutiefst demütigende Erfahrung.

In der Zeit, in der er weg gewesen war, hatte Caleb das Undenkbare getan. Entgegen aller Prinzipien der Amischen war er zu College-Vorlesungen gegangen. Die traditionelle, bis zur achten Klasse gehende Schulbildung hatte einen Wissensdurst in seiner Seele hinterlassen, und so hatte er sich nach Büchern und Bildung gesehnt, wie sich ein durstiger Mann an einem heißen Augusttag nach einem Glas eiskalter Limonade sehnt. Mit seinem Fahrrad war er die dreizehn Meilen gefahren, um Vorlesungen am Community College zu besuchen und Lektionen in Geschichte, Philosophie, Logik, Mathematik und anderen Wissenschaften in sich aufzusaugen, die nichts damit zu tun hatten, wie man Weizen säte oder Tiere züchtete. Es war eine demütigende Erfahrung zu erkennen, wie viel es für ihn noch zu lernen gab. Er hatte gerade erst damit angefangen, als er hatte zurückkommen müssen. Dieser Tage stellte er sich die Welt, die er außerhalb von Middle Grove kennengelernt hatte, schimmernd wie eine Schimäre am Horizont vor: so verlockend nah und doch außer Reichweite.

Hannah beendete das Aufräumen der Küche in ihrer üblichen nachlässigen Art. Wenn Calebs Vater hereinkäme, würde er sicherlich auf die Krümel auf dem Boden und das Geschirrtuch auf der Arbeitsplatte hinweisen. Vermutlich würde er außerdem stirnrunzelnd sein Frühstückstablett mustern und anmerken, dass eine ordentliche Amisch-Familie gemeinsam das Brot brach, ihre geschrubbten Gesichter erleuchtet von der Inspiration des stillen Gebets, bevor sie sich an Pfannkuchen mit Beerenkonfitüre und dicken Scheiben salzigen Schinkens gütlich taten.

Aber sie waren nicht wie andere Familien. Caleb konnte sich nicht um alles kümmern.

»Onkel Caleb?«

Als er den zögerlichen Unterton in Hannahs Stimme hörte, drehte er sich zu ihr um. Zu seiner Überraschung waren ihre Wangen unter den losen Bändern ihrer Kapp errötet.

»Was ist, Liebchen?« Er hoffte, der vertraute Kosename würde in ihren Ohren tröstend klingen.

»Am Sonntagabend gibt es im Großen Saal ein gemeinsames Singen«, sagte sie. »Ich habe mich gefragt, ob ich wohl hingehen dürfte?«

»Ich denke, das kannst du«, sagte er. Das gemeinsame Singen fand am Sonntag nach dem Gottesdienst statt. Die Erwachsenen gingen für den Abend heim, sodass die Kinder sich um den Tisch versammeln und singen konnten – nicht die langsamen Morgenlieder, die der Andacht dienten, sondern schnellere, die dazu gedacht waren, die Kinder zum Reden zu bringen. Und »reden« bedeutete, einander in Augenschein zu nehmen, denn das Ziel war es, die jungen Leute dazu zu veranlassen, mit dem Werben anzufangen. Es wirkte arrangiert, war aber im Grunde nichts anderes als ein Highschool-Ball in der Außenwelt.

»Okay.« Hannah knetete sich die Hände und schaute sich hektisch um.

»Hast du sonst noch etwas auf dem Herzen?«, hakte er nach.

»Kann ich mit Aaron Grabers Buggy nach Hause fahren?«, platzte es aus ihr heraus.

Caleb verspürte einen unangenehmen, überraschten Stich im Magen. Aaron Graber, dachte er. Eher Aaron Grapscher. Caleb war nicht sicher, ob ihm die Vorstellung gefiel, dass die kleine Hannah mit einem Jungen herumlief, vor allem nicht mit einem, der die Mädchen angaffte wie ein Fuchs die Hühner.

Ein entferntes Bellen hallte durchs Fenster, aber Caleb hielt seine Aufmerksamkeit auf seine Nichte gerichtet. Das hier war eine große Sache. Sie wollte turteln. Seine kleine Hannah. Es kam ihm vor, als wäre es erst gestern gewesen, dass er ihr gezeigt hatte, wie man einen Softball schlug, oder ihr alberne Witze erzählt und sie zum Lachen gebracht hatte. Wo war diese Hannah jetzt?

»Nun«, sagte er. »Ich denke nicht …«

»Bitte, Onkel Caleb«, flehte sie. »Er hat ausdrücklich mich gefragt.«

Bevor er etwas erwidern konnte, wurde die Küchentür so fest aufgestoßen, dass sie gegen die Wand prallte. Levi Haubers Gesicht hatte die Farbe von altem Schnee, und seine Schultern zuckten sichtlich. Noch bevor er den Mund öffnete, ließ das pure Entsetzen in seinem Blick Caleb erstarren.

»Komm schnell«, sagte Levi. »Es hat einen Unfall gegeben.«

2. Kapitel

»Ach, fick dich doch«, murmelte Reese Powell, als ihr Arbeitshandy wie ein kleiner Elektroschocker an ihrer Seite vibrierte. Guter Gott. Sie hatte gerade die Augen für ein dringend benötigtes Nickerchen geschlossen. Mit einem Blick aufs Display sah sie, dass es Mel war, ihr Vorgesetzter in der Notaufnahme. Seufzend stand sie auf, zog mit kurzen, mechanischen Bewegungen ihren weißen Arztkittel über, schlang sich das Stethoskop um den Hals und verließ den Pausenraum.

Der lange, glänzende Korridor war mit Ausrüstungen und Tragen vollgestellt. Hier und da saß ein Patient zusammengesackt in einem Rollstuhl, dazwischen standen rollbare Tonnen für den anfallenden Sondermüll. Krankenschwestern und Pfleger huschten auf dem Weg zu ihrem nächsten Einsatz eilig vorbei.

Reese blinzelte die restlichen Fetzen des abgebrochenen Nickerchens weg und atmete tief durch. Ich werde mich meinen Patienten gegenüber untadelig verhalten. Das war ihr Mantra, das sie sich im vierten Studienjahr zu eigen gemacht hatte. Ich werde mich meinen Patienten gegenüber untadelig verhalten. Sie hatte drei Jahre studiert, ihren Kopf mit Wissen angefüllt, auswendig gelernt, beobachtet, doch in diesem Jahr, dem Jahr, in dem sie ihren Doktortitel bekäme, hatte sie sich nur ein einziges, kraftvolles Ziel gesetzt: das Richtige zu tun.

Was sie an der Arbeit in der Notaufnahme besonders mochte, war das Überraschungselement. Man wusste nicht, was als Nächstes durch die Tür kommen würde. Ihre Eltern waren entsetzt gewesen, als sie ihnen von ihrem Interesse an der Arbeit in der Notaufnahme erzählt hatte. Sie hatten sie in Richtung Kinderärztin gedrängt oder erwartet, dass sie sich wenigstens für ein damit verbundenes Fach entschied. Aber zum ersten Mal hatte sie es gewagt, ein wenig von dem von ihnen vorgeschlagenen Weg abzuweichen. Sie wollte noch weitere Erfahrungen in der Notfallmedizin sammeln. Und Mercy Heights hatte das beste Trauma-Zentrum in ganz Philadelphia.

Patienten, Familienmitglieder und Personal standen um den Tresen in der Aufnahme, der zugleich den Mittelpunkt der Ambulanz bildete. Als sie den Blick auf der Suche nach Mel umherschweifen ließ, streckte eine Krankenschwester den Kopf aus einem Untersuchungszimmer.

»Ah, gut, Sie sind da«, sagte sie. »Wir brauchen jemanden, der Spanisch spricht. Hier drin tobt eine Ein-Frau-Shitshow.«

Reese eilte in den kleinen Raum. »Was haben wir denn … oh.« Für eine Sekunde stand sie nur da und nahm die Szene in sich auf. Die Patientin war eine junge, dunkelhaarige Frau in einem befleckten Kleid. Sie hockte in defensiver Haltung auf der Liege, und in ihren Augen schimmerten Angst und Misstrauen. Jemand fragte sie, was sie genommen hatte, wann sie es genommen hatte, aber sie schüttelte nur schweigend den Kopf.

»Sie haben sie auf der Straße aufgelesen, wo sie ziellos umhergewandert ist«, erklärte die Schwester. »Wir wissen bisher nur, dass sie schwanger ist. Und womöglich etwas genommen hat. Sie sagte den Rettungssanitätern, dass sie high sei. Wir versuchen herauszufinden, was sie genommen hat.«

Ein Sicherheitsmann stand mit Handschellen bereit. Mel winkte abwehrend mit der Hand. Reese wusste, er fürchtete, dass die Situation eskalieren könnte, wenn sie versuchen würden, die Frau ruhigzustellen.

»Das hier ist kein Ort der Heilung«, sagte die Frau in schnellem Spanisch. »Es ist ein Ort des Todes, ein Ort des ewigen Fluchs.« Dann verfiel sie in ein gemurmeltes Gebet.

Reese sprach Spanisch, weil sie es von Juanita, ihrer früheren Kinderfrau, gelernt hatte. Während ihrer Kindheit hatte sie mehr Zeit mit Juanita verbracht als mit ihren stets beschäftigten, übererfolgreichen Eltern. Mit einem warmen, professionellen Lächeln ging sie langsam auf die Frau zu. »Hola, Señora«, sagte sie sanft. »¿Qué pasa?«

Als sie ihre Muttersprache hörte, verstummte die Frau und funkelte Reese an. »Ich bin Reese Powell«, fuhr Reese auf Spanisch fort, ohne den Blickkontakt zu unterbrechen. »Meine Kollegen und ich würden Sie gerne untersuchen und sicherstellen, dass es Ihnen gut geht.«

»Geht weg. Das sind schlechte Menschen.«

»Wir wollen Ihnen helfen«, sagte Reese. »Verstehen Sie Englisch?«

»Nein. Kein Englisch.«

»Bitte, darf ich Ihnen eine Frage stellen?«

»Meine Geheimnisse gehören mir.«

»Manchmal ist es besser, ein Geheimnis zu teilen. Ist das Ihr erstes Baby?«

»Ja.« Die Frau ließ die Arme sinken.

»Wie heißen Sie, Ma’am?«

»Mein Name ist Lena Garza.«

»Wie alt sind Sie, Lena?«

Sie zögerte. »Neunzehn.«

»Frag sie, was sie genommen hat«, sagte jemand. »Wir haben sie sagen hören, sie sei high.«

Reese musterte das angespannte, olivfarbene Gesicht. Das Mädchen sah älter aus als neunzehn; seine tiefbraunen Augen wirkten gehetzt und verängstigt.

»Sie sind draußen herumgeirrt«, sagte Reese und übersetzte schnell für einen der Rettungssanitäter. »Warum haben Sie das gemacht? Haben Sie etwas eingenommen?« Man hatte sie gelehrt, Empathie zu zeigen – direkter Augenkontakt, eine körperliche Berührung. Anfangs war es ihr seltsam vorgekommen, so auf einen Fremden zuzugehen. Jetzt, da sie es schon eine ganze Weile tat, fühlten sich die Gesten natürlich an. Es war gut zu sehen, wie die Frau sich leicht entspannte und tief durchatmete, bevor sie antwortete.

Lena Garza drehte den schmalen Silberring, den sie an ihrem Zeigefinger trug. »Estoy intoxicada.«

»Frag sie, was …«

»Wartet«, sagte Reese. »Intoxicada bedeutet nur, dass sie etwas zu sich genommen hat. Das könnte etwas zu essen sein, eine Droge – kurz alles, was einen krank machen kann.« Sie wandte sich wieder an Lena. »Können Sie mir sagen, was Sie eingenommen haben?«

»Meine Mutter hat mir gesagt, ich würde in der Hölle schmoren«, flüsterte sie. »Ich bin nicht verheiratet. Deshalb habe ich die Kräuter gegessen.«

Reeses Herz setzte einen Schlag aus. »Sie hat etwas genommen«, erklärte sie Mel auf Englisch. »Was waren das für Kräuter, Lena?«

Das Mädchen griff in die Tasche seines abgetragenen Kleids und zog ein zerknittertes Zellophantütchen heraus. »Sie sagte, damit würde meine Regel einsetzen.«

Reese schnappte sich das Tütchen und zeigte es Mel. »Engelwurz. Man sagt, es habe eine abtreibende Wirkung.«

Mel schnupperte an den grünlich-gelben Kräutern. »Man nennt es auch Dong Quai. Wann hat sie es genommen? War es innerhalb der letzten vier Stunden? Wie viel hat sie geschluckt?«

Reese fragte die Patientin.

»Ich erinnere mich nicht. Ich werde in der Hölle schmoren!«, rief sie stöhnend.

»Nur wenn Sie sterben«, meinte Reese auf Spanisch. »Und das werden wir nicht zulassen. Zumindest heute nicht.«

Mel sagte: »Wir müssen ihr sofort den Magen spülen.«

Während die Assistenten alles vorbereiteten und Aktivkohle in einen Messbecher gaben, entlockte Reese der Patientin weitere Informationen: Wann hatte sie ihre letzte Periode? War sie bei einem Arzt gewesen? Wo wohnte sie?

Reese übersetzte die Antworten und überzeugte die Frau dann davon, sich hinzulegen, damit man sie an die Monitore anschließen konnte. »Ich werde mir jetzt mal Ihr Baby anschauen, okay?« Vorsichtig hob sie das Kleid an und ließ den mit Gel bestrichenen Dopplerstab über Lenas flachen Bauch gleiten, um zu versuchen, Herzgeräusche aufzunehmen.

»Ay!«, rief die Patientin. »Das ist kalt. Sie foltern mich.«

»Es tut mir leid«, erwiderte Reese. »Aber Sie müssen jetzt still sein und ruhig liegen bleiben. Wir versuchen, die Herztöne Ihres Kindes zu hören … Da sind sie«, sagte sie, als ein leises wupp-wupp über den Doppler ertönte. »Das ist der Klang des Herzens Ihres Babys.«

Lena wurde auf der Liege ganz schwach und legte sich einen Arm über die Augen. »Ja«, sagte sie. »Ich höre es. Meine Mutter sagt, es ist eine Sünde, ein Baby zu bekommen, bevor ich verheiratet bin.«

Reese schwieg einen Moment, dann sagte sie: »Mütter haben nicht immer recht.« Sie schenkte dem Mädchen ein verschwörerisches Lächeln. »Auch wenn meine Mutter das glaubt. Nun kümmern wir uns aber erst einmal um Sie, und wenn Sie sich besser fühlen, kommt jemand, um mit Ihnen die verschiedenen Optionen zu besprechen.«

Sie erklärte, wie die Magenspülung funktionierte, und überredete das Mädchen, den Schlauch zu schlucken. Die Frau würgte und kämpfte, aber Reese redete weiter beruhigend auf sie ein, so wie Juanita es immer getan hatte, als Reese noch klein gewesen war und Angst vor der Dunkelheit gehabt hatte.

Kurz darauf waren Lenas Augen geschlossen, und ihre Hände lagen schlaff auf dem Laken. Mel bedeutete Reese, ihm auf den Flur hinaus zu folgen. »Das hast du gut gemacht«, sagte er. »Sie wird sehr wahrscheinlich schon bald wieder auf den Beinen sein.«

Reese dachte an die verstörte junge Frau, an ihre verängstigt dreinblickenden Augen und das seltsame, tiefe Wissen, das ihr wie eine uralte Seele innezuwohnen schien. »Bevor ihr sie entlasst, schickt jemanden vorbei, der mit ihr über ihre Möglichkeiten redet. Ich werde dolmetschen.«

»Das ist eine gute Idee«, entgegnete Mel. »Ich rufe den Sozialdienst und die Gynäkologin an.«

Momente wie dieser verschafften Reese ein Gefühl der Zufriedenheit. Als ehrgeizige Studentin im vierten Jahr war sie voller Pläne, aber auch voller Fragen. Ihre Eltern hatten ihre eigenen Pläne für sie – Aufnahme in ein Eliteprogramm an einem Krankenhaus, später der Einstieg in die Praxis, die ihre Eltern sorgsam aufgebaut hatten. Aber manchmal brach ihre Rüstung ein wenig auf und enthüllte einen Blick auf etwas anderes – vielleicht auf einen anderen Traum. Einen Traum, der ihr gehörte und nicht ihren Eltern.

Am Ende des Flurs wurde die Flügeltür aufgestoßen, und Jack Tillis, der Chef des Trauma-Zentrums, fegte hindurch. Sein Arztkittel flatterte wie ein Paar Flügel hinter ihm her. Er war von seinem Team umgeben – Ärzte, Assistenzärzte, Krankenschwestern und Techniker.

»Was habt ihr?«, fragte Mel und hob den Kopf.

»Gerade ist per Telefon eine Alarmstufe Rot angekündigt worden. Schweres Trauma, wird mit dem Helikopter eingeflogen«, antwortete einer der anderen Ärzte. »Erwartete Ankunftszeit in zwanzig Minuten.«

Reese tauschte einen Blick mit Mel. Ihr Magen zog sich erwartungsvoll zusammen. »Kann ich helfen?«

Der Arzt nickte. »Das hier willst du nicht verpassen. Einem Kind wurde bei einem Unfall auf einer Farm ein Arm abgerissen.«

Der Helikopter senkte sich vom Himmel wie ein großes metallenes Insekt. Der Wind, den seine riesigen Rotorblätter verursachten, drückte die Getreidehalme flach auf das staubige Feld. Caleb, der auf dem blutgetränkten Boden neben seinem Neffen kniete, beugte sich instinktiv über den Körper des Jungen, der auf dem gelben Rettungsbrett der Sanitäter lag. Die Schatten seiner Nachbarn und der Sanitäter fielen über ihn und verdeckten die Morgensonne. Über das gewaltige Dröhnen des Helikopters hinweg hörte er knackende Funkgeräte und Rufe, aber seine Aufmerksamkeit war ganz auf Jonah gerichtet.

Kurz zuvor war Jonah noch über das Feld gerannt, um beim Befüllen des Silos zu helfen, so wie er es schon Dutzende Male zuvor getan hatte. Und nun lag er blutend hier, sein linker Arm und sein jungenhaftes Gesicht zerfetzt von den grausamen Metallzähnen des Schredders. Und trotz seiner Verletzungen war Jonah bei vollem Bewusstsein.

Weißes Gesicht, blaue Lippen, die Augen dumpf vor Schock. Während das Leben aus ihm heraussickerte, versuchte der Junge mit klappernden Zähnen zu sprechen. »Kalt«, sagte er immer wieder. »Mir ist soooo kalt …«

»Ich bin hier, kleiner Mann«, sagte Caleb mit vor Panik rauer Stimme. »Ich halte dich warm.«

Die Sanitäter hatten den Arm mit einem Luftpolster fixiert und Jonah eine Halskrause umgelegt. Sie hatten ihn mit allen Decken, die sie hatten, zugedeckt, aber Jonah zitterte dennoch wie ein Blatt im Wind. Nun machten sie sich bereit, ihn auf der Trage in den Helikopter zu laden.

»Sie können ihn nicht in diesem … diesem Ding mitnehmen.« Calebs Vater trat vor und stieß seinen Hickorystab auf den Boden. »Das werde ich nicht zulassen.«

Von dem Moment an, in dem das Rettungsteam der Gemeinde erklärt hatte, dass Jonahs einzige Hoffnung zu überleben darin bestand, in ein Trauma-Zentrum in Philadelphia geflogen zu werden, hatte es in der Gemeinde Streit gegeben. Dr. Mose Shrock, der den Notdienst des örtlichen Krankenhauses leitete, war angerufen worden. Er hatte die Worte der Retter bestätigt, und Caleb hatte dem Transport ohne Zögern zugestimmt.

Jetzt war seine Miene wie versteinert, als er seinen Vater ansah. »Sie nehmen ihn mit«, sagte er nur. »Und ich erlaube es.«

»Sir, Sie müssen bitte zur Seite gehen«, rief ein Mann und wedelte mit der Hand vor Asa herum »Wir laden ihn jetzt ein, während der Helikopter noch läuft.«

»Diese Menschen werden sich um dich kümmern«, sagte Caleb zu seinem Neffen und richtete sich auf. »Ich liebe dich, Jonah. Vergiss das niemals.«

»Onkel Caleb, lass mich nicht allein.«

Trotz des ansteigenden Lärms der sich drehenden Rotorblätter hörte Caleb das schwache Flehen seines Neffen, und es versetzte ihm einen Stich mitten ins Herz.

Das Team des Rettungshubschraubers hob die Trage an, während die Pilotin den Helikopter umrundete, um sich die Startbedingungen anzusehen. Jonah ging nahezu unter in einem Stapel aus Decken und Ausrüstungen. Sein Blut war überall auf dem Boden.

»Ich begleite ihn«, entschied Caleb. »Ich muss mit ihm fliegen.«

Eine Sanitäterin in Funktionsweste sah erst ihn, dann Jonah an.

»Bitte«, sagte Caleb. »Er ist noch ein kleiner Junge.«

»Das muss die Pilotin entscheiden. Ich werde mal sehen, was sie sagt.«

Caleb drehte sich um und sah sich seinem Vater gegenüber. Asa hielt seinen Hut mit einer Hand auf dem Kopf fest, damit er nicht weggeweht wurde. Sein gerade geschnittener Mantel und die weiten Hosenbeine flatterten im Wind. Er war umgeben von Nachbarn, die alle zusammen eine ernste Mauer der Angst und des Missfallens bildeten.

Das Letzte, woran Caleb in diesem Moment dachte, war die amische Ordnung. Die aber ganz eindeutig in den Köpfen seines Vaters und der Älteren an erster Stelle stand.

»Wenn es Gottes Wille ist, dass dieser Junge überlebt«, setzte Asa an. »Dann wird er es schaffen, ohne in den Himmel gehoben zu werden.«

Caleb traute Gottes Willen schon seit langer Zeit nicht mehr. Aber er diskutierte nicht mit seinem Vater. Das hatte er ebenfalls vor langer Zeit aufgegeben.

Hannah eilte an seine Seite. Ihr Gesicht war aschfahl und tränenfeucht. »Du musst mitfliegen, Onkel Caleb. Du musst!«

Alma Troyer trat vor, die Lippen fest zusammengepresst. Sie warf einen schnellen Blick von Asa zu Hannah. »Geh nur, Caleb. Hannah kann bei mir bleiben, solange du fort bist.«

Die Sanitäterin berührte ihn am Arm. »Die Pilotin hat gesagt, Sie dürfen mitkommen.«

Caleb nickte und wandte sich an seinen Vater. »Ich rufe an.« Die Amisch-Familien teilten sich eine Telefonzelle, die mitten im Dorf stand und nur für dringende Angelegenheiten oder Notfälle benutzt werden durfte. Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte er sich auf dem Absatz um und folgte den Sanitätern in den Helikopter.

Inmitten eines Wusts aus Schläuchen und Monitoren wurde Jonah seitlich in den glänzenden blauen Hubschrauber geschoben. »Wow, Sie sind groß. Passen Sie auf Ihren Kopf auf«, warnte ein Techniker Caleb und zeigte nach oben. »Halten Sie sich vorne und links vom Helikopter.«

Mit den Kopfhörern auf dem Kopf musterte die Pilotin Caleb. »Sie sind aber auch ein großer Mann«, rief sie. »Wie viel wiegen Sie?«

Caleb stellte sich niemals auf die Waage. »Zweihundert Pfund«, schätzte er zögernd. Dazu maß er über eins neunzig, wenn er seine Größe anhand der Widerristhöhe der Pferde abschätzte, mit denen er arbeitete. Ja, er lief durchaus Gefahr, sich den Kopf von den Rotorblättern abhacken zu lassen.

»Das müsste mit unserer Gewichtsbegrenzung noch hinkommen«, sagte die Pilotin. »Starten wir.«

Der Techniker legte Caleb eine Hand auf die Schulter und führte ihn an Bord. Jemand warf ihm seinen Hut zu. Im Helikopter zeigte man ihm, wo er sich hinsetzen konnte und wie man sich anschnallte. In dem beengten Raum war er Jonah nahe genug, um ihn zu berühren, aber Caleb wusste nicht, wo. Also legte er seine Hand auf den Fuß des Jungen. Selbst durch die dicken Lagen an Decken spürte er, wie kalt er war.

»Jonah«, sagte er. »Hörst du mich? Ich komme mit dir.«

Ihm wurde ein Headset mit gummiartigen Ohrstöpseln gegeben. Es knackte und quietschte in der Leitung. Die an den Jungen angeschlossenen Überwachungsmonitore piepten, Gurte und Klammern wurden festgezurrt. Dann stülpte jemand Jonah eine Maske über Mund und Nase, und einer der Sanitäter drückte in stetem Rhythmus eine Art Blasebalg. Innerhalb weniger Minuten wurden die Türen zugezogen. Die Pilotin ratterte eine Reihe von Befehlen hinunter, während sie gleichzeitig die Instrumente im Cockpit checkte und einige Knöpfe und Hebel betätigte. Mit einem machtvollen Dröhnen nahmen die Rotorblätter Geschwindigkeit auf, und der Helikopter hob vom Boden ab.

Calebs Magen hob sich ebenfalls, und das Atmen fiel ihm schwer. Durch ein rundes Fenster sah er die Menschen, die sich am Landeplatz versammelt hatten. Nachbarn und Freunde, sein Vater, der immer noch seinen Hut auf dem Kopf festhielt. Sie wurden immer kleiner, je höher der Helikopter stieg, bis sie schließlich nur noch wie eine schwarz-graue Wolke vor den goldenen Feldern aussahen. Hannah lag zusammengesackt auf dem Boden, ihr Rock breitete sich wie ein Tintenfleck um sie aus. Jemand hätte zu ihr gehen, ihr eine Hand auf die Schulter legen, sie trösten sollen. Aber niemand tat es.

Im Bruchteil einer Sekunde hatte der Hubschrauber das Silo passiert, doch Caleb erhaschte noch einen Blick auf das Transportband, das zur Öffnung führte, wo die Schreddermaschine stand. Auf dem Boden, auf der grünen und braunen Erde, auf der sich die Farm seit Generationen befand, sah er die grellen Flecken vom Blut seines Neffen, die ihn in ihrer Anordnung an einen zerbrochenen Stern erinnerten.

Die Rettungsärztin übermittelte Informationen über das Funkgerät, die Caleb kaum verstand. Jonahs Blutdruck und Atmung, der fehlende Puls auf der verletzten Körperseite. Andere Details wurden in einem so schnellen Code übermittelt, dass er nicht folgen konnte. Ein Wort jedoch drang klar und verständlich zu ihm durch.

Unvollständige Amputation am Oberarmknochen.

Amputation.

Der Helikopter neigte sich zur Seite. Caleb presste die Hände gegen das Dach. Sein Magen zog sich zusammen. Ein weiteres Gefühl durchdrang die Panik, die er empfand, ein so mächtiges Gefühl, dass er sich dafür schämte. Denn mitten in diesem katastrophalen Albtraum verspürte er eine nicht zu leugnende Aufregung. Er war hoch in der Luft, schwebte über der Erde, er flog.

Sein ganzes Leben lang hatte er versucht, sich vorzustellen, wie es wäre zu fliegen, und nun tat er es. Bislang war das Erlebnis großartiger und beängstigender, als er es sich je hätte ausmalen können. Das Land lag in Quadraten von unterschiedlichen Grün-, Gelb- und Braunschattierungen unter ihm, durchzogen von Wegen und Abwassergräben. Der Shady Creek war ein glitzerndes silbernes Band, das von Bäumen gesäumt war. Es gab Spielzeughäuser, die durch Bürgersteige miteinander verbunden waren, und weiße Lattenzäune. Auf der schmalen, einspurigen Straße zog ein Pferd einen Buggy. Selbst aus dieser Höhe erkannte Caleb, dass es sich um das Shire Horse der Zooks handelte, denn er kannte praktisch jedes Pferd in Middle Grove.

Der Helikopter flog so schnell, dass der Ausblick sich alle paar Sekunden veränderte. Die Ärztin drückte ein paar Knöpfe an einem Apparat. »Sir«, sagte sie zu Caleb. »Ich muss Ihnen ein paar Fragen zu Ihrem Sohn stellen.« Durch die Kopfhörer klang ihre Stimme blechern und weit entfernt.

Er hatte keine Zeit zu erklären, dass Jonah nicht sein Sohn war.

»Ja, sicher.« Auf ihre Fragen hin nannte er ihr Jonahs Namen, sein Alter und dass er, soweit Caleb wusste, keine Allergien hatte. Sie wollte verstehen, wie es zu dem Unfall gekommen war, und er bemühte sich, ihr die Funktion der Maschine so gut es ging zu erklären – dass die Klingen die Maiskolben zerhackten und in das Silo bliesen, dass sich manchmal ein Stück verhakte und mit dem nächsten Stängel angeschoben werden musste. Der Gesichtsausdruck der Frau verriet ihm, dass seine Erklärung für sie genauso unverständlich war wie ihr medizinischer Jargon für ihn. Und er sah noch etwas auf ihrem Gesicht, nämlich die Frage, die sie nie stellen würde.

Wie kann man ein Kind an einer so gefährlichen Maschine arbeiten lassen?

Die Antwort darauf wusste Caleb auch nicht. So war es auf der Farm eben schon immer gewesen. Von dem Moment an, in dem sie laufen konnten, halfen die Kinder mit. Die Kleinsten fütterten die Hühner und Enten, zupften Unkraut, ernteten Tomaten und Bohnen. Wenn ein Junge älter wurde, half er mit Pflug und Egge, der Heuballenpresse, beim Binden der Garben, beim Einholen der Milch aus dem Milchhaus – kurz, bei allem, was getan werden musste. Das war der Weg der Amischen. Und der Amische Weg bedeutete, die Traditionen niemals zu hinterfragen.

Er wollte nach seinem Neffen schauen, aber zwischen den Schläuchen und Kabeln und dem Mann, der ihm das Beatmungsgerät auf Mund und Nase presste, war von Jonah kaum etwas zu sehen. Der Helikopter neigte sich wieder, und erneut veränderte sich die Landschaft. Philadelphia war ein verwirrendes Labyrinth aus Stahl und Betongiganten, die sich entlang des breiten Flusses und anderer Wasserwege hinzogen. Die Stadt hatte eine ganz eigene Schönheit. Sie bestand aus versteckten Winkeln und viel befahrenen Straßen. Auf einem der Gebäude schien eine Reihe von Markierungen den Helikopter wie ein Magnet anzuziehen.

»Sie werden ihn heiß entladen«, erklärte die Ärztin. »Das bedeutet, sie holen ihn raus, bevor die Rotorblätter zum Stillstand gekommen sind. Sie warten bitte, bis die Pilotin Ihnen sagt, dass Sie aussteigen können.«

»Verstanden.« Caleb war überrascht, als er den Blick senkte und sah, dass er seinen Hut immer noch in seiner blutigen Hand hielt.

Seine andere Hand lag auf der Decke, die Jonahs knochigen, nackten Fuß bedeckte. Bitte, Jonah, flehte er stumm, stirb nicht.

Die Amischen beteten nur auf ihren Versammlungen laut. Sie waren ein Volk des langen, meditativen Schweigens, was die Menschen in der Außenwelt oft dazu verführte, sie für etwas zurückgeblieben zu halten. Caleb flehte in wortloser Kontemplation um Gnade für seinen Neffen.

Er ist nur ein kleiner Junge. Er singt den Enten etwas vor, wenn er sie morgens füttert. Er schläft mit dem Hund am Fuß seines Betts. Jedes Mal, wenn er lächelt, kommt die Sonne heraus. Sein Lachen erinnert mich daran, dass das Leben schön ist. Ich darf ihn nicht verlieren. Das geht einfach nicht. Nicht meinen Jonah-Jungen.

Caleb betete zum ersten Mal seit Jahren. Für ihn fühlte sich Beten immer an, als würde er in einen Brunnen rufen – die eigenen Worte hallten zu einem zurück. Nur die wahrhaft Gläubigen glaubten, dass am anderen Ende tatsächlich jemand war, der zuhörte.

3. Kapitel

In Philly gab es zahlreiche Notfälle, und Reese war bei vielen von ihnen im Einsatz gewesen. Meistens handelte es sich um Schusswunden, Messerstechereien und Autounfälle. Aber ab und zu kam etwas Neues, Unerwartetes durch die schweren Türen der Notaufnahme – ein Junge, der bei einem Wettbewerb im Baumstammrollen beinahe zerdrückt worden wäre. Ein Fensterputzer, der vom Gerüst gefallen war. Ein Fallschirmspringer, dessen Schirm sich nicht richtig geöffnet hatte und der daraufhin mit fünfundsiebzig Meilen pro Stunde auf dem Boden aufgeprallt war.

Diese dramatischen Unfälle hatten einen besonderen Effekt auf das Team. Jeder spürte, wie nah sie am Abgrund standen, und wurde daran erinnert, dass der Tod in jeder Sekunde lauerte. Das einzige Ziel des Teams war es, das Opfer von diesem Abgrund zurückzuziehen.

Laut den Vorabberichten, die aus dem Helikopter übermittelt worden waren, hatte auch dieser Junge am Abgrund balanciert. Auf der einen Seite war er jung und stark und von guter Gesundheit. Auf der anderen Seite hatte er eine verheerende Verletzung erlitten und viel Blut verloren. Wenn der Schock ihn nicht umbrachte, könnten es eine Sepsis oder sekundäre Verletzungen tun.

»Sie bringen ihn jetzt runter«, berichtete die leitende Schwester des Trauma-Zentrums.

»Macht euch bereit, Leute«, rief Jack. Der Leiter des Trauma-Zentrums führte das Team wie ein Feldwebel und bereitete den High-Tech-Untersuchungsraum mit akribischer Sorgfalt vor. Beatmungsgerät, Infusionen, Überwachungsgeräte, notwendiges Personal. Dazu hielt er die Kollegen aus dem Labor und der Radiologie auf Abruf. Als alles bereit war, erinnerte der Raum an eine futuristische Kathedrale, in deren Mitte das Bett wie ein Altar thronte, auf den das Opfer gebettet wurde, um den Pantheon rachsüchtiger Götter zu besänftigen.

Die letzten Augenblicke verliefen schweigend. Eine erwartungsvolle Spannung lastete auf den Teammitgliedern, und die Bleiwesten gegen die Röntgenstrahlen lagen ihnen schwer auf den Schultern. Jeder war mit seinen Gedanken allein – der Leiter des Teams, der Oberarzt, die Anästhesisten, die Schwestern und Pfleger, der Radiologe, der Apotheker, die Helfer, der Kaplan. Reese stellte sich vor, dass einige von ihnen beteten. Sie selbst klammerte sich an ihr Mantra: das Richtige tun.

Die Teammitglieder standen auf ihren jeweiligen Positionen bereit. Reese spürte, wie ihr das Adrenalin durch die Adern schoss. Es begann in ihrer Brust und breitete sich über ihren Hals, ihre Schultern, ihre Arme und Beine aus. Sie verstand, wie der menschliche Körper funktionierte, aber gewisse Dinge konnte kein Lehrbuch angemessen beschreiben, zum Beispiel den schwindelig machenden Rausch der Erwartung.

Oder eiskalte Angst.

Während ihrer Zeit in der Notaufnahme hatte sie gelernt, dass hier beinahe keine Zeit blieb, um nachzudenken. Auch wenn ihr Kopf voll war mit Fakten und Abläufen, schaltete sie alles ab, was nicht dazu diente, ihrem Patienten zu helfen. Während der Behandlung eines Notfallpatienten empfand sie weder Hunger noch Müdigkeit oder den Drang, zur Toilette zu gehen. Sie konzentrierte sich so sehr, dass sie nicht einmal etwas fühlte – ein Umstand, der ihr Sorgen bereitete.

Mel meinte, es sei eine gute Sache. Wenn ein Patient kam, brauchte der Arzt kalte Ratio und kein Mitgefühl. Er hatte ihr vorgeschlagen, sich für eine Stelle in der Notaufnahme zu bewerben, aber sie hatte abgelehnt. Ihr Ziel lag woanders.

Aber in Augenblicken wie diesen ertappte sie sich dabei, ihre Entscheidung zu hinterfragen.

»Behalte Jack im Auge«, murmelte Mel an ihrem Ohr. »Sieh zu und lerne. Er ist der Meister.«

Reese nickte. Noch ein paar Augenblicke der angespannten Erwartung, dann wurden die schweren Türen aufgestoßen, und der Patient wurde hereingerollt.

»Er kommt«, sagte ein Sanitäter. Er ging rückwärts und zog die Trage durch den Flur, der mit einer roten Linie auf dem Boden und dem Wort Notaufnahme markiert war. »Weg freimachen.« Weitere Sanitäter rannten neben der Trage her und bereiteten sich auf die Verlegung des Patienten auf das Bett im Untersuchungsraum vor. Reese reckte den Kopf, konnte den Jungen aber zwischen dem Gewirr aus Personal und Ausrüstung nicht sehen – sie erhaschte nur einen Blick auf eine Halskrause und zwei blutgetränkte Vakuumschienen.

Hinter der Trage lief ein Mann, der so groß war, dass alle anderen wie Zwerge erschienen. Sein Hemd und seine Hände waren blutbefleckt. Seine Miene unter dem dichten Schopf aus goldenen Haaren war eine gequälte Maske der Sorge – ein Mann, der sich dem schlimmsten Albtraum aller Eltern gegenübersah.

Die Trage wurde in die Mitte des Traumaraums geschoben, und das Team machte sich an die Arbeit.

»Wie schlägt er sich?«, fragte Jack und stellte sich ans Fußende des Betts.

»Nicht so gut.« Irene, die Sanitäterin aus dem Hubschrauber, trat von der Trage zurück, warf einen Blick auf ihr Tablet und gab eine kurze Zusammenfassung – erlittene Verletzung, Vitalfunktionen, Behandlung. Sie gab an, dass dem Jungen Blutgerinnungsmittel gegeben worden waren, um das Risiko des Verblutens zu verringern. Monitore piepten und kreischten, als der Patient auf den Röntgentisch gehoben wurde. In der Ecke blinkten die grünen und goldenen Lichter eines Servers.

Reese versuchte, das Gesicht des Jungen zu erkennen, das von einer durchsichtigen Maske über Mund und Nase bedeckt war. In einer Wange hatte er tiefe Schnitte, als hätte ein riesiger Bär ihm seine Krallen ins Gesicht geschlagen. Seine Augen waren blau, und sein Blick schoss hin und her.

»Guter Gott«, flüsterte sie. »Er ist bei Bewusstsein.«

»So ist es schon von Anfang an«, bestätigte Irene. »Du bist ein toller Junge, Jonah. Du machst das super.«

»Ich bin Dr. Tillis«, stellte Jack sich vor und sah den Jungen an. »Wir werden uns gut um dich kümmern.«

Unter der Maske bewegten sich die Lippen des Jungen, und das Plastik beschlug. Er weinte nicht. Reese vermutete, dass der Schock ihn weit über diesen Punkt hinausgeschossen hatte.

»Okay«, sagte Jack. »Schauen wir uns deinen Arm mal an.«

Der Verband wurde abgenommen und der Arm freigelegt. Selbst die erfahrenen Mitglieder des Teams staunten über die Verletzung. Es war eine grauenhafte Wunde. Das Gewebe und die Knochen waren so schlimm zugerichtet, dass es schon wehtat, nur hinzusehen.

Er hat zu keinem Zeitpunkt das Bewusstsein verloren, dachte Reese. Was für ein Kind war dieser Junge?

»Jonah, kannst du die Finger an deiner linken Hand bewegen?«, fragte Dr. Tillis.

Die Hand rührte sich nicht.

»Wie wäre es mit einem Daumen hoch oder einem Okay-Zeichen?«, schlug Tillis vor. »Kannst du das?«

Der Junge kniff in schmerzhafter Konzentration die Augen zusammen, doch es rührte sich immer noch nichts. Alle Nerven waren durchtrennt oder angerissen. »Komplette Ablation«, murmelte jemand. »Oh Mann …«

»Powell, komm näher«, sagte Dr. Tillis. »So etwas sieht man nicht alle Tage. Entferne die Kleidung der unteren Extremitäten und nimm ihm Blut ab.«

Der Großteil der Kleidung des Jungen war schon weg – entweder von den Sanitätern abgeschnitten oder beim Unfall zerrissen. Seine magere Brust und seine Hüfte waren so blass wie Marmor. Er trug weiße Boxershorts, die vom Waschen einen Grauschleier hatten und die sie nun mit der Schere zerschnitt, wobei sie nach weiteren Verletzungen Ausschau hielt. »Keine Anzeichen von Trauma im Hüftbereich«, sagte sie.

Dann säuberte sie die Stelle mit Desinfektionsmittel und ertastete die Oberschenkelarterie mit den Fingern. »Gleich pikt es kurz, Jonah«, sagte sie und kam sich sofort albern vor, ihn vor einem kleinen Einstich zu warnen, während sein Arm in Fetzen lag. Sie setzte die Nadel im richtigen Winkel an, und schon füllte sich das Röhrchen mit hellrotem Blut. Während ein anderer Student Druck auf die Stelle ausübte, beschriftete Reese das Röhrchen ordentlich und reichte es dem Labortechniker.

Jack gab Befehle für weitere Untersuchungen und zur Schmerzbehandlung, für Röntgenaufnahmen und warme Decken und eine Urinanalyse. Reese überkam der Drang, den Jungen irgendwie, irgendwo zu berühren, aber sie konzentrierte sich darauf, den Anweisungen zu folgen. Infusionen wurden gelegt, und sofort flossen die Flüssigkeiten und Medikamente in die Venen des Jungen. Reese war nicht sicher, ob sie es sich nur einbildete, aber sie glaubte, der Junge schaute sie direkt an, als sie sich vorbeugte und ein Kabel überprüfte. Dann fielen ihm die Augen zu. Sie wünschte, sie hätte ihn berührt.

Schnell wurde Jonah Stoltz für die Operation vorbereitet, und jedes Mitglied des Teams übernahm seinen Part. Sie säuberten und versorgten die Wunden, scannten und testeten den schmalen Jungen, stabilisierten ihn so gut es ging und suchten nach sekundären Verletzungen. Drei Stockwerke weiter oben bereiteten sich die Chirurgen des OP-Teams auf die wahrscheinlichste Maßnahme vor – eine Amputation. Das Bett wurde in den glänzenden Edelstahlfahrstuhl geschoben.

Mit einem leisen Quietschen schlossen sich die Türen, und Schweigen senkte sich über den Traumaraum. Im Vakuum der Stille erlosch der Adrenalinrausch.

Die Menschen in der Notaufnahme – vor allem die Mitglieder des Trauma-Teams – gingen nur eine kurze, aber lebenswichtige Beziehung mit den Patienten ein. Sie wussten lediglich die notwendigsten Details über die Ursache der Verletzungen, und in dem Wirbel aus totaler Konzentration und Aufmerksamkeit war der Patient der Mittelpunkt ihres Universums. Doch sobald der Patient in den OP gebracht wurde, widmeten sie sich wieder anderen Aufgaben. Es gab keinen Abschluss. Sie erhielten immer nur einen Blick auf einen Ausschnitt der Erzählung, aber nie auf die ganze Geschichte.

Der Raum leerte sich schweigend. Das eben noch blitzblanke Untersuchungszimmer sah jetzt aus wie ein Schlachtfeld. Mitarbeiter strömten herein, um Ordnung zu schaffen und sauber zu machen. Reese schaute sich in dem Raum um und erblickte etwas auf dem Boden – einen Penny, der auf einer Eisenbahnschiene oder vielleicht in einer dieser Maschinen flach gedrückt worden war. In das Kupfer waren die Worte Old Blakeslee Sawmill eingeprägt.

Sie steckte den Penny in die Tasche ihres Kittels. Dann ging sie in den an die Notaufnahme angrenzenden Garten hinaus, wo eine kleine Sitzgruppe für die Mitarbeiter stand. Von hier aus konnte sie den Fluss sehen, dessen Ufer von grünen Parks gesäumt war, in denen Kinder Frisbee spielten, Menschen in der Sonne auf dem Rasen lagen, Touristen umherschlenderten und Radfahrer vorbeisausten.

Sie dachte an den Jungen, der soeben in den OP gebracht worden war, und erschauerte. Am Ende des Gartens stand eine der Schwestern aus der Notaufnahme. Sie war allein, rauchte eine Zigarette und starrte ins Nichts, während sie den Rauch in die warme, regungslose Luft blies. Reese verurteilte sie nicht für ihre schlechte Angewohnheit, und sie erinnerte sie auch nicht an das Rauchverbot, das auf dem Gelände galt. Jeder fand seine eigene Art, mit den dramatischen Fällen umzugehen. Einige mussten reden und das übermäßige Adrenalin in Gesprächen loswerden, andere blieben still, schienen in einem See der stummen Nachdenklichkeit versunken zu sein, bis sie ihr inneres Gleichgewicht wiedererlangt hatten.

Reese war noch dabei zu erforschen, wie sie mit den traumatischen Erfahrungen umging, aber vermutlich würde ihre Zeit hier enden, bevor sie es herausgefunden hatte. Sie dachte über den Vorfall nach und versuchte, ihn in den Kontext ihrer langfristigen Ziele einzubetten.

Solange sie sich erinnern konnte, hatte sie sich auf diese Karriere vorbereitet. Sie konnte sich nicht einmal daran erinnern, sich für diesen Weg entschieden zu haben. Vielleicht hatte der Weg sich für sie entschieden. Oder genauer gesagt: Er war für sie entschieden worden. Manchmal kam sie sich vor wie eine Fremde in ihrem eigenen Leben. Rip Van Winkle, der zwanzig Jahre später in der Zukunft aufwachte. Sie blinzelte, schaute sich um und fragte sich, wie zum Teufel sie nur hier gelandet war.

Auf dem Papier war ihre Reise so klar wie ein eingezeichneter Streckenverlauf auf einer Landkarte. Ihre Eltern waren Ärzte und wahnsinnig erfolgreich auf ihren Gebieten – Behandlung von Unfruchtbarkeit und Neugeborenenmedizin. Ihr Vater hatte einen hoch dotierten Posten an der Penn University. Hector und Joanna Powell waren für ihre bahnbrechende Arbeit bekannt, und Reese war ihr erfolgreichstes Experiment von allen. Sie war künstlich gezeugt worden und das Ergebnis einer In-vitro-Fertilisation. Ihr Dasein verdankte sie einzig den Anstrengungen und der Expertise ihrer Eltern.

Darüber dachte sie nicht allzu oft nach, aber ab und zu weckte die Art ihrer Entstehung in ihr das Gefühl … anders zu sein. Auf der einen Seite wusste sie, dass sie so verzweifelt gewünscht gewesen war, dass ihre Eltern unglaubliche medizinische Qualen auf sich genommen hatten, um sie auf die Welt zu bringen. Auf der anderen Seite war der Gedanke, dass ihr Leben in einer Petrischale begonnen hatte, seltsam.

Ihre Eltern hatten sie auf die besten Schulen des Landes geschickt, was sie sich dank ihrer Bemühungen um andere unfruchtbare Paare hatten leisten können. Dass Reese Ärztin würde, war von Anfang an beschlossene Sache gewesen. Nachdem sie ihr Grundstudium abgeschlossen hatte, hatte sie direkt ihr AiP-Programm angefangen und schoss jetzt gerade wie ein Pfeil auf eine Karriere in der Kinderchirurgie zu – die perfekte Ergänzung für die Praxis ihrer Eltern. Fünf Jahre in der allgemeinen Chirurgie, gefolgt von zwei Jahren in der Kinderchirurgie, würden sie direkt in den Schoß ihrer Eltern führen.

Manchmal verursachten ihr die Gedanken an den Weg, der vor ihr lag, Kopfschmerzen.

Mel kam heraus, und seine freundliche, leicht zerzauste Erscheinung war eine willkommene Unterbrechung ihrer Grübelei. Er war ein guter Arzt und ein guter Tutor – und glücklich verheiratet, wofür sie dankbar war, denn so bestand keine Gefahr, von ihm angemacht oder nachts im Pausenraum befummelt zu werden. Das hatte sie während des Studiums viel zu oft erlebt.

»Also, was denkst du über das eben?«, fragte er. »Ziemlich intensiv, oder?«

»Ja. Das Team ist unglaublich.« Sie schüttelte den Kopf. »Der arme Junge. Sein Leben wird nie wieder das gleiche sein.«

»Die Sanitäterin aus dem Helikopter meinte, er sei ein Amischer.«

Mit gerunzelter Stirn verarbeitete Reese diese Information. Vor ihrem inneren Auge sah sie von Pferden gezogene Kutschen, Frauen mit Hauben auf dem Kopf, barfüßige Kinder. »Wirklich? Wie kommt es dann, dass er von einer Maschine verletzt wurde? Ich dachte, die Amischen würden alles per Hand machen.«

Er zuckte mit den Schultern. »Wie es aussieht, wohl nicht alles. Aber die Sanitäterin sagte, die Nachbarn und ein Teil der Familie hätten einen Riesenaufstand wegen des Helikopters gemacht. Sie wollten nicht, dass der Junge fliegt. Das widerspricht einer ihrer Regeln.«

»Ich bin froh, dass der Vater diese Regel trotzdem gebrochen hat. Ist deswegen die Presse aufgetaucht?« Sie wies zum Parkplatz, wo gerade Kabel und Ausrüstungen aus Übertragungswagen geholt und die Reporter für ihren Auftritt vor der Kamera zurechtgemacht wurden. So ein Unfall wie der des Jungen wurde im Krankenhaus »Drama-Trauma« genannt – ein außergewöhnlicher und oft tragischer Unfall, der die örtliche Presse anzog und in den sozialen Medien einen Sturm entfachte.

»Vermutlich«, erwiderte Mel. »Die Presseabteilung des Krankenhauses wird sich darum kümmern.«

»Gut. Das Letzte, was die Familie jetzt gebrauchen kann, ist, von den Medien gejagt zu werden.« Sie blickte durch die breiten Fenster ins Gebäude hinein. In den Untersuchungszimmern und im Wartebereich der Notaufnahme saßen die Menschen ängstlich zusammen oder liefen rastlos im Flur auf und ab. Ein großer blonder Mann, so aufrecht und still wie ein Baum an einem windlosen Tag, schaute hinaus. Sein Gesicht wirkte wie aus Stein gemeißelt.

Reese runzelte die Stirn. »Ist das nicht der Vater?«

»Ja, ich glaube schon.«

»Warum ist er nicht oben beim OP?«

Wieder zuckte Mel mit den Schultern. »Vielleicht hat es ihm niemand gesagt?«

Reese verspürte einen Anflug von Genervtheit. Ein großes Krankenhaus war auf viele Arten ein Wunder. Aber manchmal rutschte etwas durch die Maschen. »Verdammt. Ich gehe zu ihm und sage ihm, wo der Wartebereich der Chirurgie ist.«

Mel nickte, und Reese kehrte ins Gebäude zurück. Mit seiner dunklen Kleidung und dem flachkrempigen Hut in der Hand wirkte der Vater des Jungen hier in dem High-Tech-Trauma-Zentrum vollkommen fehl am Platz. Auf seinem Hemd, an seinen Händen und Stiefeln klebte Blut. Dieser Mann hatte seine Prinzipien beiseitegeschoben, um den Jungen zu retten, aber diese Entscheidung forderte offenbar ihren Tribut, denn er sah elendig aus.

Mitleid mit dem Mann stieg in ihr auf. Dank des Berufs ihrer Eltern waren Krankenhäuser für sie immer eine vertraute Umgebung gewesen, der Ort, an dem die beiden arbeiteten. Für die meisten Menschen war es jedoch eine fremde und unfreundliche Welt.

»Entschuldigen Sie«, sagte sie. »Sind Sie der Vater von Jonah Stoltz?«

Der Mann drehte sich um. Er trug nicht den Backenbart, den sie mit den Männern der Amischen in Verbindung brachte. Blonde Männer schienen immer jünger zu wirken, als sie waren. Als wären sie aus einem anderen Holz geschnitzt als der Rest der Menschheit. Er hatte die gleichen klaren blauen Augen wie der Junge, und sein Mund war aus unterdrückter Angst zu einer grimmigen Linie zusammengepresst.

»Ich bin Caleb Stoltz«, sagte er mit voller, ruhiger Stimme. »Jonahs Onkel.«

»Ich bin Reese Powell.« Ihr Mitgefühl für den Mann schwoll an, vermutlich, weil er so einsam wirkte. »Werden seine Eltern bald eintreffen?«

»Seine Eltern sind tot.« Die offenen Worte fielen schwer in das Schweigen zwischen ihnen.

»Oh … das wusste ich nicht.« Die Wärme in ihrer Kehle wurde zu einem schmerzhaften Brennen. Sie fragte sich, ob sie wohl durch einen schrecklichen Unfall auf der Farm aus dem Leben gerissen worden waren. Kam so etwas in den Amisch-Gemeinden häufiger vor?

»Ich ziehe Jonah jetzt für sie auf«, sagte er und schaute kurz auf ihren Namen und das Logo der Universität, die auf ihren Kittel gestickt waren. »Gibt es etwas Neues? Wie geht es ihm?«

»Mr. Stoltz«, sagte sie. »Hat jemand Ihnen Bericht über Jonahs Zustand erstattet? Haben Sie mit einem Sozialarbeiter gesprochen?«

»Man hat mir nur gesagt, er müsse operiert werden. Ich habe die entsprechenden Papiere bereits unterzeichnet.«

Hatte sich denn niemand die Mühe gemacht, diesem Mann zu erklären, was passierte? Reeses Verärgerung kehrte zurück. »Das Trauma-Team hat ihn stabilisiert, bevor er in den OP hinaufgebracht wurde. Der befindet sich in einem anderen Teil des Krankenhauses. Wenn Sie möchten, begleite ich Sie zum Wartebereich.«

»Ja«, entgegnete er. »Okay. Ich werde dort so lange warten, wie es nötig ist.« Als er sprach, fielen Reese zwei Dinge an ihm auf. Zum einen lag eine seltsame Steifheit in seiner Haltung. Zum anderen war sein Blick, wenn er sie ansah, ganz ruhig.

Sie ging mit ihm zum Fahrstuhl. Auf dem Weg ernteten sie ein paar Blicke, als den Leuten seine Größe, die blutige Kleidung und der Hut aus geflochtenem Stroh, den er in seinen großen Händen hielt, auffielen. Er war hier wirklich vollkommen fehl am Platz. Aber andererseits war es vielleicht nicht schlecht, in der Notaufnahme fehl am Platz zu sein.

Reese drückte den Knopf, um den Fahrstuhl zu rufen, und wenige Sekunden später öffneten sich die Türen. Sie hatte gedacht, dass der Mann vielleicht zögern würde, bevor er eintrat, aber das tat er nicht. Sie drückte auf den Knopf fürs vierte Stockwerk, und der Lift glitt nach oben.

Da sie nicht wusste, was sie sagen sollte, begnügte sie sich damit, ihn heimlich zu mustern. Er hatte seine Hände an die Wand gelegt, als wollte er sich abstützen, und sein Blick ruhte fest auf den nacheinander aufleuchtenden Knöpfen. Reese wusste nicht viel über die Amischen, aber ihre Kleidung war unverkennbar – Hosen ohne Bügelfalten oder Umschlag, ein schlichtes weißes Hemd mit aufgerollten Ärmeln, Hosenträger, ein breitkrempiger Hut und Arbeitsstiefel.

Reese empfand etwas, das sie nicht einordnen konnte. Überraschung vielleicht, gepaart mit warmherzigem Mitgefühl. Er war absolut bemerkenswert. Er hatte ein Gesicht, das sie niemals vergessen würde, so perfekt wie das Meisterstück eines Künstlers mit kantigem Kiefer, hohen Wangenknochen und durchdringenden Augen.

Er ertappte sie dabei, wie sie ihn anstarrte, und sie spürte, wie ihr die Röte in die Wangen schoss. »Mein Kollege hat mir gesagt, Sie seien von den Amischen.«

»Das stimmt.«

Amisch. Was wusste sie über diese Gruppe? Quilts und Bonnets. Die einfachen Menschen. »Wo wohnen Sie? Drüben im Lancaster County?« Die Gegend war für ihre Amische Gemeinde bekannt. Am Wochenende unternahmen die Stadtbewohner oft Ausflüge, um sich auf den Märkten und Handwerksausstellungen umzuschauen, die hausgemachten Köstlichkeiten zu probieren und in gemütlichen Gästehäusern zu übernachten. Reese hatte das nie getan. In ihrer freien Zeit lernte sie, oder sie traf sich mit Menschen, von denen ihre Eltern glaubten, sie müsse sie kennenlernen. Nur ganz selten fand sie Zeit, um auf ein Date zu gehen.

Er schüttelte den Kopf. »Nein, nicht in Lancaster. Wir leben nordwestlich von hier in einem Ort namens Middle Grove.«

»Die Sanitäterin hat mir gesagt, Sie seien im Helikopter mitgeflogen«, sagte sie. »War das Ihr erster Flug?«

»Ja, das war er. Es gibt Regeln, die das Fliegen verbieten«, antwortete er. »Ich verstehe das. Aber ich habe Regeln dagegen, einen kleinen Jungen verbluten zu lassen.«

Die Qual, die sie in seiner Stimme hörte, ließ Reese innerlich zusammenzucken. »Ich bin sicher, alle stimmen darin überein, dass Sie die für Jonah beste Entscheidung getroffen haben.«

»Ich bin mir dessen überhaupt nicht sicher«, gab er zurück und bedachte sie mit einem düsteren Blick.

Diese Unterhaltung läuft ja großartig, dachte Reese. Nun, sie hatte Besseres zu tun, als Small Talk mit diesem Typen zu halten. Als der Fahrstuhl im vierten Stock anhielt, geleitete sie den Mann am Schwesternzimmer vorbei in den Wartebereich, der mit grünen Sofas, niedrigen Tischchen, hoffnungslos zerfledderten Zeitschriften und Büchern eingerichtet war. Über einen großen Monitor liefen verschlüsselte Information zum Stand der gerade stattfindenden Operationen.

»Machen Sie es sich bequem«, sagte sie. »Ich sage im Schwesternzimmer Bescheid, dass Sie wegen Jonah hier sind.«

»Okay. Danke.« Er machte keine Anstalten, sich zu setzen.

»Nun«, sie zog sich langsam zurück, »ich weiß, dass man sich hier ausgezeichnet um Jonah kümmert. Unsere Chirurgen sind die besten des Landes.«

Er nickte nur kurz. Sie konnte ihm seine Skepsis bezüglich so einer Plattitüde nicht vorwerfen. In jedem anderen Krankenhaus würde man vermutlich das Gleiche behaupten.

Sie eilte zum Schwesternzimmer. Die drei anwesenden Krankenschwestern standen nebeneinander am Tresen und starrten Caleb Stoltz mit offen stehenden Mündern an. Unter anderen Umständen hätte Reese über ihre sichtbare Begeisterung gelacht.

»Dieser Mann ist …«

»Ein wahrer Augenschmaus«, sagte eine der Schwestern.

»Er ist Mr. Stoltz«, setzte Reese neu an und senkte die Stimme. »Caleb. Er ist der Onkel und gesetzliche Vormund von Jonah Stoltz.«

Eine der Schwestern, auf deren Namensschild ALICE stand, schaute zum Monitor. »Der Junge ist in OP sieben.« Sie bedachte Reese mit einem abschätzenden Blick. Medizinstudenten erkannte man an ihren kurzen weißen Kitteln, und sie besaßen keine besonderen Privilegien.

»Es wäre schön, wenn ihn jemand auf dem Laufenden halten könnte, ja? Ich habe ihn ganz verloren im Wartezimmer der Notaufnahme gefunden. Zeigen Sie ihm bitte, wie er seinen Neffen auf dem großen Bildschirm beobachten kann.«

»Wird erledigt.«

Schnell kehrte sie zum Fahrstuhl zurück und wäre beinahe mit Caleb Stoltz zusammengestoßen. Er war so nah, dass ihr sein Geruch nach Schweiß und Blut und Sonnenschein in die Nase stieg, dessen Intensität sie nervös machte.

»Äh, die Schwestern hier können alle Ihre Fragen …«

»Ich möchte Blut spenden«, sagte er leise. »Für den Fall, dass Jonah es braucht.«

In der Notaufnahme hatten sie dem Jungen schon mehrere Blutkonserven gegeben. Der leitende Arzt hatte Jonah für stabil erklärt, aber bei einer OP konnte alles Mögliche passieren. Reese schaute zu den Schwestern hinüber, die alle einen sehr beschäftigten Eindruck machten.

»Ich kann Ihnen den Weg zur Blutbank zeigen«, schlug sie vor.

»Danke«, erwiderte er. »Das weiß ich sehr zu schätzen.«

Auf dem Weg zum Fahrstuhl zögerte sie kurz. »Warten Sie einen Moment. Ich besorge Ihnen frische Kleidung zum Wechseln.«

Sie ging in eine Wäschekammer und fand einen Satz OP-Kleidung in großer Größe.

»Das sollte für den Moment reichen«, sagte sie und deutete auf die Herrentoilette. »Ihre Kleidung können Sie in diesen Beutel stecken.«

Er zögerte und starrte einen Moment auf sein hoffnungslos verschmutztes Hemd und die Hose. »Ich schätze, ich sehe aus, als hätte ich gerade ein Schwein geschlachtet.«

»Das kann ich nicht beurteilen, aber hierin werden Sie sich wohler fühlen.«

Während er sich umzog, checkte sie ihre Nachrichten. Eine Erinnerung an das Abendessen mit ihren Eltern. Lerngruppe um neun – der zweite Schritt auf dem Weg zu ihrer Zulassung als Ärztin war nicht mehr weit: ein Test ihres medizinischen Wissens und ihrer diagnostischen und klinischen Fähigkeiten. Wenn es in der Notaufnahme ruhig blieb, könnte sie vielleicht noch ein kleines Nickerchen im Pausenraum einlegen.

Caleb kam aus der Herrentoilette. In den geborgten Sachen sah er etwas weniger wie ein Fisch an Land aus. Sie nahm ihm die Plastiktüte ab, auf der Eigentum des Patienten stand und die seine blutige Kleidung enthielt. »Ich lasse die Sachen für Sie reinigen.« Das Angebot rutschte ihr einfach so über die Lippen, als wäre sie seine Dienerin. Doch angesichts dessen, was mit seinem Neffen passiert war, fand sie, dass ein wenig Freundlichkeit durchaus angebracht war. Und er hatte vermutlich wichtigere Dinge, die ihm durch den Kopf gingen, als sich über ihre Geste zu wundern.

Genau wie du, flüsterte ihr eine innere Stimme zu, die verdächtig wie die ihrer Mutter klang.

Über die gewundenen Flure führte sie ihn zur Blutbank und stellte ihn dem Laborangestellten vor. »Das ist Mr. Stoltz«, sagte sie. »Sein Neffe wird gerade operiert, und er möchte gerne Blut spenden.«

»So viel, wie erlaubt ist«, warf Caleb ein. »Meine Blutgruppe ist 0 negativ.«

Reese war überrascht, dass er das wusste, denn die meisten Menschen kannten ihre Blutgruppe nicht.

»Dann sind Sie ein Universalspender. Ausgezeichnet«, stellte der Labortechniker fest, ein entspannter Typ mit Pferdeschwanz und kleinen Creolen im Ohr, der Klaus hieß. »Immer hier entlang, Mr. Stoltz.«

Ruhig und fügsam nahm Caleb in dem Sessel Platz.

Klaus reichte ihm ein Klemmbrett. »Nur einige Standardfragen.«

Reeses Handy vibrierte. Eine Nachricht von Mel. Schwing deinen Hintern hier runter, und entgifte bitte diesen Betrunkenen.

Na super. »Ich muss los«, sagte sie. »Finden Sie den Weg zum Wartezimmer allein?«

»Ja, danke.«

Sie wünschte, sie könnte bei ihm bleiben. Oder zumindest etwas Tröstendes sagen. Er sah so verloren und verwirrt und verängstigt aus. »Äh, gut. Ich wünsche Ihnen und Jonah das Allerbeste.« Wie lahm! Das Allerbeste was? Das beste Ergebnis einer Amputation? Die beste Art, mit einem kleinen Jungen umzugehen, der jetzt einarmig durchs Leben gehen musste? Fieberhaft dachte sie darüber nach, was sie noch sagen könnte, aber ihr fiel nichts Beruhigendes oder Ermutigendes ein.

Er sagte nichts, sondern nickte nur und fing an, das Formular auszufüllen.

Damit endete ihre Verbindung. So war es in der Notaufnahme immer – sobald der Notfall ans nächste Team weitergereicht worden war, waren der Patient und seine Familie Geschichte. Die Ärzte und Schwestern, die auf dieser Station arbeiteten, mochten gerade diesen Aspekt ihres Berufs. Reese hingegen war sich nicht so sicher. Manchmal wollte sie erfahren, wie die Geschichte weiterging.

Als sie im Fahrstuhl stand, fiel ihr Blick auf ihre Hand, und sie sah, dass sie noch die Tüte mit Calebs Kleidung hielt. Noch nie war sie so froh darüber gewesen, sich um die schmutzige Wäsche eines anderen kümmern zu müssen.

4. Kapitel

»Komm mit mir, Baby. Ich fahr dich direkt in den Himmel«, dröhnte der Betrunkene und klammerte sich an Reeses Hand. »Du bist eine verdammt scharfe Braut, jawohl, das bist du.«

Reese atmete den Duft von Mastisol ein. Sie hatte eine Ampulle geknackt und ein paar Tropfen des Klebstoffs als Geruchsblocker auf ihren Mundschutz geträufelt – den Trick hatte sie von einer Krankenschwester gelernt. »Alles wird gut, Mr. James. Ruhen Sie sich ein wenig aus. Hier sind die Anweisungen für Ihre Entlassung. Das Programm, über das wir gesprochen haben, kann Ihnen helfen, aber dazu müssen Sie auch hingehen. Ich sorge dafür, dass Sie später nach Hause gefahren werden.«

Er unterhielt sie mit einer schiefen Version von »Ride Sally Ride«, während sie sich die Hände wusch.

»Sie sind gut im Umgang mit ihm«, sagte die Schwester, die ihr assistiert hatte. »Nicht alle hier können ihn leiden.«

»Und seine Kotze sieht auf mir so ansprechend aus.« Reese nahm den Mundschutz ab, zog die Handschuhe und den Wegwerfkittel aus und warf alles in den Mülleimer. Selbst in Momenten wie diesen hasste sie die Notaufnahme nicht. Sie hasste es nicht einmal, Patienten wie Mr. James zu behandeln – Stammgäste, die es schafften, ihr Mitgefühl zu wecken, obwohl sie auf dem besten Weg waren, sich selbst zu zerstören. Tatsächlich hegte sie die Hoffnung, dass ein Typ wie er tatsächlich eines Tages clean sein würde. Es gab Dinge, die sie an der Erstversorgung liebte, und manchmal konnte sie nicht anders, als diese Momente mit den ermüdenden Stunden im OP zu vergleichen – das waren Schichten, die sie insgeheim nicht liebte.

Sie ließ Mr. James zurück und eilte zu ihrem Spind in der Mitarbeiterumkleide. Darin herrschte ein Chaos aus Lehrbüchern, Notizblöcken und Klemmbrettern voller Mitschriften. Dazu ein Knäuel aus Kabeln von verschiedenen Ladegeräten, ihr Schminktäschchen und Kleidung zum Wechseln. Sie warf einen Blick in den kleinen Spiegel auf der Innenseite der Spindtür. Ihre dunklen, kurzen Haare hingen in wilden Strähnen um ihr Gesicht, und die dunklen Ringe unter den Augen, die inzwischen schon ein Teil von ihr waren, ließen sie aussehen, als hätte sie zu lange Dienst geschoben. Mist. Sie wünschte, sie hätte Zeit, um vor dem Abendessen mit ihren Eltern nach Hause zu fahren und zu duschen. Sie traf sich mit ihren Eltern im Urban Farmer, einem der besten Restaurants der Stadt. Aber wie üblich war sie spät dran und würde sich mit einer Katzenwäsche auf der Damentoilette begnügen müssen.

Vor dem Waschbecken brachte sie ihre Haare in Ordnung und trug ein wenig Make-up auf, das so alt war, dass sie sich nicht mehr daran erinnern konnte, es gekauft zu haben. Ihr Arztkittel war von ihrer Begegnung mit Mr. James so verschmutzt, dass sie ihn zusammenknüllte und in die Tüte mit Calebs Sachen stopfte. Dabei fiel etwas mit einem leisen Klirren zu Boden: die Münze, die sie in der Notaufnahme gefunden hatte.

Schnell steckte sie die in ihre Tasche, strich sich dann den Rock glatt und wandte sich dem Spiegel zu, um einmal tief durchzuatmen. Sie fragte sich, ob andere Menschen bei der Aussicht auf ein Dinner mit den eigenen Eltern ebenfalls so nervös waren. Ob sie die Last der Erwartungen spürten, die ihr wie ein Gewicht auf der Brust lag. Es ist nur ein Abendessen, sagte sie sich.

Nur war es mit Hector und Joanna Powell nie nur ein Abendessen. Und auch heute war das elegante Dinner in dem beliebten Restaurant mehr als nur ein gemütliches Zusammensein. Sie wollten mit ihr über ihre Aussichten zur Aufnahme in eines der Eliteprogramme für ihre Assistenzzeit sprechen. Die Einsätze waren hoch, und ihre Eltern wollten sichergehen, dass sie dort landete, wo sie sie haben wollten. Reese konnte sich nicht erinnern, dass sie jemals gefragt worden war, ob sie mit den Plänen einverstanden war.

Auf dem Weg nach draußen lief sie Mel über den Weg, der gerade seinen Sohn begrüßte. Mit einem breiten Grinsen klatschte er mit dem Jungen ab.

»Sieh an, wer da von der Kinderbetreuung rübergekommen ist«, sagte Reese. »Wie war dein Tag, Frankie?«

Autor

Susan Wiggs
<p>Susan Wiggs hat an der Harvard Universität studiert und ist mit gleicher Leidenschaft Autorin, Mutter und Ehefrau. Ihre Hobbys sind Lesen, Reisen und Stricken. Sie lebt mit ihrem Mann, ihrer Tochter und dem Hund auf einer Insel im nordwestlichen Pazifik.</p>
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