Gefangen zwischen Pflicht und Verlangen

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Nur allmählich kehrt nach dem Unfall sein Gedächtnis zurück. Doch eines weiß Joe Wilcox sofort: Die bezaubernde Chloe, die ihn gesund pflegt, ist die Frau, auf die er sein Leben lang gewartet hat. Aber er darf sie nicht lieben, denn diese Liebe ist ein Verrat an seinem Ehrenkodex …


  • Erscheinungstag 18.05.2023
  • ISBN / Artikelnummer 9783751522540
  • Seitenanzahl 160
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Brighton Valley in Texas war der letzte Ort auf Erden, in den Joe Wilcox je wieder einen Fuß setzen wollte. Er hatte jedoch versprochen, einen Brief für einen Freund abzuliefern, und eines konnte man mit absoluter Sicherheit über ihn sagen: Er hielt stets Wort.

Also packte er im Militärstützpunkt Camp Pendelton ein paar Habseligkeiten, nahm sich einen Mietwagen und verließ Kalifornien. In El Paso legte er einen Zwischenstopp ein und setzte die Fahrt am nächsten Morgen fort.

Neunhundert Meilen später traf er erschöpft und hungrig in Brighton Valley ein und checkte in ein billiges, aber sauberes Motel namens Night Owl ein. Sobald er sein Zimmer betrat, verstaute er seine zwei Seesäcke unter dem Bett, denn der Kleiderschrank war für ihn ein unsicherer Ort, seit er als Kind seine Wertgegenstände vor seinem Onkel versteckt hatte, dem häufig das Geld für Zigaretten oder Whisky ausgegangen war.

Eigentlich hatte Joe diese Gewohnheit schon vor Jahren abgelegt, doch die Rückkehr in die Kleinstadt rief seltsame Erinnerungen wach und brachte ihn ein wenig aus dem Gleichgewicht.

Als Nächstes nahm er eine lange heiße Dusche, schlüpfte in bequeme, abgetragene Jeans und ein schwarzes Sweatshirt, und machte sich auf den Weg zum Stagecoach Inn auf der anderen Seite des Highways.

Trotz der jahreszeitlich bedingten Kälte, die in der Luft lag, hätte ihm ein kühles Blondes gut gemundet, aber Drinks oder Zerstreuung standen nicht auf seiner Agenda. Er hatte eine Mission zu erfüllen. Er musste einer kaltherzigen Kellnerin namens Chloe Dawson einen Brief von Dave Cummings übergeben, dem sie das Herz gebrochen hatte.

Als Joe am Straßenrand auf eine Lücke im dichten Verkehr wartete, zog er das Foto von Chloe heraus und musterte es im Licht der Straßenlaternen. Der grobkörnige Schnappschuss ließ platinblonde lange Locken und eine umwerfende Figur erkennen.

Während der Stationierung in Afghanistan hatte Dave von nichts anderem als von dieser Frau und seinen Träumen für eine gemeinsame Zukunft mit ihr gesprochen. Als Einzelkind bei liebevollen Eltern aufgewachsen, hatte er sich ein ähnlich glückliches Leben für sich selbst erhofft.

Joe hatte ihn ein wenig beneidet. Denn er selbst hatte keine Angehörigen – zumindest keine, an denen ihm etwas lag – und sich folglich nie ein idyllisches Familienleben auszumalen gewagt.

Es war ihm ein Rätsel, was eine attraktive Frau wie Chloe an einem großherzigen, aber naiven verwöhnten Weichling wie Dave finden mochte.

Sensibel wie er war, hatte Dave der unerwartete Tod seines Vaters schwer getroffen. Dass bei seiner Mutter neun Monate später Krebs diagnostiziert worden war, hatte ihn völlig am Boden zerstört.

Offensichtlich hatte diese Chloe seinen angegriffenen, verletzlichen Zustand zu ihren Gunsten zu nutzen verstanden. Sie hatte sich bei seiner verwitweten Mutter auf der Ranch eingenistet, und er hatte sich bei seinem nächsten Heimaturlaub im letzten Sommer Hals über Kopf in sie verliebt.

Als Mrs. Cummings ihrem Leiden erlegen war, hatte Chloe versprochen, sich um die Ranch zu kümmern und auf Daves Heimkehr zu warten. Im Gegenzug hatte er ihr das Blaue vom Himmel verhießen.

Allein der Traum, sie gleich nach Beendigung seines Auslandseinsatzes zu heiraten und mit ihr eine Schar Kinder aufzuziehen, hatte ihn aufrecht gehalten. Sie hingegen erträumte sich ein ganz anderes Leben, eines ohne Dave. Und das Schicksal hatte ihr diesen Wunsch erfüllt.

Endlich gelang es Joe, die Straße zu überqueren. Seine Stiefel knirschten auf dem Kies, als er über den Parkplatz zum Eingang des Stagecoach Inn ging, dessen Schaufenster mit bunt blinkender Weihnachtsbeleuchtung lockte.

Soweit er wusste, kellnerte Chloe in der Spelunke. Und Dave hatte nächtelang in den vom Krieg erschütterten Wüsten von Afghanistan wach gelegen und sich gesorgt, dass irgendein ungehobelter Cowboy sie abschleppen könnte.

Ist das passiert? Hat sie jemanden gefunden, der besser aussieht oder reicher ist?

Der Grund, aus dem sie Dave das Herz gebrochen hatte, war eigentlich unwichtig. Ihr kaltes rücksichtsloses Handeln, das allein zählte.

Vor lauter Kummer über ihren Abschiedsbrief hatte Dave sich in eine selbstmörderische Kampfhandlung gestürzt und dadurch fast sein Leben verloren.

Joe war ihm zu Hilfe geeilt und ebenfalls verwundet worden. Und all das wegen dieser verdammten Kellnerin! Hätte sie mit der Trennung nicht bis zu seiner Heimkehr warten können?

Als er die heruntergekommene Kneipe betrat, schlugen ihm Countrymusik und Gelächter entgegen. Für einen Moment blieb er in der Tür stehen, um seine Sinne an das düstere Interieur, an den Geruch von Alkohol und Rauch, an den Krach aus der Jukebox und den Lärm des Stimmengewirrs zu gewöhnen.

Schließlich ging er über die zerkratzten Holzdielen zum Tresen und fragte den Barkeeper: „Kennen Sie eine Chloe Dawson?“

„Ja. Die hat mal hier gearbeitet.“

„Wieso jetzt nicht mehr?“

„Sie hat gekündigt.“

„Wissen Sie, wo ich sie finden kann?“

„Keine Ahnung, wo sie steckt.“

Das glaubte Joe keine Sekunde. Aber sein Bauchgefühl sagte ihm, dass sie noch immer auf der Cummings-Ranch lebte. Warum auch nicht? Seines Wissens hatte Dave ihr den Besitz testamentarisch hinterlassen.

Wusste sie das bereits? Dave war zum Zeitpunkt seines Todes bereits aus dem Militär entlassen gewesen, sodass man sie vielleicht nicht benachrichtigt hatte. Wie lange mag es dauern, bis eine Nachricht aus der Welt da draußen ein Kaff wie dieses erreicht?

Während der Barkeeper am anderen Ende der Theke Getränke servierte, setzte Joe sich auf einen Barhocker. Es war schon zu spät, um noch an diesem Abend auf die Ranch hinauszufahren. Die Sonne war schon vor Stunden untergegangen, und er war erschöpft.

Der Barkeeper kehrte zurück. „Was darf’s sein?“

Joe war sich nicht sicher. Etwas Starkes, das ihm half, abzuschalten und Schlaf zu finden? Oder etwas Leichtes, um den Straßenstaub hinunterzuspülen, den er während der Fahrt von El Paso geschluckt hatte? „Ich nehme ein Corona.“

„Kann ich Ihren Ausweis sehen?“

Mit sechsundzwanzig, nach acht Jahren beim Militär und erst seit wenigen Monaten zurück in den Staaten, war Joe es nicht gewohnt, auf Volljährigkeit überprüft zu werden. Aber er griff in die Hosentasche – und fand nichts. Wo zum Teufel …?

Er musste seine Brieftasche auf dem Nachttisch liegen gelassen haben, neben seinem Handy und dem Zimmerschlüssel. Er hatte nichts weiter bei sich als Daves Brief und das Foto. Beides nützte ihm momentan wenig. „Ich bin gegenüber im Night Owl abgestiegen. Offensichtlich habe ich meine Brieftasche dort liegen lassen.“

„Tut mir leid, Kumpel. Mein Vorgänger wurde gefeuert, weil er einem Minderjährigen Alkohol serviert hat. Ich muss jeden überprüfen, der jünger als dreißig aussieht.“

„Ich verstehe. Ich muss sowieso mein Geld holen. Halten Sie das Bier für mich kalt. Ich bin gleich wieder da.“ Joe glitt vom Hocker und lief zur Tür hinaus.

Auf dem Weg über den Parkplatz taumelte ein Betrunkener an ihm vorbei zu einem Pick-up Silverado.

„Sie wollen doch wohl nicht mehr fahren, oder?“, fragte Joe.

„Was geht’s dich an? Nerv mich nicht!“

Eine Frau kam aus der Kneipe und rief: „Larry, warte! Ich hab’ doch gesagt, dass ich fahre. Ich gehe bloß schnell bezahlen.“

Erleichtert wandte Joe sich ab und ging weiter zum Highway. Er war sich nicht mehr sicher, ob er in die Kneipe zurückkehren wollte. Denn der Betrunkene erinnerte ihn an all die Nächte, in denen sein Onkel Ramon lallend nach Hause getorkelt war und die Fäuste gegen seine Frau und jeden erhoben hatte, der ihm in die Quere gekommen war.

Auch Dave war nach der Entlassung bei den Marines dem Alkohol verfallen. Allein durch die Vorstellung, als Folge seiner schweren Verwundung körperlich versehrt durchs Leben gehen zu müssen, war der ohnehin emotional gestörte Mann in eine tiefe Depression versunken, aus der er nicht mehr herausgefunden hatte.

Aufgrund seiner Schussverletzung gehörte auch Joe nicht mehr dem Marine Corps an, aber er hatte seine Enttäuschung weitgehend überwunden und sich um Dave gekümmert – in der festen Absicht, ihm aus dem Tief zu helfen.

Doch eines Abends, an einem absoluten Nullpunkt angelangt, hatte Dave eine überhöhte Dosis seines verordneten Schmerzmittels mit Neunzigprozentigem hinuntergespült und damit seinen Kummer für immer beendet.

Der Gerichtsmediziner hatte den Tod als Unfall deklariert, als unbeabsichtigte Überdosis. Joe war da allerdings anderer Meinung und sehr versucht, den Sachverhalt prüfen zu lassen.

Irgendwo existierte eine Lebensversicherung, die niemandem nützte, wenn der Tod als Selbstmord eingestuft wurde. Als Begünstigte war vermutlich Chloe Dawson eingetragen, der Dave seinen gesamten Besitz wie die Ranch in Brighton Valley hinterlassen hatte.

Wie kann eine so herzlose Frau nur so viel Glück haben? Kopfschüttelnd wollte Joe gerade die Straße überqueren, da wurde direkt hinter ihm ein Auto gestartet. Er blickte über die Schulter zurück und beobachtete, wie der Silverado nicht rückwärts aus der Parklücke fuhr, sondern mit aufheulendem Motor und Kies sprühenden Reifen vorwärts über den Kantstein schoss.

Es blieb keine Gelegenheit zum Ausweichen.

Und ich dachte, der Tag könnte nicht schlimmer werden. Das war Joes letzter Gedanke, bevor er von dem Truck erfasst und in die Luft geschleudert wurde.

Der Anruf vom Brighton Valley Medical Center kam mitten in der Nacht. Mit pochendem Herzen umklammerte Chloe Dawson den Hörer, als sie gebeten wurde, ins Krankenhaus zu kommen und das Opfer eines Unfalls mit Fahrerflucht zu identifizieren, bei dem es sich mutmaßlich um David Cummings handelte.

„Ist er … tot?“, wisperte sie.

„Nein, aber bewusstlos.“

„Ich komme sofort.“

Hastig schlüpfte sie in Jeans und Sweater, lief aus dem Haus und fuhr in die Stadt. Mit feuchten Händen bediente sie Lenkrad und Schalthebel, mit zitternden Beinen die Pedale.

Zwanzig Minuten später erreichte sie die Klinik und fragte an der Rezeption nach Dr. Betsy Nielson.

Chloe hatte die Notaufnahme schon häufig aufgesucht – mit Daves Mutter Teresa und auch mit Bewohnern des Pflegeheims Sheltering Arms, in dem sie bis vor Kurzem als Pflegekraft gearbeitet hatte. Daher war sie sehr gut mit der ausgezeichneten Ärztin bekannt, und es machte ihr ein wenig Mut, dass Dave unter so hervorragender Obhut stand.

Schon nach wenigen Minuten erschien Betsy im Wartebereich. „Danke, dass du so schnell gekommen bist, Chloe.“

„Keine Ursache. Ich bin froh, dass du mich verständigt hast. Wie geht es ihm?“

„Er ist jetzt bei Bewusstsein, aber ich fürchte, das nützt nicht viel. Er hat Amnesie und keine Ausweispapiere bei sich.“

„Und du glaubst, dass es Dave ist?“

„Ich bin ihm nie begegnet und habe deshalb keine Ahnung, wie er aussieht. Der Patient ist Mitte bis Ende zwanzig und hat das Wappen der Marines auf dem linken Bizeps tätowiert.“

Chloe hatte seit Monaten nichts von Dave gehört. Nicht, seit sie ihm klipp und klar geschrieben hatte, dass ein paar gemeinsame Mahlzeiten in der Krankenhaus-Cafeteria von ihrer Seite aus nicht auf einen Gang zum Altar hinausliefen. Es war ihr sehr schwergefallen, ihm wehtun zu müssen, zumal er so weit weg von zu Hause war. Doch in seinen Briefen aus Afghanistan war mehr und mehr von Hochzeitsplänen die Rede gewesen. Deshalb hatte sie klarstellen müssen, dass sie lediglich mit ihm befreundet sein wollte.

„Wie schlimm ist er verletzt?“, erkundigte sie sich nun. „Wird er wieder gesund?“

„Er hat Prellungen, Schnittwunden und Abschürfungen. Seine schlimmste Verletzung scheint eine Gehirnerschütterung zu sein.“

„Wo ist es passiert?“

„Auf dem Highway vor dem Stagecoach Inn.“

Chloe hatte eine Zeit lang in der Kneipe gearbeitet – in der Hoffnung, sich genügend Geld zu verdienen, um gleich nach Daves Heimkehr ihre Ausbildung zur Krankenschwester fortzusetzen. Doch sie scheute Konfrontationen und hatte daher gekündigt, weil ihr zu fortgeschrittener Stunde immer wieder ungehobelte Gäste zu nahe getreten waren.

„Hat ihn irgendwer im Stagecoach Inn gesehen? Dave hat eigentlich nie getrunken.“ War er auf der Suche nach ihr in die Kneipe gegangen? Da ihr letzter Brief an ihn zurückgekommen war, wusste er womöglich noch nicht von ihrer Kündigung.

„Das weiß ich nicht. Die Untersuchungen laufen noch. Anscheinend war er zu Fuß unterwegs. Eine Zeugin hat quietschende Reifen und einen Aufprall gehört, aber nur noch die Rücklichter eines Fahrzeugs gesehen. Da er keine Papiere bei sich hat, ist der einzige Hinweis auf seine Identität ein Brief, den er bei sich hatte.“

„Was für ein Brief?“

„Von Dave Cummings, an dich adressiert. Deswegen habe ich dich gebeten, ihn zu identifizieren.“

„Kann ich ihn jetzt gleich sehen?“

„Natürlich. Komm mit.“

Betsy führte Chloe durch ein Wirrwarr an Korridoren zu einem kleinen Raum direkt neben dem Schwesternzimmer. „Da ist er.“

Sobald Chloe den Mann im Bett erblickte, blieb sie abrupt stehen und registrierte die Details. Dunkles kurzes Haar. Olivfarbener Teint. Markantes Kinn. Geschlossene Augen. Attraktives Gesicht mit Kratzern. „Tut mir leid, Betsy, das ist nicht Dave Cummings.“

„Weißt du denn, wer er ist?“

„Ich habe ihn noch nie gesehen.“ Sonst würde ich mich mit Sicherheit an ihn erinnern. Selbst schlafend und mit Prellungen übersät, hätte dieser umwerfende Mann einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Der Klang der Stimmen weckte ihn. Als er die Augen aufschlug, stockte Chloe der Atem, denn sie waren von einem ungewöhnlich strahlenden Himmelblau.

Er fixierte sie mit einem verwirrten Blick. „Wer sind Sie?“

„Chloe Dawson. Sie hatten einen an mich adressierten Brief bei sich. Kennen Sie Dave Cummings?“

„Ich müsste ihn kennen, da der Brief von ihm stammt.“ Er hob eine Hand und massierte sich die Schläfen. „Aber der Name sagt mir nichts.“

„Vielleicht sind Sie mit ihm befreundet. Ich würde ihn ja fragen, aber ich weiß nicht, wie ich ihn erreichen kann. Als ich das letzte Mal von ihm gehört habe, war er in Afghanistan stationiert. Inzwischen könnte er wieder in den Staaten sein.“

Der attraktive Marine wandte sich an seine Ärztin. „Anscheinend hat mein Gehirn durch den Unfall gelitten, und das Schmerzmittel, das mir die Schwester verabreicht hat, macht verdammt müde.“

„Das ist gut so“, sagte Betsy. „Vielleicht wachen Sie morgen früh erfrischt auf und erinnern sich, wer Sie sind und was Sie in Brighton Valley machen.“

„Ich würde den Brief gern sehen“, sagte Chloe. „Ich habe seit Monaten nichts von Dave gehört und mache mir Sorgen um ihn.“

„Ich habe ihn nicht. Die Sanitäter haben mir nur davon erzählt. Soweit ich weiß, benutzt Sheriff Hollister ihn für seine Nachforschungen.“

„Meint er etwa, dass der Brief einen Anhaltspunkt auf den flüchtigen Fahrer gibt? Das ergibt doch keinen Sinn.“

„Wahrscheinlich war es ein zufälliger Unfall. Aber er will ein kriminelles Motiv ausschließen.“

Chloe versteifte sich. Geht es um ein Verbrechen? Ist dieser unbekannte Marine in illegale Machenschaften verwickelt?

Betsy legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Ich bin überzeugt, dass es keinen Grund zur Sorge gibt. Sheriff Hollister war früher Detective in Houston und geht daher besonders gründlich vor. Er befragt mögliche Zeugen und die Angestellten der umliegenden Geschäfte. Wahrscheinlich hat er den Fall schon morgen früh geklärt.“

Das hoffte Chloe. Der arme Mann konnte ihr nur leidtun – verletzt, allein und verwirrt, wie er war. „Falls der Brief keinen Aufschluss auf seine Identität gibt, erfahren wir vielleicht, wo wir Dave finden können. Der müsste Licht auf das Problem werfen können.“

„Ich nehme an, dass ich das Problem bin, das Sie zu lösen versuchen“, warf der Marine ein. „Das wirkt ein bisschen verstörend.“

„Das wollte ich nicht implizieren.“ Chloe rückte näher zum Bett. „Außerdem hätte ich gedacht, dass Sie der Sache auf den Grund gehen möchten.“

„Allerdings.“ Der Unbekannte seufzte schwer. „Woher kennen Sie diesen Dave Cummings?“

„Ich bin eine Freundin der Familie. Ich wohne auf seiner Ranch und hüte das Haus, bis er zurückkommt.“

„Entschuldige mich bitte“, warf Betsy ein. „Ich kümmere mich jetzt um die Papiere, die für einen stationären Aufenthalt nötig sind.“

„Okay. Nimm bitte meine Kontaktdaten in diese Papiere auf. Da er vermutlich ein Freund von Dave ist, möchte ich über seinen Zustand informiert bleiben.“

Betsy wandte sich an ihren Patienten. „Hätten Sie etwas dagegen?“

„Solange sie nicht als nächste Angehörige aufgelistet wird, bin ich einverstanden.“

Verständnislos fragte Chloe: „Warum hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mit Ihnen verwandt wäre?“

Er grinste schelmisch. „Weil Sie so verdammt hübsch sind. Wären wir blutsverwandt, müsste ich Ihnen die Verehrer vom Leib halten, anstatt mich ganz nach oben auf die Liste zu kämpfen.“

„Ach ja?“, murmelte sie verlegen. Der unbekannte Soldat ist nicht nur attraktiv, sondern dazu ein Charmeur. Insgeheim suchte sie an seiner Hand nach einem Ehering und atmete auf, als sie keinen fand.

Dabei war es eigentlich egal, ob er vergeben war. Sie hatte schon genug am Hals, auch ohne sich den Stress einer Romanze anzutun. Wichtig war er ihr nur, weil er die einzige Verbindung zu Dave darstellte.

Und solange der nicht nach Hause kommt und die Ranch übernimmt, hänge ich in der Luft und kann meine Zukunftspläne nicht verwirklichen.

2. KAPITEL

Der Vorarbeiter der Ranch, Tomas Hernandez, hatte gerade Feierabend gemacht, als Chloes Handy klingelte. Sie erkannte die Nummer vom Brighton Valley Medical Center und nahm das Gespräch an.

„Hier ist Betsy Nielson. Joseph Wilcox ist in stabiler Verfassung und kann entlassen werden.“

„Wovon sprichst du?“

„Von dem Unfallopfer, das du gestern Nacht aufgesucht hast.“

„Hat er sein Gedächtnis wieder?“

„Leider nicht. Aber Sheriff Hollister hat in Erfahrung gebracht, dass er ein gewisser Joseph Wilcox aus Kalifornien ist, der gestern Abend in das Motel Night Owl eingecheckt hat. In dem Zimmer wurden Ausweispapiere und Leihwagenschlüssel gefunden. Allerdings weiß man sonst nichts über seine Person oder den Grund seines Aufenthalts hier in Texas.“

Chloe erinnerte sich, dass Dave einen Kameraden namens Joe erwähnt hatte. Der Nachname war ihr allerdings nicht bekannt.

Betsy fuhr fort: „Offensichtlich ist er beim Militär gelistet, aber es wird eine Weile dauern, nähere Informationen zu erhalten. Und wie gesagt, er ist körperlich stabil. Daher habe ich keinen Grund mehr, ihn länger hier zu behalten.“

„Das Krankenhaus wird ihn doch wohl nicht auf die Straße setzen! Er hat kein Gedächtnis, keine Unterkunft und niemanden, der sich um ihn kümmert.“

„Deswegen rufe ich dich ja an. Da du deine Personalien als Notfallkontakt hinterlassen hast, hoffe ich, dass wir ihn in deine Obhut entlassen können. Falls du die Verantwortung lieber nicht übernehmen willst, kann ich das allerdings verstehen.“

Chloe wollte nicht Nein sagen. Schließlich fühlte sie sich berufen, anderen zu helfen. Trotzdem zögerte sie, denn sie wohnte allein in dem Ranchhaus, und der Mann war ein Fremder. Andererseits wusste sie, dass er zumindest früher einmal bei den Marines gedient hatte und anscheinend ein Freund von Dave war. Warum sonst war er im Besitz eines an sie adressierten Briefes? „Um welche Uhrzeit soll er denn entlassen werden?“

„Eigentlich sofort.“

Sie ging zur Hintertür und nahm eine dicke Jacke gegen die Winterkälte vom Haken. „Ich bin schon unterwegs.“

„Großartig! Er ist in Zimmer Nummer 327 im dritten Stock. Ich mache inzwischen seine Entlassungspapiere fertig.“

Kurz darauf stieg Chloe in den klapprigen grünen Pick-up und drehte den Zündschlüssel. Der uralte Motor sprang bereitwillig an. Er war genauso zuverlässig wie sie selbst.

Gewisse Vorbehalte hegte sie schon dagegen, einen Wildfremden bei sich aufzunehmen. Doch sie verdrängte die Bedenken und rief sich in Erinnerung, wie sie damals, als sie auf der Straße gesessen hatte, von Daves Mutter Teresa Cummings mit offenen Armen auf der Rocking C Ranch aufgenommen worden war. So gesehen ist es meine Art, mich zu revanchieren, wenn ich diesen Joseph Wilcox aufnehme.

Außerdem hätte Teresa den verwundeten Marine ohne Zögern unter ihre Fittiche genommen. Zeitlebens hatte sie auf der Rocking C eine offene Tür für Streuner gehabt, ob nun vierbeinige oder zweibeinige. Und Chloe wollte die Ranch in Teresas Sinn fortführen. Das bedeutete, das Opfer eines Autounfalls mit Fahrerflucht, das sich nicht an seinen eigenen Namen erinnerte, dort genesen zu lassen.

Als sie die Klinik erreichte, war es dunkel geworden. Sie betrat die Lobby, die mit blinkenden Lichtern und einem riesigen Weihnachtsbaum geschmückt war, und nahm den Aufzug in den dritten Stock.

Auf der Station herrschte hektische Betriebsamkeit, die sie an die Schichtwechsel im Pflegeheim Sheltering Arms erinnerte. Leider gehörte sie nicht mehr zur Belegschaft – dank des Verwalters, der sie, statt einer unfähigen Stationsschwester entlassen hatte.

Die Tür zu Zimmer 327 stand offen. Chloe trat ein, blieb jedoch abrupt stehen, als sie den verwundeten Mann in abgerissener Jeans und mit nacktem Oberkörper beim Bett stehen sah. Fasziniert beobachtete sie, wie seine Muskeln spielten, während er ein zerrissenes schwarzes Sweatshirt anzuziehen versuchte, das er offensichtlich bei dem Unfall getragen hatte. „Soll ich …? Ich meine, ich könnte …“

Er sah über die Schulter. Seine verblüffend tiefblauen Augen hielten ihren Blick gefangen und enthüllten etwas Verletzliches in den Tiefen. „Danke, ich schaffe das schon.“

Von einigen Kratzern auf dem attraktiven Gesicht und einem Verband an der linken Hand abgesehen, sah er stark und gesund aus. Man merkte ihm kaum an, dass er in der vergangenen Nacht auf einer Trage eingeliefert worden war.

Vielleicht hätte ich mir ein paar Minuten nehmen sollen, um mich frisch zu machen und umzuziehen, dachte Chloe unwillkürlich. Nicht, dass sie schmutzig oder ungepflegt aussah. Nur dass … Ach, vergiss es! Du hast keine Zeit, dich mädchenhaften romantischen Anwandlungen hinzugeben.

„Ich will mich nicht aufdrängen, aber mit dem Verband und so dachte ich …“ Sie verstummte und schüttelte den Kopf. „Tut mir leid. Ich hätte nicht einfach so hier hereinschneien sollen. Aber … Nun, Sie sind Joseph Wilcox, richtig?“

„So steht es da drinnen.“ Er deutete zu einem Stapel Papiere auf dem Nachttisch.

Doch sie behielt den Fokus auf seinen breiten Schultern und den dunklen Härchen, die seinen muskulösen Oberkörper zierten. „Erinnern Sie sich an mich?“

„Sie waren gestern Abend bei mir, um mich zu identifizieren. Chloe Dawson, richtig?“

Autor

Judy Duarte
<p>Judy liebte es schon immer Liebesromane zu lesen, dachte aber nie daran selbst welche zu verfassen. „Englisch war das Fach in der Schule, was ich am wenigsten mochte, eine Geschichtenerzählerin war ich trotzdem immer gewesen,“ gesteht sie. Als alleinerziehende Mutter mit vier Kindern, wagte Judy den Schritt zurück auf die...
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