Geliebte Feindin

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Diese Augen … Sie schillern wie die Flügel eines Eistauchers in der Sonne! Tristan Beaumaris, französischer Offizier, ist hingerissen: Nie zuvor hat er eine so zauberhafte junge Dame wie Angèle de la Rochère gesehen. Prompt bietet er ihr sein Geleit an - und schenkt ihr bei einer abenteuerlichen Reise nach Paris sein Herz. Doch schon bald werden ihre zarten Liebesbande auf eine gefährliche Zerreißprobe gestellt!


  • Erscheinungstag 30.11.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733769307
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Jetzt ist es nicht mehr weit. Bald sind wir da.“ Angèle sprach laut, um sich und den drei struppigen falben Ponys, die ihren Schlitten zogen, Mut zu machen. Der Schneesturm wurde von Minute zu Minute heftiger. Sie schmiegte sich tiefer in ihren weichen Lammfellmantel, sodass nur noch ihre blaugrünen Augen zwischen dem hochgeschlagenen Kragen und der tief in die Stirn gezogenen Kosakenmütze hervorlugten, hob die Peitsche und knallte sie gekonnt über den Köpfen der Ponys. Sofort beschleunigten die Tiere ihren Lauf durch den immer tiefer werdenden Schnee.

Ob André und seine Männer wohl noch dabei sind, den Rest von Napoleons Armee aufzureiben? fragte sie sich. Oder war André etwa schon auf dem Heimweg zur Datscha? Einer Sache zumindest durfte sie gewiss sein: Bei diesem Sturm würde er sie unmöglich verfolgen können. Der beißende Wind trieb den Schnee nun in kleineren Flocken vor sich her, die sich in Sekundenschnelle über die Spuren ihres Schlittens legten. Angèles Sicht reichte nicht mehr weiter als bis zu den Ohrenspitzen des Leitponys. Doch vor Verfolgern sicher zu sein, hatte seinen Preis: Selbst so zähe Tiere wie ihre sibirischen Ponys verließen in diesem Schneetreiben allmählich die Kräfte. Die Jagdhütte konnte doch nicht mehr weit sein?

Beißende Schneekristalle brannten Angèle in den Augen, als sie den Kopf hob. Nichts als wirbelnder, windgepeitschter Schnee. Bald würde die Nacht hereinbrechen, und wenn sie bis dahin nicht den Unterschlupf erreicht hatten … Doch an diese Möglichkeit wollte Angèle lieber nicht denken – und an Wölfe schon gar nicht. Sie blinzelte, um den Schnee aus ihren Augen zu vertreiben. War da nicht eine dunkle Silhouette im weißen Nichts?

Angèle sandte ein inniges Dankgebet zum Himmel, als die Ponys einige Augenblicke später vor der langen, flachen Jagdhütte der Perenskows abrupt zum Stehen kamen. Das verlassene Holzgebäude bestand aus zwei Hälften: die eine diente als Stall, die andere als Wohnhaus. Die Fenster waren dunkel, und es gab kein Zeichen von Leben. Als Angèle mühsam vom Schlitten kletterte, konnte sie sich dennoch des beklemmenden Gefühls nicht erwehren, dass man sie beobachtete. Ein lächerliches Gefühl. Die Perenskows waren in Sankt Petersburg, und kein halbwegs vernünftiger Leibeigener würde sich bei diesem Unwetter draußen im Wald herumtreiben.

Voller Ungeduld drängten die Ponys gegen das Stalltor, bis es unter ihrem Gewicht nach innen schwang, fort von der Schneewehe, die sich davor gebildet hatte. Das Innere des Stalls wirkte bedrohlich. Es war nahezu pechschwarz, doch die Ponys zeigten keinerlei Anzeichen von Beunruhigung. Durch die Furchtlosigkeit der Tiere ermutigt, sprang Angèle vom Schlitten.

Sie streifte sich die Fausthandschuhe ab und begann, die Ponys auszuspannen. Bisher war ihr diese Arbeit stets von Leibeigenen abgenommen worden, sodass sie ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Ponys endlich abgeschirrt waren und sich Bissen aus den Heuballen zupfen konnten, die an einer der Stallwände aufgetürmt waren. Sobald die Tiere sich abgekühlt hatten, würde Angèle ihnen Wasser bringen. In der Zwischenzeit jedoch musste sie sich selbst aufwärmen und stärken. Zwischen Stall und Wohnhaus gab es eine Verbindungstür, die allerdings von der anderen Seite her verriegelt zu sein schien. Mit matter Geste streifte Angèle sich die Handschuhe wieder über und bereitete sich darauf vor, erneut ins Schneetreiben hinauszutreten. Das erschöpfte schwarze Pferd, das mit hängendem Kopf in der dunkelsten Ecke des Stalls stand, bemerkte sie dabei nicht.

Hauptmann Tristan Beaumaris beobachtete durch eines der Fenster, wie der Kosak an der Hütte eintraf. Ein bitteres Lächeln huschte über seine aufgesprungenen Lippen. Offenbar ging das Glück, das ihn lebend durch Schlachten wie die von Marengo, Austerlitz und Borodino gebracht hatte, nun allmählich zur Neige. Des Teufels Glück, wie seine Männer in einer Mischung aus Neid und Bewunderung zu sagen pflegten. Getreu seiner langjährigen Gewohnheit wog Hauptmann Beaumaris seine Chancen ab. Seine Pistolen waren leer geschossen, und frische Munition besaß er nicht mehr. Ihm war kalt, verflucht kalt. Sein Körper war steif und schwerfällig und wehrte sich gegen jede Bewegung. Die Wunde an seiner Schulter machte seinen rechten Arm praktisch nutzlos. Inzwischen musste der Kosakenbursche sein Pferd im Stall entdeckt haben. Beaumaris schüttelte den Kopf, und eine Strähne zerzausten schwarzen Haars fiel ihm in die Stirn. Diesen Kampf würde er wohl nicht überleben. Doch es war besser, mit der Waffe in der Hand zu sterben, als an ein Kosakenpferd gebunden und dann auf der hart gefrorenen Erde zu Tode geschleift zu werden. Unbeholfen zog er mit der linken Hand seinen Säbel und wartete.

„Sacrebleu!“ Der Franzose fluchte leise, als er beobachtete, wie die im Schneetreiben nur verschwommen erkennbare Gestalt das Stalltor schloss. Hatte der Bursche denn sein Pferd nicht bemerkt? Der Mann zeigte keinerlei Anzeichen von Wachsamkeit, als er auf die Tür der Jagdhütte zustapfte, und hatte auch seine Waffe nicht gezückt.

Für solchen Leichtsinn verdiente jeder Soldat den Tod. Ein grimmiges Lächeln auf den Lippen, näherte Hauptmann Beaumaris sich lautlos dem Eingang der Hütte. Nun hatte er einen günstigen Umstand auf seiner Seite – Überraschung. Wenn er als Erster zuschlug, besaß er vielleicht doch noch eine Chance.

Angèle stemmte sich mit aller Kraft gegen die Tür, denn sie erwartete, dass die Angeln festgefroren waren. Zu ihrer Überraschung gab sie jedoch sofort nach, und sie landete bäuchlings im Halbdunkel der Jagdhütte.

Der Sturz rettete ihr das Leben. Der wuchtige Hieb, mit dem der Mann sie hatte niederstrecken wollen, sauste über ihren Kopf hinweg, und der schwere Säbel grub sich mit dumpfem Geräusch in den Türpfosten.

Halb tot vor Schreck, rappelte Angèle sich auf und wich vor der hochgewachsenen Gestalt zurück. Ein französischer Soldat in einem zerlumpten Cape – mehr erkannte sie auf den ersten entsetzten Blick nicht. Alles, was man ihr über die Männer in Napoleons Diensten erzählt hatte, tauchte wieder in ihrem Gedächtnis auf. Es waren rohe, ungeschlachte Söldner, ungebildet und abstoßend. Männer, die nur für das Töten und den Krieg lebten. Wie in einem Albtraum, aus dem es kein Erwachen gab, hörte Angèle ihn heftig auf Französisch fluchen, als er den Säbel aus dem Holz zerrte und sich dann zu ihr umdrehte. Er würde sie töten; Angèle las es aus der Art, wie er sich bewegte, und dem harten Zug um seinen Mund.

Sie musste ihn davon abbringen. Ihm sagen, dass sie gebürtige Französin war, keine Russin. Sie musste etwas sagen, irgendetwas! Doch die Zunge lag ihr wie Blei im Mund, und sie brachte kein einziges Wort heraus. Das Hirn vor Angst wie gelähmt, der Herzschlag stockend und schmerzhaft, starrte Angèle ihr Gegenüber hilflos an.

Sie war groß für eine Frau, doch der Mann überragte sie um Haupteslänge. Er hatte hagere Züge und schwarze Brauen. Absurderweise fiel Angèle auf, dass sein dichtes schwarzes Haar einen Schnitt nötig hatte, und er selbst dringend eine Rasur. Dann trafen sich ihre Blicke, und ihr drohte das Blut in den Adern zu gefrieren. Nie zuvor hatte sie kältere Augen gesehen – Augen wie frostiges Silber, wie winterliches Mondlicht auf Schnee.

Heilige Jungfrau! Er ist ja noch ein halbes Kind! Beaumaris fluchte innerlich, als er seinen Säbel aufs Neue zum Schlag erhob. Alles, was er von dem Kosaken sehen konnte, war ein Paar großer, strahlend blaugrüner Augen, die zwischen dem hohen Mantelkragen und der tief in die Stirn gezogenen Fellmütze hervorspähten. Er würde sich davor hüten, einem Kosaken gegenüber Gefühle zu haben, ganz gleich, wie jung dieser auch sein mochte. Doch die Panik in den türkisfarbenen Augen des Jungen berührte etwas in seinem Inneren, das auch die langen Jahre der Feldzüge nie ganz hatten abstumpfen können. Beaumaris erinnerte sich noch an das anfängliche Entsetzen, das ihn bei seinem ersten Kampf befallen hatte. Ein fairer Zweikampf war eine Sache, Mord eine andere. Doch er hatte keine Wahl. Weder er noch die Armee, falls er sie je wiederfinden würde, waren in der Verfassung, Gefangene zu machen. Und er konnte nicht zulassen, dass der junge Bursche Alarm schlug. Wenn er den Kosaken gefangen nähme und in der Jagdhütte zurückließe, würde der arme Kerl sicher erfrieren oder verhungern. Nein. Es war besser, die Sache zu einem klaren Ende zu bringen, auf die ein oder andere Art. Diese Kosakenburschen trugen schon einen Säbel in der Hand, wenn sie noch am Rockzipfel ihrer Mutter hingen. Im Zweikampf hätte der Junge den Vorteil wohl auf seiner Seite. Sicher war ihm nicht entgangen, wie unbeholfen sein Angreifer den Säbel mit der linken Hand gebrauchte …

„Was ist los mit dir, Russe? Warum zum Teufel kämpfst du nicht?“, rief Beaumaris mit starkem Akzent in holprigem Russisch. „Bewaffne dich!“ Er gestikulierte in Richtung zweier Säbel, die an der holzvertäfelten Wand hingen.

Angèle überraschte sich dabei, wie sie seinen Befehl instinktiv ausführte. Aus einem Grund, den sie nicht verstand, hatte der Mann sie noch nicht getötet. Sie zog ihre Fausthandschuhe aus, griff empor und nahm einen der Säbel von der Wand. Er war so schwer, dass sie beide Hände benötigte, um seine Spitze vom Boden zu heben. Die Waffe schlingerte in ihren Händen hin und her, und Angèles Knie zitterten so heftig, dass sie keinen Schritt tun konnte.

„Kämpf mit mir! Ich hätte nie gedacht, dass ich je auf einen Kosaken treffe, der genauso feige ist wie ein verfluchter Bourbonen-Anhänger“, versuchte Beaumaris, seinen Gegner anzustacheln und verfiel dabei ins Französische, weil er das Ganze so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte. Seine Wunde war wieder aufgebrochen, und er spürte, wie das Blut warm an seinem Arm hinunterrann. Bald würde er zu schwach zum Kämpfen sein.

Mit dem Mut der Verzweiflung stürzte Angèle sich auf ihren Gegner. „Das Leben ist wichtiger als die Ehre“, waren Katjas Worte gewesen, als sie versucht hatte, ihrer Herrin die Flucht aus der Datscha auszureden. Nun verstand Angèle, was die alte Frau damit gemeint hatte. Es war nicht so einfach, sich mit dem Tod abzufinden. Sie wollte überleben! Mit einem ungelenken Hieb versuchte sie, den Kopf ihres Gegners zu treffen. Der aber parierte ihren Schlag mühelos mit solcher Kraft, dass ihr ein scharfer Schmerz durch Arme und Schultern fuhr. Irgendwie gelang es ihr jedoch, den Säbel in den Händen zu behalten und erneut zum Schlag auszuholen, innerlich auf die Wucht des Aufpralls gefasst.

Beaumaris hatte nie zuvor einen Fechter gesehen, der sein Handwerk so miserabel beherrschte. Es verwirrte ihn. Kosaken lernten den Umgang mit der Waffe von Kindesbeinen an. Doch dieser hier kämpfte wie … eine Frau! Einen Augenblick lang verblüfft, starrte Beaumaris auf die schmächtige Gestalt, die sich anschickte, wieder nach ihm zu schlagen. Beim Kriegsgott Mars! Er hatte recht! Er würde sein Leben darauf verwetten, dass diese türkisfarbenen Augen einer Frau gehörten. Der Teufel ritt also doch noch an seiner Seite!

Angèle mühte sich verzweifelt, den Säbel wieder zu heben. Für ihre gemarterten Armmuskeln schien die Klinge aus Blei statt aus Stahl geschmiedet zu sein. Unkontrollierbar schlingerte die Waffe in ihren Händen hin und her.

Ihr Gegner gab sich nicht einmal die Mühe, sich zu verteidigen. Er lachte sie aus. In den vergangenen paar Sekunden hätte er sie wohl hundertmal töten können. Angèle rang schluchzend nach Atem und schlug mit aller Kraft nach ihm. Er wich ihrem Hieb mit arroganter Leichtigkeit aus. Angèles Säbel krachte gegen die Wand und sprang ihr aus den tauben Fingern. Instinktiv wollte sie zur geöffneten Tür hasten, doch ehe sie auch nur einen Schritt tun konnte, spürte sie eine spitze Klinge an ihrer Kehle. Sie war kalt, so kalt wie die stahlgrauen Augen ihres Besitzers. Würde der Tod kalt sein? Ich will nicht sterben! Angèle wollte schreien, flehen, doch die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Einen qualvollen Augenblick lang trafen sich ihrer beider Blicke. Zu Angèles Überraschung lag kein Hass, keine Wut, keine Mordlust in den grauen Tiefen seiner Augen, nur silbrige Funken von …

„Nein!“

Das Wort kam ihr als heiseres Flüstern über die Lippen, ein blasses Echo des Protestschreis ihrer Seele.

Angèle stockte das Herz, als Beaumaris’ Säbel vor ihrem Gesicht aufblitzte. Doch statt ihr den erwarteten Todesstoß zu versetzen, hatte er ihr die Kosakenmütze vom Kopf geschlagen. Aus seinem Gefängnis befreit, fiel Angèles glänzendes, zu einem dicken Zopf geflochtenes Haar hinab bis zu ihrer Hüfte. Sie konnte kaum fassen, dass sie noch am Leben war, und starrte ihren Gegner ungläubig an. Er lächelte. Ein verhaltenes Lächeln, das sie mit Schrecken erfüllte. Wann hat er gemerkt, dass ich eine Frau bin? fragte sie sich, und eine neue, andersartige Furcht machte sich in ihr breit.

„Vergewaltiger! Mörder! Und so etwas nennt sich Offizier!“ Das Urteil ihrer Mutter über Napoleons Soldaten hallte Angèle in den Ohren wider. Sie wich zurück und drückte sich gegen die Holzwand, die Arme fest um sich geschlungen, als böte ihr das ausreichend Schutz. Erst jetzt fühlte Angèle den Dolch in ihrem Ärmel. Katja hatte eine spezielle Messerscheide für sie gefertigt und in den Ärmel ihres Mantels genäht. Ein Dolch gegen einen Säbel. Es war aussichtslos, doch sie musste es versuchen.

Beaumaris stockte der Atem, als er Angèles eindringlichen Blick erwiderte. Welches Haar! Als hätte jemand flüssiges Gold mit einem Schuss Bronze gemischt. Tizian höchstpersönlich hätte seine liebe Mühe gehabt, diese Farbe auf die Leinwand zu bannen. Ihr Gesicht jedoch war bleich und kalt wie Marmor.

Eine Eisjungfer, ging es ihm durch den Kopf, als er die Züge der Frau studierte, die ihn da so verächtlich anblickte. Sie entsprach nicht dem gängigen Ideal der kessen Hübschen. Doch ihre hohe Stirn, ihre feine, gerade Nase und ihre hohen Wangenknochen waren von beinahe klassischer Vollendung und erinnerten ihn an die römischen Statuen, die er Jahre zuvor während des Italien-Feldzugs gesehen hatte. Doch dann fiel sein Blick auf ihren Mund, und er änderte seine Meinung. Es war ein voller, sinnlicher Mund, dessen Unterlippe auf kaum merkliche, doch unwiderstehliche Art gleichsam schmollend aufgeworfen war.

Beaumaris hätte wetten können, dass hinter der eisigen Fassade dieser Frau ein heißes Feuer loderte, eins, das zum Rotton ihres Haars passte.

Und ihre Augen … Sie blitzten als Antwort auf seinen eindringlichen Blick und schillerten dabei wie die Flügel eines Eistauchers in der Sonne. Als Angèle plötzlich scharf einatmete, warnte sie ihn damit den Bruchteil einer Sekunde lang. Das war genug. Er ließ seinen Säbel fallen und nahm ihr Handgelenk mit stählernem Griff gefangen, als ihr Dolch an einem der Metallknöpfe seines Capes abglitt.

„Lass mich los, sonst bring ich dich um!“, rief Angèle auf Französisch und schlug dabei mit ihrer freien Hand wütend um sich.

„Das glaube ich kaum!“ Er lachte abfällig und verstärkte dabei den Druck auf Angèles Handgelenk, bis ihr der Dolch aus den kraftlosen Fingern glitt.

Es ist sinnlos, dachte Angèle mit wachsender Panik. Unter der schäbigen Kleidung dieses Mannes verbarg sich ein Körper aus Stahl. Obgleich sie sich nach Kräften wehrte, hätte Angèle ihre Schläge ebenso gut gegen die Wand in ihrem Rücken richten können. Doch sie konnte nicht aufhören, ebenso wenig wie es ihr gelang, den Schwall von Beleidigungen einzudämmen, der aus ihrem Mund sprudelte.

„Ihr Französisch ist ausgezeichnet, Mademoiselle“, bemerkte Beaumaris trocken und hielt sie dabei mühelos auf Armeslänge auf Abstand. „Wo haben Sie es gelernt? In der Kaserne?“

Angèle ließ jählings von ihren Befreiungsversuchen ab. Die höhnische Frage hatte ihre Panik ausgelöscht, als hätte Beaumaris ihr einen Eimer eiskalten Wassers ins Gesicht geschüttet. Andrés Anspielungen und Beleidigungen zu ertragen, war schon schwer genug gewesen, und nun erdreistete sich dieser bonapartistische Parvenü, mit ihr zu sprechen, als sei sie seine Untergebene!

„In der Kaserne! Wie können Sie es wagen?“, fauchte Angèle und rang dabei so heftig nach Atem, dass ihr die Lungen schmerzten.

„Weil Sie mir auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind, Mademoiselle“, entgegnete Beaumaris mit verhaltenem Lächeln, als er die Mordlust in ihren Augen entdeckte. Er hatte gehört, dass russische Damen temperamentvoll waren und eine wesentlich robustere Erziehung genossen als ihre Zeitgenossinnen in England und Frankreich, und dieses Mädchen hier war der lebende Beweis. Sie fürchtete sich, kein Zweifel, doch sie hatte weder einen Ohnmachtsanfall bekommen, noch war da eine Spur von Tränen in ihren trotzig blitzenden Augen.

„Und vielleicht können wir uns nun wie vernünftige Menschen benehmen. Wenn Sie genau das tun, was ich von Ihnen verlange, werde ich Ihnen kein Leid zufügen.“

„Niemals!“, schleuderte Angèle ihm entgegen. Die Art, wie dieser Mann sie eben angesehen hatte, bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen. „Eher sterbe ich, als Ihnen zu Willen zu sein!“

„Ich führe keinen Krieg gegen Frauen“, entgegnete Beaumaris knapp und gab ihr Handgelenk frei. „Und ich habe es nie nötig gehabt, mir eine Frau mit Gewalt gefügig zu machen.“

„Was wollen Sie dann von mir?“, fragte Angèle verwundert. Soweit ihr bekannt war, hatte nicht ein einziger Russe, gleich ob Mann, Frau oder Kind, den erfrierenden, Hunger leidenden französischen Soldaten Gnade gewährt, und so hatte auch sie keine Milde erwartet.

„Nur Ihre Kooperation, nicht Ihren Körper.“ Beaumaris lächelte zynisch. „Wie ich sehe, erfülle ich Ihre Erwartungen an einen französischen Offizier nicht.“ Seine schwarzen Brauen hoben sich spöttisch. „Sollte ich Sie in irgendeiner Weise enttäuscht haben, bitte ich höflichst um Vergebung.“

Angèle verschlug es einen Augenblick lang die Sprache. Die Überheblichkeit dieses Mannes raubte ihr den Atem. Er hatte mit ihr gesprochen, als hielte er sie für eine … Nicht einmal in Gedanken konnte sie jenes Wort aussprechen, das ihr nie über die Lippen gekommen war. Zum ersten Mal wurde Angèle das volle Ausmaß der Risiken bewusst, denen sie sich aussetzte, indem sie allein reiste. Selbst wenn es ihr gelingen sollte, bis zu ihrem leiblichen Vater nach England zu gelangen, würde die feine Gesellschaft dort sie meiden, sowie die näheren Umstände ihrer Flucht aus Russland ruchbar würden. Die Männer würden glauben, sich die Freiheit herausnehmen zu können, sie in ebensolcher Weise ansprechen, mit ebensolchem Blick ansehen zu können wie dieser Franzose … Es kribbelte Angèle in den Fingern, ihn zu ohrfeigen, doch die Genugtuung, sie erneut die Fassung verlieren zu sehen, würde sie ihm nicht verschaffen. Die Bemerkung mit der Kaserne nagte noch immer an ihr.

„Sie sind genauso, wie ich mir einen Gefolgsmann Bonapartes vorgestellt habe, Monsieur!“, gab Angèle stattdessen in eisigem Ton zurück. „Sie können vielleicht für einen Offizier durchgehen, doch niemals für einen Ehrenmann!“

„Und Sie, Mademoiselle, entsprechen Ihrerseits wohl kaum dem Idealbild einer ehrbaren jungen Dame“, konterte Beaumaris mit beißendem Spott und musterte sie dabei unverhohlen vom Scheitel bis zur Sohle. „Oder ist es die neueste Mode in der feinen russischen Gesellschaft, sich als Kosak zu verkleiden und ohne Anstandsdame in der Weltgeschichte herumzufahren?“

Angèle wusste, dass Beaumaris die Umrisse ihres Körpers unter ihrem dicken Lammfellmantel nicht erkennen konnte, dennoch war ihr, als entkleide er sie mit seinem unverfrorenen Blick.

Sie grub die Nägel in die Handflächen, um nicht die Beherrschung zu verlieren. „Wenn Sie mich noch einmal beleidigen“, stieß sie zwischen zusammengepressten Zähnen hervor, werde ich … werde ich Sie …“

„Umbringen!“ Er hob erneut spöttisch seine schwarzen Brauen. „Sie müssen ein wenig müde sein. Bitte, nehmen Sie Platz.“

„Warum sollte ich?“, gab Angèle wutschnaubend zurück.

„Weil es in meinen Augen ungehörig ist, in Anwesenheit einer … Dame zu sitzen. Irgendwie war es ihm gelungen, das Wort „Dame“ auf eine Weise zu betonen, die ihm eine völlig andere Bedeutung verlieh, als es üblicherweise besaß.

Angèle zuckte zusammen. Was habe ich nur getan? fragte sie sich verzweifelt. Katja hatte recht behalten: Es war der reinste Aberwitz, allein zu reisen. Die Angst vor André musste ihr den Verstand vernebelt haben.

„Und wenn ich mich nicht bald setze, Mademoiselle, falle ich um.“ Die Sachlichkeit seiner Feststellung drang durch den heillosen Wirrwarr ihrer Gedanken. Angèle starrte ihn an und fragte sich, wie sie den stetig größer werdenden dunklen Fleck an seiner rechten Schulter nicht hatte bemerken können – oder den aschfahlen Ton unter der von Sonne und Wind gebräunten Haut. Der Mann war verwundet, er verlor Blut. Ohne ein weiteres Wort durchquerte Angèle den Raum und ließ sich auf dem Stuhl nieder, den Beaumaris ihr angewiesen hatte.

Sie war völlig durcheinander. Der Franzose war verletzt, verzweifelt. Gleichwohl war sein Verhalten von einer Ritterlichkeit, die sie von einem Offizier aus Bonapartes Armee nie erwartet hätte. Er hatte ihr die Chance gegeben, sich zu bewaffnen, obwohl er sie für einen Feind gehalten hatte. Ein Feind, der ihm gegenüber keine solche Großmut gezeigt hätte.

Mit hängendem Kopf sackte Beaumaris auf einen Stuhl am gegenüberliegenden Ende des Tisches.

Angèle musterte ihn verstohlen durch den Schleier ihrer gesenkten Wimpern hindurch. Unter dem Schmutz und den schwarzen Bartstoppeln hatte er unbestreitbar ein attraktives Gesicht, wenn seine Züge auch ein wenig zu herb waren, um im strengen Sinne schön zu sein. Die aristokratische Nase war eine Spur zu lang, der spöttische Mund einen Hauch zu breit. Die geraden schwarzen Brauen waren unverwechselbar, ebenso wie die markanten Backenknochen und das energische Kinn. Bestürzt bemerkte Angèle, dass er höchstens zehn Jahre älter sein konnte als sie. Die Erschöpfung auf seinem Gesicht und die dunklen Schatten unter den Augen hatten ihn älter wirken lassen. Im Grunde ist er ein Flüchtling wie ich, dachte Angèle, allein und gejagt in einem ungastlichen Land … Und im Gegensatz zu ihr war er verwundet und hatte Schmerzen.

Als Beaumaris unvermittelt den Kopf hob, blieb Angèle keine Zeit, das plötzliche Mitleid in ihrem Blick zu kaschieren. Seine Augen wurden dunkel wie Kanonenmetall. Er war zornig. Gerade so, als hätte sie ihn auf irgendeine Weise beleidigt. Mit offenkundiger Mühe richtete er sich in seinem Stuhl auf, und als Angèle den Schmerz über sein Gesicht huschen sah, hob sie unwillkürlich in einer hilflosen Geste die Hand.

„Wie Sie sehen, bin ich kaum in der Verfassung zu vergewaltigen, zu rauben und zu plündern.“ Sein Mund verzog sich zu einem ironischen Lächeln. „Zum Glück für Sie, denn wenn ich meine rechte Hand hätte gebrauchen können, hätte ich den ersten Hieb nicht verpatzt, und Sie säßen jetzt nicht hier.“

„Dann bin ich Ihnen von Herzen dankbar, dass Sie mich lediglich halb zu Tode erschreckt haben, statt mich zu enthaupten!“, erwiderte Angèle, so scharf sie konnte. Nun, da sie es sich gestattet hatte, in ihrem Gegenüber nicht so sehr den Bonaparte-Anhänger und dafür mehr den Menschen zu sehen, stellte sie fest, dass sie statt Wut und Angst nur noch Mitgefühl für ihn empfand. Er saß wankend in seinem Stuhl, und sie hegte kaum Zweifel daran, dass einzig sein männlicher Stolz ihn noch aufrecht hielt. Sicher wird er mir nicht eben dankbar sein, wenn ich ihm meine Hilfe anbiete, vermutete sie. Er machte nicht den Eindruck eines Mannes, der seine Schwäche bereitwillig eingestand.

Beaumaris lachte rau. „Dann sind Sie vielleicht so gut, mir zu sagen, wo ich mich befinde. Ich habe in dem Sturm ein wenig die Orientierung verloren.“

„Dies hier ist die Jagdhütte der Perenskows, etwa vierzig Meilen östlich der Beresina.“

Einen Moment lang blickte der Franzose sie eindringlich an, so, als schätze er ab, ob sie die Wahrheit sprach oder nicht. Dann nickte er. „Danke, Mademoiselle. Ich werde Sie nicht drängen, mir noch weitere Auskünfte zu geben. Ich erwarte nicht von Ihnen, dass Sie den Feinden Ihres Vaterlandes bereitwillig helfen. Da ich Ihnen jedoch kein Leid zugefügt habe, bitte ich Sie im Gegenzug darum, dass Sie bis zum Morgengrauen keinen Versuch unternehmen, Alarm zu schlagen.“

„Selbst wenn ich das wollte, wäre es unmöglich“, gab Angèle freimütig zu. „Hören Sie denn den Wind nicht? Nur der Teufel in Person würde versuchen, heute Nacht noch weiterzureisen.“

„Ja … Da mögen Sie recht haben.“ Beaumaris lächelte sie ein wenig schief an.

Es brannte Angèle auf der Zunge, ihm zu sagen, dass sie keine Russin, sondern Französin war. Doch dieses Verlangen verflog jäh, als er sich langsam aufrichtete und unter Schmerzen zu der Stelle ging, an der er seinen Säbel hatte liegen lassen. Angèle schlug das Herz bis zum Hals, als sie beobachtete, wie er sich mühsam bückte und ihn mit der linken Hand vom Boden hob. Sie wandte ihren Blick von ihm ab, um nicht Zeugin seines unbeholfenen Versuchs zu sein, die Waffe wieder in die arg mitgenommene Scheide an seiner Linken zu stecken. Einen derart kräftigen Mann so hilflos zu sehen, hatte etwas Rührendes und weckte ihr Mitgefühl.

„Lassen Sie mich Ihnen helfen.“ Ehe sie sich dessen recht bewusst war, hatte Angèle auch schon den Raum durchquert und stand an Beaumaris’ Seite. Als sie die schwere Stahlklinge in die lederne Schwertscheide gleiten ließ, blickte sie unwillkürlich auf in sein angespanntes, düsteres Gesicht. Ihre Blicke trafen sich. Der Schock war wechselseitig. Angèle hörte, wie Beaumaris im gleichen Augenblick nach Luft schnappte, in dem ihr Herz einen Schlag lang aussetzte. Das Gefühl des Wiedererkennens, der Unausweichlichkeit war so heftig, so unerwartet, dass Angèle erstarrte, genauso verwirrt, als hätte Beaumaris die Hand nach ihr ausgestreckt und sie liebkost. So schlagartig wie es gekommen war, verflog das Gefühl auch wieder. Beaumaris’ Augen nahmen erneut jenen frostigen, verschlossen Ausdruck an, und Angèle und er wurden einander wieder völlig fremd.

„Vielen Dank, Mademoiselle. Sie sind eine vorbildliche Gefangene.“ Mit einem schwachen, wissenden Lächeln in den Mundwinkeln sah er sie unverwandt an. „Doch wenn Sie mich nun bitte entschuldigen wollen …“ Er zögerte und blickte dann kurz hinab auf seinen Säbel.

Erst jetzt bemerkte Angèle, dass ihre Hand noch immer auf dem Griff der Waffe ruhte, gerade so, als wolle sie den Kontakt zu Beaumaris nicht abbrechen. Die Röte schoss ihr ins Gesicht, als sie ruckartig die Hand fortzog. Vor einigen Minuten erst hätte sie diesen Mann leichten Herzens umgebracht, doch nun … nun wollte ihr Körper ihrem Verstand nicht gehorchen. Sie konnte sich nicht von Beaumaris’ Seite lösen. Ihre Freundin Irina hatte ihr oft von der körperlichen Anziehungskraft erzählt, die einige Männer besaßen, doch bisher hatte Angèle diese nie am eigenen Leib erfahren. Wie gelähmt stand sie da, unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.

Beaumaris richtete seine Augen wieder auf ihr Gesicht; sein Blick war forschend, fast ein wenig erheitert, so, als mache er sich über sie lustig.

„Nun, da ich weiß, welche Richtung ich einzuschlagen habe, muss ich gehen“, sagte er trocken.

„Gehen!“ Seine Bemerkung holte Angèle mit einem Schlag zurück in die Wirklichkeit. „Sie können bei diesem Wetter nicht gehen! In weniger als einer halben Stunde wären Sie tot! Obendrein sind Sie nicht in der Verfassung zu reisen“, fügte sie hinzu, als sie die Schweißperlen auf seiner Stirn und den Fieberglanz in seinen Augen sah.

„Ebenso wenig wie der Rest der Armee“, entgegnete er bitter, den Anflug eines Lächelns auf den Lippen. „Ich habe keine Wahl. Mein Platz ist an der Seite des Kaisers. Es ist meine Pflicht.“

„Nicht einmal Bonaparte kann von toten Männern verlangen, dass sie für ihn kämpfen!“, brauste sie auf und fragte sich im gleichen Augenblick, warum sie überhaupt mit diesem Mann stritt. War es denn ihr Problem, wenn er so töricht war, unbedingt erfrieren oder verbluten zu wollen?

„Es geht nicht nur um den Kaiser …“ Beaumaris betonte den Titel nachdrücklich und warf Angèle dabei einen stählernen Blick zu, um sie zu warnen, dass er solch beleidigende Anspielungen auf seinen Befehlshaber nicht duldete. „Ich habe meinen Männern gegenüber die Pflicht, zu versuchen, sie aus diesem höllischen Land herauszubringen. Mit vielen von ihnen habe ich jahrelang Seite an Seite gekämpft. Sie sind meine Freunde.“

„Begreifen Sie denn nicht, dass Sie Ihre Männer nie erreichen werden?“ Angèle stampfte frustriert mit dem Stiefel auf den Boden.

„Ich muss es zumindest versuchen.“ Während er noch sprach, ging Beaumaris an ihr vorbei zur Tür. „Vielleicht sind Sie so liebenswürdig, sich meiner Stute anzunehmen. Sie wird heute keinen Schritt mehr tun können, doch wenn sie erst ein wenig Heu im Magen hat, ist sie ein recht williges Tier. Sie werden sehen. Ich nenne sie Montespan … weil sie eine schwarze Hexe ist …“

Der eisige, mit Schneeflocken vermischte Windstoß, der durch die geöffnete Tür hereinwehte, schluckte den Rest seiner Worte.

„Sie sind wahnsinnig!“, rief Angèle ihm durch das Geheul des Windes nach.

„Sei’s drum – es ist nichts Vernünftiges am Krieg, Mademoiselle.“ Beaumaris lachte, als er den Kragen seines dunkelgrünen Capes hochschlug. Dann zuckte er verräterisch zusammen und griff sich an die verwundete Schulter.

Er ist im Fieberwahn, dachte Angèle; es war die einzig mögliche Erklärung für derartige Torheit.

„Um Himmels willen! Ist Ihnen denn nicht klar, was diese Kälte anrichten kann?“ Sie musste etwas unternehmen. Obwohl sie wusste, dass es lächerlich war und kaum einen Unterschied machen würde, hob sie ihre Fellmütze vom Boden und drückte sie Beaumaris in die Hand. „Tragen Sie wenigstens dies hier!“

Er nahm die Mütze und setzte sie auf. „Merci.“

Er hatte ein seltsames Lächeln auf den Lippen, als er ihr dankte. Ein Lächeln, das ihr das Herz zusammenschnürte, weil es ihr eine schwache Ahnung davon vermittelte, welch ein Mann er unter anderen Umständen hätte sein können. Mit einem Male wurde ihr klar, wie gleichgültig es ihr war, dass er ein Gefolgsmann Bonapartes war. Sie wusste nur, dass sein Tod die reinste Verschwendung wäre. Bei Anbruch der Dunkelheit würden die Temperaturen weiter sinken. Dürftig bekleidet wie er war, würde er ohne Dach über dem Kopf erfrieren – wenn er überhaupt bis zum Einbruch der Nacht durchhält, ging es Angèle beim Anblick seiner fiebrigen Augen und seines leichenblassen Gesichts durch den Kopf. Das also ist die Wirklichkeit hinter all dem hochtrabenden Gerede von Ritterlichkeit, Ehre und Kampf für die gerechte Sache. Der sinnlose Tod eines Mannes! Beaumaris starrte sie an, als läse er etwas aus dem Ausdruck der Trostlosigkeit auf ihrem Gesicht.

„Solange es Leben gibt, ist Hoffnung, Mademoiselle. Au revoir …“

Er sprach so leise, dass Angèle nicht sicher war, ob sie ihn richtig verstanden hatte, doch ehe sie noch antworten konnte, war er bereits in das Schneegestöber hinausgetreten.

Was war es, das sie auf der Türschwelle verharren ließ? Angèle wusste es nicht. Ihre Zähne klapperten vor Kälte, während sie beobachtete, wie Beaumaris durch den Sturm wankte. Das Schneetreiben verwischte die Umrisse seiner hoch aufgeschossenen Gestalt, und schließlich verschluckte es ihn ganz.

Er war zusammengebrochen. Als Angèle die Augen zum Schutz gegen die eisigen Flocken zusammenkniff, konnte sie gerade eben die dunklen Umrisse seines reglosen Körpers am Boden ausmachen. Ohne zu zögern, ging sie ins Haus, schnappte sich einen der Fellüberwürfe vom Bett, wickelte ihn um Kopf und Gesicht und eilte hinaus in die klirrende Kälte. Der Mann im Schnee war der Feind all dessen, was sie aufgrund ihrer Erziehung für wahr und rechtens hielt. Seine abgetragene grüne Uniform war in ganz Europa ein nur allzu vertrauter Anblick. Er war kein einfacher Soldat, den man gegen seinen Willen eingezogen hatte, sondern ein Offizier der Kaiserlichen Garde, Bonapartes treu ergebener Leibwache. Doch es widersprach Angèles Wesen, ihn seinem Schicksal zu überlassen.

Die eisige Luft schnitt ihr schmerzhaft in die Lungen. Sie kämpfte sich zu der am Boden liegenden Gestalt vor, strauchelte zweimal und landete im tiefen Pulverschnee.

„Idiot! Narr!“, fluchte Angèle leise, als sie Beaumaris endlich erreichte, nicht ganz sicher, ob sie diesen Mann für seinen Leichtsinn oder sich selbst für die Dummheit verfluchte, ihn retten zu wollen. Er war bewusstlos, ein totes Gewicht. Sie konnte ihn unmöglich tragen. Doch wenn sie ihm unter die Achseln griff, würde sie ihn Ruck um Ruck ziehen können. Als sie ihn endlich bis zur Hütte gezerrt hatte, hatte sie das Gefühl, ihr Herz müsse zerspringen, und ihr Atem kam in schmerzhaften, unregelmäßigen Stößen. Mit einer letzten Anstrengung wuchtete sie ihn über die Schwelle und schlug die Tür hinter sich zu. Dann ließ sie sich erschöpft neben ihn auf den Boden sinken und rang keuchend nach Atem. Jeder Muskel, jede Sehne ihres Körpers war zum Zerreißen gespannt gewesen. Angèle fühlte sich, als würde sie sich nie wieder rühren können. Doch sie durfte sich jetzt nicht ausruhen. Wenn sie nicht rasch handelte, würde er sterben, dessen war sie sicher.

In ihrem Reisegepäck gab es zahlreiche Heilkräuter und Salben, welche die stets praktisch denkende Katja darin verstaut hatte. Der Gedanke an die Arzneien verlieh Angèle neue Kräfte: Sie stolperte atemlos zur Verbindungstür zum Stall und riss den Riegel fort, ohne auf die Schrammen zu achten, die sie sich dabei an den Fingern zuzog. Augenblicke später war sie bereits zurück und kniete neben Beaumaris nieder, die kleine Ledertasche mit den Heilkräutern fest umklammert. Sie legte ihren Arm unter seine unverletzte Schulter und hievte ihn auf das niedrige, holzgerahmte Bett.

Beaumaris’ Cape war durchnässt, und die eng anliegende grüne Uniform darunter war starr vor Eis und Schnee. Kein Wunder, dass sich die französische Armee zu Tode friert, dachte Angèle, während sie sich mühsam an den für sie ungewohnten Verschlüssen männlicher Kleidung zu schaffen machte. Die langen, weiten Uniformröcke, die dicken Pluderhosen und Lammfellmäntel der Kosaken waren unendlich viel wärmer. Und wesentlich einfacher an- und auszuziehen … Angèle stieß einen russischen Fluch aus, den sie von ihrem Stiefvater gelernt hatte, während sie sich mit den Kupferknöpfen und dem goldfarbenen Schnürverschluss abplagte, die Beaumaris’ dunkelgrüne Husarenjacke und seine hautengen Reiterhosen zusammenhielten. Endlich gelang es ihr, ihn aus Jacke und Hose zu schälen, sodass er nur noch sein blutgetränktes Hemd am Leib trug. Behutsam befreite sie ihn auch davon.

Beaumaris’ Blöße schockierte oder ängstigte Angèle nicht etwa. Die Datscha ihres Stiefvaters lag so abgelegen, dass man sich dort im Notfall nicht auf die Hilfe eines Arztes verlassen konnte. Katja, die Haushälterin ihres Stiefvaters, war eine kundige Heilerin, und sie war ihr eine gelehrige Schülerin gewesen. Sie hatte gelernt, Heilmittel aus Kräutern herzustellen, Knochen zu schienen und sogar mit einer durch Abkochen sterilisierten Nadel und einem Bindfaden Wunden zu nähen. Angèles Mutter hatte sich entsetzt darüber gezeigt, dass ihre Tochter sich mit solch niederer Arbeit die Hände beschmutzte. Doch in diesem einen Punkt hatte sie ihrer Mutter getrotzt. Andere Menschen zu heilen, war für sie die einzige Möglichkeit gewesen, die Schuldgefühle ein wenig zu mildern, die sie seit Yashis Tod plagten.

Die Wunde an Beaumaris’ rechter Schulter sah nicht so schlimm aus, wie Angèle erwartet hatte – die extreme Kälte hatte den Blutfluss verlangsamt – doch sie befürchtete, dass Beaumaris wieder stärker bluten würde, wenn er sich erst einmal aufgewärmt hatte. Flink riss sie einige Stoffbahnen aus seinem Hemd, legte den zu einem Kissen geformten Rest auf die Wunde und verband diese dann so fest sie konnte. Sie begutachtete Beaumaris mit fachkundigem Blick und wog die Faktoren gegeneinander ab, die für und gegen sein Überleben sprachen.

Abgesehen von seiner Verletzung machte er einen außergewöhnlich gesunden Eindruck. Seine breiten Schultern strotzten vor Kraft, sein Bauch war straff und flach, die Oberschenkel muskulös. Er hätte als Modell für die Statue des Mars gedient haben können, die Angèles Mutter aus Frankreich mit nach Russland gebracht hatte; nur, dass er statt aus Bronze aus Fleisch und Blut und hie und da von alten Narben gezeichnet war. Doch er war erschöpft, vom Blutverlust geschwächt und völlig unterkühlt. Die Unterkühlung war sein größter Feind. Angèle wickelte ihn hastig in die Bettüberwürfe aus Pelz, damit der Funken Wärme, der noch in seinem Körper glimmte, nicht auch noch erlosch. Der Mann brauchte Wärme, und zwar schnell. Angèle ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Die Jagdhütte war noch fast so, wie sie sie von ihrem einige Jahre zurückliegenden Besuch in Erinnerung hatte. Neben dem Bett, den Stühlen und dem Tisch gab es noch einen Schrank und einige grob gezimmerte Regale, auf denen Koch- und Essgeschirr stand, darunter auch ein großer kupferner Samowar. Anstelle von Teppichen lagen zahlreiche Tierfelle auf den Holzdielen, und eine Wand des Raums wurde von einem mächtigen gusseisernen Ofen beherrscht. Zu Angèles Freude lagen ein Stapel Holzscheite und etwas Reisig daneben. Einen Augenblick später fand sie auch eine Zunderbüchse auf einem der Regale, und bald schon flackerte ein Feuer im Ofen und erfüllte den kleinen Raum mit dem Aroma von Holzrauch. Angèle nahm eilig eine schmiedeeiserne Pfanne von einem der Regale, ging zur Tür, füllte die Pfanne mit Schnee und setzte sie auf den Ofen. Während der Schnee schmolz, suchte sie in ihrer Tasche nach den geeigneten Heilkräutern.

Eine Stunde später strich Angèle behutsam eine lindernde Salbe auf Beaumaris’ aufgesprungene Lippen. Die Konturen seines lebhaften, sinnlichen Mundes mit den Fingerspitzen nachzuziehen, hatte etwas sehr Intimes, und sie war erleichtert, als diese Arbeit beendet war. Doch als sie auf seinen hochgewachsenen, geschmeidigen Körper hinabblickte, verdüsterte sich ihr Antlitz. Sie hatte seine Wunde gesäubert und verbunden und die wieder einsetzende Blutung mit Schneepackungen gestillt, aber er war noch immer weiß und kalt wie Eis. Er zitterte nicht einmal. Das war ein schlechtes Zeichen. Weder die allmählich zunehmende Wärme des Ofens noch die Felldecken schienen von großem Nutzen zu sein.

Es blieb nur noch ein Mittel, um ihn vor dem Kältetod zu bewahren, doch das konnte sie bei einem Fremden – einem Mann – unmöglich anwenden, oder? Katja hatte ihr einst erzählt, dass man einen Menschen, der zu erfrieren droht, dadurch retten könnte, dass man sich nackt zu ihm ins Bett legte und ihn so lange umschlungen hielt, bis wieder Wärme in seinen Körper zurückströmte …

Angèle warf einen verstohlenen Blick auf Beaumaris’ Antlitz. Er war still wie der Tod, die Lider waren geschlossen, und die verblüffend langen Wimpern hoben sich dunkel von seinen bleichen Wangen ab. Sie konnte nicht umhin, an den Anflug von sprühender Lebenskraft zu denken, der sein Gesicht beim Lachen erhellt hatte. Nein, sie durfte diesen Mann nicht sterben lassen, solange es noch eine Chance gab, ihn zu retten. Die Entscheidung war getroffen, und sie begann, ihre Stiefel auszuziehen.

In der Jagdhütte war es noch längst nicht richtig warm, und Angèle zitterte, als sie aus ihrem Kosakenrock, aus Hosen, Hemd und Strümpfen schlüpfte. Sie bekam eine Gänsehaut, als sie endlich bei ihrer Chemisette angelangt war. Sie beschloss, sie anzubehalten. Der hauchdünne Seidenstoff würde kaum verhindern, dass sich die Wärme ihres Körpers auf Beaumaris übertrug, doch der Anschein von Sittsamkeit, den ihr dies Stückchen Stoff verlieh, würde ihren Mut stärken.

Gleichwohl hämmerte ihr das Herz schmerzhaft gegen die Rippen, als sie behutsam unter die Felldecken kroch. Beaumaris lag auf der linken Seite, mit dem Rücken zu ihr. Als ihre Brüste, ihr Bauch und ihre Beine mit seinem eiskalten Körper in Berührung kamen, schnappte Angèle vernehmbar nach Luft. Die Kälte drang durch ihre Chemisette, als existiere sie gar nicht. Zuerst schreckte sie zurück, doch dann biss sie die Zähne zusammen und zwang sich, einen Arm um Beaumaris’ Hüfte zu schlingen und ihre Beine gegen die seinen zu schmiegen. Ihr war, als umarme sie einen Eisblock, nicht einen menschlichen Körper, und sie brauchte eine ganze Weile, um ihr eigenes Zittern und Zähneklappern unter Kontrolle zu bringen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sich ihre Glieder wieder warm anfühlten. Und dann – kaum merklich – erwiderte der schlanke, drahtige Körper neben ihr allmählich ihre Wärme. Es funktionierte! Leicht benommen vor Erschöpfung und Erleichterung entspannte Angèle sich ein wenig und ließ den Kopf auf die nackte Schulter des Mannes in ihren Armen sinken. Seltsam, dachte sie mit einer aus Müdigkeit erwachsenen Distanz, vor zwölf Stunden noch hätte ich keinen Mann allein in meinem Salon empfangen, um meinen Ruf nicht mutwillig aufs Spiel zu setzen, und nun … Nun konnte sie ihr eigenes Verhalten kaum fassen. Doch was sonst hätte sie tun sollen? Er hatte ihr Leben geschont, sie schuldete ihm seines … Sobald sie sicher sein würde, dass er sich aufgewärmt hatte, würde sie aufstehen und sich ankleiden, und niemand außer ihr selbst würde je etwas davon erfahren.

Angèle konnte nicht sagen, wie lange sie so gedöst hatte, als Beaumaris’ gequälter Schrei sie mit einem Male hellwach machte. Hastig tastete sie nach der Zunderbüchse und dem Kerzenhalter, die sie zuvor neben das Bett gestellt hatte. Als die Kerze aufflackerte, sah sie, wie Beaumaris mühsam versuchte, sich von den schweren Felldecken zu befreien und dabei wie ein Ertrinkender mit den Armen ruderte.

„Hören Sie auf damit. Bitte!“ Angèle griff nach seinen Armen und drückte sie mit aller Kraft nieder. „Ihre Wunde wird wieder aufbrechen, wenn Sie nicht aufhören.“

Die Augen vor Schreck weit aufgerissen, so, als sähe er etwas, das Angèle verborgen blieb, sank er auf das zusammengefaltete Fell zurück, das sie ihm als Kissen untergelegt hatte. Sie wollte ihn beruhigen, ihm Mut zusprechen – wie sie auf den Gedanken kam, ihm ein altes französisches Wiegenlied zu singen, das sie von ihrer Mutter gelernt hatte, wusste Angèle nicht, doch es wirkte. Einige Sekunden später schon waren seine Augen wieder geschlossen, und sein Atem ging gleichmäßiger.

Wenigstens ist er nun warm, dachte Angèle. Zu warm. Auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen. Er hatte Fieber. Sie schlüpfte vorsichtig aus dem Bett, hüllte sich in eine Decke aus Fuchspelz, goss heißes Wasser aus der Pfanne auf dem Ofen in eine Tasse und bereitete daraus einen Heilkräuteraufguss.

„Können Sie das hier trinken?“, fragte sie sanft. „Es wird Ihnen guttun.“

„Bist du es, Blanche?“ Er lächelte schlaftrunken, ohne die Augen zu öffnen. „Habe ich wieder geträumt?“

„Ja, ich bin es“, log Angèle, um ihn zu beruhigen. Sie schob ihren Arm unter seine Schulter, setzte ihn auf und flößte ihm dann die heiße Flüssigkeit ein. Er schluckte sie widerspruchslos, sackte danach aufs Bett zurück und begrub Angèles Arm dabei unter seiner Schulter. Aus Angst, ihn zu stören, harrte sie einige Minuten regungslos aus. Das Kerzenlicht hob den Kontrast zwischen den ebenen und den eingefallenen Partien seines Antlitzes noch hervor, und Angèle wusste mit unerklärlicher Gewissheit, dass sie sein Gesicht niemals vergessen würde, selbst wenn sie uralt werden sollte – eine Möglichkeit, die im Augenblick allerdings eher unwahrscheinlich schien.

Das Gewicht seines Körpers lastete immer schwerer auf ihrem Arm, und so versuchte sie sehr behutsam, sich von Beaumaris zu lösen. Doch er wurde sogleich unruhig.

„Blanche! Verlass mich nicht!“ Seine Angst war offenkundig, und er begann, sich fiebrig hin und her zu wälzen.

„Ich bin ja da“, log Angèle, um ihn zu beruhigen.

„Komm ins Bett … Mich friert …“

„Gut“, willigte sie hastig ein, denn sie wollte ihn wieder in einen ruhigen Schlaf lullen. Als sie zurück unter die Felldecken schlüpfte, gab er ein zufriedenes Murmeln von sich.

„Je t’aime, Blanche.“ Er tastete unter der Bettdecke nach Angèles Hand und drückte sie fest. „Et toi?“

„Je t’aime aussi“, flüsterte Angèle rasch. Sie hätte sich nie träumen lassen, dass sie diese Worte zum ersten Mal in ihrem Leben unter solchen Umständen aussprechen würde. Aber die Lüge wirkt, dachte sie, als sie hörte, wie er mit einem tiefen Seufzer zurück in den Schlaf sank.

Angèle lag noch wach und lauschte dem regelmäßigen Atmen des Mannes an ihrer Seite. Der Gedanke an ihre kleine, harmlose Notlüge stimmte sie traurig. Es war das erste Mal, dass sie mit einem Mann das Bett teilte – und wohl auch das letzte, dachte sie in einem seltenen Anflug von Selbstmitleid. Selbst wenn es ihr gelingen sollte, England zu erreichen, würde sie in der prüden englischen Gesellschaft als vierundzwanzigjährige Frau von ungewisser Herkunft und zweifelhaftem Vorleben wohl kaum mit Heiratsanträgen überschüttet werden. Wer immer diese Blanche auch sein mochte, Angèle beneidete sie von ganzem Herzen. Neben diesem Fremden zu liegen, der ihre Hand noch im Schlaf so fest umschlossen hielt, hatte ihr eine Ahnung davon vermittelt, wie es sein könnte, von einem solchen Mann geliebt und umsorgt zu werden. Und aus irgendeinem Grund hatte es ihr auch Furcht eingeflößt, größere, als sie je zuvor in ihrem Leben empfunden hatte. Draußen erklang das unverwechselbare Heulen eines Wolfes und mischte sich schaurig mit dem heulenden Wind. Ein Laut, so trostlos und traurig wie ihre Gedanken. Instinktiv klammerte Angèle sich fester an die Hand, die sich um die ihre schloss, so, als sei sie ein Talisman gegen das Unheil.

2. KAPITEL

Beaumaris erwachte langsam aus dem Schlaf. Es war merkwürdig ruhig, und erst nach einer Weile begriff er, dass der Sturm sich gelegt hatte. Ich sollte aufstehen, dachte er, und mich schleunigst auf die Suche nach dem Rest der Armee begeben, solange die Windstille noch anhält. Doch er konnte sich nicht dazu überwinden. Er war sich nur der köstlichen, sinnlichen Wärme bewusst, die seinen Körper umhüllte. Wie viele Monate war es her, dass er sich zum letzten Mal wohlig warm gefühlt hatte? Jahre schienen vergangen zu sein, seit die Armee die schwelenden Ruinen Moskaus hinter sich gelassen hatte. Er rekelte sich gemächlich und war dann mit einem Schlag hellwach, als seine Hand den weichen, unverkennbar weiblichen Körper berührte, der neben ihm in seinem Nest aus Fellen lag.

Er fuhr hoch. Die Jagdhütte war dunkel; die Fenster waren während der Nacht vollständig zugeschneit. Doch der flackernde Schein eines am Bett stehenden Kerzenstumpfs zeigte ihm, dass sein Tastsinn ihn nicht getäuscht hatte. Eine Frau! Was in Mars’ Namen machte er im Bett mit einer halb nackten Frau an seiner Seite?

Ungläubig warf Beaumaris einen erneuten Blick auf sie. Mit einem Schlag kehrte seine Erinnerung zurück. Das Kosakenmädchen … Natürlich! Doch was hatte sich nach ihrem Kampf zugetragen? Was machte sie in seinem Bett? Litt er vielleicht vor lauter Erschöpfung unter Wahnvorstellungen? Das schien ihm die einzig vernünftige Erklärung zu sein. Jeden Augenblick würde er im Schlachtengetümmel aufwachen, das Geschrei verwundeter Männer und das unablässige Knarzen und Knirschen von Holz und Metall in den Ohren, das Kanonen und Karren von sich gaben, während sie über die gefrorenen Weiten Russlands geschleppt wurden. Beaumaris schloss die Augen, um sie dann sogleich wieder zu öffnen.

Die Frau war noch immer da. Wie ein Kind lag sie dort, den schlanken Arm über das schwarze Zobelfell gelegt, das ihr als Kopfkissen diente. Auf ihrem vom Schlafe rosigen Gesicht lag nicht eine Spur des Hochmuts, der ihm an ihr in Erinnerung geblieben war, sondern eine betörende, fast schon engelsgleiche Sanftheit. Er konnte sich nicht sattsehen an ihrer samtig schimmernden elfenbeinfarbenen Haut, die sich hell abhob vom seidigschwarzen Fell, auf dem sie ruhte. Und erst ihr Haar … Der strenge Zopf hatte sich gelöst, und es ergoss sich wie ein Wasserfall aus flüssiger Goldbronze über ihre weißen Schultern und den Zobelpelz. Als sie sich sachte bewegte, nahm Beaumaris den Duft von Maiglöckchen wahr, den ihre Haut verströmte. Bei den Göttern, diese Frau war hinreißend! Elfenbein, Rosen und Gold. Doch wie, in Himmels Namen, war es dazu gekommen, dass sie sein Bett teilte? Sie war eine Russin, eine Feindin … Beaumaris streckte die Hand nach ihr aus, rüttelte sie unsanft und versuchte, das verwirrende Gefühl zu ignorieren, das ihn überkam, als seine Fingerspitzen ihre seidenweiche Haut berührten.

„André!“ Angèle schrie auf, wich vor seiner Berührung zurück und fuhr hoch, ohne noch recht wach zu sein. In ihren Augen lag blankes Entsetzen. Dann jedoch fiel ihr Blick auf Beaumaris’ Gesicht, und sie lächelte erleichtert. Er lebt, war ihr erster Gedanke. Sie war beruhigt und glücklich.

„Ich fürchte, Sie irren sich, Mademoiselle. Ich bin Hauptmann Tristan Beaumaris, Chasseur der Kaiserlichen Garde“, stellte er sich in sarkastischem Ton vor. So viel zu ihrer vermeintlichen Unschuld … Was für eine Frau war sie, dass sie ihre Reize so schamlos zur Schau stellte? Und wer, zum Teufel, war André? Ihr Geliebter? Natürlich! Welch anderen Grund sollte sie haben, auf so heimliche Art und Weise zu reisen? Als sein Blick über das dünne Nichts aus rosa Seide glitt, unter dem sich ihre festen, vollen Brüste, ihre gertenschlanke Taille und ihre verführerisch runden Hüften deutlich abzeichneten, verspürte er gegen seinen Willen einen Anflug von Neid auf diesen André. Was immer diese Frau auch im Schilde führte, sie war ein raffiniertes, kokettes kleines Biest. Unter anderen Umständen hätte er einer solch offensichtlichen Einladung schwerlich widerstehen können. Und dabei hielt er sich weiblichen Listen gegenüber seit Langem für immun. Blanche hatte die ganze Trickkiste weiblicher Schliche ausgeschöpft und sogar noch die ein oder andere hinzuerfunden.

Ein zynisches Lächeln zuckte um seine Lippen, als er beobachtete, wie Angèle nach Luft schnappte und die Arme um sich schlang, als sei sie sich ihrer Blöße eben erst bewusst geworden.

„Sie gestatten?“ Beaumaris hob das schwarze Zobelfell vom Bett und reichte es ihr, hielt es allerdings nicht für nötig, den Blick von ihr abzuwenden, während sie sich darin einwickelte.

„Es war nicht meine Absicht, dass Sie mich so sehen …“ Angèle versagte die Stimme. Wie furchtbar! Welch Desaster! Sie hatte vorgehabt, in aller Frühe aufzustehen und sich anzukleiden, noch ehe Beaumaris aufwachte. An seinem Gesichtsausdruck konnte sie nur allzu deutlich ablesen, was er von ihr dachte. „Ich … Sie …“ Scharlachrot vor Scham begann sie zu erklären.

„Was wollen Sie von mir, Mademoiselle?“, fiel er ihr höhnisch ins Wort. „Versuchen Sie, mich aufzuhalten, bis Ihr Geliebter eintrifft? Ich dachte, dass nichts von dem, was ein Russe tun kann, um einen Eindringling zu bezwingen, mich noch überraschen könnte, doch …“, seine schwarzen Brauen hoben sich, „… ich habe mich geirrt.“

„Glauben Sie im Ernst, ich würde mich einem von Bonapartes Offizieren anbieten?“, stieß Angèle hervor, bleich vor Schreck und vor Zorn. „Vielleicht hat Ihr Hirn, so Sie denn eins haben, was ich bezweifle, ebenso Schaden genommen wie Ihre Schulter!“

„Welche Empörung, Mademoiselle“, sagte Beaumaris gedehnt. „Sie klingt beinahe überzeugend.“

Einzig ihre Wohlerzogenheit hinderte Angèle daran, ihn zu ohrfeigen. Er war unerträglich. „Ich wünschte, ich hätte Sie draußen im Schnee Ihrem Schicksal überlassen!“, zischte sie wütend.

„Wovon reden Sie?“ Seine Stimme klang eine Spur weniger spöttisch.

„Von Ihnen! Haben Sie denn alles vergessen, was gestern geschehen ist? Töricht wie Sie sind, haben Sie darauf bestanden, erneut in das Unwetter hinauszugehen. Wie einen Kartoffelsack musste ich Sie dann zurück ins Haus schleppen!“

Einen Moment lang starrte Beaumaris sie misstrauisch an, dann dämmerte ihm langsam eine Erinnerung. Sie hatte neben ihm an der Tür gestanden, und sie hatte ihm ihre Fellmütze geschenkt …

„Warum sollten Sie mir helfen?“, fragte er in scharfem Ton. „Sie gehören zu meinen Feinden, Sie sind Russin.“

„Das bin ich nicht! Ich bin ebenso französischer Nationalität wie Sie. Ich wurde in Paris geboren“, erwiderte Angèle ungeduldig.

„Französin!“ Beaumaris starrte sie ungläubig an. „Was in Gottes Namen macht eine als Kosak verkleidete Französin mitten in Russland? Sie sind doch wohl keine Vivandière?“

„Gewiss nicht!“, gab Angèle barsch zurück. Erst unterstellte er ihr heimliche Stelldichein mit irgendwelchen Liebhabern, und nun deutete er an, sie sei eine jener Frauen, die die französische Armee mit Extrarationen und anderen weniger achtbaren Dienstleistungen versorgten.

„Das habe ich auch nicht angenommen.“ Beaumaris stöhnte und sank dann kopfschüttelnd zurück auf die Felldecken, verwirrt von dem Widerspruch zwischen dem Auftreten dieser Frau und ihren Taten.

„Ihre Wunde, schmerzt sie sehr?“, fragte Angèle besorgt und vergaß darüber sofort ihren Zorn.

„Nein …“ Beaumaris lächelte gequält,“… dafür jedoch mein Hirn. Erklären Sie mir bitte in möglichst einfachen Worten, was vorgefallen ist, Mademoiselle. Ich habe gewisse Probleme, mich zu konzentrieren.“

Angèle stieg erneut die Röte ins Gesicht, als sie bemerkte, worauf er sein Augenmerk gerichtet hatte. Das Zobelfell war ihr von den Schultern geglitten und hatte den Blick auf die durchscheinende Seide freigegeben, die ihre Brüste bedeckte. Gedemütigt zog sie sich das Fell hastig hinauf bis unters Kinn.

„Danke“, sagte er mit verdächtigem Ernst.

Angèle beging den Fehler, ihn zornig anzusehen, denn ihr Blick blieb unwillkürlich an seinem haften. In Beaumaris’ Augen blitzte kaum verhohlenes Vergnügen auf. Einen nicht enden wollenden Moment lang verspürte sie den Drang, mit ihm über die Absurdität ihrer Situation zu lachen. Dann wandte sie den Blick abrupt von ihm ab.

„Nun erzählen Sie mir, was eine junge Französin inmitten dieses gottverlassenen Landes macht“, sagte er nach einer Weile beinahe fühlbarer Stille.

„Den Versuch, es zu verlassen“, antwortete sie knapp und kämpfte dabei gegen das Verlangen an, ihn abermals anzusehen.

„Dann haben wir mehr miteinander gemein als ein geteiltes Bett.“

„Ich bezweifle, dass ich irgendetwas mit einem Franzosen gemein habe, der dieses korsische Scheusal unterstützt“, erwiderte Angèle hochmütig, denn sein vertraulicher Tonfall hatte sie mit einem Mal verärgert. Im Gegensatz zu ihr schien ihn die Situation nicht im Mindesten durcheinanderzubringen, und sie fühlte sich ihm gegenüber völlig im Nachteil.

„Sie sind eine Bourbonen-Anhängerin!“ Zu ihrem Verdruss begann Beaumaris, sich vor Lachen zu schütteln, die Hand dabei auf die verwundete Schulter gelegt.

„Mir will nicht ganz einleuchten, was so amüsant daran sein soll, den legitimen Anwärter auf den französischen Thron zu unterstützen, Monsieur!“, sagte Angèle frostig, und fragte sich, ob Beaumaris wieder Fieber hatte.

„Es tut mir leid, Mademoiselle“, gelang es ihm, sich zwischen zwei Lachern zu entschuldigen, „doch dass meine Retterin ausgerechnet eine treu ergebene Anhängerin König Ludwigs ist, mutet mich wie eine Ironie des Schicksals an. Der Himmel steh mir bei, wenn meine Regimentskameraden je Wind davon bekommen! Verzeihung“, er beruhigte sich ein wenig, als er in ihre angespannte Miene blickte, doch seine silbergrauen Augen funkelten noch immer vor unterdrücktem Vergnügen, „… Sie waren dabei, mir zu erzählen, was Sie hierher verschlagen hat. Bitte, fahren Sie fort.“

Autor

Marie Louise Hall
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