Gefallener Engel

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Nordstaaten, 1868: Für die dankbaren Frauen, denen die junge Hebamme Sarah in ihrer schwersten Stunde beisteht, ist sie ein Engel. Nur Donovan Cole weiß es besser: Im Bürgerkrieg war Sarah eine Spionin! Donovan müsste sie hassen. Stattdessen brennt er vor Begehren nach dem schönen Engel mit den zwei Gesichtern...


  • Erscheinungstag 01.07.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733765033
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Miner’s Gulch, Colorado, 19. März 1868

Donovan Cole fühlte sich hilflos wie nie zuvor. Nicht, dass er der Typ war, der sich unterkriegen ließ. Er hatte im Sezessionskrieg den Angriff der Yankees bei Bull Run und Antietam miterlebt und in deren elendem Gefängnis in Camp Douglas mit Fieber darniedergelegen und den Totengräber spielen müssen. Und als Sheriff von Kiowa County in Kansas hatte er mit nichts als einem hasenfüßigen jungen Hilfssheriff als Beistand die Brüder Slater eingebuchtet – eine gefährliche, mörderische Bande.

Aber das war nichts im Vergleich zu dem, was jetzt von ihm erwartet wurde. Er sollte doch tatsächlich den Geburtshelfer spielen! Er durchquerte die unaufgeräumte Hütte und hob den Vorhang, hinter dem das breite Bett seiner Schwester stand. „Alles in Ordnung, Varina?“ So gut es ging, versuchte er, seine Nervosität zu verbergen.

„Es geht“, flüsterte sie gequält inmitten des zerwühlten Bettzeugs. „Bald ist es geschafft. Wenn Annie nicht bald mit der Hebamme zurückkehrt …“

Varina stöhnte, weil die nächste Wehe einsetzte. Donovan fasste nach ihren Händen und drückte sie. Schmerzhaft gruben sich ihre Nägel in seine Handflächen. Am liebsten hätte sie wohl geschrien, aber ihre jüngeren Kinder, die sechsjährige Katy und der vierjährige Samuel, hockten aneinandergedrängt auf dem Absatz vor der Feuerstelle. Ihre Mutter leiden zu hören würde sie noch mehr verstören.

Donovan hatte die achtjährige Annie eilig zur Hebamme geschickt, als die Wehen verstärkt einsetzten. Das war vor mehr als zwei Stunden gewesen. In der Zwischenzeit war einer der typischen Frühlings-Schneestürme losgebrochen. Zwischen den dicken Flocken, die herumwirbelten, konnte sich Annie durchaus verlaufen haben. Aber wegen Varina traute er sich nicht, nach ihr zu suchen. Er konnte nur hoffen, dass dem tapferen Mädchen nichts passiert war.

Leise fluchte er vor sich hin, während er Varinas Hände streichelte. Er verfluchte den Schnee, die vorzeitig einsetzende Geburt und den Goldschürfer Charlie Sutton, Varinas Mann, der sich in dieses elende Nest hatte locken lassen. Er verfluchte außerdem den Mineneinbruch, der die hochschwangere Varina vor fünf Wochen zur Witwe mit drei kleinen Kindern und weiterem Nachwuchs unterwegs gemacht hatte.

Donovan hatte von dem Unglück durch ihren Brief erfahren und seinen Job als Sheriff hingeworfen, um seine Schwester und ihre Kinder nach Kansas zurückzuholen. Vor Ort hatte er erst begriffen, unter welch ärmlichen Bedingungen sie lebte und dass sie zurzeit nicht reisefähig war.

Der Anblick des einsam gelegenen Schuppens, der nur einen Raum enthielt, hatte ihn geschockt. Vor zehn Jahren war Varina eine kleine Schönheit gewesen, mit ihren blitzenden haselnussbraunen Augen und dem flammendroten Haar. Sie hatte auf der Plantage der Eltern keine Not gekannt, war von den Sklaven verhätschelt und wohlhabenden Verehrern hofiert worden. Es brach ihm fast das Herz, sie nun in all dem Elend zu sehen. Hätte der verfluchte Charlie noch gelebt, hätte er ihm die größte Tracht Prügel seines Lebens verabreicht.

Die Wehe war vorüber. Varina lag mit bleichen Wangen kraftlos auf dem schweißnassen Kissen. Donovan traute sich, sie einen Moment allein zu lassen, und trat einen Moment vor die morsche Haustür. Er überlegte, wie es nun weitergehen sollte.

Schnee umwirbelte ihn und verschleierte die Sicht auf die Espen, die in der Nähe der Hütte standen. Selbst wenn er sich anstrengte, konnte er bei dem eisigen Wetter nur einen Steinwurf weit sehen. Ob sich Annie eventuell verlaufen hatte? Wenn sie in einen Abgrund gestürzt oder von einem hungrigen Puma gerissen worden war?

Angst überkam ihn, und er begann, sie zu rufen. „Annie! Annie!“

Keine Antwort. Donovan schalt sich. Nur keine Panik. Annie war in Miner’s Gulch aufgewachsen. Sie kannte hier jeden Stein und würde den Weg schon finden. Eher gab es wohl Probleme mit der Hebamme. Vielleicht fand sie deren Wohnung nicht oder musste auf sie warten, weil sie noch woanders zu tun hatte.

Donovan hatte diese Frau bei ihrem letzten Besuch bei Varina kurz kennengelernt und war nicht sonderlich beeindruckt gewesen. Mit ihrer randlosen Brille und dem straff zurückgekämmten Haar wirkte sie ziemlich altjüngferlich. Dazu der knarrige, brüchige Slang der Yankees – ungewöhnlich für diesen Ort, in dem fast jeder aus dem Süden stammte. Als sie ihn begrüßte, hatte sie weggeschaut und jeden Blickkontakt vermieden, sodass er sich kaum einen Eindruck hatte machen können.

Trotzdem war sie ihm irgendwie bekannt vorgekommen. Aber er konnte sich nicht erinnern, wo er sie schon mal hätte getroffen haben können. So eine eigenartige Yankeefrau wäre ihm bestimmt im Gedächtnis geblieben.

Wie hatten die Kinder sie genannt? Miss Sarah. Wenn sie nicht gerade Babys zur Welt brachte, betrieb sie eine kleine Schule in angemieteten Räumen über dem Kaufladen des Ortes. Den Typ Frau kannte er! Die zitierten Bibelverse, sangen Choräle, taten unablässig Gutes – und trugen zwecks Abschreckung kratzige Unterwäsche …

Donovan starrte in das Schneegestöber. Wenn diese Miss Sarah nicht demnächst käme, würde er selbst die Hebamme spielen müssen. Kein Problem, wenn alles gut verlief. Aber was, wenn es Komplikationen gab?

Licht fiel aus der Hütte auf den Vorplatz. Die kleine Katy riss ihn aus seinen Gedanken. „Onkel Donovan, Mama braucht dich! Du sollst gleich kommen.“

Das Baby. Donovan hastete zurück. Ihm wurde kalt vor Angst. Warum musste es ausgerechnet jetzt losgehen? Wenn er etwas falsch machte, würden Varina oder das kleine Neugeborene sterben …

„Setz dich zu deinem Bruder, und kümmere dich um ihn“, befahl er dem kleinen Mädchen, das mit weit aufgerissenen Augen dastand. „Und sag mir Bescheid, wenn jemand kommt.“ Er trat hinter den Vorhang, wo sich Varina in ihrem Bett vor Schmerzen krümmte. „Es ist so weit“, keuchte sie. „Ich brauche Sarah!“

„Sarah ist noch nicht in Sicht. Du musst fürs Erste mit mir vorlieb nehmen.“ Donovan lehnte sich über sie und betete leise um Kraft. „Sag mir, was ich zu tun habe, Varina.“

„In dem Korb liegt obenauf ein Bündel. Hol das …“

Fahrig schob Donovan allerlei Krimskrams vom Korbdeckel herunter und hob ihn empor. Tatsächlich lag dort das Bündel. Er entrollte es mit zitternden Händen am Fußende des Bettes und fand drin fadenscheinigen Stoff, der vom vielen Waschen hart war, eine Schnur, ein scharfes Küchenmesser und eine flache braune Flasche mit einem halben Liter billigen Whisky. Wofür man Wäsche, Messer und Bindfaden brauchte, konnte er sich vorstellen. Doch wozu diente wohl der Whisky? Sollte er sich damit waschen, ihn seiner Schwester aufzwingen oder selbst einen tüchtigen Schluck nehmen?

„Beeil dich“, Varina umklammerte die Patchworkdecke. Woher nahm sie die Kraft, nicht zu schreien? Donovan staunte drüber, während er das saubere Leinenzeug unter ihr ausbreitete. Am liebsten hätte er die beiden kleinen Kinder hinausgeschickt … doch bei diesem verdammten Schneesturm?

„Donovan!“ Varina griff nach seinem Arm und bohrte ihm die Finger ins Fleisch. „Es kommt.“

Ihm brach der Schweiß aus. Bald ist es geschafft, ermunterte er sich. In wenigen Minuten hält Varina ihr Kleines im Arm, und ich freue mich mit ihr, und alle Furcht ist vergessen.

Mit klopfendem Herzen streichelte er ihre Hand. „Halte durch.“ Seine Stimme klang wie ein Krächzen. „Und press, was das Zeug hält!“

Varina presste seine Hand. Er spürte ihre Anspannung und wie sie sich bemühte, die Geburt voranzutreiben. Im gelben Lichtschein der Lampe sah er ihr verzerrtes Gesicht und die Adern, die am Hals hervortraten.

„Recht so!“ Donovan drängte sie, als müsse er ein Pferd antreiben. „Weiter so. Du schaffst es.“

„Nein.“ Varina sank mit einem tiefen Seufzer aufs Kissen zurück. „Es geht nicht“, wimmerte sie leise. „Etwas ist nicht in Ordnung.“

„Was denn?“

„Ich weiß nicht. Keins meiner Kinder machte bisher solche Probleme.“ Schon krümmte sie sich unter der nächsten Wehe, tapfer bemüht, ihrem Baby ans Licht der Welt zu verhelfen.

Krank vor Angst strich Donovan über ihre Hände. Manche Frauen starben bei der Entbindung. Wenn er ihr nicht irgendwie half, und zwar schnell, würde er sie und das Baby eventuell verlieren. Doch wie? Er hatte überhaupt keine Erfahrung mit diesen Dingen, sich auch auf der Plantage nie um die Geburt der Tiere gekümmert. Das hatte in den Händen eines alten Sklaven namens Abner gelegen. Was würde er jetzt darum geben, ihn oder seine ruhige Frau Vashti hier zu haben, die sich um die Sklavenfrauen gekümmert hatte.

Verdammt! Wo blieb die Hebamme? Donovan beugte sich über seine Schwester und strich ihr das feuchte Haar aus der zerfurchten Stirn. Dabei musste er daran denken, wie nahe sie sich in den Kinderjahren gestanden hatten – er, Varina und ihr jüngerer Bruder Virgil. Virgil war in Antietam in Donovans Armen gestorben. Bei den Heiligen, er wollte Varina nicht auch noch verlieren!

„Was soll ich tun?“ Der Hals wurde ihm so eng, dass er kaum sprechen konnte.

„Such nach dem Kopf.“ Sie konnte vor Schwäche kaum noch reden. „Wenn du ihn nicht ertasten kannst, liegt das Kind falsch. Dann musst du es drehen.“

„Okay. Lieg ruhig.“ Donovan drehte sich der Magen um, wenn er nur an das dachte, was ihm und Varina bevorstand. Er würde ihr dabei entsetzliche Schmerzen zufügen und das Leben des Ungeborenen riskieren. Trotzdem gab er sich einen Ruck und fasste nach dem Saum ihres Nachthemdes. Aber mit seinen zitternden Händen konnte er ihn nicht fassen.

„Donovan?“ Mit geballten Händen wartete sie. Aber er stand nur starr vor Angst da, unfähig, sich zu rühren.

Voller Selbstverachtung drehte er sich fort von der Bettkante. „Gleich bin ich wieder da“, grummelte er. „Bleib ganz ruhig und press nicht.“ Er stieß den Vorhang beiseite und durchschritt die Hütte, riss die Tür auf und taumelte ins Freie. Sein Brustkorb hob und senkte sich tief, als er die frische Luft einatmete.

Er musste zu Varina zurückgehen und ihr und dem Kind helfen. Sonst würden die beiden sterben. Aber er fürchtete sich so sehr davor …

Schneeflocken umwirbelten ihn, sie blinkten weiß in der Dunkelheit. Unablässig fielen sie vom Himmel hernieder, zu dem Donovan hilflos emporblickte. „O Herr!“, murmelte er. „Ich habe mich in all den Jahren bemüht, dir möglichst wenig Ärger zu machen. Jetzt brauche ich deine Hilfe. Den Job schaffe ich nicht allein.“ Er hielt inne, räusperte sich und zwang sich weiterzubeten.

„Schließlich bitte ich nicht für mich. Ich verdiene keine besondere Gunst. Aber Varina. Sie hat sich in ihrem ganzen Leben nichts zuschulden kommen lassen. Außerdem hat sie drei vaterlose Kinder zu versorgen, nun, vier, wenn man das Baby mitzählt …“

Frustriert hielt er inne. Das wusste Gott selbst. Im Übrigen sollte er lieber bei Varina sein und sich nicht feige vor seiner Aufgabe drücken.

Er warf einen letzten verzweifelten Blick hinauf zum Himmel, von dem unablässig Schneeflocken herabfielen. „Bitte!“, murmelte er. In dem Moment war Hufgetrappel auf dem Pfad zu hören. Das Geräusch kam immer näher. Donovan starrte angestrengt ins Schneegestöber und machte auf einmal einen braunen Maulesel aus, erst zwischen den Espen, dann auf der freien Fläche vor der Hütte.

Zwei Gestalten, eine davon ziemlich klein, konnte er auf dem Rücken des Tieres ausmachen. Als es innehielt, sprang Annie herab und stürzte zur Hütte. „Onkel Donovan“, rief sie. „Geht es Mama gut? Da bringe ich Miss Sarah. Wie geht es Mama?“

„Alles in Ordnung“, log er. „Kümmere dich um deine Geschwister. Ich versorge den Maulesel.“

Er verließ den Vorplatz und ging zu Miss Parker, die gerade abstieg, wobei sie unter dem dunklen Wollmantel eine Leinentasche barg. Vor Erleichterung bekam Donovan weiche Knie. Am liebsten hätte er der altjüngferlichen Miss im Moment die Brille abgenommen und sie auf den Mund geküsst.

„Das wurde Zeit!“ Mehr brachte er nicht heraus.

„Tut mir leid. Gerade habe ich Minnie Hawkins entbunden. Früher konnte ich nicht kommen. Wie geht’s Varina?“

„Schlecht. Das Baby liegt falsch. Hoffentlich kommen Sie nicht schon zu spät.“

Resolut setzte sich Miss Sarah in Bewegung. Der Schnee knirschte unter ihren Tritten. Auf der wackligen Stufe vor der Tür drehte sie sich noch einmal um, der schlichte dunkle Rock schwang dabei um ihre Beine.

„Bringen Sie Nebukadnezar bitte in den Stall, und geben Sie ihm etwas Hafer!“, ordnete sie forsch an. „Dann reinigen Sie sich bitte, und kommen Sie zu mir. Sicher kann ich Ihre Hilfe gebrauchen.“

Sie betrat die Hütte. Während er den Maulesel zum Unterstand führte, hörte er, wie sie Annie anwies, ihre Geschwister zu Ike Ordway, dem nächsten Nachbarn, zu bringen. Und als er das Tier versorgt hatte, trotteten die drei schon hinter ihm in den armseligen kleinen Mäntelchen vorbei, die Varina aus alten Wolldecken genäht hatte.

Donovan schöpfte Wasser aus dem Kübel neben der Tür der Hütte und benutzte Seifenlauge, um sich die Hände gründlich abzuschrubben. Alles wird gutgehen, sagte er sich. Jetzt ist ja die Hebamme da. Die weiß schon, was zu tun ist.

Trotzdem wäre ihm noch wohler gewesen, wenn die Hebamme eine gestandene Vierzigjährige gewesen wäre mit eigenen Kindern. Während er sich die Hände trocknete, betrat er die Hütte. Sarah Parker stand gerade vor dem Ofen und krempelte sich die Ärmel ihres grauen Kleides hoch. Komisch, von hinten wirkte sie irgendwie attraktiv. Das Lampenlicht ließ ihr am Nacken zum Knoten verschlungenes Haar weich glänzen. Die derbe Kleidung verhüllte eine anmutige Figur mit schmaler Taille und wohlgeformten Hüften.

Donovan starrte sie an. Wieder war es ihm, als ob sie ihn an etwas erinnerte. Was war es nur?

Varina stöhnte entsetzlich, das brachte ihn auf andere Gedanken. Sarah drehte sich zu ihm um und verzog das Gesicht zu einem angestrengten Lächeln. „Ich habe sie gerade untersucht. Das Kind liegt tatsächlich verquer.“

Donovan versuchte, seine Angst zu verbergen. „Dann werden Sie das Baby wohl zu drehen versuchen. Schaffen Sie das denn?“

„Ich hoffe es.“ Ihre Brille verbarg nicht, dass ihr Blick Besorgnis ausdrückte. Mit zitternden Fingern machte sie sich am linken Ärmel ihres Kleides zu schaffen. Obwohl sie Hebamme war, stellte sie nicht gerade eine seelische Stütze für ihn dar.

„Haben Sie so was denn schon mal gemacht?“, wollte er misstrauisch wissen.

„Zum Glück war das bisher nicht nötig.“ Sie drehte ihm wieder den Rücken zu. „Dies ist erst mein siebzehntes Baby. Aber ich habe alles darüber gelesen.“

„Gelesen? Das darf nicht wahr sein!“

„Wollen Sie es selbst machen?“, fragte sie mit schneidend kalter Stimme.

Donovan gab sich seufzend geschlagen. „Nun denn. Wie kann ich helfen?“

„Kommen Sie mit.“ Ihre Unterröcke raschelten, als sie den Vorhang hob, hinter dem Varina verweint und verstört auf den zerwühlten Laken ihres Bettes lag. Bei ihrem Anblick tat Donovan das Herz weh. Er kniete sich vor die Bettkante und griff nach ihrer Hand.

Sarah hatte ihrer Leinentasche eine Dose mit einer Salbe entnommen und rieb sich damit die Hände ein. „Wann kam die letzte Wehe?“

„Vor drei bis vier Minuten.“ Die Stimme seiner Schwester klang so schwach, dass er sie kaum hören konnte.

„Wenn die nächste einsetzt, versuchen wir das Kind zu drehen.“ Sarah zögerte und fügte dann hinzu. „Ich werde vorsichtig sein, aber es wird wehtun.“

„Das weiß ich“, flüsterte Varina. „Tu, was nötig ist … und, wenn du zwischen meinem und dem Leben des Kindes wählen musst, lass das Baby leben.“

„Kein Wort mehr!“ Sarah beugte sich vor, um Varinas Hand zu streicheln, und Donovan entdeckte Tränen in ihren Augen. „Du wirst leben – und dein Kind!“

Varina antwortete nicht. Gerade kam die nächste Wehe, und Donovan hätte am liebsten mit ihr geschrien.

„Los geht’s.“ Sarah bedachte ihn mit einem strengen Blick. „Wenn ihr Schmerz nachlässt, müssen Sie sie festhalten, so gut Sie können.“

Donovan konnte nur nicken. Seine Stimme versagte. Er spürte, dass seine Schwester fast am Ende ihrer Kräfte war. Als die Wehe nachließ, entspannte sie sich. Gleichzeitig konzentrierte sich Sarah wie eine Raubkatze vor dem Sprung auf den Moment, wo sie zupacken wollte.

„Jetzt!“, rief sie, und er umklammerte Varina, so gut er konnte. Während Sarah das Baby zu fassen versuchte, betete er im Stillen, alles möge gut enden. Die Zeit schien still zu stehen, während Varina keuchte und sich darum bemühte, nicht jetzt schon vor Schmerz zu schreien.

„Okay, Varina.“ Sarah hörte sich angestrengt an. „Jetzt ist es so weit. Ich zähle bis drei, und dann schreist du, so laut du kannst.“

„Was ist mit den Kindern?“, fragte Varina schwach.

„Die habe ich zu Mr. Ordway geschickt.“

Donovan registrierte, wie das flackernde Licht Sarahs Schatten an der Wand tanzen ließ, während sie zu zählen begann. „Eins, zwei, drei …“

Varina begann zu schreien, so gut sie es trotz ihrer Hinfälligkeit noch konnte. Für Donovan lag in dem Schrei ihre ganze Verzweiflung über den frühen Tod des Mannes und des kleinen Bruders Virgil, ihre verlorene glückliche Jungmädchenzeit und das Elend, das mit dem Ausbruch des Krieges über ihr Leben gekommen war.

Donovan wurden die Augen feucht bei diesem Gedanken. Wenn seine Schwester überlebte, würde er dafür sorgen, dass sie wieder glücklich wurde. Das schwor er sich. Er wollte das wiedergutmachen, was der Windhund Charlie ihr angetan hatte.

„Geschafft“! Sarah seufzte vor Erleichterung. „Das Kind liegt jetzt richtig. Varina, bei der nächsten Wehe gib dein Bestes!“

Kaum war das gesagt, setzte sie ein. Donovan veränderte die Position und umfasste Varinas Schultern, während sie sich krümmte.

„Press jetzt, press.“

Donovan beobachtete, wie die Hebamme Varina Mut machte und die sich keuchend anstrengte. Die beiden Frauen kämpften jetzt gemeinsam um das Leben des Kindes. Immer wieder forderte Sarah: „Press jetzt. So ist es richtig. Immer weiter!“

Varina sackte erschöpft in seinem Arm zusammen, als das Kind zur Welt kam. Er hörte etwas wie einen sanften Klaps, dann – es war wie ein Wunder – ein dünnes, einem Miauen ähnliches Schreien.

„Oh!“ Sarah hatte vor Ehrfurcht eine ganz spröde Stimme. „Varina, du hast einen wunderschönen Sohn zur Welt gebracht.“

Varina seufzte gerührt.

Donovan wurden die Augen feucht. „Du hast einen Sohn. Hör nur, wie er schreit.“

Varina lag vor Erschöpfung ganz still. Dann flüsterte sie: „Gib ihn mir, Sarah. Ich will ihn sehen.“

„Gleich. Vorher muss ich ihn abnabeln und in eine Decke wickeln.“ Sie fuchtelte mit dem Messer herum, und wenig später stand sie mit dem kleinen Bündel im Arm da.

„Hier hast du deinen neuen kleinen Sohn.“ Sarahs Wangen glühten, als sie sich über das Bett beugte. Die Brille war heruntergefallen, sie baumelte an einem Band vor ihrer Brust. Jetzt konnte er ihre glänzenden grauen Augen mit den langen Wimpern besser erkennen. Aus dem Knoten hatten sich Haarsträhnen gelöst, sie kringelten sich um ihr verschwitztes Gesicht. Sie lächelte, und ihr Mund wirkte auf ihn einladend wie eine reife, süße Frucht.

Wieder stellte sich bei Donovan so etwas wie ein vertrautes Gefühl ein. Das irritierte ihn immer mehr. Was, zum Teufel, hatte das zu bedeuten? Er hätte auf die Bibel geschworen, diese Sarah Parker hier in Miner’s Gulch kennengelernt zu haben, trotzdem …

„Gib mir meinen Jungen.“ Varina nahm das eingemummelte Baby, von dem nur das winzige Gesichtchen zu sehen war, in die Arme. „Ich weiß schon, wie er heißen soll: Charles Donovan – nach dem Vater und dem Onkel.“

„Wie schön, Varina.“ Donovan drückte sie kurz. Dass sein Name und der des alten Esels Charles in einem Atemzug genannt werden sollten, gefiel ihm zwar nicht, aber wenn seine Schwester es so wollte …

„Jetzt brauchen wir Sie nicht mehr, Mr. Cole.“ Sarah hatte sich die Brille wieder aufgesetzt und die vorwitzigen Locken hinter die Ohren gesteckt. „Wenn Sie uns freundlicherweise allein lassen. Ich möchte Varina waschen und herrichten.“

„Sie finden mich draußen auf dem Vorhof.“ Er trat hinter den Vorhang, damit Yankee-Sarah, wie er sie im Stillen betitelte, ihren Pflichten nachgehen konnte. Mit vier großen Schritten hatte er die Hütte durchquert, in der es inzwischen mächtig heiß war, und trat nun auf den verschneiten Platz vor der Tür. Er schloss sie hinter sich und ließ sich erschöpft gegen den Rahmen sinken. Dann begann er, sich den verspannten Nacken zu massieren.

Es war geschafft. Das Baby war da und Varina am Leben. Dafür schuldete er der kühlen Miss Sarah Parker Dank, wer auch immer sie war. Wenn sie nicht rechtzeitig gekommen wäre …

Er verdrängte den Gedanken, während er das Schneegestöber betrachtete. Immerhin war sie zur Stelle gewesen und hatte das getan, wozu er zu feige gewesen war. Aus einem Buch hatte sie ihre Kenntnisse! Großer Gott, die Frau musste Nerven aus Stahl haben.

Langsam schlenderte er den Pfad entlang, der von der Hütte wegführte. Während der Schnee auf ihn niederfiel, ging ihm nicht aus dem Sinn, wie sie sich ohne Brille und verschwitzt über Varina gebeugt hatte. Irgendeine Erinnerung verfolgte ihn …

Unmerklich trat eine ganz andere Szene in sein Bewusstsein. Er sah die Lüster eines festlichen Ballsaales, hörte die Klänge einer heiteren Tanzmusik, dachte an graue Uniformen mit goldenen Schulterstücken, das Rascheln eines malvenfarbenen Kleides, eine Hand im Spitzenhandschuh auf Virgils Schulter … und dann das Gesicht der Frau, mit der er tanzte, ein schönes, fröhliches, sensibles – es war ihm gelungen, es fast zu vergessen.

Hinter sich hörte er Sarah die Hütte verlassen. „Ich gehe jetzt“, sagte sie sanft. „Varina und das Baby ruhen. Auf dem Herd steht Fleischbrühe.“ Sie zögerte, als Donovan sich umdrehte und auf sie zutrat. Dann gab sie sich einen Ruck. Nervös setzte sie hinzu: „Ich komme bei der Hütte von Mr. Ordway vorbei und schicke die Kinder nach Hause. Das schaffen sie. Es ist nicht weit, und Annie kennt den Weg. Passen Sie auf, dass sie ihre Mutter nicht zu sehr strapazieren. Varina braucht viel Ruhe.“

Er hatte sich dicht vor ihr aufgebaut. Mit Schnee auf den Brillengläsern und halb geöffneten Lippen blickte sie ihn angestrengt an. „Ich muss gehen. Das Wetter wird immer schlechter.“

„Moment.“ Donovan fasste nach ihrem Ellbogen. Eigentlich hatte er ihr danken wollen, aber jetzt stand er wie angewurzelt da und konnte den Blick nicht von ihr wenden.

Die Ähnlichkeit ist nur zufällig, sagte er sich. Aber wieso erinnert mich ausgerechnet eine prüde alte Yankee-Jungfer an sie? Das ist unheimlich. Verwirrt quälte er sich mit bittersüßen Gedanken. Vergiss es!, riet ihm die Vernunft. Lass sie gehen, und mach keinen Narren aus dir. Aber das war leichter gesagt als getan. Lange unterdrückte Gefühle forderten ihr Recht.

Verwirrt räusperte sie sich. „Machen Sie sich wegen des Babys keine Sorgen. Annie kennt sich gut aus.“ Sie keuchte, als ihr Donovan die Brille von der Nase nahm und sie auf ihre Brust fallen ließ, und drehte sich schnell zur Seite, damit er ihr nicht mehr ins Gesicht sehen konnte. Was war nur los mit ihr? Warum sollte er sie nicht ansehen? Wusste sie nicht, wie hübsch sie sein könnte – ohne diese Altweiberbrille und die strenge Frisur? Jemand sollte es ihr sagen, überlegte er, es ihr zeigen!

Er wusste selbst nicht, welcher Teufel ihn ritt. Aber spontan umfasste er ihren Arm fester und zwang sie stehenzubleiben. „Sieh mich an, Sarah.“ Seine Stimme krächzte. „Lass mich die wahre Sarah sehen.“

„Lassen Sie mich gehen.“ Sie war offensichtlich in Panik. Ein Gentleman hätte sie sofort losgelassen. Nicht so Donovan. Der hatte den Kavalier irgendwo zwischen Camp Douglas und Kiowa County abgelegt. Außerdem bewegte er sich sowieso schon außerhalb von Sitte und Anstand. Da konnte er diese Geschichte auch ganz zum Ende bringen – koste es, was es wolle.

Er fasste unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht. „Verdammt. Ich will dir nichts tun. Halt einfach still und vertrau mir.“

Als Antwort trat sie ihm vors Schienbein. Er verbiss den Schmerz und machte sich an ihrer scheußlichen Frisur zu schaffen. Als ihr das Haar endlich lose über die Schultern fiel, stockte ihm der Atem.

„Donovan, nein!“ Mit einem Aufschrei riss sie sich los. Sie strauchelte und stolperte über einen Haufen Brennholz, verhaspelte sich im Rocksaum, fing sich wieder und wandte sich ihm nochmals zu, wobei sie sich duckte.

Donovan? In der Hütte bei Varina hatte sie ihn Mr. Cole genannt. Irritiert trat er einen Schritt zurück. „Hören Sie zu. Ich wollte Sie nicht …“

Als er ihr direkt ins Gesicht blickte, verstummte er. Die Locken, die Wangenknochen, die blitzenden Augen, der große, sensible Mund – auf einmal wusste er, welcher Name zu diesem Gesicht gehörte, geradezu blitzartig ging ihm ein Licht auf … Lydia!

Sprachlos starrte er sie an. Unmöglich, sagte er sich. Lydia Taggert ist doch tot. Ihre schwarzen Bediensteten hatten ihn an ihr Grab geführt, als Virgil gefallen war und er ihr dessen Verlobungsring überbringen wollte. Angeblich war während des Angriffs der Yankees unter General Grant auf Richmond eine Granate im Schlafraum ihres Hauses explodiert und hatte sie getötet. Da hatte er den kleinen Goldreif auf den Grabstein gelegt und war gegangen.

Lydia.

Verrat! Die Einsicht setzte sich bei ihm durch und verdüsterte augenblicklich seine Stimmung. Ich werde schon herausfinden, was hier gespielt wird, schwor er sich – und wenn ich die ganze Nacht dafür brauche.

Mit geballten Händen trat er einen Schritt auf sie zu. „Lady“, meinte er drohend. „Sie schulden mir eine Erklärung.“

Blitzschnell sprang sie fort und flüchtete zum Schuppen. Donovan hörte den Maulesel schnauben, als sie sich auf seinen Rücken schwang. Starr vor Staunen beobachtete er, wie sie herausgestürmt kam, das Reittier wendete und wie ein Fantom im nächtlichen Schneegestöber verschwand.

Unrasiert und übermüdet blickte er ihr eine ganze Weile regungslos nach. Erst als das Hufgetrappel ihres Maulesels aus der Schlucht herauftönte, rührte er sich wieder. Der Schnee knirschte unter seinen Tritten, als er wie ein Schlafwandler zur Hütte zurückkehrte. Lydia Taggert lebte also noch – und sie spielte den Yankee!

2. KAPITEL

Sarah nahm ihrem Maultier den Sattel ab und ließ es, versorgt mit Heu, in Amos Satterlees Stall hinter dessen Laden zurück. Als sähe ihr die ganze Stadt dabei zu, stieg sie betont ruhig die verschneiten Stufen zu ihren Räumen hinauf, schloss die Tür auf und trat ein.

Erst nachdem die Tür hinter ihr verriegelt war, überwältigte sie die Furcht. Ihr Herz begann zu rasen, und ihr brach der Schweiß aus. Sie lehnte sich gegen die Wand, ihre Beine versagten den Dienst.

Sie hätte wissen müssen, dass irgendjemand sie früher oder später erkennen würde. Die meisten Südstaatler in Miner’s Gulch, auch die Suttons, hatten sich hier schon vor dem Krieg während des Goldrausches angesiedelt. Sarah hatte sich zwischen ihnen recht sicher gefühlt. Doch vor einer Woche war sie bei ihrer Stippvisite bei Varina mit Donovan Cole zusammengestoßen. Das hatte ihr einen Schlag versetzt. Erst da hatte sie begriffen, dass Varina Donovans und Virgils Schwester war.

Wäre Varina nicht so nötig auf ihre Hilfe angewiesen gewesen, hätte sie deren Hütte nicht mehr betreten. Wie hätte sie aber die Bitte der kleinen Annie abschlagen oder ihre eigenen Sorgen ignorieren können. Ohne fachkundigen Beistand wäre Varina vielleicht verloren gewesen. Sie hatte ihre Christenpflicht über ihre Sicherheit gestellt. Dafür musste sie nun die Folgen tragen.

Sarah sank auf eine der aus rohem Holz gefertigten Bänke, die sie in ihrem behelfsmäßigem Klassenraum stehen hatte. Inzwischen hatte Donovan wohl alles über sie herausgefunden. Schon damals in Richmond, wo er und Virgil ihre Feste besucht hatten, war er distanziert und misstrauisch gewesen. Jetzt gab es für ihn sicher keinen Zweifel mehr. Bestimmt machte er sich einen Reim auf alles. Er war schließlich kein Dummkopf.

Doch verstand er sie? Natürlich nicht. Von keinem Südstaatler, am wenigsten von Donovan, konnte sie Verständnis für das erwarten, was sie während des Krieges getan hatte. An Verzeihen war sowieso gar nicht zu denken.

Sie schlug die zitternden Hände vor das eiskalte Gesicht. Himmel, was war da heute Nacht passiert? Warum hatte er ihr unbedingt näher kommen wollen? Warum hatte sie das zugelassen? Zwischen ihnen war in Richmond nichts gewesen. Virgil hatte ihr den Hof gemacht. Der niedliche, eifrige Captain Virgil Cole, der ihr nichts verschwiegen hatte – auch nicht General Lees Pläne, mit seiner Südstaaten-Armee in Pennsylvania einzufallen.

Später erfuhr sie, dass Virgil bei Antietam gefallen und Donovan gefangengenommen worden war. Dafür und für unzählige andere Tragödien trug sie und niemand sonst die Schuld. Ihre Bediensteten, die für sie als Kuriere arbeiteten, hatten das Vorhaben an die Unionsarmee gemeldet. Die hatten die Truppen mobilisiert, und das Ergebnis war der blutigste Tag des Krieges gewesen. Sarah hatte nur ihre Pflicht getan. Die Überzeugung half wenig, wenn sie nachts von Albträumen heimgesucht wurde.

Aufgeregt sprang sie auf und rannte ins Schlafzimmer. Ihr abgenutzter Handkoffer lag unter dem gebraucht gekauftem Messingbett. Sie zerrte ihn hervor, schlug den Staub herunter und öffnete ihn auf der Patchworkbettdecke. Mit fahrigen Händen holte sie dann aus den Kommodenfächern Unterwäsche, Kleider und ihre kleinen Schätze hervor. Aber dann zwang sie sich zur Ruhe. Sie atmete ein paarmal tief durch und kam zu dem Schluss, dass Fortlaufen keine Lösung war. Das hatte sie schon einmal gemacht, vor drei Jahren in Missouri, als jemand sie auf der Straße erkannte. Jetzt war das Gleiche passiert, und es war mehr als wahrscheinlich, dass es auch zukünftig geschehen würde – wo immer sie Zuflucht suchte.

Sarah hatte Gründe, zu bleiben. Minor’s Gulch war ihre Heimat geworden. Sie hatte hier Freunde gefunden. Sechzehn, nein, siebzehn Kindern hatte sie bisher ans Licht der Welt verholfen, als Pflegerin gearbeitet, als die Masern und Scharlach im Städtchen grassierten, und knapp zwanzig Kinder lesen und rechnen gelehrt. Wie konnte sie gehen, wo es noch so viel zu tun gab!

Daran mochte sie überhaupt nicht mal denken. Es war an der Zeit, sich der Vergangenheit zu stellen – und Donovan Cole.

Sie setzte sich aufs Bett und errötete allein bei der Vorstellung, wie nah er ihr gewesen war … hart hatte er nach ihrer Schulter gegriffen und ihr Haar gelöst und hineingefasst. Halb hatte sie sich davor gefürchtet, er könne sie küssen. Dann wäre sie verloren gewesen. Sie hätte nicht länger die Spröde spielen können. Dabei hatte sie so hart dafür gearbeitet, eine anständige Frau zu werden.

Sarah schlug mit der Faust aufs Kissen. Warum musste es von allen Männern auf dieser Welt ausgerechnet Donovan sein! Er sollte verflucht sein! Fluch auch über ihr eigenes verräterisches Herz! Es ließ sich nicht länger leugnen: Damals in Richmond hatten sich ihre Träume um Donovan gedreht, während sie Virgil Geheimnisse entlockte. Der unerreichbare Donovan war ihr Schwarm gewesen, der nicht mal ein Lächeln für sie übrig gehabt hatte. Mit ihm hätte sie kein so leichtes Spiel gehabt wie mit all den anderen Männern. Dafür war er zu stark – und zu schlau. Da hätte sie den Kürzeren gezogen.

Und was diesen Abend betraf – was zählte das schon? Flüchtig hatte er sich zu Sarah Parker hingezogen gefühlt. Lydia hatte er nie gemocht. Zudem war er nicht der Typ, der über Vergangenes hinwegsehen würde. Wenn er sie erkannt hatte, würde er sie zur Rede stellen. Dann brauchte sie allen Mut, um zu bestehen.

Am nächsten Morgen hatte sich der Schneesturm gelegt. Donovan trat vor die Hütte in eine weiße Wunderwelt. Schnee glitzerte auf den knospenden Espen und Raureif auf den dunkelgrünen Kiefern rings um das Blockhaus. In der Ferne funkelten die Berggipfel wie Diamanten vor dem klaren Frühlingshimmel. Es ist wunderschön, gestand sich Donovan widerwillig ein, während er seinen Platz verließ und in den Hof ging. Was immer man über diese gottverlassene Gegend denken mochte, sie war eine Augenweide.

Er riss die Axt aus dem Block, in dem sie steckte, und ließ sie auf einen der unbehauenen Holzstämme niedersausen, dass die Splitter nur so flogen. Hinter ihm lag eine schlaflose Nacht. Daran war nicht nur sein neugeborener Neffe schuld. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, hatte er Lydia vor sich gesehen – Sarah – oder wie sie auch heißen mochte.

Vom Grübeln schwirrte ihm der Kopf. Warum hatte sie ihren eigenen Tod vorgetäuscht und war hierher nach Miner’s Gulch entschwunden? Wieso war sie in Panik geraten, als er sie erkannt hatte?

Daraus ließ sich nur ein Schluss ziehen, und der machte ihn krank. Sie hatte als Spionin gearbeitet! Mit Kriegsbeginn war die charmante Witwe Taggert in Richmond aufgetaucht, bei seinem Ende „gestorben“. Die Bediensteten, die ihm von ihrem Tod berichtet hatten, hatten mit ihr offenbar unter einer Decke gesteckt. Die jungen Offiziere, die ihre Empfänge besuchten, waren ihre naiven Opfer gewesen – auch Virgil …

Lydia. Im Geiste sagte er jedes Mal ihren Namen, wenn die Axt aufs Holz niedersauste. Er hätte es erkennen müssen, dass sie eine Spionin war. Dann könnte Virgil noch am Leben sein. Ihm selbst wären zwei höllische Jahre im Camp Douglas erspart geblieben.

Er musste an Richmond und die ersten Kriegstage denken – und an Lydia und ihre Prachtvilla, an ihr Geld und ihre Begabung, die vergnüglichsten Feste der ganzen Stadt zu organisieren. Lydia war eine Blenderin, immer lustig, immer am Lachen, immer von einem Schwarm junger Offiziere umgeben. Auch er selbst war gegen ihren Charme nicht immun gewesen. Aber da sie Virgils Mädchen gewesen war, hatte er sich zurückgehalten.

Hätte er das nur nicht getan! Vielleicht hätte er ihr tödliches Spiel dann rechtzeitig durchschaut.

Jetzt öffnete sich die Hüttentür. Annie und Katy, ihre kleine rothaarige Schwester, kamen die Stufen heruntergetrappelt, in ihre hässlichen Flickenmäntel eingehüllt. Sie winkten ihm zu, als sie über den Hof zum Schluchtpfad gingen.

„Moment, ihr beiden, wohin geht ihr?“ Donovan legte die Axt ab. Er fasste sich an den schmerzenden Nacken und begann ihn zu massieren.

„Wir gehen zur Schule“, zwitscherte die sommersprossige Annie. „Das machen wir immer unter der Woche.“

„Zu Miss Sarah?“ Seine Stimme triefte vor Verachtung.

„Klar. Miss Sarah sagt, Mädchen, die lesen und schreiben können, kriegen alles, was sie nur wollen. Ich bin schon im zweiten Lesekurs, und Katy …“

„Geht zurück ins Haus“, fauchte Donovan. „Heute geht ihr nirgendwohin, eure Mutter braucht eure Hilfe.“

Annie hob das Kinn und drückte die Hand ihrer Schwester fester. „Wir wollten ja bleiben. Mum sagt, sie kommt allein zurecht. Das Lernen ist wichtig. Wir dürfen nichts verpassen, auch heute nicht.“

Donovan seufzte. „Nun dann. Geht also. Aber seid vorsichtig. Rutscht im Schnee nicht aus.“

Seine Warnung verhallte ungehört. Die beiden kleinen Mädchen tollten schon auf der Lichtung und verschwanden dann zwischen den Bäumen. Donovan sah ihnen nach, in ihm braute sich Ärger zusammen. Was würde Varina wohl sagen, wenn sie erfuhr, dass eine Spionin der Yankees ihre beiden Töchter unterrichtete? Vielleicht war es an der Zeit, es ihr zu verraten.

Er schlug die Axt in den Block und ging in die Hütte. Dort saß Varina mit ihrem neugeborenen Sohn im Arm im Bett, die Haare vom Schlaf zerzaust, mit tiefen Schatten unter den Augen, aber einem madonnagleichen Lächeln auf den Lippen.

„Ich muss immer an Charlie denken und daran, wie viel Freude er an diesem Würmchen gehabt hätte“, sagte sie. „Zugegeben, er hat nicht sehr gut für uns gesorgt. Aber dafür hat er seine Kinder geliebt.“ Liebevoll betrachtete sie den vierjährigen Samuel, der wie ein kleiner Hund vor dem Bett kauerte. „Ich hoffe nur, dass sie das nie vergessen.“

Donovan setzt sich auf einen Schemel, seine Schwester tat ihm unendlich leid. „Sowie du reisen kannst, werde ich euch alle nach Kansas mitnehmen. Ihr werdet in einem ordentlichen Haus wohnen. Deine Töchter werden ordentliche Kleider tragen und eine ordentliche Schule besuchen. Und wenn deine Söhne alt genug sind …“

„Nein.“ Varinas sonst eher sanfte Stimme klang ungewöhnlich scharf, und Donovan sah sie bestürzt an.

„Ich werde Miner’s Gulch nicht verlassen. Der Claim hat Charlie so viel bedeutet, und jetzt gehört er mir. Ich weiß, du meinst es gut. Aber ich werde nicht nach Kansas gehen und dort auf Kosten anderer leben. Nicht mal auf Rechnung meines Bruders.“

Donovan verzog verärgert den Mund. Wie hatte er nur vergessen können, wie dickschädelig seine Schwester sein konnte? „Verdammt, Varina. Sieh dich mal um! Selbst die Sklaven haben auf White Oaks besser gelebt als du hier!“

„White Oaks ist Vergangenheit. Wir sind heutzutage nichts Besseres als jeder andere – wenn wir es überhaupt jemals waren.“

„Varina.“

„Nein, du hörst mir zu. Ich habe dir ein Geschäft vorzuschlagen.“

Donovan seufzte. „Wenn du von mir erwartest, dass ich hierbleibe und Gold schürfe …“

„Der Claim gehört mir und den Kindern. Nur, wir schaffen das nicht allein. Für deine Hilfe würde ich dir die Hälfte der Gewinne abtreten. Charlie meinte, er wäre dem Erfolg so nah, würde bald auf die Goldader stoßen …“

„Hör auf, Varina.“ Donovan wusste, dass es grausam war, aber es musste gesagt werden. „Charlie jagte hinter einer Chimäre her. Jedermann weiß, dass in dieser Gegend seit Jahren kein Gold mehr gefunden wurde. Auch wenn das anders wäre, ich bin kein Schürfer, sondern ein Gesetzeshüter.“

„Wie lange noch?“ Varina griff nach seinem Arm. „Wie viel Zeit bleibt dir noch, bis dir irgendein jugendlicher Hitzkopf in den Rücken schießt. Ich habe gerade Charlie verloren. Ich möchte dich nicht auch zu Grabe tragen müssen.“

Donovan ärgerte sich. Eigentlich hatte er Varina reinen Wein über Sarah Parker einschenken wollen, stattdessen hatte sie das Thema bestimmt.

„Hier bin ich zu Hause“, setzte seine Schwester hinzu. „Du könntest auch hier leben. Du könntest dir deine eigene Hütte bauen auf diesem Grund, dir eine Frau suchen und deine Kinder gemeinsam mit meinen aufwachsen lassen.“

„Vergiss es, Varina. Verplan nicht mein Leben.“

„Warum nicht? Wenn das Pläneschmieden den Männern überlassen wäre, wäre diese Welt ein trauriger Ort. Erzähl mir nicht, dass du gegen hübsche Mädchen immun seist. Ich habe es wohl bemerkt, wie du Sarah angesehen hast.“

„Dazu warst du doch gar nicht in der Lage.“

„Ich habe genug gesehen.“ Während Varina über das Öhrchen ihres Kindes strich, meinte sie: „Sarah könnte ohne die Brille ganz nett aussehen und mit einer anderen Frisur. Aber hübsch oder nicht, sie hat, was zählt: ein gutes Herz.“

Donovan unterdrückte einen Zornesausbruch. Varina war noch zu schwach. Es tat nichts zur Sache, wenn er es noch ein oder zwei Tage hinausschob, ihr die Augen über die vermeintliche Freundin zu öffnen. So zwang er sich zur Ruhe. „Was weißt du denn eigentlich über diese Sarah Parker?“

Varina umfasste ihr schlafendes Kind fester. „Dieses Baby und ich wären vielleicht nicht mehr am Leben, wenn Sarah gestern nicht gekommen wäre. Als Charlie starb, kam sie als Erste, um mit mir seine Leiche herzurichten. Und sie unterrichtet meine Töchter – besser könnte ich es auch nicht. Was muss ich noch wissen? Sarah ist ein Engel, so gut wie sie ist sonst kein Mensch auf dieser Welt.“

Donovan glaubte zu ersticken. Er hielt es nicht länger auf dem Schemel aus, sprang auf und trat an das einzige kleine Fenster der Hütte, um in den Schnee hinauszusehen.

„Sie ist ein Yankee“, gab er zu bedenken.

„Der Krieg ist vorbei.“

„Was weißt du über ihre Vergangenheit? Woher kommt sie? Wie ist sie eigentlich in dieses verfluchte Nest geraten?“

„Wenn das für dich so wichtig ist, warum fragst du sie nicht selbst?“ Varina seufzte müde. „Bist du böse, wenn ich noch ein bisschen schlafe? Ein, zwei Tage brauche ich wohl noch, bis ich wieder fit bin.“

„Entschuldige.“ Donovan beugte sich reuevoll über seine Schwester und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Ich hätte dich nicht so aufregen sollen.“

Varina verkroch sich zwischen den Decken und packte das Baby neben sich. Alles tat ihr weh. „Versprich mir etwas“, bat sie im Halbschlaf.

„Dir verspreche ich alles.“

„Lehn mein Angebot nicht einfach ab. Denk einige Tage darüber nach. Vergleiche dein Leben in der Stadt mit dem, was du hier haben kannst.“

„Varina!“

„Denk darüber nach. Nur darum bitte ich.“ Das Letzte flüsterte sie, während ihr die Augen zufielen. Innerhalb von Sekunden war sie eingeschlafen, mit dem Neugeborenen neben sich und dem kleinen Samuel zu ihren Füßen.

Seufzend zog Donovan den Vorhang vor dem Bett zu, um sie vor Zugluft zu schützen. Wenn Varina sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte keiner sie umstimmen. Das war ihm damals klar geworden, als er ihr die Heirat mit Charlie Sutton hatte ausreden wollen. In seinem Wunsch, ihr zu helfen, hatte er unbedacht ihren Eigensinn herausgefordert.

Varina würde Minor’s Gulch nicht verlassen, sondern auf diesem Fleckchen Erde alt und grau werden, ihre Töchter würden erfolglose Träumer heiraten, die ihrem Vater ähnelten, und Samuel und der kleine Charles Donovan ebenfalls keine Zukunft haben. Sie müssten Gold schürfen oder als Gesetzlose enden.

Nein! Das werde ich nicht zulassen. Immerhin sind es meine einzigen Verwandten, schwor sich Donovan. In diesem verlassenen Landstrich sein Leben zu fristen kam für ihn nicht infrage. Doch wenigstens wollte er einige Wochen bleiben, um dringende Reparaturen an der Hütte auszuführen und vielleicht einen zuverlässigen Mann für die Schürfarbeiten einzustellen. In Kansas könnte er nach seiner Rückkehr ein Konto für die Ausbildung seiner Neffen und Nichten eröffnen. Das war er seinen Eltern schuldig – und Virgil.

Ihm schuldete er noch mehr. Donovan wurde die Kehle eng, als er daran dachte. Er trat auf den Vorplatz und starrte den Abhang hinunter in Richtung des Ortes, wo in diesem Moment die heimtückischste Frau, die ihm je begegnet war, seine Nichten unterrichtete. Selbst wenn er ihr vergeben könnte, ihre Anwesenheit hier war ihm unerträglich. Schon mal, weil sie auf Varina und ihre unschuldigen Töchter so einen großen Einfluss ausübte. Was Annie und Katy bei ihr lernen würden, wenn sie größer wurden, konnte er sich gut vorstellen: flirten, betrügen, verraten.

Eins war sicher: Er würde dafür sorgen, dass Lydia, Sarah, oder wie sie nun hieß, aus Minor’s Gulch verschwand. Er durchquerte den Hof, nahm die Axt und machte sich wie ein Wahnsinniger über die Stämme her, die zerkleinert werden mussten. Jeder Schlag brachte eine andere Erinnerung zurück: Lydia, wie sie ihn über ihr Weinglas fixierte, wie ihre Blicke sich trafen, wie sie dann zu Virgil hinsah – Lydia, lachend wie ein kleines Mädchen, als Virgil ihr auf der Schaukel im Garten Schwung gab; Lydia beim Walzer im Ballsaal mit schmaler Taille und fliegenden Röcken wie eine aufgeblühte Pfingstrose. Wenn sie nicht zu Virgil gehört hätte …

Donovan ließ die Axt auf das süß duftende Kiefernholz niederfahren, dass ihm die Splitter nur so um die Ohren flogen. Irgendwie werde ich sie los, schwor er sich. Was es mich auch kostet, sie wird von hier verschwinden.

Miner’s Gulch war während des Goldrausches um 1850 aufgeblüht. In seinen besten Zeiten hatte es fast tausend Einwohner gehabt, die meisten davon waren inzwischen fortgezogen. Nur zweihundert Seelen blieben, sie klammerten sich an ihre Claims, die mit hölzernen Wasserrinnen zum Goldwaschen gesprenkelt waren. Von den wenigen, die ausharrten, träumten ein paar immer noch von dem großen Fund. Die meisten hatten resigniert. Sie waren nur geblieben, weil sie zu arm waren, um ihr Bündel zu schnüren und woanders ihr Glück zu suchen, oder nicht wussten, wohin sie gehen sollten.

Donovan wanderte den zwei Meilen langen Bergpfad hinunter, der von Varinas Besitz zum Ort führte. Inzwischen war es Mittag. Unter der Sonne schmolz der Schnee schnell. Das Wasser tropfte von den kahlen Ästen und verwandelte den Boden unter seinen Stiefeln zu Schlamm. Dem schenkte er allerdings wenig Beachtung. Seine düsteren Gedanken drehten sich um die bevorstehende Auseinandersetzung mit Sarah.

Immer wieder stellte er sich vor, wie er was zu ihr sagen würde. Er würde ruhig und entschlossen auftreten und kein bisschen nachgeben. Wehe, wenn sie ihn einzuwickeln versuchte! Da würde sie auf Granit beißen!

Er hatte den Wald durchquert und konnte nun das Städtchen liegen sehen – ein Gesprenkel baufälliger hölzerner Gebäude, die sich wie eine Ansammlung rötlicher Giftpilze aus dem Boden erhoben, hastig auf seichtem Grund erbaut, liederlich und schief zu beiden Seiten der verschlammten Straße. Viele von ihnen waren mit Brettern vernagelt oder ihrer Glasfenster beraubt worden. Selbst die noch bewohnten Häuser sahen aus, als würden sie bei heftigem Wind umfallen. Schlimm, dass Varina so versessen darauf ist, hier zu bleiben, grübelte Donovan, während er der letzten Biegung des Pfades folgte. Sarah passt allerdings hierher. Sie kann hier glatt die Königin spielen und dabei auf einem vergoldeten Spucknapf thronen.

Ich werde unsachlich, berief sich Donovan. Das hilft mir nicht weiter. Er wollte kalt und unversöhnlich bleiben und sein Anliegen so vortragen, dass es keinerlei Missverständnisse gab. Er würde gehen und es ihr überlassen, die Konsequenzen zu ziehen. Nichts lag ihm daran, grausam zu sein. Er wollte nur, dass sie verschwand.

Er schritt schneller aus und versuchte die Wut zu unterdrücken, die sich jedes Mal in ihm regte, wenn er an sie dachte. Die lustige Lügnerin Lydia – die Heimtücke in Person –, sogar letzte Nacht …

Ach, das zählte nicht. Die spröde, schüchterne Sarah hatte ihm gefallen. Doch sie war nur vorgespielt, also ein Fantom, eine Erfindung von Lydia Taggert. Wer war diese Frau eigentlich?

Er hatte die ersten Häuser des Ortes erreicht, verringerte das Tempo und bemühte sich um Ruhe, indem er die Häuser, an denen er vorbeiging, betrachtete. Das einstöckige Hotel war schon vor Jahren aufgegeben worden. Die grüne verblichene Farbe blätterte wie Haut nach einem Sonnenbrand ab. Das Büro für Gesteinsproben hatte geschlossen. Von Varina wusste er, dass der Ladeninhaber Satterlee bei den wenigen Funden als Prüfer fungierte. Der Friseur öffnete nur mittwochs und samstags. Er war auch noch als Leichenbestatter beschäftigt und richtete gelegentlich Knochenbrüche. Sarah versorgte die wenigen Frauen und Kinder.

Sogar das Büro des Sheriffs war leer, abgesehen vom Staub und einer Rattensippe. Es schien sich in diesem Kaff nicht zu lohnen, irgendwelche Gesetze zu brechen, oder es kümmerte niemanden, ob es sie gab oder nicht.

Die Straße war morastig. Vor der Tür des Saloons waren Bretter ausgelegt worden. Tatsächlich stellte der Saloon das einzige Unternehmen in Minor’s Gulch dar, das florierte. Sogar jetzt um die Mittagszeit drückten sich hier Müßiggänger herum, angezogen vom Whisky, unmelodischem Klaviergeklimper und den käuflichen Mädchen, die sich in den Fenstern der oberen Räume feilboten. Donovan mied ihre Blicke beim Vorbeigehen. Normalerweise hatte er nichts gegen die Gesellschaft von Huren. Einige besaßen gerade die Herzlichkeit und Ehrlichkeit, die den sogenannten anständigen Frauen fehlten. Aber in diesem Ort lebte seine Schwester, und die Leute redeten gern. Solche Schwierigkeiten brauchten Varina und er nicht. Zudem hatte er gerade eine andere Art Hure im Sinn.

Zwei Türen weiter war der Kaufmannsladen von Satterlee. Im oberen Stockwerk gingen drei Fenster zur Straße hinaus. Bis auf Augenhöhe waren sie mit Vorhängen aus Sackleinen dekoriert. Donovan riskierte einen vorsichtigen Blick hinauf, hoffte auf ein Zeichen, das auf ihre Anwesenheit schließen ließ. Aber es war nichts zu sehen, außer dem hellen Frühlingshimmel, der sich dort spiegelte. Langsam drehte er sich fort. Es brachte nichts, wenn sie ihn hier unten stehen und zu ihren Fenstern hinaufsehen sah.

Gerade überlegte er, was er nun tun solle, als eine bunte Kinderschar durch das Gässchen neben dem Geschäft gesprungen kam. Als er seine beiden Nichten entdeckte, erkannte er, dass Sarah soeben ihren Unterricht beendet hatte. Der Magen zog sich ihm zusammen. Ja, sie würde da sein. Dies war seine Chance, die er nutzen wollte.

„Onkel Donovan!“ Die kleine Katy hatte ihn erblickt und winkte ihm zu. Dann zerrte sie ihre Schwester, die sie an der Hand hielt, mit sich. „Was machst du hier? Willst du uns abholen?“

Donovan seufzte. Er fasste in die Hosentasche und holte eine Handvoll Münzen hervor. „Hier“, brummelte er. „Geht in den Laden und kauft für euch und Samuel Pfefferminzbonbons. Dann lauft nach Hause. Wenn ich meine Geschäfte hier erledigt habe, hole ich euch ein.“

„Danke.“ Annie zählte das Geld sorgsam, während Katy wie ein kleines Hündchen um sie herumsprang, das sich auf einen Knochen freut. Sie zog ihre Schwester stolz zum Ladeneingang, wobei der Schlamm unter ihren kleinen Stiefeln aufspritzte.

Autor

Elizabeth Lane
Immer auf der Suche nach neuen Abenteuern und guten Stories, hat Elizabeth Lane schon die ganze Welt bereist: Sie war in Mexiko, Guatemala, Panama, China, Nepal und auch in Deutschland, aber am wohlsten fühlt sie sich im heimatlichen Utah, im Westen der USA. Zurzeit lebt sie mit ihrer 18jährigen Katze...
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