Geheimnisvoller Engel

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William of Thalsbury ahnt, dass Olivia keine Dienerin ist: Ihre Hände sind zu zart für die Arbeit in der Küche. Doch wer ist die geheimnisvolle Schönheit mit den unergründlichen Augen, die sogar das Herz des starken Ritters in weihnachtliche Stimmung versetzt?


  • Erscheinungstag 26.11.2014
  • ISBN / Artikelnummer 9783733764524
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Thalsbury Castle

22. Dezember 1193

Von der Weide her, die südlich der Burgmauern lag, erklang plötzlich der heisere Gesang von Weihnachtsliedern, und eine Schar fröhlicher Zecher tauchte aus dem Wald auf. Einige gingen zu Fuß, andere saßen auf Wagen, die hochbeladen waren mit Grün, und wieder andere ließen ihre Hengste traben. Die Tiere waren an das Kriegshandwerk gewöhnt. Seitdem unter der segensreichen Herrschaft von William, Lord of Thalsbury, Frieden herrschte, wurden sie nicht ausreichend bewegt.

Lord Thalsbury war es auch, der die Gruppe anführte und dabei am lautesten, wenn auch nicht unbedingt am schönsten, sang. Die Wintersonne zauberte helle, goldene Funken in sein blondes Haar, und seine Augen blitzten vor vergnügtem Mutwillen. Er neige dazu, wie ein ungezogener Junge auszusehen, hatte eine Dame seiner Bekanntschaft einmal gesagt, und das war nur allzu wahr. Ein sehr attraktiver ungezogener Junge, mit einem Charme, der mit erotischen Verheißungen bezauberte und einem Mund – so ging das Gerücht –, der diese Verheißungen wahrmachte.

Er lachte laut, als er die Worte des Liedes durcheinanderbrachte. Achselzuckend fing er von vorne an, und die anderen stimmten mit ein. Lächelnd und mit vor Freude gerötetem Gesicht saß er entspannt auf seinem Hengst. Er liebte Weihnachten; für ihn war es die schönste Zeit im Jahr, die immer damit begann, wenn das Waldgrün gesammelt wurde.

Mit ihrer Fracht – Stechpalmen, Lorbeer und großen Kiefernzweigen – näherten er und seine Gruppe sich Thalsbury. Damit es genügend Misteln gab, war er selbst auf einen mächtigen Baum geklettert, um sie von ihrem Platz in steiler Höhe herunterzureißen. Triumphierend hatte er sie hochgehalten, während die anderen begeistert jubelten.

„Ich erwarte eure Huldigung, ihr hässlichen Kreaturen“, hatte er gerufen und war wegen des Beifalls kaum zu verstehen gewesen. „Denn heute habe ich euch davor gerettet, die Weihnachtszeit verbringen zu müssen, ohne dass ein Kuss euren … äh, Geist belebt.“

Alles in allem ist es ein wirklich wunderbarer Tag, stellte er fest, während sie sich dem Torhaus näherten. Dann sah er den Reiter, der auf der Zugbrücke wartete. Wills Lächeln erstarb, während seine hochgewachsene Gestalt erstarrte. Es war eine seltsame Reaktion beim Anblick eines Mannes, den er einst seinen Freund genannt hatte.

An der Identität des Mannes gab es keinen Zweifel. Seine schiere Größe, das im Wind flatternde helle Haar und die nordischen Gesichtszüge, die eine Erhabenheit besaßen, die Angst und Ehrfurcht zugleich einflößte, hatten nicht ihresgleichen. Unter anderen Umständen hätte Will sich gefreut, Agravar in seinem Heim willkommen zu heißen, aber es konnte nur einen Grund geben, warum Agravar der Wikinger Thalsbury zu dieser Jahreszeit besuchte. Der Gedanke legte sich wie Blei auf Wills Stimmung.

„Heil dir!“, rief der Wikinger und hob grüßend eine seiner mächtigen Hände.

„Agravar, du Teufel, aus welchem Grund verdunkelst du meine Tür?“, rief Will mit gezwungener Fröhlichkeit.

„Aus dem gleichen Grund wie letztes Jahr und das Jahr zuvor. Lord Lucien verlangt nach deiner Anwesenheit in seiner Halle während der Weihnachtstage.“

Will schnürte es noch mehr die Brust zu. Rasch zauberte er ein Lächeln auf sein Gesicht. „Es ist mir eine Ehre, aber ich kann leider nicht kommen. Richte das meinem Lord und Lehnsherrn mit meinem größten Bedauern aus. Meine eigenen Dorfbewohner verlangen nach einer Feier, und mein Platz ist unter ihnen.“

Agravar gab sich ohne Widerspruch damit zufrieden. Es war, als würden beide nur einer Formalität nachkommen. Manchmal fragte Will sich, ob er Bescheid wusste. Dieser Wikinger hatte viel gesehen, besonders damals, als alles geschah und Luciens Machtstellung in Glastonbury noch neu und gefährdet gewesen war. Agravar, Hauptmann von Luciens Garde und seine rechte Hand – immer treu und wachsam –, hatte mit scharfem Auge über seinen Herrn und dessen Interessen gewacht.

Und natürlich hatte von Anfang an Alayna zu Luciens Interessen gehört. Wie töricht von Will, dass er sich da etwas vorgemacht hatte.

„Selbstverständlich. Lucien möchte dich nur wissen lassen, dass du willkommen bist“, sagte der Wikinger.

Natürlich wusste er, dass er willkommen war. Manchmal wünschte er sich, es wäre nicht so. Trotz Wills abscheulichen Betrugs war Luciens Zuneigung zu ihm nie ins Wanken geraten.

Will wollte nicht länger an sein Elend denken. Mit einem Blick auf die Wagen, die man vor den Haupteingang der Halle gezogen und bereits abgeladen hatte, sagte er: „Ich hoffe, du bleibst und hilfst mir dabei, das Anbringen der Zweige zu überwachen. Gewürzwein zu trinken und andere herumzukommandieren ist nämlich eine anstrengende Arbeit, musst du wissen.“

Agravar zuckte die Achseln. „Ich werde den Tag mit dir verbringen. So werden wir Zeit haben, uns der alten Heldengeschichten zu erinnern.“

„Ha!“, entgegnete Will. „Welche Ruhmestaten willst du denn noch einmal erleben? Öfter als ich zählen kann, musste ich dir deine Haut retten.“

Agravar schüttelte nur lachend den Kopf über den alten Scherz zwischen ihnen. „Will, du alter Hohlkopf – es tut wirklich gut, dich wiederzusehen.“

Sie übergaben ihre Pferde den Stallburschen und gingen zusammen in die Halle. Agravars scharfes Auge bemerkte sofort die Verbesserungen, die unter Wills kundiger Verwaltung vorgenommen worden waren. „Es wird Lucien freuen, wenn er erfährt, wie gut du für sein altes Heim sorgst.“

Als Lucien damals Thalsbury Wills Obhut übergeben hatte, war der sich gar nicht so sicher gewesen, dass das ein Leben nach seinem Geschmack sein würde. Zu seinem eigenen Erstaunen stellte er aber fest, dass es doch so war. Und wie es schien, machte er seine Sache gut. Die Ernten waren reichlich ausgefallen, seine Truhen gefüllt, und seine Leute waren ihm treu ergeben.

Eigentlich hätte das einen Mann zufriedenstellen sollen. Und meistens konnte Will auch von sich behaupten, zufrieden zu sein. Außer wenn er – wie jetzt – an den einzigen Haken an diesem großzügigen Geschenk erinnert wurde.

Agravar grinste, als er das Innere des Saales betrachtete. Man hatte das Gewölbe bereits mit großen Girlanden aus Kiefernzweigen geschmückt. Mit roten Bändern und Stechpalmenzweigen waren sie an jedem der spitz zulaufenden Fenster befestigt. „Deine Leute sind ja ganz närrisch auf dieses Fest.“

Sie saßen am Kopf des Tisches. „Es ist Weihnachten, Agravar. Die Zeit, in der man fröhlich ist.“

„Rebhuhn, Mylord?“, fragte eine weibliche Stimme.

Die Dienstmagd stellte einen gebratenen Vogel vor Agravar ab. Geistesabwesend sah Will ihr dabei zu, während er gegen seine quälenden Gedanken ankämpfte. Er war entschlossen, bei guter Stimmung zu bleiben, und wenn auch nur so lange, wie der Besuch des Wikingers dauerte.

„Mylord?“, sagte das Mädchen jetzt an Will gewandt. Er antwortete nicht. Als die Dienerin sich vorbeugte und ihm die Köstlichkeiten auf dem Tablett anbot, blieb ihre Hand vor ihm in der Schwebe.

Irgendetwas stimmte nicht. Es war nur ein unbestimmter, nagender Verdacht in seinem Hinterkopf. Ein Verdacht, den er nicht recht einordnen konnte. Die Hände kamen wieder in sein Gesichtsfeld und legten ihm das Mahl auf sein Holzbrett. Weil das Mädchen keine Antwort erhielt, hatte es allem Anschein nach beschlossen, dass er eines der Rebhühner erhalten sollte.

Er blickte auf.

Die Frau wandte sich ab. Er sah ihr Gesicht nicht. Ihre Haare waren ganz mit einem zerschlissenen schwarzen Tuch bedeckt, das ihr zusammengebunden als ein dickes Bündel auf den Rücken fiel.

„He, Frau“, rief Will.

Wie erstarrt blieb sie einen Augenblick lang stehen. „Ja, Mylord?“, fragte sie, ohne sich umzudrehen.

„Ich habe keinen Appetit auf Rebhuhn. Nimm es wieder mit.“

Das Mädchen drehte sich um und nahm mit gesenktem Kopf das Essen fort.

Eingehend betrachtete Will ihre Hände.

Er lächelte. „Danke“, sagte er, als sie den gebratenen Vogel entfernt hatte.

„Aye, Mylord“, murmelte sie und ging rasch fort.

Er begegnete Agravars fragendem Blick. „Ein Rätsel als Weihnachtsgeschenk, Agravar.“

„Ich weiß nicht, was du meinst.“

„Hast du ihre Hände bemerkt?“

Der Wikinger runzelte nur die Stirn und sah der Magd nach, die mit anmutigen Schritten hinausging. Auch Will sah ihr nach und bemerkte sehr wohl den aufreizenden Schwung ihrer Hüften. „Hast du jemals bei einer Dienerin so etwas gesehen, frage ich dich – solch eine edle Haltung?“

„Was meinst du, wer sie ist?“, fragte Agravar.

„Mein lieber Freund, genau das will ich herausfinden.“

Olivia de Hycliff unterdrückte den Wunsch zu rennen. Gemessenen Schrittes trug sie ihr Tablett in die unteren Gewölbe, wo sich die Küche befand, und stellte sie auf einen der langen Arbeitstische.

„Wie es scheint, ist mein Herr nicht hungrig“, sagte sie zu Bethelda.

Die dicke Frau zog die Stirn kraus. „Nach einem Tag wie diesem weigert mein Herr sich zu essen? Aber die Winterluft macht den Männern doch Appetit … Kind, warum zitterst du denn?“

Olivia versteckte ihre Hände, um das verräterische Zittern zu verbergen. Oben in der Halle hatte sie tatsächlich Angst bekommen. Wieso hatte Lord Will sie aufgefordert, sein Essen wieder fortzunehmen? Warum hatte er sie so genau betrachtet? Gerade so, als ob er um die tödlichen Geheimnisse ahnte, die sie in ihrem Herzen verbarg.

Mach dich nicht lächerlich, schalt sie sich im Stillen. Vielleicht verabscheute der Mann einfach nur Rebhühner. Immerhin hatte sie ihm eines auf sein Brett gelegt, bevor er ihr geantwortet hatte, denn sie hatte es sehr eilig gehabt, seiner möglichen Aufmerksamkeit zu entfliehen. Stattdessen hatte sie erst recht sein Misstrauen auf sich gezogen. Der Teufel sollte das launische Schicksal holen!

Bethelda betrachtete sie nachdenklich. „Hast du heute schon etwas gegessen?“

„Ja, heute Morgen“, log Olivia.

Fodor, einer der Köche, ging in diesem Augenblick an ihnen vorbei. „Mach dir mal keine Sorgen um die Kleine da. Ich sage dir, die kann essen.“ Er schenkte Olivia einen zärtlichen Blick. „Wirklich, sie liebt meine Pasteten.“

„Nun, dann solltest du mehr davon essen“, meinte Bethelda verstimmt. „Schau dich doch mal an, du bist ja kaum zu sehen. Nur ein Hauch von einem Dingelchen!“

Ein komisch verschmitztes Grinsen erschien auf Fodors rundem Gesicht. „Die Männer mögen etwas zum Anfassen, Mädchen!“ Und Bethelda kreischte auf, als er ihr mit der Hand auf den üppigen Hintern schlug.

Olivia mühte sich ein Lachen ab. Es klang gestelzt, aber sie wusste, dass sie sich nicht schockiert zeigen durfte, wenn sie die Dienerin spielte.

Jetzt zog der Page, ein fünfzehnjähriger Junge mit Namen Elbert, ihre Aufmerksamkeit auf sich, als er eintrat. „Olivia, hier bist du! Lord Will wünscht dich zu sehen. Er hat mir aufgetragen, dich zum Söller zu bringen.“

Zuerst war Olivia wie betäubt. Dann überfiel sie eine heiße Welle der Angst. „Er … wie bitte?“

„Sofort, sagte er. Beeil dich.“

Olivia sah zu Bethelda, die ihr tröstend den Arm um die Schulter legte. „Warum so ängstlich? Ach, Liebes, glaubst du etwa …? Lord Will ist keiner von dieser Sorte … Nun, bleib ganz ruhig, Kind. Geh und schau nach, was dein Herr von dir will.“

Olivia verstand, was Bethelda meinte, aber die Angst vor den unzüchtigen Absichten eines skrupellosen Lords war ihre kleinste Sorge.

Zitternd holte sie tief Luft und sagte zu Elbert: „Ich war noch nie im Söller des Herrn. Geh du voraus, ich werde dir folgen.“

2. KAPITEL

Elbert verschwand schließlich wieder und ließ Olivia im Söller allein auf ihren Herrn warten. Der Söller besaß an drei Seiten mehrere Fenster, damit während des Tages so viel Sonnenlicht wie möglich eindringen konnte, und war so großzügig ausgestattet wie alles auf Thalsbury. Tapisserien hingen an den Wänden, und das Gemach war mit soliden, geschnitzten Möbeln und samtenen Stoffen ausgestattet. An der der Innenseite gegenüberliegenden Wand befand sich ein großer Kamin, dessen Mauerwerk genug Wärme ausstrahlte, um die Winterkälte zu vertreiben. Alles in allem war es ein höchst gemütlicher Ort.

Lord William trat ein. Alle Sinne Olivias waren in Alarmbereitschaft, als er an ihr vorüberging. Mit weit ausgreifenden, sicheren Schritten trat er an die Innenwand, wo es am wärmsten war. Er hatte Olivia den Rücken zugewandt und streckte die Hände der Wärme entgegen.

Olivia dachte bei sich, dass wohl kein Feuer der Welt die Kälte in ihren eigenen Gliedern würde vertreiben können. Sie kam aus ihrem Innern. Sie rührte von ihrer Furcht her.

„Deine Name ist Olivia, wie man mir sagte“, erklärte er, ohne sich umzublicken. Seine Stimme klang voll und tief.

Olivia schluckte schwer. „Ja, Mylord, ich heiße Olivia.“

„Du bist nicht aus Thalsbury, oder?“

„Nein, Mylord.“ Wenn sie über sich sprach, erzählte sie immer eine erfundene Geschichte. Sollte sie das jetzt auch tun?

„Und du bist keine Dienerin, nicht wahr, Olivia?“

Mit diesen Worten wandte er sich um und musterte sie eindringlich, angefangen von den abgetragenen Schuhen bis hinauf zu dem schmuddeligen Tuch, das sie sich um den Kopf gewickelt hatte.

„Ich nehme an, dass du mich anlügen wirst“, begann er erneut.„Eine adelige Dame kommt nicht zum Vergnügen in ein fremdes Schloss und verdingt sich als Dienerin.“

„Ihr irrt Euch, Mylord“, erwiderte Olivia. „Es ist wahr, ich bin keine Dienerin, aber ich bin auch keine adelige Dame.“ Wie abscheulich leicht kam ihr die Unwahrheit über die Lippen! Doch für Gewissensbisse wegen ihrer Schlechtigkeit war jetzt keine Zeit. „Ich bin die Tochter eines Kaufmanns. Mein Vater starb im letzten Frühling, und meine Mutter konnte nicht länger für mich sorgen. Sie schickte mich fort, damit ich mir eine Arbeit suche.“

„Die Tochter eines Kaufmanns?“ Der selbstgefällige Ausdruck auf seinem Gesicht wurde ein wenig milder. Wieder musterte er sie, und sein Blick verhielt so lange auf ihren weiblichen Rundungen, dass sie darüber errötete.

„Woher hast du diese Kleider?“, verlangte er zu wissen. „Sogar meine Leibeigenen besitzen bessere.“

Zu ihrem Erstaunen fühlte sich Olivia ein wenig gekränkt.

Er trat näher. „Und enthülle dein Haar.“ Er deutete auf die üppige Masse, die sich unter dem Tuch verbarg. „Dieser Wimpel, den du dir da umgebunden hast, ist höchst unkleidsam.“

Verlegen fingerte sie an dem zusammengeknoteten Tuch herum. Es war nicht ihre Art, sich viel Mühe um ihr Aussehen zu machen, aber sie war realistisch genug, um zu wissen, wie sie aussah. Deswegen hatte sie sich ja auch in den zwei Monaten, die sie nun auf Thalsbury war, sehr darum bemüht, möglichst viel von ihrem Gesicht zu verbergen. Und sie hatte darum gebetet, unbemerkt zu bleiben.

Ihre Finger zerrten an dem Stoff, der ihr Haar verbarg. „Wenn Besucher dich so sehen, werden sie mich für einen üblen Herrn halten. Du bereitest mir Schande.“

Da erst merkte sie, dass er sich über sie lustig machte. Sie sah ihm in die Augen. Es waren helle, graue Augen, die sie unverwandt herausfordernd ansahen. Sein Blick schien sie festzunageln, als läge unterschwellig in ihm die Frage: Willst du dich mir etwa widersetzen?

Und natürlich würde eine Dienerin sich nie dem Befehl ihres Herrn widersetzen.

Olivia tat, wie ihr befohlen und löste das Wolltuch, das ihren Kopf bedeckte. Ihr dichtes kastanienbraunes Haar kam zum Vorschein. Zerzaust fiel es wie ein Wasserfall über ihre Taille, um schließlich in lockiger Fülle ihre Hüften zu bedecken.

Ein hastiges Luftholen und ein halb erstickter Fluch waren Wills Antwort. Olivia fühlte sich wie nackt. Gerade so, als wäre es genauso lebenswichtig, ihren Kopf zu bedecken wie ihre bewusst schäbige Bekleidung anzuziehen, die sie schützen sollte.

Sie hob den Blick zu Will und sah, wie sich das helle Grau seiner Augen in dunkles Schiefergrau verwandelte. „Du siehst aus wie sie“, keuchte er.

Er entfernte sich einige Schritte von ihr und schien einen Augenblick lang um Fassung ringen zu müssen. Als er sie dann wieder ansah, schimmerte ein Funke neu erwachten Misstrauens in seinem Blick.

„Sag mir, Olivia, wieso du das Verlangen hast …“, er trat näher, nahm eine Strähne ihres üppigen Haars und ließ sie durch die Finger gleiten, „deine Haarpracht zu verbergen. Die meisten Frauen würden sie voller Stolz tragen, du aber … Nun, man könnte meinen, du versteckst dich.“

Ihr Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. „Ich verstecke mich nicht, Mylord. Ich versuche nur, nicht aufzufallen. Meine Mutter lehrte mich, dass es manchmal gut ist, nicht bemerkt zu werden.“

„Durch dein eigenartiges Benehmen kam ich in der Halle selbst schon zu diesem Schluss. Allein deine auffallende Kleidung, die wie eine lächerliche Kostümierung wirkt, wirft Fragen auf. Und deswegen lenkt sie die Aufmerksamkeit auf dich, die du vermeiden willst.“

„Wie töricht von mir“, sagte sie reumütig.

„In der Tat. Auf jeden Fall bist du keine geübte Lügnerin.“

„Ihr beleidigt mich, Sir!“

„Ich bin dein Herr und nicht länger ein einfacher Ritter.“

Sie zwang sich, zur Seite zu blicken. „Nehmt meine Entschuldigung an, Mylord.“

„Und ich meinte damit nicht, dass deine Worte Lügen sind, sondern dein Aussehen.“ Er verzog den sündig sinnlichen Mund. Und Olivia hasste sich dafür, dass ihr Herz beim Anblick seines vielsagenden, irgendwie einschüchternden, bezwingenden und zugleich erschreckenden Lächelns ein wenig schneller schlug. „Was du selbst zugegeben hast. Wie du sagtest, hast du versucht, nicht bemerkt zu werden.“

„Wahrhaftig, Herr, das stimmt auch. Als meine Mutter mich in die Welt hinausschickte, damit ich für mich selbst sorge, warnte sie mich vor den Männern und den Gefahren, die einem drohen, wenn man den falschen Blick auf sich zieht. Als Magd in einem Saal voller Männer hielt ich es für gut … einige Attribute zu verbergen, derer ich mich, mit Verlaub, rühmen könnte.“

„Oh, du könntest dich ohne zu lügen deiner Attribute rühmen“, versicherte er ihr, „und doch bin ich überzeugt, dass das nicht deine Art ist. Erzähle mir, wer brachte dich hier in den Haushalt?“

„Bethelda ist mir im Dorf begegnet und bat Keenan, Euren Seneschall, mir eine frei gewordene Stellung zu geben. Eine Frau war aus Eurem Dienst ausgeschieden, weil sie einen Kleinbauern heiratete.“

„So, Bethelda.“ Das schien auf seine Zustimmung zu treffen. „Dann bist du also zufrieden? In der Küche, meine ich?“

Autor

Jacqueline Navin
<p>Wie bei vielen Autoren lag der Ursprung meines Schaffens darin begründet, dass ich eine leidenschaftliche Leserin bin. Dadurch entwickelte ich eine innige Liebe zu Büchern und zum Geschichtenerzählen. Ich habe Schriftsteller immer bewundert, aber der Gedanke, selbst einer zu werden, lag mir so fern wie der Gedanke, ein berühmter Schauspieler...
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