Gefährlich süßes Sehnen

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Schock für Lady Rachel Westhampton: Ihre Kutsche wird von einem Wegelagerer gestoppt! Doch statt sie zu berauben, lässt die finstere Gestalt ihr eine Warnung zukommen: Ihr Gatte sei in Gefahr! Dieser Zwischenfall stürzt Rachel in tiefe Ratlosigkeit. Dann macht auch noch das Gerücht über eine angebliche Mätresse ihres Gemahls die Runde. Führt der Earl of Westhampton etwa ein heimliches Doppelleben? Schmerzlich wird Rachel bewusst, wie fern ihr der Mann ist, dem ihr Herz gehört. Dennoch reist sie ihrem Gatten entschlossen nach London nach – und gerät in den Sog von Intrigen und Gefahr ...


  • Erscheinungstag 03.08.2021
  • Bandnummer 57
  • ISBN / Artikelnummer 9783751503044
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Rachel lehnte sich in die weichen Samtpolster der Kutsche zurück und unterdrückte nur mit Mühe ein Seufzen. Sie warf einen Blick auf Gabriela, die es sich in der Ecke ihr gegenüber gemütlich gemacht hatte und schon lange eingeschlafen war. Wie sehr beneidete sie doch das Mädchen um den leichten, unbeschwerten Schlaf der Jugend!

Trotz des eintönigen und ermüdenden Dahinratterns der Kutsche war es ihr bisher nicht gelungen, ebenfalls Schlaf zu finden. Sie vermochte das seltsame Gefühl der Vorahnung, ja, der Panik nicht abzuschütteln, das sie gequält hatte, seitdem sie am gestrigen Morgen aus Westhampton abgereist waren. Als Michael ihr in die Kutsche geholfen hatte, war in ihr der dringende Wunsch aufgestiegen, sich zu ihm umzudrehen und ihm mitzuteilen, sie habe sich nun doch dazu entschlossen, ihre Reise noch ein weiteres Mal zu verschieben.

Aber natürlich war das nicht möglich gewesen. Sie hatte ihre Abfahrt bereits um drei Tage hinausgezögert und musste Gabriela nun unbedingt zu ihrem Vormund zurückbringen. Schließlich wurde die junge Dame sehnsüchtig in Darkwater erwartet.

Ein lauter Ruf, der draußen vor der Kutsche ertönte, riss Rachel aus ihren Gedanken. Sie zog neugierig den Vorhang ein wenig beiseite und schaute hinaus. Doch außer der düsteren Abenddämmerung und den Ästen einiger in der Nähe stehender Bäume, die sich undeutlich gegen das graue Licht abhoben, war nichts zu erkennen. Dann vernahm sie einen Ausruf des Kutschers, und für einen Augenblick schwankte das Gefährt gefährlich hin und her. Gleich darauf hörte sie einen ohrenbetäubenden Schuss aus einer Pistole. Mit einem entsetzten Aufschrei zog sie hastig den Vorhang wieder zu.

Die Stimme des Kutschers war deutlich zu verstehen, als er versuchte, die Pferde zu beruhigen und zum Stehen zu bringen. Schließlich hielten sie mit einem Ruck auch wirklich an. Rachel konnte sich gerade noch an der Lederschlaufe neben ihrem Sitz festklammern. Ihr gegenüber stieß Gabriela überrascht einen leisen Schrei aus und stürzte ungraziös nach vorn auf den Boden. Nachdem sie sich mühsam wieder aufgerichtet, hingesetzt und notdürftig ihren Rock glatt gestrichen hatte, guckte sie ihr Gegenüber aus großen Augen an.

„Was war das?“, flüsterte das Mädchen ängstlich. „Ist etwas passiert?“

„Ich weiß es nicht.“ Rachel gab sich die größte Mühe, ihre Furcht nicht allzu deutlich zu zeigen. Ihr fiel überhaupt kein triftiger Grund für den Schuss ein. Warum hatte der Kutscher die Pferde so abrupt anhalten lassen? Handelte es sich vielleicht gar um einen Überfall von Straßenräubern? Das konnte doch wohl kaum der Fall sein, denn gewöhnlich traf man solche Wegelagerer nicht so weit von London entfernt an – es lohnte sich nämlich nicht, hier im Norden des Landes auf die so selten vorüberfahrenden Kutschen zu warten.

Als nun draußen aufgebrachte Stimmen ertönten, ballte sie nervös die Hände zusammen. Ich muss tapfer sein, dachte sie, schließlich bin ich jetzt für Gabriela verantwortlich. Sie versuchte sich vorzustellen, was ihre Schwägerin Miranda in einer solchen Situation tun würde – oder ihre Freundin Jessica, die den Mut einer Soldatentochter besaß. Würden sie sich der Gefahr tollkühn stellen? Sie vermochte jedenfalls den verzweifelten Wunsch nicht zu unterdrücken, dass Michael sich doch entschlossen hätte, sie nach Darkwater zu begleiten, und nun hier neben ihr sitzen würde. Bestimmt hätte er ihr allein durch seine ruhige Präsenz Mut gemacht.

Der Kutschenschlag wurde aufgerissen, und eine schwarz gekleidete Gestalt stieg ein. Rachel gab sich alle Mühe, sich nichts von ihrer Angst anmerken zu lassen. Es ist ja bloß ein kleiner Mann, dachte sie erleichtert. Nur die düstere Kleidung und das Halstuch, das er sich über die untere Hälfte des Gesichts gezogen hatte, ließen ihn furchterregend wirken. Sie würde ihm einfach ihr Geld überlassen; damit würde er bestimmt zufrieden sein und bald wieder abziehen. Der Vorfall würde vorüber sein, noch ehe jemand zu Schaden gekommen war – das hoffte sie zumindest inbrünstig.

Die Blicke des Mannes schweiften über den schwarzen Schal hinweg durch das Innere der Kutsche. Dann richteten sie sich auf Rachel. Er schaut ja fast so verblüfft aus, wie ich mich fühle, stellte sie überrascht fest.

„Also …“, sagte er etwas dümmlich und zog das Tuch herunter, um sein ganzes Gesicht zu zeigen. „Wo ist er?“

Rachels Furcht wurde merklich geringer, als sie seine Miene sah, die in ihrer Verwirrung beinahe komisch wirkte. „Verzeihen Sie?“, fragte sie, wobei sie beruhigt feststellte, dass ihre Stimme ziemlich kühl und gelassen klang.

„Der Earl“, erklärte der Mann. „Das ist schließlich seine Kutsche, oder etwa nicht? Ich habe doch sein Zeichen an der Tür gesehen.“

„Das hier ist Lord Westhamptons Kutsche“, erwiderte sie und war nun noch verwirrter als zuvor. „Und sein Wappen ist tatsächlich am Schlag zu erkennen, wenn Sie das meinen.“

„Genau, das ist er – der Earl of Westhampton. Den suche ich.“

„Dann sind Sie hier aber leider am falschen Ort. Lord Westhampton weilt augenblicklich auf seinem Gut.“

Der Besucher schwieg einen Moment, während er diese Nachricht verdaute. „Sind Sie seine Frau?“, fragte er nach einer Weile.

„Ja, ich bin Lady Westhampton“, gab Rachel zu.

„Gut. Dann können Sie Ihrem Mann ja eine Nachricht von mir übermitteln.“

„Eine Nachricht?“ Sie wurde das seltsame Gefühl nicht los, sich mitten in einem Theaterstück zu befinden, in dem alle ihren Text kannten – nur sie nicht.

„Genau. Sagen Sie ihm, der Rote Geordie schickt sie. Er soll sich in Acht nehmen. Es gibt da jemanden, der ihm nichts Gutes will.“

Rachel starrte den Mann an. „Wie bitte?“

„Ich glaube, er ist auf der richtigen Fährte, und das gefällt ein paar Leuten nicht. Man munkelt, dass man ihm an den Kragen will.“ Er nickte kurz, als ob er mit seiner Erklärung zufrieden wäre.

Rachel blinzelte verwirrt. Sie begriff überhaupt nichts und wusste nicht, was sie antworten sollte. Was hatte dieser Kerl mit ihrem Mann zu tun? Kannte er ihn denn? Irgendwie konnte sie sich das nicht vorstellen.

Der Eindringling grinste auf einmal. „Verzeihen Sie, aber ich muss irgendetwas mitnehmen. Für die Jungs, wissen Sie.“ Er wies mit dem Kinn in Rachels Richtung. „Die Ohrringe da wären genau das Richtige.“

Sie schüttelte entsetzt den Kopf und bedeckte die Schmuckstücke sogleich mit den Händen. „Oh nein! Nicht die! Die sind von meinem Mann. Er hat sie mir zu unserer Hochzeit geschenkt.“

Der Räuber dachte einen Moment nach. „Nun, wenn das so ist … Ich möchte Seine Lordschaft natürlich auf keinen Fall verärgern.“

„Wie wäre es mit Geld?“, schlug sie vor und holte einen kleinen Geldsack mit Goldmünzen aus ihrem Retikül. Den hielt sie ihm mutig entgegen.

Der kleine Mann grinste erneut und nahm die Beute in Empfang. Er öffnete hastig das Säckchen und spähte hinein. „Das sollte reichen, Mylady.“

Respektvoll zog er die Mütze. „Wie ich sehe, sind Sie genauso mutig wie Seine Lordschaft. Hat mich gefreut, mit Ihnen ins Geschäft zu kommen, Madam.“ Er nickte auch Gabriela zu, die wie zu Eis erstarrt in ihrer Ecke saß. „Ich wünsche Ihnen beiden noch einen angenehmen Abend.“

Mit diesen Worten zog er sich wieder das Tuch bis über die Nase. Dann drehte er sich gelenkig um, öffnete den Kutschenschlag, sprang leichtfüßig in die Dämmerung hinaus und warf die Tür hinter sich ins Schloss.

Nachdem er verschwunden war, starrten sich Rachel und Gabriela eine Weile verblüfft an. Draußen waren wieder undeutlich Stimmen zu vernehmen. Ein Pferd wieherte, und kurz darauf konnten sie hören, wie mehrere Leute davonritten.

„Was in alles in der Welt …“, begann Gabriela, deren Augen noch immer weit aufgerissen waren.

„Ich habe nicht die leiseste Ahnung“, entgegnete Rachel ehrlich.

Wieder wurde der Schlag geöffnet, doch diesmal zeigte sich zum Glück nur das besorgte Gesicht des Kutschers, der zu ihnen hereinschaute. „Geht es Ihnen gut, Mylady? Miss?“

„Ja, bei uns ist alles in Ordnung, Daniel. Es ist Gott sei Dank nichts Schlimmes passiert.“

„Sie waren zu viert, Madam – und bewaffnet. Jenks und ich hielten es für das Beste, uns ihnen nicht entgegenzustellen. Wir wollten Sie und die junge Dame auf keinen Fall in Gefahr bringen. Seine Lordschaft würde mich vierteilen lassen, wenn Ihnen etwas zugestoßen wäre.“

„Sie haben völlig richtig gehandelt“, versicherte ihm Rachel, auch wenn sie natürlich wusste, dass der Kutscher absichtlich übertrieb. Michael war ein ausgesprochen vernünftiger Mann, der es seinen Bediensteten niemals zum Vorwurf machen würde, eine vollkommen aussichtslose Situation nicht gemeistert zu haben. „Westhampton würde bestimmt nicht wollen, dass Sie Ihr Leben oder das unsere unnötig aufs Spiel setzen. Am besten fahren wir jetzt sofort nach Darkwater weiter, Daniel.“

„Selbstverständlich, Mylady.“ Der Kutscher nickte ehrerbietig und schloss dann leise die Tür hinter sich.

Sie hörten, wie er wieder auf seinen Sitz hinaufkletterte, und kurz darauf setzte sich das Gefährt in Bewegung. Rachel guckte zu ihrem Mündel hinüber.

„Ist alles in Ordnung, Gabriela?“

„Oh ja!“ Das Mädchen nickte. „Es war doch sehr aufregend, nicht wahr?“

„Etwas zu aufregend – für meinen Geschmack“, erwiderte Rachel trocken.

„Ja, vielleicht“, gab Gabriela zu, ohne sich jedoch ganz überzeugt anzuhören. „Ich habe noch nie zuvor einen echten Straßenräuber gesehen.“

„Für mich war es auch das erste Mal.“

„Haben Sie ihn denn nicht gekannt? Er schien jedenfalls Onkel Michael zu kennen. Ist das nicht höchst merkwürdig?“

„Doch“, stimmte Rachel zu. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, wo oder wie er Michaels Bekanntschaft gemacht haben will …“

Sie hatte ihren Mann bisher nicht als jemanden eingeschätzt, der mit Wegelagerern Umgang pflegte. Hätte es sich um ihren Bruder Devin gehandelt, mit dem der Kerl angeblich zu tun haben wollte, wäre das etwas anderes gewesen. Dann hätte sie ihm seine Behauptung sofort abgenommen. Bis zu seiner Ehe mit Miranda hatte Devin viele zwielichtige Gestalten gekannt. Aber Michael? Die Idee war schlicht und einfach lächerlich.

Michael war ein ruhiger, stiller Mann. Liebenswürdig, verantwortungsbewusst, zuverlässig und großzügig – der Inbegriff eines echten Gentleman. Seine Familie gehörte zu den ältesten und angesehensten des ganzen Landes, und im Gegensatz zu seinem Vater hätte Michael niemals etwas getan, was diesen altehrwürdigen Namen beschmutzen könnte.

Am liebsten hielt er sich auf seinem Landgut auf, wo er sich um die verschiedenen Renovierungsarbeiten am Haupthaus und den anliegenden Nebengebäuden kümmerte oder die neuesten Erfindungen für die Landwirtschaft und den Gartenbau ausprobierte. Er korrespondierte mit Männern, die ähnliche Interessen hatten wie er und entweder als Gentlemanfarmer auf riesigen Plantagen in den Vereinigten Staaten von Amerika lebten oder als Gelehrte in Oxford, Cambridge oder einer Universität auf dem Kontinent tätig waren. Er stellte also kaum den Typ von Mann dar, der mit Straßenräubern verkehrte oder dem eine Warnung vor einer drohenden Gefahr zugestellt werden musste. Michael begab sich in keine gefährlichen Situationen – dafür hätte Rachel ihre Hand ins Feuer gelegt.

Was hatte der kleine Kerl noch einmal gesagt? Dass Michael „auf der richtigen Fährte“ sei und dass ihm jemand „an den Kragen“ wolle? Welcher Sache könnte er denn auf der Spur sein? Und wer war sein angeblicher Gegner?

Rachel konnte sich eigentlich nicht vorstellen, dass ihr Mann überhaupt einen einzigen Feind besaß. Wenn er einmal mit jemandem eine Auseinandersetzung hatte, so verlief diese stets in einem überaus höflichen Rahmen. Meist handelte es sich sowieso um einen Disput über ein gelehrtes Thema, das kaum einem Menschen bekannt war und noch viel weniger die Leute so interessierte, dass sie darüber in Streit gerieten.

Einmal hatte ihn jemand als zu ehrbar und deshalb geradezu langweilig bezeichnet. Aber das war bei Weitem das Schlimmste, dessen er je bezichtigt worden war. Und selbst diese Schwäche war wohl kaum aufreizend genug, um eine derartige Drohung für begründet zu halten.

„Es ist einfach lächerlich“, sagte Rachel. „Michael hat keinen einzigen Feind auf der Welt. Der Mann muss sich geirrt haben.“

Ihr Blick richtete sich auf Gabriela, die noch immer sehr nachdenklich wirkte. Das arme Kind war für seine jungen Jahre schon viel zu häufig dem Tod begegnet. Gabrielas Eltern waren gestorben, als sie erst acht gewesen war. Daraufhin war sie bei ihrem Großonkel aufgewachsen, bis auch dieser im vergangenen Jahr dahinschied. So war sie mit vierzehn Jahren zu einem neuen Vormund, dem Herzog von Cleybourne – einem alten Freund ihres Vaters – gelangt und hatte dort Rachel kennengelernt, mit deren älteren Schwester Caroline der Herzog verheiratet war. Caroline hatte jedoch zusammen mit ihrer Tochter bei einem tragischen Kutschenunfall ihr Leben lassen müssen. Rachel war weiterhin eng mit Cleybourne befreundet geblieben und hatte sich oft Sorgen um ihn gemacht. Sie befürchtete, dass er nach dem Verlust seiner Liebsten in ein schwarzes Loch des Trübsinns stürzen würde, aus dem er nicht mehr herausfinden könnte.

Doch dann war Gabriela zum letzten Weihnachtsfest nach Schloss Cleybourne gekommen. Sie hatte ihre Gouvernante Jessica Maitland, eine rothaarige Schönheit, mitgebracht, die ebenfalls eine tragische Vergangenheit besaß. Jessica und der Herzog verliebten sich stürmisch ineinander, doch selbst die darauf folgende, für alle Beteiligten so glückliche Zeit wurde von einem grausamen Tod überschattet. Ein Mörder fand Zugang in das Schloss und tötete einen Gast. Auch Jessica entkam nur knapp einem Anschlag.

Es war also keineswegs verwunderlich, dass Gabriela trotz ihrer Begeisterung über das kleine Abenteuer, das sie soeben gut überstanden hatten, die Warnung des Fremden ernst nahm – mochte sie auch noch so vage gewesen sein. Das junge Mädchen hatte die letzten zwei Monate bei Michael und Rachel verbracht, um so dem Herzog und seiner neu angetrauten Gattin ungestörte Flitterwochen zu ermöglichen. Lord und Lady Westhampton waren ihr während dieser Zeit sehr ans Herz gewachsen.

Rachel streckte die Hand aus und fasste nach der Gabrielas, um sie beruhigend zu drücken. „Mach dir keine Sorgen, Gaby. Ich bin mir sicher, dass es sich um eine Verwechslung handelt. Er kann nicht Michael gemeint haben. Keiner würde Lord Westhampton etwas Böses wünschen. Es hat bestimmt nichts mit ihm zu tun. Auf welcher richtigen Fährte sollte er denn sein? Auf der einer politischen Idee? Oder einer wissenschaftlichen Entdeckung? Handelt es sich vielleicht um eine neue Methode der Weizenernte? Das sind wohl kaum Themen, weshalb man jemandem gleich an den Kragen will.“

Gabriela vermochte nun ein Lächeln nicht mehr zu unterdrücken, und ihre besorgte Miene hellte sich sichtbar auf. „Sie haben recht. Wer könnte irgendetwas gegen Onkel Michael haben?“ Auch sie drückte Rachels Hand. „Sie müssen sich sehr glücklich schätzen, ihn zum Ehemann zu haben – es gibt wohl kaum einen liebenswürdigeren Menschen als ihn.“

Viele dachten dasselbe – das wusste Rachel. Ihr Gatte trug einen angesehenen Namen, war sehr wohlhabend und gehörte zu den besten Familien Englands. Das allein war für die meisten bereits genug, um ihr zu einer solchen Ehe zu gratulieren.

Aber Michael war noch dazu umsichtig und warmherzig. Er stattete sie großzügig mit einer reichhaltigen Garderobe aus und gab ihr auch sonst genügend finanzielle Freiheiten. Obgleich er selbst das Leben auf dem Land vorzog, zwang er sie nicht dazu, es ihm nachzutun. Sie konnte, so lang es ihr gefiel, die Zeit in ihrem eleganten Londoner Stadthaus verbringen, dort Empfänge und Feste veranstalten und sich überhaupt als hochgeschätzte Gastgeberin präsentieren. Sie besaß viele Freunde und Bewunderer und wurde als eine der größten Schönheiten des ton gefeiert. Kurz gesagt: Ihr Leben war vollkommen – falls man davon absah, dass ihre Ehe eine reine Täuschung war.

In ihrer Ehe gab es keine Liebe. Sie führten getrennte Leben, hatten noch nie das Bett miteinander geteilt und niemals Worte der Leidenschaft ausgetauscht. Leider trug es nichts zu Rachels Selbstwertgefühl bei, zu wissen, dass dieser Zustand allein ihre Schuld war.

Sie lächelte ihre junge Begleiterin an und hoffte, dass diese nicht merkte, wie bedrückt sie plötzlich war. „Ja“, stimmte sie zu und lehnte sich seufzend in die Polster zurück. „Ich bin wirklich sehr glücklich, Lady Westhampton zu sein.“

Vor der Fassade von Darkwater brannten so viele Fackeln, dass das schöne Anwesen hell erleuchtet wurde. Es verdankte seinen Namen einem kleinen See ganz in der Nähe, der so schwarz wie die Nacht war; doch das Haus war aus hellem Kalkstein erbaut worden, der im Sonnenlicht von Derbyshire manchmal beinahe golden schimmerte. Im Dunkeln konnte man die anmutige Fassade und die jahrhundertealten Fenster mit den eleganten Mittelpfosten nicht recht erkennen, sondern nur die undeutliche Silhouette des großen Gebäudes ausmachen. Aber Rachel war hier aufgewachsen und kannte das ganze Gebäude sehr genau. Sie öffnete den Kutschenschlag, noch ehe das Gefährt richtig zum Stehen gekommen war, und lehnte sich hinaus, um zum Haus hinüberzuschauen.

Jenks sprang eilfertig vom Bock herab und zog sogleich das Treppchen heraus, damit die beiden Damen mit seiner Hilfe aussteigen konnten. In diesem Moment flog die Haustür auf, und zwei Lakaien eilten mit Kerzen heraus, um für Rachel und Gabriela den Weg zu beleuchten.

„Lady Westhampton!“ Ein Mann mittleren Alters, der die Livree eines Butlers trug, hastete ihnen ebenfalls entgegen. „Es freut mich, Sie wieder einmal in Darkwater willkommen heißen zu dürfen. Wir haben Ihre Ankunft bereits seit gestern erwartet.“

„Hallo, Cummings.“ Rachel lächelte den Diener, der hier schon seit ihrer Kindheit in Diensten stand, freundlich an. „Darf ich Ihnen Miss Gabriela Carstairs vorstellen? Miss Carstairs ist das Mündel des Herzogs von Cleybourne.“

Der Butler verbeugte sich tief. „Darf ich auch Sie auf Darkwater willkommen heißen, Miss Carstairs? Der Herzog und die Herzogin freuen sich bereits sehr darauf, Sie wieder zu sehen. Ach, da sind sie ja schon.“

Ohne auf die Regeln der Schicklichkeit zu achten, kamen ihnen ihre Gastgeber trotz der kühlen Abendluft mit raschen Schritten entgegen. Zuerst erschienen eine große, atemberaubend schöne rothaarige Frau und ein ernsthaft wirkender Mann; beide strahlten vor Freude. Ihnen folgte ein zweites Paar – eine hübsche, schwangere Frau und ein auffallend attraktiver Mann. Ganz zuletzt rannte ein Mädchen herbei, das etwa in Gabrielas Alter war.

„Gaby!“ Die neue Herzogin von Cleybourne öffnete die Arme, um ihren Schützling zu begrüßen. Sie war sechs Jahre lang Gabrielas Gouvernante gewesen, ehe sie den Herzog geheiratet hatte, und betrachtete das Mädchen deshalb fast als ihre eigene Tochter.

„Miss Jessica!“ Gabriela warf sich in ihre Arme und drückte sich fest an sie. Als sie sich nach einer Weile wieder von ihrer früheren Gouvernante löste, wandte sie sich dem Herzog zu und lächelte ihn ein wenig schüchtern an. „Euer Gnaden.“

Auch er lächelte, wodurch sich sein meist ernstes Gesicht merklich aufhellte. „Hast du es schon vergessen, Gabriela?“, fragte er freundlich. „Ich dachte, wir hätten ausgemacht, auf die Formalitäten zu verzichten.“

„Onkel Richard“, verbesserte sie sich mit einem Knicks. Als auch er die Arme ausstreckte, trat sie zu ihm, um ihn ebenfalls zu begrüßen – wenn ihre Umarmung diesmal auch zurückhaltender ausfiel.

Der Herzog und seine Gattin wandten sich daraufhin Rachel zu, die in der Zwischenzeit von dem anderen Paar – ihrem Bruder Devin, dem Earl of Ravenscar, und seiner Frau Miranda – willkommen geheißen worden war. Freudig wurde auch sie von den Cleybournes begrüßt, und dann stellte der Herzog dem Earl und der Countess sein neues Mündel vor.

„Und außerdem“, fuhr Richard fort und lächelte Gabriela liebenswürdig an, „gibt es da noch jemanden, der sich schon sehr auf dein Eintreffen gefreut hat. Lady Ravenscars Schwester, Miss Veronica Upshaw, ist gerade bei uns zu Besuch. Sie ist genau in deinem Alter. Im letzten Monat wurde sie fünfzehn. Veronica …“

Das angesprochene Mädchen trat ein paar Schritte vor und lächelte Gabriela schüchtern an. Mit ihren hellbraunen Haaren und blauen Augen war auch sie auffallend hübsch, obwohl sie Miranda überhaupt nicht ähnlich sah. Rachel wusste, dass sie die Stiefschwester ihrer Schwägerin war und es keinerlei Blutsverwandtschaft zwischen den beiden gab. Veronica war die Tochter der Frau, die Mirandas Vater geheiratet hatte, als Miranda selbst noch ein junges Mädchen gewesen war. Mr. und Mrs. Upshaw verbrachten inzwischen die meiste Zeit in London, weshalb man es für das Beste hielt, Veronica auf Devins Landgut leben zu lassen. Sie würde sowieso in einigen Jahren, wenn sie ihr gesellschaftliches Debüt gab, genug Zeit in der Metropole verbringen.

Rachel musste lächeln, als sie daran dachte, dass die beiden Mädchen wahrscheinlich im selben Jahr ihr Debüt geben würden. Der ton, sinnierte sie erheitert, wird vermutlich unter dem doppelten Angriff der attraktiven jungen Damen ganz schön aus dem Gleichgewicht gebracht werden. Sie nahm sich schon jetzt vor, auf keinen Fall auch nur einen einzigen Ball zu versäumen.

Lachend und plaudernd gingen alle ins Haus. Die Mädchen zogen sich sogleich in Veronicas Zimmer zurück; sie freuten sich ganz offensichtlich beide, endlich jemanden in ihrem Alter gefunden zu haben. Die zwei Paare kehrten währenddessen gemeinsam mit Rachel ins Musikzimmer zurück, wo sie sich schon aufgehalten hatten, bevor die Kutsche mit den Neuankömmlingen eingetroffen war.

Als Erstes erkundigten sie sich nach der Reise. Rachel antwortete mit gespielter Gelassenheit. „Es lief alles sehr gut – wenn man einmal davon absieht, dass wir von einem Straßenräuber angehalten worden sind.“

Alle vier starrten sie für einen Moment fassungslos an. Dann sprang Devin, der ein hitziges Temperament besaß, auf. „Wie bitte? Was soll das heißen? Machst du einen schlechten Scherz?“

„Nein, ganz und gar nicht. Es war ein recht eigenartiger Zwischenfall.“

„Eigenartig nennst du das?“, rief ihr Bruder. „Das ist wohl kaum der richtige Ausdruck für ein solches Verbrechen.“

„Oh doch, durchaus. Wenn du dabei gewesen wärst, wüsstest du, warum.“

„Rachel! Warum hast du uns nicht sofort davon erzählt?“, wollte Miranda aufgeregt wissen. Sie erhob sich schwerfällig und eilte zu ihrer Schwägerin. „Geht es dir gut? Dir ist doch nichts angetan worden?“

„Nein, nein. Man hat mich nur um etwas Geld erleichtert – das ist alles. Er hat mir nicht einmal gedroht.“

„Was zum Teufel hat er denn hier oben verloren gehabt?“, fragte Cleybourne. „Hast du schon einmal von diesem Kerl gehört, Devin?“

„Nein, mir ist noch nichts über ihn zu Ohren gekommen. Ich kann mir auch kaum vorstellen, dass es sich lohnt, sich hier in Derbyshire auf Straßenraub zu verlegen.“

„Ich bin mir gar nicht sicher, dass es ihm um das Geld ging. Er gab mir zu verstehen, dass er den Beutel nur nahm, um seine Kumpane zufriedenzustellen. Damit sie keinen Verdacht schöpfen würden.“

„Was soll das denn heißen? Verdacht?“ Devin sah seine Schwester misstrauisch an. „Nimmst du uns auf den Arm?“

„Ganz und gar nicht. Ich habe doch gesagt, dass es sehr merkwürdig war. Er schien – nun, vermutlich dachte er, dass sich Michael in der Kutsche befinden würde. Er erklärte mir, dass er das Familienwappen am Schlag gesehen hätte, auch wenn ich keine Ahnung habe, ob er eigens auf unsere Kutsche gewartet hat. Woher konnte er wissen, dass wir dort zu diesem Zeitpunkt vorbeifahren würden? Vielleicht war er auch auf dem Weg nach Westhampton und traf uns nur zufällig.“

„Ein Straßenräuber wollte nach Westhampton und Michael treffen? Aber wozu?“, warf Miranda kopfschüttelnd ein.

„Er sagte, dass er ihn warnen wolle. Er bat mich, Michael diese Nachricht zu überbringen – dass jemand ihm Böses antun wolle, weil er auf der richtigen Fährte sei, und man beabsichtige, ihn davon abzuhalten.“

Wieder schwiegen die vier eine Weile. Anscheinend wusste keiner so recht, was er von der ganzen Geschichte halten sollte.

„Bist du dir sicher, dass du ihn richtig verstanden hast?“, fragte Devin schließlich.

„Natürlich. Du kannst dich bei Gabriela erkundigen, wenn du mir nicht glaubst; sie war schließlich auch dabei. Genau das hat er gesagt. Dann entschuldigte er sich dafür, dass er etwas mitnehmen müsse, um es wie einen echten Überfall aussehen zu lassen. Zuerst wollte er meine Smaragdohrringe, doch als ich protestierte und erklärte, dass Michael sie mir zur Hochzeit geschenkt habe, nahm er stattdessen meine volle Geldbörse. Und dann ist er verschwunden.“

„Verzeihung“, meldete sich nun Jessica zu Wort. „Ich kenne Lord Westhampton nicht so gut wie ihr anderen. Aber was kann der Mann denn gemeint haben?“

„Ich habe keine Ahnung“, erwiderte ihre Freundin. „Ich hatte eigentlich gehofft, dass Richard oder Devin etwas wüssten oder sich einen Reim darauf machen könnten. Hat es vielleicht mit irgendetwas zu tun, was ihr vor uns Frauen geheim halten wollt? Vor allem vor mir, um mich nicht zu beunruhigen?“

„Ich habe wirklich nicht die geringste Ahnung“, antwortete ihr Bruder und schaute sie verwirrt an. „Wenn ich ein Geheimnis wüsste, dann hätte ich es sowieso nicht lange für mich behalten können, denn Miranda hätte es sicher aus mir herausgekitzelt.“ Er warf seiner Frau einen zärtlichen Blick zu, die ihn daraufhin verschmitzt anlächelte.

„Vielleicht handelt es sich eine Art Geheimcode“, meinte sie dann. „Westhampton hat mir einmal erzählt, dass er Rätsel besonders gern mag.“

„Das stimmt.“

„Der Bursche muss verrückt gewesen sein. Ich kann mir nichts anderes vorstellen“, warf Richard ein. „Am besten schicken wir Westhampton eine Depesche und teilen ihm den ganzen Vorfall mit. Vielleicht versteht zumindest er, worum es geht.“

„Ja, du hast recht“, stimmte Rachel zu. „Ich schreibe ihm noch heute Abend einen Brief.“

„Ich werde einen der Lakaien gleich morgen früh zu ihm schicken“, versicherte ihr Devin. „Bestimmt handelt es sich um ein Missverständnis, aber wir sollten es ihn dennoch wissen lassen.“

Später am selben Abend saß Lady Westhampton an einem kleinen Sekretär in ihrem Zimmer und schrieb an ihren Mann. Sie teilte ihm mit, was der Fremde ihm hatte ausrichten lassen, und stellte dazu auch selbst noch ein paar Fragen. Devin vertraute seinem Kammerdiener die Depesche an, damit sie am nächsten Morgen in aller Frühe bereits mit einem der besten Pferde des Guts Michael überbracht werden konnte. Der Earl sollte so rasch wie möglich von der Geschichte erfahren, damit er dementsprechend reagieren konnte.

Doch selbst das Wissen, dass sie alles getan hatte, um ihren Mann zu warnen – falls die Worte des Straßenräubers doch der Wahrheit entsprechen sollten –, ließ Rachel keine Ruhe finden. Während sie sich zum Schlafengehen fertigmachte und ihr Haar löste, kehrte sie in Gedanken immer wieder zu den Ereignissen an diesem Abend zurück. Sie fühlte sich tief verunsichert. Plötzlich kam ihr alles, was mit Michael zu tun hatte, höchst eigenartig und unerklärlich vor.

Sie und ihr Mann waren nicht einmal annähernd so eng miteinander verbunden, wie das Devin und Miranda zu sein schienen. Es bestand keine Vertrautheit zwischen den Eheleuten, wie sie erst durch Liebe und Leidenschaft entstehen konnte. Dennoch hatte sie bisher immer angenommen, dass sie Michael gut kannte. Sie wusste, welche Themen ihn interessierten und welches Essen er mochte. Sie konnte die Namen seines Schneiders und seines Stiefelmachers nennen, die Klubs aufzählen, in denen er verkehrte, und kannte die meisten seiner Freunde und sogar einige seiner Briefkorrespondenten.

Aber das Zusammentreffen mit diesem Straßenräuber, der aus einer anderen Welt für einen Moment in der ihren aufgetaucht war, ließ sie auf einmal an allem zweifeln. Wie gut kannte sie Michael wirklich? Der Mann, von dem der Rote Geordie gesprochen hatte, schien ein ganz anderer zu sein als der Westhampton an ihrer Seite. Es war ein Mensch, der in etwas Bedrohliches, etwas Gefährliches verwickelt war, einer, den man warnen musste. Jemand, der mit einem Straßenräuber verkehrte …

Immer wieder versuchte sie sich einzureden, dass sich der seltsame kleine Kerl getäuscht haben musste, dass er nicht ihren Mann, sondern einen anderen gemeint hatte. Doch er hatte behauptet, die Krone auf der Kutsche erkannt zu haben. Er hatte ihn Westhampton genannt – oder war doch sie es gewesen, die den Namen zuerst erwähnt hatte, und er hatte ihn nur aufgegriffen?

Vielleicht stimmte auch, was die anderen gesagt hatten – dass der Eindringling verrückt gewesen war. Oder es handelte sich um irgendeinen befremdlichen Scherz. Weder ihr Bruder noch Richard hatte irgendetwas gewusst; sie hatten beide genauso im Dunkeln getappt wie sie. Und der Herzog war mit Michael schon lange befreundet gewesen, ehe Rachel ihren zukünftigen Mann kennengelernt hatte. Richard würde doch bestimmt etwas darüber wissen, wenn Michael mit Straßenräubern verkehrte …

Und dennoch … Sie wurde den Gedanken nicht los, dass sie ihn als seine Ehefrau am besten von allen kennen sollte. Musste sie sich wirklich auf das Wissen anderer verlassen, wenn es um Michael ging? Sie war sich sicher, dass Miranda – in einer vergleichbaren Lage – genau im Bilde gewesen wäre, worauf sich Devin eingelassen hatte.

Seufzend setzte sie sich vor ihren Toilettentisch und begann, ihre Haare zu bürsten. Dabei betrachtete sie aufmerksam ihr Bild im Spiegel. Ich bin noch immer eine attraktive Frau, dachte sie. Ihr schwarzes Haar war so kräftig wie früher, und verliebte Verehrer schrieben weiterhin Gedichte über ihre geheimnisvollen grünen Augen. Sie hatte die schlanke Figur ihrer Jugend bewahrt, und in ihrem Gesicht zeigte sich nicht einmal die Andeutung eines Fältchens. Mit siebenundzwanzig war sie schließlich auch noch jung genug!

Für einen Moment hielt sie beim Bürsten inne und musterte sich noch eingehender. Hatte sie sich seit jenem Tag, als sie Michael kennengelernt hatte, eigentlich verändert? Äußerlich kaum, doch in ihrem Inneren hatte sich vieles gewandelt – das wusste sie.

Unwillkürlich verkrampften sich die Finger, mit denen sie die Bürste hielt. Sie hatte geheiratet, wie das von ihr erwartet worden war – von der Gesellschaft und von ihrem Vater. Doch indem sie ihre Pflicht erfüllte, hatte sie alle Hoffnungen und ihre Träume ihrer Jugend aufgegeben. Sie hatte sich die Sehnsucht ihres Herzens versagt. Konnte es etwas Schlimmeres, etwas Peinigenderes geben?

Rachel konnte sich noch lebhaft an den Schmerz erinnern, den ihre Entscheidung damals bewirkt hatte. Doch ihr war nichts anderes übrig geblieben – das war ihr auch heute noch bewusst. Ihr Vater hatte recht gehabt: Wäre sie nicht Michaels Frau geworden, hätte es für ihre Familie und für sie selbst einen Skandal ohnegleichen gegeben. Es hätte ihren Ruin bedeutet. Auch für Michael, der mit der ganzen Angelegenheit gar nichts zu tun gehabt hatte, wäre es sehr peinlich gewesen.

Sie hatte richtig gehandelt. Doch dadurch hatte sie auch ihr innerstes Wesen, ihr Herz auf ewig dem Unglück, der Verzweiflung überantwortet. Sie hatte Lord Westhampton geheiratet und damit für immer auf den Mann verzichten müssen, den sie in Wahrheit geliebt hatte.

2. KAPITEL

Rachel erinnerte sich noch so deutlich, als ob es gestern geschehen wäre, an jenen Abend, als sie Michael zum ersten Mal getroffen hatte. Es war auf einem Ball gewesen, den Lady Wetherford gegeben und der sich als eine höchst langweilige Angelegenheit erwiesen hatte. Die halbe Londoner Gesellschaft hatte sich bei ihr eingefunden, auch wenn Rachel heute nicht mehr wusste, wer alles dabei gewesen war. Die Gastgeberin hatte ihr und ihrer Mutter Lord Westhampton vorgestellt – einen großen, blonden Mann, der mehrere Jahre älter als sie war und auf eine etwas vage Weise als gut aussehend bezeichnet werden konnte. Er trug eine unauffällige, aber makellose dunkle Kleidung, die zur Gelegenheit formell ausgezeichnet passte, aber keinerlei Aufmerksamkeit auf sich zog. Er entsprach also ganz dem Bild eines vollkommenen englischen Gentleman, der er schließlich auch war.

Doch Rachel achtete kaum auf ihn, sondern lächelte ihn nur auf oberflächliche Weise freundlich an, denn an jenem Abend war das Glücksgefühl in ihr so stark gewesen, dass sie kaum zu etwas anderem als zu einem Lächeln in der Lage schien. Sie wechselten einige höfliche Worte über das Wetter, den gut besuchten Ball und die Oper, die sie am Tag zuvor gesehen hatte.

Während sie miteinander sprachen, waren ihre Sinne jedoch ganz darauf gerichtet gewesen, jenen Mann im Saal ausfindig zu machen, den sie bei jedem gesellschaftlichen Anlass gesucht hatte und der auch an diesem Abend der Grund für ihr großes Glück war. Sie erinnerte sich an jene Stunden nämlich nicht Michaels wegen so genau, sondern weil es dieselbe Nacht gewesen war, in der ihr Anthony Birkshaw endlich gestanden hatte, dass er sie liebte.

Selbst jetzt umspielte ein leichtes Lächeln Rachels Lippen, wenn sie daran dachte.

Sie war neunzehn gewesen und hatte sich gerade mitten in ihrer ersten Saison befunden. Ihr gesellschaftliches Debüt hatte ein Jahr später als geplant stattgefunden, da ihre Familie wie so oft in finanziellen Schwierigkeiten gesteckt hatte. Cleybourne, der Mann ihrer älteren Schwester, hatte ihrer Mutter genügend Geld gegeben, damit Rachel im folgenden Jahr ihren Auftritt im Londoner ton haben konnte.

Das junge Mädchen war sich der Verantwortung durchaus bewusst, die es für seine Familie besaß. Es musste sein Bestes geben, um so rasch wie möglich unter die Haube zu kommen und seiner Familie pekuniär unter die Arme greifen zu können. Nur wenige erwarteten, dass sie ebenso erfolgreich wie ihre Schwester Caroline sein würde, die einen Herzog geheiratet hatte und somit in die höchsten Adelskreise vorgestoßen war, bevor sie einen frühen Tod gefunden hatte. Doch Rachel verfügte sowohl über die markanten Gesichtszüge der Aincourts als auch über eine sehr umgängliche Natur; außerdem gehörte ihre Familie zu den besten des Landes, was leider keinen Einfluss auf ihre finanzielle Lage gehabt zu haben schien. Es wurde also allgemein angenommen, dass auch sie eine gute Partie machen würde.

Rachel stellte ihre Rolle bei diesen Plänen niemals infrage. Schließlich wurden auf diese Weise schon jahrhundertelang Ehen in ihrem Stand geschlossen. Natürlich gab es nicht mehr die vorher vereinbarten Hochzeiten wie früher, als eine Ehe hauptsächlich eine Allianz zwischen zwei Familien darstellte, die ihren Wohlstand und ihre Macht mehren sowie ihre politische Vorrangstellung sichern wollten. Manchmal war sich das Paar nicht einmal vor dem eigentlichen Hochzeitstag begegnet.

Doch auch jetzt noch vermählte sich die Aristokratie nicht aus Liebe, wie ihr die Mutter schon von Kindheit an eingetrichtert hatte. Der Adel heiratete, um das Wohl der gegenwärtigen und der zukünftigen Familie zu erhalten oder zu fördern.

Im Fall der Aincourts bedeutete das vor allem, dass man sich mit jemandem verband, der wohlhabend oder sogar reich war. Über Generationen hinweg hatten die Earls of Ravenscar Geld gewonnen und wieder verloren. Es hatte sich um immer größere Summen gehandelt, die ihnen zwischen den Fingern zerflossen waren. Nie hatten sie es geschafft, ihr Gold zu vermehren.

Der Grund dafür – wie Rachels engstirniger und abergläubischer Vater vermutete – lag in einem Papistenfluch, mit dem der erste Earl of Ravenscar belegt worden war, als ihm während der Auflösung der Klöster die Abtei Branton Abbey von seinem Freund und Gönner Heinrich VIII. für seine Treue und Ergebenheit geschenkt worden war. Edward Aincourt, Lord Ravenscar, hatte das Kloster abreißen lassen und die Steine dazu benutzt, einen Familiensitz zu bauen. Der Abt von Branton musste – so wollte es die Legende – aus der Abtei getragen werden, da er sich weigerte, sie freiwillig zu verlassen. Draußen belegte er den Earl und alle seine Nachkommen mit einem Fluch, indem er verkündete, dass „keiner, der hinter diesen Mauern lebt, jemals glücklich werden wird“.

Ob man es tatsächlich für die Folge dieses Fluchs oder ganz einfach für den Charakter einer Familie halten sollte, die zu stolz und verschwenderisch war, um ihr Geld zusammenzuhalten, sei dahin gestellt. Es traf jedoch zu, dass es selten einen Aincourt gegeben hatte, der in Herzens- oder pekuniären Angelegenheiten eine glückliche Hand besessen hatte.

Es herrschte allerdings allgemein die Ansicht, dass die Aincourts zumindest ihr attraktives Aussehen zu ihren Gunsten zu nutzen verstanden. Sie waren meist groß, elegant und verfügten über schöne Gesichtszüge, was es ihnen ermöglichte, ihr Vermögen immer wieder durch günstige Heiraten aufzustocken – auch wenn es andere Stimmen gab, die behaupteten, dass es vielleicht gerade dieses Geschenk der Natur sei, das sie dazu verdammte, die Prophezeiung ihres Unglücks auch zur Wirklichkeit werden zu lassen.

In dieser Generation der Aincourts war das fehlende Geld wieder zu einem echten Problem geworden. Den Earl, einen bigotten Mann mit strengen moralischen Prinzipien, hatte seine Religiosität nicht dazu angehalten, auch ein asketisches Leben zu führen. Er schätzte das gute Leben und erwarb gern schöne Gegenstände, wie das schon sein Vater getan hatte. Das führte natürlich dazu, dass der Familienbesitz noch rascher schwand als gewöhnlich.

Da sich der Earl mit seinem einzigen Sohn Devin, dem Erben des Titels und des Vermögens, soweit es noch vorhanden war, zerstritten hatte, wurde allgemein von den Töchtern erwartet, für die Familie zu sorgen. Devin hatte sich bereits in früher Jugend einem Leben hingegeben, das sein Vater als heidnisch und zügellos verurteilte; er hatte sich in eine verheiratete Frau verliebt und geweigert, jemand anderen als sie zu ehelichen.

Rachel als eine pflichtbewusste Tochter ging also davon aus, den Mann heiraten zu müssen, den ihr Vater für gut befand. Insgeheim vermochte sie allerdings trotzdem nicht den sehnlichen Wunsch zu unterdrücken, jemanden zu finden, mit dem sie sich nicht nur aus vernünftigen Überlegungen verband, sondern auch aus Liebe, wie das ihrer Schwester Caroline gelungen war. Es war allseitig bekannt, dass der Herzog von Cleybourne seine Frau abgöttisch verehrte, und auch sie schien seine Gefühle zu erwidern.

Rachel hatte jedenfalls vor, wenigstens ihre Zeit auf dem Heiratsmarkt zu genießen. Es war herrlich, neue Kleider tragen zu dürfen, die speziell für ihr Debüt geschneidert worden waren. Sie liebte es, auf Feste, Bälle und Soireen zu gehen, sich Theaterstücke und Opern anzuschauen und sich all den anderen Vergnügungen zu überlassen, die London einem Mädchen, das den Großteil seines bisherigen Lebens in einem verfallenen Schloss in Derbyshire verbracht hatte, zu bieten hatte.

Ihr Debüt stellte sich als ein grandioser Erfolg heraus. Plötzlich bestand ihr Leben aus einem wahren Wirbelwind von gesellschaftlichen Auftritten, die jeden außer einem vitalen jungen Ding in kürzester Zeit erschöpft hätten. Sie wurde zu „Almack’s“ eingeladen, wo ihre Tanzkarte wenige Minuten nach ihrer Ankunft bereits voll geschrieben war. Für jeden Ball erhielt sie mehrere Ansteckblumen von hoffnungsvollen Verehrern, unter denen sie wählen konnte, und auch zu Hause riss der Strom der interessierten jungen Männer nicht ab.

Doch Rachel besaß nur Augen für einen. Sie lernte Anthony Birkshaw nach Ablauf der ersten beiden Wochen in London kennen. Sobald sie ihn erblickt hatte, wusste sie, dass dies der Mann ihrer Träume war. Er war nur wenige Jahre älter als sie und zeigte sich so offen und ehrlich, dass sie sich sogleich von ihm angezogen fühlte. Seine vollen Haare waren dunkelbraun und fielen ihm in Locken in die Stirn. Und seine Augen … Für Rachel waren es die Augen eines Dichters, groß und braun und umrahmt von dichten schwarzen Wimpern.

Das größte Wunder jedoch bestand darin, dass auch er ebenso von ihr angetan war wie sie von ihm. Natürlich zeigte er das nicht so offensichtlich, wie das Jasper Hoskins tat, der gleich zwei Mal hintereinander mit ihr tanzte – was sich eigentlich nur für den Verlobten eines Mädchen schickte –, um danach mit betontem Interesse immer wieder in ihre Richtung zu gucken, ohne eine andere Frau zum Tanz aufzufordern. Anthony benahm sich korrekt und höflich. Er plauderte und tanzte mit allen, anstatt sich allein auf Rachel zu kaprizieren und sie so in eine kompromittierende Lage zu bringen.

An jenem Abend waren sie nach einem gemeinsamen Walzer langsam miteinander durch den Ballsaal spaziert, und da hatte Anthony ihr seine Liebe gestanden. Für die restlichen Stunden schienen ihre Füße kaum den Boden zu berühren, so überglücklich war sie gewesen.

Sie verbrachte den restlichen Sommer in einem Zustand der schwindelerregenden Verliebtheit. Da sich junge, unverheiratete Mädchen fast immer in Begleitung von Anstandsdamen befanden, war Rachel kaum jemals einen Moment allein mit Anthony. Ihre Liebe zehrte von Blicken, Träumereien und Walzern.

Manchmal traf sie ihn wie zufällig, wenn sie gemeinsam mit ihrer Zofe zur öffentlichen Bibliothek ging, wo sie ihre wieder entdeckte Begeisterung für Romane mit neuer Nahrung versorgte. Wenn er ihr einen Blumenstrauß schicken ließ, nahm sie ihn mit in ihr Bett, bis die Blüten zu welken begannen. Dann presste sie die zarten Gebilde sorgfältig zwischen den Seiten schwerer Bücher, um sie so für immer aufheben zu können.

Hier und da gelang es Rachel und Anthony auch, sich bei einem großen Ball für einige Augenblicke gemeinsam davonzustehlen. Sie verloren sich nach einem Tanz oder während eines Mitternachtsumtrunks in der Menge und entschwanden in eine verborgene Ecke des Gartens oder in eine kleine Nische im Haus. Dort konnten sie sich gegenseitig ihre Gefühle gestehen und die Erregung teilen, die sie jedes Mal verspürten, wenn sie einander sahen. Manchmal tauschten sie sogar einen hauchzarten Kuss miteinander aus. Rachel lebte nur für diese Momente.

Sie war so sehr mit ihrer Liebe zu Anthony beschäftigt, dass sie kaum wahrnahm, wie häufig Lord Westhampton sie zu Hause besuchte oder zum Tanz bat. Ihre Liebe bedeutete ihr so viel, dass sie ihren anderen Verehrern kaum noch Aufmerksamkeit schenkte; Michael jedoch hatte sie bisher sogar noch nicht einmal in diese Schar eingereiht. Er war fast zehn Jahre älter als sie und ein Freund ihres Schwagers Cleybourne, weshalb sie ihn selbstverständlich zum Kreis um den Herzog und die Herzogin zählte.

Da Rachel und ihre Familie während der Saison im Haus der Cleybournes lebten, weil ihr eigenes Londoner Anwesen vor einigen Jahren verkauft worden war, erschien es ihr keineswegs ungewöhnlich, dass des Herzogs Freund häufig zu Besuch kam oder an bestimmten Ausflügen teilnahm. Westhampton gehörte nicht zu jenen Verehrern, die sich bei gesellschaftlichen Anlässen um sie scharrten, ihr ein Glas Punsch brachten, einen fallen gelassenen Handschuh aufhoben oder sie zum Dinner begleiten durften.

Wäre sie älter oder weniger naiv gewesen, hätte sie verstanden, dass gerade seine Abwesenheit bei solchen Anlässen ihren Eltern seine ernsten Absichten verdeutlichten. Er war zu überlegt und zu ernsthaft, um sich denjenigen anzuschließen, die sie mit ihrer Gunst verfolgten. Westhampton war kein Mann, der flirten und bewundern wollte; er war ein Mann, der zu heiraten beabsichtigte.

Rachel dachte nicht viel über ihn nach, doch wenn sie es getan hätte, wäre sie zu dem Schluss gelangt, dass sie ihn mochte. Er war ein stiller Mann und ein guter Zuhörer, und wenn sie einen kleinen Fauxpas beging oder eine törichte Bemerkung machte, lächelte er liebenswürdig und bemühte sich sogleich darum, ihr aus der peinlichen Lage herauszuhelfen.

Da sie ihn nicht zum Kreis ihrer Verehrer zählte, stand sie auch nicht unter dem Zwang, besonders charmant oder geistreich wirken zu müssen, wie das bei den anderen jungen Männern der Fall war. Obwohl sie an keinem außer an Anthony interessiert war, galt es als Zeichen des gesellschaftlichen Erfolgs einer Frau, wenn sie viele Bewunderer in ihrer Nähe hatte. Deshalb musste sie sich auch darum bemühen, ihre Verehrer bei Laune zu halten. Sie musste betören, ohne aufdringlich zu wirken, Esprit zeigen und anmutig auf alle Scherze eingehen, ohne einen von ihren Galanen zu vertreiben oder zu bevorzugen.

Bei Westhampton fiel es ihr leichter, offen zu sprechen. Sie machte sich keine Gedanken darüber, ob er sie mochte oder nicht oder ob sie dem Bild entsprach, das die Gesellschaft von ihr haben sollte. Sie ging einfach genauso mit ihm um, wie sie sich gegenüber allen Freunden ihrer Geschwister verhielt – zwanglos und kameradschaftlich. Es dauerte nicht lange, bis sie verstand, dass Lord Westhampton genau der Richtige war, an den sie sich wenden konnte, wenn sie etwas Bestimmtes über die Etikette oder den ton erfahren wollte.

Eines Tages im Juli jedoch ließ ihr Vater sie und ihre Mutter zu sich in die Bibliothek rufen. Rachels Herz begann rascher zu klopfen, und ihre Wangen röteten sich vor Aufregung. Eine solche Aufforderung zum Gespräch bedeutete immer, dass etwas Wichtiges geschehen war. Sie dachte sogleich an Anthony Birkshaw. Er musste bei ihrem Vater um ihre Hand angehalten haben! In der unbedarften Unschuld einer Verliebten fiel ihr nichts anderes ein.

Lord Ravenscar stand hinter einem Tisch in der Bibliothek und schaute eindrucksvoll und bedrohlich zugleich aus; Rachel hatte Angst vor ihm – wie das schon seit Kindertagen der Fall gewesen war. Der Earl besaß keinerlei Sinn für Humor und verstand seine Kinder genauso wenig, wie er sie liebte. Er sah sie sowieso kaum außer am Sonntag, wenn die Familie gemeinsam in die Dorfkirche zum Gottesdienst gehen und danach eine lange Bibellesung des Vaters ertragen musste. Diese Gelegenheiten nahm der Patriarch zum Anlass, die große Bedeutung der kirchlichen Grundsätze zu betonen und seine Kinder nach ihren Sünden in der vergangenen Woche zu fragen. In seiner Vorstellung gehörte sich für Kinder nichts anderes, als dem Vater zu gehorchen und sich ihm ganz und gar zu fügen; jegliche Revolte gegen ihn wurde sogleich im Keim erstickt.

Rachel als die Jüngste der drei Geschwister hatte miterlebt, zu welch schrecklichen Auseinandersetzungen es zwischen dem Earl und seinem Ältesten gekommen war. Die Streitereien erreichten ihren Höhepunkt, als Ravenscar Devin aus dem Haus warf und verkündete, ihn nicht mehr sehen zu wollen. Seitdem hatte sie ihren geliebten Bruder bis zu jenem Sommer nicht mehr zu Gesicht bekommen. Der schmerzliche Verlust, den diese erzwungene Trennung für sie bedeutete, und die Erinnerung an das rot angelaufene, vor Zorn verzerrte Gesicht ihres Vaters hatten sich ihr für immer eingebrannt.

Es war ihr selbst gelungen, sich aus solchen unangenehmen Zwistigkeiten herauszuhalten, indem sie ihrem Vater, so gut wie möglich, auswich und ihm niemals direkt widersprach. Sie offenbarte ihm nichts von dem, was in ihr vorging, und hielt auch sonst vieles geheim.

An jenem Tag vor sieben Jahren jedoch hatte ihr Vater ihr zufrieden entgegengelächelt. „Nun, Rachel“, begrüßte er sie munter. „Ich vermute, du weißt, warum ich dich heute zu mir habe kommen lassen.“

„Ich … Ich glaube schon“, antwortete sie ein wenig zögernd. Sie hatte eigentlich nicht angenommen, dass sich ihr Vater so sehr über Anthonys Antrag freuen würde. Natürlich wusste sie kaum etwas über seine finanzielle Lage, aber er war der jüngste Sohn eines jüngeren Sohnes, was bedeutete, dass er – auch wenn er einer angesehenen Familie angehörte – niemals einen Titel oder viel Vermögen besitzen würde. Und diese beiden Tatsachen würden dem Earl of Ravenscar bestimmt nicht behagen.

„Das kann ich mir gut vorstellen“, fuhr er in altväterlicher Weise fort. „Lord Westhampton ist wirklich ein guter Fang. Natürlich kein Herzog wie der Mann deiner Schwester …“ Er kicherte selbstzufrieden. „Aber trotzdem nicht schlecht. Mit Titel, Ländereien und einer Familie, die sich bis auf Wilhelm den Eroberer zurückverfolgen lässt. Ja, ich bin wirklich glücklich, dass du Westhampton so gut gefällst. Er hat natürlich ein sehr großzügiges Angebot gemacht, auch wenn wir noch nicht über alle Einzelheiten gesprochen haben. Selbstverständlich möchte er dich persönlich fragen, ob du seine Frau werden willst. Aber ich denke, dass wir deine Antwort bereits kennen – nicht wahr?“

„Lord … Lord Westhampton?“, stammelte Rachel. Ihre Lippen waren plötzlich blutleer geworden, und in ihren Ohren hatte es zu dröhnen begonnen. Für einen schrecklichen Moment befürchtete sie, in Ohnmacht zu fallen. „Lord Westhampton hat um meine Hand angehalten?“

„Ja, das habe ich doch gerade gesagt.“ Ihr Vater warf ihr einen misstrauischen Blick zu. „Warum fragst du? Hast du etwa an jemand anderen gedacht? Hast du einem anderen deine Zuneigung geschenkt?“ Seine Stimme klang mit jedem Wort bedrohlicher.

„Unsinn“, vernahm Rachel ihre Mutter und spürte, wie eine Hand auf ihren Arm gelegt wurde. „Natürlich hat sie ihre Zuneigung niemand anderem geschenkt. Wahrscheinlich ist sie einfach nur davon überwältigt, dass ein so bedeutender Mann wie Lord Westhampton von ihr angetan sein soll. Das würde jeder bescheidenen jungen Frau so ergehen. Wie Sie bereits erwähnten – er ist ein großartiger Fang, vor allem für ein so unschuldiges Ding wie unsere Rachel.“

„Zweifelsohne haben Sie recht“, erwiderte Ravenscar, der sich nicht vorstellen konnte, dass seine jüngste Tochter den Mut aufbringen würde, sich ihm zu widersetzen.

Ihre Mutter, die ihre Nägel tief in die Haut ihrer Tochter grub, erklärte ihrem Gatten eilig, dass sie und Rachel sich sofort darüber unterhalten müssten, wie sie sich für Westhamptons Antrag kleiden und dabei verhalten sollte. Entschlossen drängte sie das Mädchen zur Tür, sodass Lord Ravenscar allein zurückblieb und sich dazu gratulieren konnte, bald einen weiteren respektablen Schwiegersohn in seiner Familie zu haben. Er ging nämlich davon aus, dass sich dies nicht zuletzt als eine Konsequenz aus seiner eigenen Bedeutsamkeit ergeben musste.

„Was denkst du dir eigentlich, Kind?“, fuhr Lady Ravenscar ihre Tochter an, sobald sie den Damensalon erreicht hatten. Sie schloss resolut die Tür hinter sich. „Du hast mich vielleicht erschreckt! Ich habe schon befürchtet, dass dein Vater mein Manöver durchschaut. Hat dich diese Mitteilung denn wirklich derart überrascht? Westhampton hat Cleybourne House doch den ganzen Sommer über besucht.“

„Das schon, aber als ein Freund des Herzogs. Ich dachte …“

Ihre Mutter seufzte ungeduldig. „Und ich habe mir eingebildet, du würdest ein geschicktes Spiel mit ihm treiben! Nun gut, noch ist nichts verloren. Zweifelsohne nahm er an, dass du bescheiden und unschuldig bist. Verliebte Männer sind zum Glück große Narren. Jetzt gibt es viel zu planen. Er wird bestimmt noch heute Nachmittag vorsprechen, um mit dir unter vier Augen zu reden. Wir müssen also entscheiden, was du trägst. Vielleicht kann Caroline dir ihre Lucy überlassen, damit sie dir das Haar frisiert. Du musst einfach … Einfach schön aussehen, ohne dass er vermutet, du wüsstest bereits, weshalb er kommt.“

„Aber Mama!“ In ihrer Panik nannte Rachel ihre Mutter so, wie sie es seit ihrer Kindheit nicht mehr getan hatte. Eigentlich war diese Frau viel zu kalt und unnahbar, um einen so warmen Namen zu verdienen. „Ich kann Lord Westhamptons Antrag nicht annehmen. Ich …“

Ihre Mutter starrte sie offenen Mundes an, und Rachel wusste für einen Moment nicht, was sie eigentlich hatte sagen wollen.

„Bist du wahnsinnig geworden?“ Lady Ravenscars Stimme überschlug sich förmlich. „Was soll das heißen – du kannst seinen Antrag nicht annehmen?“ Sie holte tief Luft. „Nein, das darf doch nicht wahr sein! Hatte dein Vater etwa doch recht? Hast du deine Zuneigung einem anderen geschenkt? Mein Gott, Mädchen, was hast du getan?“ In ihrer zornigen Miene spiegelte sich jetzt auch Angst wider. „Erzähl mir bloß nicht, dass du dich einem Mann hingegeben hast!“

„Nein!“, rief ihre Tochter entsetzt. „Wie können Sie das glauben? Ich habe niemals … er würde nie …“

„Gut.“ Lady Ravenscar entspannte sich etwas. „Dann ist also nichts geschehen, worüber man sich ernsthaft Gedanken machen müsste. Wer ist dieser Mann? Ich habe nichts von einer solchen Verbindung bemerkt.“

„Es ist Mr. Birkshaw. Anthony Birkshaw. Aber er hat nichts Ungehöriges getan. Er hat sich vielmehr vollkommen korrekt und schicklich verhalten. Niemals hätte er es zugelassen, dass man über mich redet, weil er mir offen den Hof macht.“

„Birkshaw!“ Der verblüffte Blick ihrer Mutter verwandelte sich in blankes Entsetzen. „Anthony Birkshaw! Dieses verarmte Bürschchen? Er hat es gewagt, um deine Zuneigung zu buhlen? Oh Rachel, wie konntest du nur so töricht sein? Was hast du ihm gesagt? Hast du ihm versprochen …? Aber nein … Niemand würde das Versprechen eines unbedarften Mädchens als bindend betrachten, wenn der Mann nicht den Schneid oder die Höflichkeit besitzt, zuerst um eine Unterhaltung mit dem Vater zu ersuchen.“

„Er hat nicht um meine Hand angehalten“, beteuerte ihre Tochter. „Ich sage doch, Anthony – ich meine, Mr. Birkshaw hat sich völlig korrekt benommen. Wir haben uns nichts versprochen und nichts getan, was als unschicklich angesehen werden könnte. Das schwöre ich dir. Aber … Aber ich liebe ihn, und ich weiß, dass er meine Gefühle erwidert. Ich glaubte heute, dass Vater uns in die Bibliothek kommen ließ, weil er bei ihm vorstellig geworden wäre.“

Ihre Mutter betrachtete sie inzwischen mit einem gewissen Mitleid. „Mein liebes Kind, du nimmst doch nicht im Ernst an, dass Ravenscar eine solche Verbindung gut geheißen hätte? Mr. Birkshaw hätte niemals seine Erlaubnis erhalten, dir einen Heiratsantrag zu machen. Er hat kein Geld. Keine Aussichten. Sein Vater ist der dritte Sohn von Lord Moreston. Es gibt fast nur männliche Nachkommen in dieser Familie. Damit Anthony den Titel erbt, müsste die Pest ausbrechen. Und selbst dann wäre er nur ein Baron. Ich kann gar nicht begreifen, wie dieser Mann glauben konnte, in der Position zu sein, der Tochter eines Earls den Hof zu machen.“

„Ich vermute, er hat sich nicht viel um Vaters Titel geschert“, entgegnete Rachel mit mehr Schärfe als gewöhnlich. „Er hat sich schließlich in mich verliebt.“

„Dann ist er wirklich ein Trottel, und du bist auch nicht besser.“ Lady Ravenscar schüttelte fassungslos den Kopf. „Du schlägst dir solche dummen Gedanken am besten ganz schnell wieder aus dem Kopf. Verschwende deine Zeit nicht mit einer hoffnungslosen Romanze. Heute Nachmittag nimmst du Westhamptons Antrag an – und zwar ohne dabei unglücklich zu wirken. Wir wollen schließlich nicht, dass er Zweifel bekommt.“

Rachel krampfte sich das Herz zusammen. „Aber, Mutter, wie kann ich seinen Antrag akzeptieren? Ich liebe ihn doch nicht! Ich kenne ihn kaum! Und ich … liebe einen anderen.“

„Das muss er doch nicht wissen“, erwiderte Lady Ravenscar. „Außerdem ist es sowieso das Beste, wenn du nicht mehr an Mr. Birkshaw denkst. Dein Vater würde es niemals gestatten, dass du dich an einen solchen Mann verschwendest. Ich kann es kaum fassen, dass du wirklich so töricht warst und einem Mittellosen dein Herz geschenkt hast!“

„Er ist nicht mittellos.“

„Ach, was verstehst du schon von solchen Dingen!“ Ihre schöne Mutter schaute Rachel kalt an. „Glaubst du, irgendeine von uns hat aus Liebe geheiratet? Oder dass wir unsere Gatten gekannt haben, ehe wir uns mit ihnen verlobten? Sei versichert, dass dies weder bei mir noch bei deiner Schwester der Fall war.“

„Aber Caroline und Richard lieben sich doch.“

„Deine Schwester war klug genug, nicht ihr Herz zu verschenken, bevor sie nicht ihre Hand vergeben hatte“, antwortete Lady Ravenscar ungerührt. „Ich begreife gar nicht, wie du so dumm sein konntest. Du bist doch immer die Einsichtigste gewesen – diejenige, die sich vernünftig verhalten hat. Gehorsam.“ Sie seufze empört auf. „Warum glaubst du eigentlich, sind wir hierher nach London gekommen? Dein Vater musste seinen ganzen Stolz herunterschlucken und sich von Cleybourne Geld leihen, um dir diese Saison zu ermöglichen. Du hast von Anfang an gewusst, worum es geht. Du bist dir von Anfang an im Klaren gewesen, was man von dir erwartet.“

„Ja, schon, aber …“ Tränen schimmerten in Rachels Augen. Die Traumwelt, in der sie den ganzen Sommer über gelebt hatte, zerbrach plötzlich in tausend Scherben. Sie sah nun, wie töricht es gewesen war, anzunehmen, dass der Mann, in den sie sich verliebt hatte, auch ihren Eltern als Gatte gefallen würde. Ohne vernünftig zu überlegen, hatte sie gehofft, dass sie alles haben konnte – eine erfüllte Liebe und die Zustimmung ihrer Eltern für eine Ehe mit eben diesem Mann.

„Ich kann nicht!“, rief sie verzweifelt aus. „Ich kann Lord Westhampton nicht heiraten, wenn ich einen anderen liebe.“

„Doch, das kannst du, und das wirst du auch tun.“ Lady Ravenscars Stimme klang sehr bestimmt. „Es tut mir leid, dass du so einfältig warst, dein Herz mit ins Spiel zu bringen. Offensichtlich war ich nicht wachsam genug. Ich habe diese närrische Romanze nicht bemerkt, denn sonst hätte ich sie schon im Keim erstickt. Aber ich werde mich jetzt umso mehr darum bemühen, diesen Fehler wieder gutzumachen. Ich werde dem Butler sofort mitteilen, dass du nicht länger für Mr. Birkshaw zu sprechen bist.“

„Nein!“ Diese Worte trafen Rachel wie ein Messerstich mitten ins Herz. „Mutter, Sie können nicht …“

Ihre Mutter guckte sie kalt an. „Wenn es sein muss, werde ich Vater davon erzählen, und dann wird er sich darum kümmern.“

„Nein!“

Die Vorstellung, dass ihr Vater Anthony anschreien und ihn des Hauses verweisen könnte, erfüllte sie mit großem Entsetzen. Lord Ravenscar besaß ein schreckliches Temperament. Man konnte nicht wissen, was er Anthony sagen oder ihm sogar antun würde. Es hätte sie nicht einmal überrascht, wenn er mit dem Stock auf den jungen Mann losgegangen wäre.

„Du wirst die ganze Angelegenheit vergessen“, fuhr ihre Mutter mit eisiger Stimme fort. „Ich weiß, dass es dir so vorkommt, als ob die Welt untergehen würde, aber dieses Gefühl ist nicht von Dauer. Jungen Mädchen gelingt es immer, die erste Verliebtheit zu verschmerzen. In ein paar Wochen, wenn du angefangen hast, deine Eheschließung zu planen und dein Hochzeitskleid anzuprobieren, wirst du auf diese Romanze zurückblicken und begreifen, wie dumm sie gewesen ist.“

„Nein“, entgegnete Rachel mit tränenerstickter Stimme. „Das werde ich bestimmt nicht tun.“

„Du musst es aber, denn ich kann dir versichern, dass du Mr. Birkshaw nicht heiraten wirst. Du kannst den besten Antrag, den du erhalten wirst, von mir aus ablehnen, aber mit ihm wirst du dich trotzdem nicht vermählen. Wenn du nur eine Minute ruhig darüber nachdenkst, wirst du auch verstehen, warum Mr. Birkshaw bisher noch nicht um deine Hand angehalten hat. Er weiß, dass er keine Chance hat. Ich vermute, dass er kaum genug Geld besitzt, um sich selbst ausreichend zu versorgen, geschweige denn eine Gattin. Ich nehme auch an, dass er ebenso wie du eine gute Partie machen muss. Vielleicht war er sogar dumm genug, zu glauben, dass du Geld hast.“

„Es geht uns nicht um Geld!“, rief Rachel. „Wir lieben uns!“

„Das mag schon sein, aber es ist trotzdem eine hoffnungslose Liebe“, erwiderte ihre Mutter gnadenlos. „Dein Vater und ich werden es dir niemals erlauben, ihn zu ehelichen. Wenn du töricht genug sein solltest, Lord Westhampton dieses Wahnsinns wegen abzuweisen, kann ich dir garantieren, dass du das dein Leben lang bereuen wirst.“

Nun vermochte Rachel nicht länger die Tränen zurückzuhalten. Sie begann laut zu weinen, sank geschlagen auf einen Sessel nieder und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Ihre Mutter betrachtete sie für einen Moment verärgert und holte dann ein Taschentuch hervor, um es ihrer Tochter zu reichen.

„Weine nur“, sagte sie. „Und wenn du genug geweint hast, legst du dir ein feuchtes Tuch auf die Augen, damit sie nicht anschwellen. Du kannst heute Nachmittag Lord Westhampton schließlich nicht mit roten Augen empfangen.“

„Ich kann ihn nicht heiraten“, wiederholte Rachel schluchzend. „Das würde meinen Tod bedeuten.“

„Unsinn! Ich schwöre dir, das wird es nicht. Du bist nicht das erste junge Mädchen, das meint, so leidenschaftlich verliebt zu sein, und du wirst auch nicht das letzte sein. Es hat noch niemanden umgebracht, das kannst du mir glauben. Wenn du dich natürlich gegen eine Zukunft als Lady Westhampton entscheiden solltest – gegen einen Gatten, der dich bewundert und dir jeden Wunsch von den Augen ablesen wird, gegen den Besitz der zwei schönsten Anwesen Englands und gegen eine Unmenge von Kleidern und Juwelen …“

Lady Ravenscar brach mit einem Seufzer ab. „Nun, wir können dich nicht dazu zwingen, seinen Antrag anzunehmen, auch wenn ich mir gar nicht vorzustellen wage, was dein Vater dazu sagen wird. Es würde an ein Wunder grenzen, wenn es mir gelingen sollte, ihn davon abzuhalten, sofort außer sich vor Zorn mit uns nach Darkwater zurückzureisen. Das wäre dann wirklich das Ende all deiner Hoffnungen. Aber vielleicht verhält er sich auch vernünftig und begreift, dass du bei anderen Männern noch eine Chance hast – auch wenn natürlich keiner eine so gute Partie wie Lord Westhampton darstellt. Hoffentlich bekommst du vor Saisonende noch einen akzeptablen Antrag, denn danach werden wir bestimmt aufs Land zurückkehren, wo wir unser Leben in Armut weiterführen.“

Rachel überlegte voll Entsetzen, was es für sie bedeuten würde, während der Saison in London verzweifelt versuchen zu müssen, einen Mann für sich zu gewinnen, wenn ihr in Wahrheit vor Liebeskummer das Herz zerbrach.

„Mutter, ich kann nicht …“

„Du hast also vor, dein restliches Leben als alte Jungfer zu verbringen? Es wird für dich keine Gelegenheit mehr geben, heiratswillige Männer kennenzulernen. Wir können uns für dich keine zweite Saison in London leisten, und ich kann dir garantieren, dass dein Vater auch nichts mehr für dich tun wird, wenn du ihm jetzt nicht gehorchst.“

Ein kalter Schauder lief dem Mädchen über den Rücken, als es an den schrecklichen Zorn des Vaters dachte. Bisher war Rachel niemals in die Schusslinie geraten, wenn Lord Ravenscar einen seiner berüchtigten Wutausbrüche bekam.

„Mutter, bitte …“

„Ich kann dir nicht helfen, Kind. Du hast die Wahl – entweder kommst du deiner Pflicht für unsere Familie nach, nimmst Lord Westhamptons Antrag an und führst ein angenehmes, bequemes Leben, oder du weigerst dich und lebst bei uns, bis wir sterben. Danach könntest du wohl bei deiner Schwester Caroline wohnen, wenn alles gut geht.

Für den Moment würde ich allerdings erst einmal vorschlagen, dass du dich ausruhst. Ich werde das Mädchen mit Gurkenscheiben und einem feuchten Tuch für deine Augen hochschicken. Aber ich möchte, dass du dir überlegst, was mit uns geschehen wird, wenn du Lord Westhampton nicht heiratest. Ich will, dass du an diese Saison denkst und an all das, was wir für dich getan haben, um dir ein gutes Heiratsangebot und ein angenehmes Leben zu ermöglichen.

Wenn du dir das alles hast durch den Kopf gehen lassen, dann entscheide, ob du deiner Familie wirklich diese Schande antun willst. Ob du tatsächlich deine Pflichten so leichtfertig in den Wind schlagen willst. Vergiss nicht, was du uns als unsere Tochter schuldig bist. Und ich bin mir sicher, dass du nach diesen Überlegungen die richtige Entscheidung treffen wirst.“

Selbst jetzt – nach all den Jahren, die seither vergangen waren – konnte Rachel, wenn sie ihre Augen schloss, noch den tiefen Schmerz nachempfinden, den sie damals verspürt hatte. In einem Zustand völliger Benommenheit war sie blindlings in ihr Zimmer gestolpert und hatte sich aufs Bett geworfen. Dort hatte sie so lange geweint, bis sie vor Erschöpfung und Verzweiflung kaum mehr einen Ton herausbrachte.

Das Mädchen, das zu ihr geschickt worden war, hatte sich die größte Mühe gegeben, ihre Tränen zu trocknen und sie zu beruhigen, doch lange Zeit war jegliche Anstrengung vergeblich. Als das Schluchzen seltener wurde, legte die Hausangestellte ihr ein kaltes Tuch auf die Augen, damit sie wieder abschwollen.

Rachel lag regungslos da und sann über die Dinge nach, die ihr die Mutter ins Gedächtnis gerufen hatte. Sie verstand nun voll Bitterkeit, wie töricht sie gewesen war, wie sehr sie in einer Traumwelt gelebt hatte. Sie stellte sich die Leere eines eingesperrten Lebens in Darkwater vor, wo sie auf immer und ewig den Launen ihres Vater ausgesetzt sein und wo man sie bestimmt ständig daran erinnern würde, wie undankbar sie sich erwiesen und wie sehr sie ihre Familie im Stich gelassen hatte.

Ohne die Einwilligung ihres Vaters konnte sie Anthony nicht heiraten, und sie erkannte, dass ihre Mutter recht hatte – ihr Vater würde ihr diese Einwilligung niemals erteilen. Anthony wäre für ihre Eltern stets der Mann, der die Aussichten ihrer Tochter, einen wohlhabenden Gatten zu bekommen, zerstört hatte.

Voll Verzweiflung musste sie einsehen, dass ihre Mutter wohl auch recht hatte, was seine finanzielle Lage betraf. Lady Ravenscar kannte sich in solchen Angelegenheiten aus. Das erklärte auch, weshalb er trotz seines Liebesgeständnisses noch nicht bei ihrem Vater vorstellig geworden war. Er wusste, dass sein Antrag abgelehnt werden würde, und wahrscheinlich musste er wirklich eine Tochter aus reichem Haus heiraten.

An jenem Nachmittag starb ihr Traum von einer erfüllten Liebe. Sie stellte sich der Welt, wie sie wirklich war – einer Welt, in der eine Tochter das tat, was ihre Eltern von ihr verlangten, und denjenigen ehelichte, der die beste Partie zu sein versprach. Sie blickte der Realität ins Gesicht und verstand, dass nicht die Liebe zählte, sondern letztendlich nur die kalte, unbeugsame Vernunft. Ihr ganzes Wesen sträubte sich gegen den Gedanken, Teil dieser Welt zu werden.

Doch schließlich hatte sich Rachel erhoben und sich von dem Mädchen beim Anziehen jenes Kleids helfen lassen, das ihre Mutter für sie bereit gelegt hatte. Die Zofe frisierte ihre Haare und verdeckte die Rötung unter ihren Augen mit einem Hauch Reispuder.

Dann war Rachel nach unten gegangen und hatte Lord Westhamptons Heiratsantrag angenommen.

3. KAPITEL

Michael war mit einem Schlag wach. Er lag einen Moment lang regungslos da und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Sein Herz hämmerte, das Blut pochte in seinen Adern, und er war über und über mit Schweiß bedeckt.

Er hatte von Rachel geträumt. Zwar konnte er sich an keine genauen Einzelheiten mehr erinnern, aber die Empfindungen, die er bei diesem Traum durchlebt hatte, waren noch deutlich zu spüren – dieselbe Mischung aus Erregung und Freude, durchzogen von einer tiefen Trauer, die er immer fühlte, wenn er von seiner Ehefrau träumte.

Mit der wirklichen Rachel zusammen zu sein bedeutete leider etwas ganz anderes. Er hegte zwar die gleichen Gefühle für sie, nur waren sie noch um ein vieles stärker. Er war in ihrer Gegenwart stets unsicher und angespannt.

In seinen Träumen gelang es ihm wenigstens, mit ihr normal zu sprechen, ohne sich sogleich in den steifen, korrekten Narren zu verwandeln, wie er das im echten Leben tat. In seinen Träumen konnte er sie so lange küssen und liebkosen, bis ihm ein schier unerträgliches Verlangen die Sinne zu rauben schien. Die Trauer setzte ein, wenn sein Geist allmählich wieder in die Wirklichkeit zurückkehrte und er verstand, dass alles nur ein Gespinst seiner überhitzten Fantasie gewesen war.

Es verhielt sich stets schlimmer, wenn sie ihn auf Schloss Westhampton besucht hatte. Dann quälten ihn diese Träume häufiger als sonst und schienen außerdem bei jedem Mal überhitzter zu werden. Wenn Rachel wieder eine Weile fort war, ließ die Intensität allmählich nach.

Für Michael war es leichter, ganz ohne seine Frau zu leben, wie er nach einem Jahr der Ehe irgendwann einmal hatte feststellen müssen. So groß die Freude für ihn sein mochte, mit ihr zusammen zu sein, so unerträglich war die Qual, die dieses gemeinsame Leben für ihn bedeutete. Schließlich hielt er es nicht mehr aus, in ihrer Nähe zu sein und sich vor Liebe und Sehnsucht nach ihr zu verzehren, ohne jemals Erfüllung zu finden – nie wirklich ihr Mann sein zu dürfen.

Es war geradezu unerträglich, sie so sehr zu lieben, wie er das tat, und zu wissen, dass sie seine Gefühle nicht erwiderte, es niemals getan hatte und auch niemals tun würde. Es war unsäglich peinigend, sich immer wieder vor Augen halten zu müssen, dass sie seit ihrer Hochzeit ein Leben voll Kummer und Verzweiflung geführt hatte, da sie sich nach jemandem sehnte, den sie niemals hatte haben können – genau wie er.

Michael ahnte, wie sich seine Frau fühlen musste, und er wünschte sich nichts mehr, als dass er ihr diesen Schmerz nehmen könnte. Das Schlimmste für ihn war allerdings das Wissen, dass er sie zu diesem Leben verdammt hatte.

Mit einem Seufzer schob er die Bettdecke beiseite und stand auf. Die kühle Luft an seiner erhitzten Haut fühlte sich sehr erfrischend an. Er zog seinen Morgenmantel nicht über, sondern ging sogleich zu seiner Kommode, um sich ein Glas Wasser aus der Karaffe, die dort stand, einzuschenken. Gierig trank er es leer und stellte sich dann ans Fenster, wo er den schweren Samtvorhang zur Seite schob und in die Nacht hinausblickte.

Von seinem Schlafzimmer aus schaute er auf den breiten Kiesweg, der in einer anmutigen Kurve zum Schloss führte. In der Ferne konnte er die Hügel erkennen, die das besondere Kennzeichen des hübschen Lake District – seiner Heimat – waren. Noch war die Sonne nicht aufgegangen, doch es fing bereits an zu dämmern, sodass er die Umrisse der Bäume und Sträucher im Park ausmachen konnte. Bald würde der erste Lichtstrahl die Landschaft erhellen und die Nebelschwaden verschwinden lassen. Es wäre töricht gewesen, jetzt noch einmal ins Bett zu gehen und zu versuchen, wieder einzuschlafen. Am besten zog er sich Morgenmantel und Pantoffeln über, zündete eine Kerze an und ließ den Tag beginnen.

Doch eigentlich war auch das völlig sinnlos. Es gab nichts, was vor ihm lag – nichts außer Einsamkeit und einem schrecklichen Gefühl des Verlusts. So würde es ihm noch viele Tage ergehen, das wusste er. Es war schließlich ein Zustand, den er schon seit Langem kannte.

Das Haus trug noch mannigfaltige Erinnerungsbilder an Rachel in sich und schien ihre Anwesenheit förmlich auszustrahlen. Die Hoffnung, dass er um eine Ecke biegen und sie dort sehen würde, rief ihm immer wieder von Neuem ins Gedächtnis, dass sie gegangen war. Sie würde nicht länger laut aufjuchzen, wenn er einen Scherz machte, oder ihm freundlich zulächeln, wenn er ihr beim Aufstehen bei Tisch behilflich war. Diesmal war sie länger als gewöhnlich geblieben – fast drei Monate. Mit Gabriela hatte auch das Gelächter eines Kindes das Haus erfüllt; es war ein Klang gewesen, der ihm schon seit vielen Jahren fehlte.

Rachel ist glücklicher gewesen, dachte er, als ich sie bisher je erlebt habe – jedenfalls seit unserer Heirat. Sie hatte sich für Devin und Richard gefreut, weil sie endlich die große Liebe in ihrem Leben gefunden hatten. Ihr Bruder und ihr Schwager bedeuteten ihr sehr viel, und deren lange unglückliche Jahre hatte Rachel ebenfalls bedrückt. Die neu gefundene Lebensfreude der beiden Männer hellte nun auch ihren Geist auf.

Außerdem war Gabrielas Anwesenheit ein weiterer Lichtstrahl im Dunkel seines Lebens gewesen. Das Mädchen war lebhaft und fröhlich, und irgendwie hatte der jugendliche Charme von Richards Mündel auch die Stimmung zwischen Rachel und Michael entspannt, und sie waren heiterer und unbeschwerter miteinander umgegangen. Es wäre ihnen schwer gefallen, vor Gabriela förmlich zu bleiben, denn sie lachte und plauderte in einem fort und konnte sich für alles, was sie erlebte, hellauf begeistern.

Ihre Anwesenheit hatte Michael deutlich vor Augen geführt, wie sehr Rachel es genießen würde, selbst Kinder zu haben. Doch diese würden ihr in ihrer Ehe versagt bleiben. Er hatte ihr Kinder schenken wollen und geglaubt, dass nichts diesem Wunsch entgegenstehen würde.

Das war noch in jenen ersten Wochen gewesen, als er überzeugt gewesen war, dass sie ihn eines Tages lieben lernen und dass die Leidenschaft und Heftigkeit seiner Liebe für sie auch ihr Herz erwärmen könnte. Er hatte gedacht, sie würden nach einiger Zeit eine Ehe führen, die durch Vertrautheit gekennzeichnet war – eine Ehe, die letztlich mit Kindern gesegnet sein würde.

Doch inzwischen hatte er schon lange begriffen, dass er sich damals etwas vorgemacht hatte. Er hatte erkannt, dass die Frau, die er liebte, ihr Herz bereits einem anderen geschenkt hatte.

Es war naiv und töricht von ihm gewesen, nicht sehen zu wollen, dass sie verliebt war. Zu jener Zeit hatte er sich zu sehr mit seinen gelehrten Büchern beschäftigt und nicht genug mit dem Herzen seiner Frau.

Er war beinahe dreißig gewesen, als er Rachel kennengelernt hatte – eigentlich schon viel zu alt, um noch immer so wenig über die Liebe und die Verehrung für eine Frau zu wissen. Im bewussten Gegensatz zu seinem Vater hatte er sich einem stillen und gelehrten Leben zugewandt. Sein Vater hatte den Namen Westhampton durch einen Skandal nach dem anderen in den Schmutz gezogen. Der alte Lord Westhampton war ein völlig den Äußerlichkeiten hingegebener Mann gewesen, der seinen Vergnügungen frönte, wann immer es ihm gefiel. Er hatte maßlos gegessen und getrunken und nie einen Abend zu Ende gehen lassen, ohne besinnungslos ins Bett zu taumeln. Schon in seiner Jugend hatte er gespielt, getrunken und gehurt, und selbst als er älter geworden war, hatte sich kaum etwas daran geändert – auch nicht nach der von Michaels Großvater anbefohlenen Eheschließung.

Michael war viel stärker nach seiner Mutter geraten. Sie war eine ruhige, kluge Frau gewesen, die – im Gegensatz zu ihren Geschlechtsgenossinnen – Bücher und Wissen mehr als Kleider und Bälle geschätzt hatte. Immer wieder hatte der kleine Junge mit ansehen müssen, wie großer seelischer Schmerz die Augen seiner Mutter verschleiert hatte, und ihm war klar gewesen, dass sein Vater der Grund dafür sein musste. Wie sehr hatte er die Ausschweifungen und die Ruchlosigkeit seines Vaters gehasst! Immer wieder hatte er sich schon als Kind hoch und heilig geschworen, niemals so zu werden wie der Earl.

Michael hatte – wie es sich für einen Jungen seines Standes gehörte – Reiten, Schießen und Jagen gelernt. Er war auch im Faustkampf und im Fechten unterrichtet worden, denn sein Vater hatte darauf bestanden und war nicht davon abzubringen gewesen. Seiner Meinung nach gehörte so etwas zu der richtigen Erziehung eines englischen Gentleman.

Autor

Candace Camp
<p>Bereits seit über 20 Jahren schreibt die US-amerikanische Autorin Candace Camp Romane. Zudem veröffentlichte sie zahlreiche Romances unter Pseudonymen. Insgesamt sind bisher 43 Liebesromane unter vier Namen von Candace Camp erschienen. Ihren ersten Roman schrieb sie unter dem Pseudonym Lisa Gregory, er wurde im Jahr 1978 veröffentlicht. Weitere Pseudonyme sind...
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