Geliehenes Glück

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Wie in einem Märchen kommt Hilary sich vor, als sie mit Roel sein elegantes Haus in Genf betritt: überall Luxus, Kostbarkeiten, Blumen. Dabei darf sie dem attraktiven Millionär auf keinen Fall zeigen, wie beeindruckt sie ist! Nach einem Unfall hat er sein


  • Erscheinungstag 25.11.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733766375
  • Seitenanzahl 160
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Natürlich werde ich seinen Vertrag nicht erneuern. Die Sabatino Bank hat keinen Platz für unfähige Fondsmanager.“ Roel Sabatino runzelte die Stirn seines attraktiven, schmalen Gesichts. Als internationaler Banker und sehr beschäftigter Mann hielt er dieses Gespräch für eine Verschwendung seiner kostbaren Zeit.

Sein Personalchef Stefan räusperte sich. „Ich dachte, vielleicht könnte eine kleine Unterhaltung Rawlinson wieder zurück auf Kurs bringen …“

„Ich halte nichts von kleinen Unterhaltungen, und ich gebe niemandem eine zweite Chance“, unterbrach Roel seinen Mitarbeiter eisig. „Unsere Kunden auch nicht, wie Sie wissen sollten. Der Ruf der Bank basiert auf reiner Profitleistung.“

Stefan Weber dachte daran, dass Roels eigenes hohes Ansehen als Experte für Weltwirtschaft und Vermögenswahrung noch schwerer wog. Roel Sabatino war Schweizer Milliardär und in der neunten Generation Nachkomme eines Privatbankiers. Von allen galt er als der Brillanteste. So intelligent und erfolgreich er jedoch war, für sein Mitgefühl gegenüber Angestellten mit Problemen war er nicht gerade bekannt. Tatsächlich wurde er für das rücksichtslose Fehlen von Sentimentalität ebenso gefürchtet wie bewundert.

Trotzdem unternahm Stefan einen letzten Versuch, sich für den unglücklichen Mitarbeiter einzusetzen. „Letzten Monat hat Rawlinsons Frau ihn verlassen …“

„Ich bin sein Arbeitgeber, nicht sein Anwalt“, wehrte Roel brüsk ab. „Sein Privatleben ist nicht meine Sache.“

Nachdem dieser Punkt mit seinem Personalchef geklärt war, verließ Roel sein palastartiges Büro im Privatlift und fuhr hinunter in die Parkgarage, wo er mit noch immer verächtlicher Miene in seinen Ferrari stieg. Was für ein Mann ließ denn zu, dass der Verlust einer Frau seine Arbeitsleistung beeinträchtigte und eine einst viel versprechende Karriere ruinierte? So etwas konnte nur einem schwachen Charakter ohne Selbstdisziplin passieren.

Ein Mann, der über seine privaten Probleme jammerte und eine Sonderbehandlung erwartete, war Roel ein Gräuel. Das Leben war nun mal eine Herausforderung, und dank einer asketisch freudlosen Kindheit wusste er das besser als die meisten. Seine Mutter hatte ihn und den Vater verlassen, als er noch ein Kleinkind gewesen war, sodass über Nacht jede zärtliche Zuwendung aus seiner Erziehung verschwunden war. Mit fünf Jahren bereits Internatsschüler, durfte er nur zu Besuch nach Hause, wenn die Noten den hohen Erwartungen seines Vaters entsprachen. Dazu erzogen, hart und emotionslos zu sein, hatte Roel schon in sehr jungen Jahren gelernt, um Vergünstigungen welcher Art auch immer weder zu bitten noch sie zu erwarten.

Sein Autotelefon klingelte, während er im Mittagsverkehr in Genf festsaß und seine Entscheidung bedauerte, nicht die Limousine mit Chauffeur genommen zu haben. Der Anruf war von seinem Anwalt Paul Correro. Wenn es um vertrauliche Angelegenheiten ging, nutzte er Pauls diskrete Dienste lieber als die Kanzlei der Firma.

„Als dein rechtlicher Vertreter halte ich es für meine Pflicht, dich darauf aufmerksam zu machen, dass die Zeit gekommen ist, eine gewisse Verbindung still zu beenden.“ Pauls Ton war beinah scherzhaft.

Roel hatte mit Paul zusammen die Universität besucht und mochte normalerweise dessen lebhaften Sinn für Humor, weil sich niemand sonst so etwas ihm gegenüber herausnahm. Diesmal war er jedoch nicht in der Stimmung für Ratespiele.

„Komm zur Sache, Paul“, drängte er ihn.

„Ich habe schon eine ganze Weile daran gedacht, es zu erwähnen …“ Paul zögerte, was ungewöhnlich war. „Aber ich wartete darauf, dass du das Thema zuerst ansprichst. Es sind jetzt fast vier Jahre. Wird es nicht langsam Zeit, deine Zweckehe aufzulösen?“

Vor Schreck nahm Roel den Fuß von der Kupplung, genau in dem Moment, in dem der Verkehr wieder zu fließen begann. Der Ferrari machte einen Satz, dann setzte der Motor aus, was ein ungeduldiges Hupkonzert der nachfolgenden Wagen auslöste. Obwohl das Roels männlichen Stolz traf, verkniff er sich die Flüche, die ihm auf der Zunge lagen.

Aus den Lautsprechern des Wagens war Pauls Stimme noch immer zu hören. In glücklicher Unkenntnis der Wirkung, die seine Worte gehabt hatten, hatte Paul weitergesprochen. „Ich hatte gehofft, wir könnten irgendwann diese Woche einen Termin vereinbaren, denn ich bin ab nächsten Montag im Urlaub.“

„Diese Woche schaffe ich es unmöglich“, erwiderte Roel sofort.

„Hoffentlich habe ich meine Kompetenz nicht überschritten, indem ich das Thema ansprach“, meinte Paul ein wenig unbehaglich.

Dio mio! Ich hatte diese Sache schon vergessen. Du hast mich überrumpelt!“, tat Roel es lachend ab.

„Ich hätte nicht gedacht, dass das überhaupt möglich ist“, bemerkte Paul.

„Ich muss dich zurückrufen … der Verkehr ist unglaublich.“ Roel beendete das Gespräch ohne das übliche Geplauder.

Ein strenger Zug lag um seinen hübschen Mund. Es war richtig von Paul gewesen, die Ehe zur Sprache zu bringen, die Roel vor fast vier Jahren hatte eingehen müssen. Wie hatte er die Notwendigkeit verdrängen können, diese dürftige Verbindung durch eine Scheidung wieder zu lösen? Er entschuldigte es damit, dass er ein viel beschäftigter Mann war, und dachte an die lächerliche Situation, die ihn dazu gebracht hatte, die Bedingungen des Testaments seines verstorbenen Großvaters durch eine Scheinehe zu umgehen.

Sein Großvater Clemente war bis in seine Sechzigerjahre hinein ein Workaholic gewesen und in jeder Hinsicht aus dem Holz der Sabatinos geschnitzt. Doch nach seinem Rückzug aus dem Berufsleben verliebte er sich in eine Frau, die halb so alt war wie er, und änderte seine Lebenseinstellung völlig. Er legte jede Hemmung ab, übernahm New-Age-Philosophien und heiratete sogar die jugendliche Goldgräberin, die nur aufs Geld aus war. Sein würdeloses Verhalten führte zur jahrelangen Entfremdung von seinem Sohn, Roels konservativem Vater. Roel mochte den alten Mann trotzdem und hielt weiterhin Kontakt zu ihm.

Vor vier Jahren war Clemente gestorben, und Roel war fassungslos gewesen, als ihm die Bedingungen im Testament seines Großvaters dargelegt worden waren. In diesem höchst ausgefallenen Dokument hatte sein Großvater verfügt, dass Castello Sabatino, der Stammsitz der Familie, an den Staat fallen sollte statt an sein eigen Fleisch und Blut, falls sein Enkel nicht innerhalb einer gewissen Frist heiratete. Roel hatte es sehr bedauert, seinem Großvater einmal anvertraut zu haben, er habe nicht die Absicht, zu heiraten und einen Erben zu zeugen, ehe er nicht mindestens mittleren Alters sei.

Obwohl Roel dazu erzogen worden war, jede Art von Sentimentalität zu verachten, hatte er liebevolle, glückliche Erinnerungen an seine Besuche auf Castello Sabatino in der Kindheit. Zwar war er inzwischen reich genug, um sich hundert Schlösser zu kaufen, doch hatte er auf schmerzliche Weise gelernt, dass das Castello einen besonderen Platz in seinem Herzen hatte. Die Sabatinos hatten das Schloss, das hoch über einem entlegenen Tal stand, seit Jahrhunderten bewohnt, und Roel war von der echten Bedrohung, es könnte aus dem Familienbesitz womöglich für immer herausfallen, geschockt gewesen.

Einige Monate später, während er sich geschäftlich in London aufhielt, hatte er mit Paul am Handy die beinah unüberwindbaren Probleme diskutiert, vor die ihn das Testament seines Großvaters stellte. Obwohl er zu dem Zeitpunkt an einem öffentlichen Ort gewesen war – genau genommen wollte er sich die Haare schneiden lassen –, hatte er angenommen, die Unterhaltung sei so privat wie in seinem Büro, da sie in Italien stattfand. Dass das ein Irrtum war, merkte er daran, dass sich die kleine Friseurin plötzlich in das Gespräch einschaltete, indem sie ihm erst ihr Mitgefühl für das „höchst seltsame Testament“ seines Großvaters aussprach und sich dann selbst als „Scheinfrau“ für die Ehe anbot, damit er Castello Sabatino in der Familie halten konnte.

Letztendlich war die Heirat mit Hilary Ross eine rein geschäftliche Angelegenheit gewesen. Wie alt mochte sie jetzt sein? Dreiundzwanzig Jahre am letzten Valentinstag, wie ihm, ohne nachzudenken, einfiel. Er war sicher, dass sie noch immer nicht viel älter als ein Teenager aussah. Sie war sehr klein, doch wundervoll geformt, und zumindest damals hatte sie sich wie ein Punker gekleidet. Von Kopf bis Fuß schwarz, mit klobigen Stiefeln und Vampir-Makeup, erinnerte er sich eher lächelnd als schaudernd. Es ist schon seltsam, wie sexy ein Vampir sein kann, dachte er leicht entrückt. Bevor die Ampel umspringen konnte, zog er seine Brieftasche hervor und nahm den Schnappschuss heraus, den Hilary ihm aufgedrängt hatte. Das Foto zierte die neckische Unterschrift „Deine Frau Hilary“, gefolgt von ihrer Telefonnummer.

„Damit du etwas zur Erinnerung an mich hast“, hatte sie drauflosgeredet, da sie wohl ahnte, dass er abgesehen von der rechtlichen Notwendigkeit, ihren Aufenthaltsort zu kennen, von nun an keinen persönlichen Kontakt mehr zu ihr suchen würde.

„Küss mich“, hatten ihre großen Augen stumm gefleht.

Entschlossen bis zum Schluss, hatte er der Versuchung widerstanden. Sie hatten eine geschäftliche Vereinbarung, die nicht durch Sex befleckt werden durfte: Paul hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass durch den Vollzug der Ehe, die im Grunde nur auf dem Papier bestand, Unterhaltsansprüche geltend gemacht werden konnten.

Es muss Einbildung gewesen sein, dass ich mich zu ihr hingezogen fühlte, sagte Roel sich verärgert. Welche Anziehung hätte sie für ihn besitzen können? Mit sechzehn hatte sie die Schule verlassen. Sie war ein ungebildetes Mädchen aus der Arbeiterschicht. Du liebe Zeit, eine Friseurin! Eine alberne kleine Friseurin, gerade mal etwas über ein Meter sechzig und ohne jedes kulturelle Interesse und ohne jede Kultiviertheit! Sie hatten einzig ihr Menschsein gemeinsam.

Er erlaubte sich einen Blick auf das Foto. Sie ist nicht schön, dachte er, verärgert über seine beunruhigende Versunkenheit. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass ihre Brauen zu gerade und zu stark waren und ihre Nase einen Tick zu lang. Trotz der Makel war er nach wie vor gebannt von dem mutwilligen Funkeln in ihren Augen und dem strahlenden Lächeln auf ihren sinnlichen, violett geschminkten Lippen.

„Als ich samstags noch als Aushilfe arbeitete, habe ich jeden Penny für Schuhe verbraten“, vertraute sie ihm einmal ungefragt an, wie sie ihm schon zuvor Einblicke in einen Lebensstil gewährt hatte, der von seinem so weit entfernt war wie der eines Alien.

„Meine Grandma behauptete, als sie meinen Grandpa kennen lernte, habe sie schon gewusst, dass er die Liebe ihres Lebens sei, noch bevor sie sich unterhalten hätten. Sie konnten sich allerdings auch nicht unterhalten, da sie kein Wort Englisch sprach und er kein Wort Italienisch. Findest du nicht, dass das romantisch ist?“

Roel hatte es für unter seiner Würde gefunden, darauf zu antworten. Genau genommen hatte er sämtliche ihrer Versuche, mit ihm zu flirten, abgeblockt. Vielleicht war das gesellschaftlich und intellektuell arrogant, aber sie stammte nun mal nicht aus seiner Welt. Außerdem kannte er die Angewohnheit der Sabatino-Männer, Goldgräberinnen zu heiraten, und war viel zu schlau, um in die Fußstapfen seines Vaters und seines Großvaters zu treten. Er hatte die unpassende und gefährliche Anziehung einer unpassenden Frau unterdrückt.

Dennoch konnte er die letzte Begegnung mit seiner Scheinfrau nicht vergessen: ihr fröhliches Winken trotz des verdächtigen Schimmerns in ihren Augen, das tapfere Lächeln, das ihm signalisierte, dass sie einen Mann finden würde, der an die Liebe glaubte … Hatte sie diesen sagenhaften Kerl schon gefunden? Und seine Schwächen entdeckt? Hatte sie deshalb ihrerseits noch keine Scheidung verlangt?

In Gedanken ganz bei dieser Frage, fuhr er in eine berüchtigte Kurve, daher blieb ihm nur der Bruchteil einer Sekunde, um zu reagieren, als ein Kind einem Hund auf die Fahrbahn hinterherlief. Er trat auf die Bremse und riss das Lenkrad herum. Der Ferrari krachte mit der Schnauze in eine Wand auf der anderen Straßenseite. Roel wäre unverletzt aus dem Wagen gekommen, wäre nicht ein zweiter Wagen aufgefahren. Bei diesem zweiten Zusammenprall schoss ein Schmerz durch Roels Kopf und ließ alles um ihn her in Dunkelheit versinken.

Das Foto noch in den Fingern, die ihren Griff nicht lösen wollten, wurde er ins Krankenhaus gebracht. Die Schwester seines verstorbenen Vaters, Bautista, wurde in die Notaufnahme gerufen. Mit Verachtung beobachtete sie, wie zwei junge Krankenschwestern mit sehnsüchtigen, ehrfürchtigen Blicken auf das außergewöhnlich gute Aussehen Roels reagierten.

Bautista, eine verwöhnte, herrschsüchtige Brünette mit einem Kleidergeschmack, den weniger nachsichtige Menschen wohl unpassend für eine Frau von sechzig genannt hätten, war wütend über diese Unterbrechung ihres Tagesablaufs. Roel würde wieder gesund werden! Er war unverwüstlich, so wie alle Sabatino-Männer. Abgesehen von dem Schlag auf den Kopf waren die anderen Verletzungen geringfügig. Bautista sollte am nächsten Tag nach Mailand fliegen, um zusammen mit ihrem Verlobten Dieter eine Galerieeröffnung zu besuchen, und sie war entschlossen, ihre Pläne nicht zu ändern.

Erst vor zehn Tagen hatte Roel sie mit der Information geärgert, dass der gut aussehende junge Bildhauer, den sie heiraten wollte, es schon öfter auf ältere, wohlhabende Damen abgesehen gehabt hatte. Wie schrecklich beleidigend Roel gewesen war! Wieso sollte Dieter sie nicht um ihrer selbst willen wollen? Bautista hielt sich immer noch für eine bemerkenswert attraktive Frau mit einem einnehmenden Wesen. Vier erschreckend teure Scheidungen hatten ihrem Glauben an Liebe und die Ehe nichts anhaben können.

Ein Arzt erklärte ihr nach einer Weile, dass Roel zwar wach sei, jedoch an einer Art vorübergehender Amnesie leide.

„Ist Mr Sabatinos Frau auf dem Weg hierher?“, wurde Bautista gefragt.

„Er ist nicht verheiratet.“

Überrascht hielt der Arzt ihr ein zerknülltes Foto hin. „Und wer ist das dann?“

Verblüfft betrachtete sie das Foto und die aufschlussreiche Beschriftung. Roel hatte eine Engländerin geheiratet? Grundgütiger, wie diskret er gewesen war! Aber war er nicht bekannt für seine kühle Zurückhaltung? Seine extreme Abneigung gegen jede öffentliche Aufmerksamkeit?

Seine Ehe würde genau die geschmacklosen, aufdringlichen Schlagzeilen machen, die er befürchtete. Aber wann hatte er seine Verwandtschaft darüber aufklären wollen, dass er verheiratet war? Froh, dass die Existenz einer Ehefrau sie von weiterer Verantwortung für ihren Neffen während seines Krankenhausaufenthaltes entband, machte sie sich rasch daran, diese Frau anzurufen.

Als Hilary ihre winzige Wohnung betrat und das besorgte Gesicht ihrer Schwester Emma sah, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken.

„Was ist passiert?“, wollte sie wissen und ließ die Abendzeitung sinken, die sie gerade gekauft hatte.

„Eine Frau rief an, während du weg warst … Setz dich lieber, bevor ich dir ihre Nachricht übermittle.“ Emma war eine große, schlanke Blonde mit einem ruhigen Ausdruck in den grauen Augen, der für ein Mädchen von siebzehn Jahren ein ungewöhnliches Maß an Reife verriet.

Hilary runzelte die Stirn. „Mach keinen Quatsch. Du bist hier, du bist heil und die Einzige aus der Familie, die ich noch habe. Wer hat angerufen … und mit welcher Nachricht?“

„Ich bin nicht die Einzige aus deiner Familie“, erwiderte ihre Schwester leicht angespannt. „Roel Sabatino hatte einen Autounfall.“

Hilary blickte Emma starr an und wurde blass. Ihre Knie drohten nachzugeben. „Er …“

„Lebt … ja!“ Emma legte ihr den Arm um die Schultern und führte sie zu dem kleinen Sofa in der Küche, das zugleich Sitz-und Essecke war. „Roels Tante rief an. Sie sprach nur sehr wenig Englisch, und der Anruf dauerte auch nur zwei Minuten …“

„Wie schwer ist er verletzt?“ Hilary zitterte und fühlte sich elend.

„Er hat eine Kopfverletzung. Ich habe den Eindruck, es könnte ernst sein. Er wird in ein anderes Krankenhaus verlegt, und ich habe veranlasst, nähere Einzelheiten zu erfahren.“ Emma drückte ihrer Schwester die Hand. „Atme tief durch, Hilly. Denk daran, dass Roel lebt. Du hast einen Schock, aber morgen früh kannst du bei ihm sein.“

Hilary ließ benommen den Kopf hängen und war in ihre eigene Welt versunken. Roel, die geheime Liebe ihres Lebens – auch wenn sie für ihn bloß ein Mittel zum Zweck gewesen war. Es war seltsam und beängstigend, wie einem die Liebe begegnen konnte. Roel, der Mann, den sie wollte und der sie nicht einmal geküsst hatte. Roel, so groß und stark, der vermutlich in diesem Augenblick in einem Krankenhausbett um sein Leben kämpfte. Sie betete, dass er sich wieder erholte, aber es fiel ihr schwer, darauf zu hoffen. Vor sieben Jahren hatte der Autounfall, bei dem ihre Eltern ums Leben gekommen waren, ihre und Emmas Welt erschüttert. Damals hatte das lange, nervenaufreibende Warten im Krankenhaus nicht mit einer erlösenden Nachricht von Überlebenden geendet.

„Bei ihm sein?“ Erst jetzt stutzte Hilary. „Bei … Roel sein?“ Hoffnung stieg in ihr auf. Sie war vielleicht nur dem Namen nach seine Frau, aber das hieß nicht, dass sie sich nicht um sein Wohlergehen sorgen konnte. Und hatte seine Tante nicht angerufen, um sie über den Unfall zu informieren? Offenbar war ihre Ehe innerhalb des Familienkreises nicht so geheim, wie sie angenommen hatte. Es war auch offensichtlich, dass seine Verwandte glaubte, diese Ehe sei mehr als nur eine auf dem Papier.

„Ich wusste, dass jede Minute zählt und was du tun wollen würdest“, versicherte Emma ihr hastig. „Dies ist ein Notfall. Also habe ich sofort im Internet einen Flug nach Genf für dich gebucht. Er geht gleich morgen …“

Nur mit Mühe hielt Hilary ihren verzweifelten Wunsch, zu Roel zu eilen, unter Kontrolle. „Natürlich will ich zu ihm, aber …“

„Kein Aber.“ Emma sprang bestürzt auf. „Sei bloß nicht zu stolz, um rüberzufliegen und Roel beizustehen. Du bist seine Frau, und ich wette, ihr könnt wieder kitten, was einmal zwischen euch gewesen ist. Ich bin jetzt alt genug, um zu erkennen, wie schwer euch beiden mein schlechtes Benehmen zugesetzt hat!“

Hilary war verblüfft von dieser temperamentvollen Rede. Bis zu diesem Moment hatte sie keine Ahnung gehabt, dass Emma sich die Schuld am Scheitern ihrer Ehe gegeben hatte. „Meine Beziehung zu Roel funktionierte einfach nicht. Du darfst nicht denken, du hättest auch nur das Geringste damit zu tun“, beteuerte sie.

„Hör auf, mich beschützen zu wollen“, sagte Emma stöhnend. „Ich war eine selbstsüchtige kleine Madam. Wir hatten Mom und Dad verloren, und ich war so besitzergreifend, was dich anging, dass du mich Roel nicht mal kennen lernen lassen wolltest!“

Hilary musste sich eingestehen, dass jede Lüge, und mochte sie noch so klein sein, ihre Strafe nach sich zog. Sie konnte ihrer Schwester nicht mehr in die Augen sehen. „So war es nicht zwischen Roel und mir“, begann sie unbehaglich.

„Doch, war es. Du hast mich an die erste Stelle gesetzt und dir von mir den Hochzeitstag verderben lassen, noch bevor er losging. Ich war schrecklich unhöflich zu Roel und drohte wegzulaufen, wenn du versuchen würdest, mich zu zwingen, im Ausland zu leben. Ich habe mich zwischen euch gedrängt … doch, das habe ich!“ Emma atmete tief durch, um sich zu beruhigen. „Du warst so verliebt in ihn. Ich kann immer noch nicht fassen, wie grausam ich zu dir war.“

Hilary hatte Mühe, sich auf die unerwartete Wendung, die dieses Gespräch genommen hatte, zu konzentrieren. Ihre Gedanken kreisten hauptsächlich um Roels Gesundheitszustand. Entschlossen, das unglückliche Missverständnis ihrer Schwester zu einer passenden Zeit auszuräumen, fragte sie: „Was genau hat Roels Tante gesagt?“

„Dass er nach dir gefragt hat“, log Emma und kreuzte zwei Finger hinter dem Rücken. Sie hoffte, der kleine Schwindel würde ihre Schwester ermutigen, zu ihrem Mann zu fliegen, von dem sie sich entfremdet hatte.

Roel fragte nach ihr? Hilary war erstaunt und glücklich zugleich. Plötzlich fühlte sie sich jeder Herausforderung gewachsen. Roel brauchte sie! Diese Erkenntnis rührte sie zutiefst. Wenn ein Mann von so einschüchternder Selbstständigkeit sich Hilarys Anwesenheit wünschte, musste er schon sehr schwach oder ernsthaft krank sein. Besorgt eilte sie in ihr Schlafzimmer, um zu packen.

„Aber der Salon?“, meinte sie stöhnend, während sie in ihren Sachen nach passender Kleidung kramte. „Wer kümmert sich darum?“

„Sally“, schlug ihre Schwester nun vor und meinte damit Hilarys Stellvertretung im Friseursalon, Sally Witherspoon. „Du hast gesagt, sie sei klasse gewesen, als du die Grippe hattest.“

In dem schwach beleuchteten Flur nahm Hilary das Telefon und rief Sally an. Sie verabredete mit ihr, die Schlüssel für den Salon abzuholen und eine Friseurin, die gelegentlich aushalf, zu bitten, während ihrer Abwesenheit einzuspringen. Nachdem diese praktischen Dinge erledigt waren, dachte sie lieber nicht daran, wie sehr solche Extras ihre ohnehin magere Gewinnspanne schmälern würden. Stattdessen wandte sie sich an Emma. „Wie kann ich dich hier in der Wohnung allein lassen?“

„Meine Trimesterferien sind morgen zu Ende, dann fahre ich sowieso zurück zur Uni“, erklärte ihre Schwester. „Das schaffe ich hoffentlich allein. Hilly, ich bin siebzehn!“

Ein wenig verlegen nahm Hilary ihre geliebte Schwester fest in den Arm.

Im Nachhinein betrachtet kam es ihr wie ein Wunder vor, wie sehr jene Zeit und Roels finanzielle Hilfe ihr Leben verbessert hatten. Hilary schuldete Roel so viel, mehr, als sie je zurückzahlen konnte!

Vor vier Jahren noch hatten die Schwestern in einer schmuddeligen Wohnung in einer Sozialsiedlung mit hoher Kriminalitätsrate gehaust, und das Leben war trostlos gewesen. Emma war intelligent, und Hilary war entschlossen gewesen, dafür zu sorgen, dass der frühe tragische Tod ihrer Eltern eine Universitätsausbildung ihrer jüngeren Schwester nicht verhindern würde. Umso schrecklicher waren ihre Schuldgefühle gewesen, als sie mit ansehen musste, wie Emma in schlechte Gesellschaft geriet und anfing, die Schule zu schwänzen. Damals hatte Hilary, noch Berufsanfängerin, ständig Überstunden im Friseursalon gemacht. Sie hatte sich weder eine bessere Wohngegend leisten noch mehr Zeit für einen rebellierenden Teenager aufbringen können.

Roels Großzügigkeit hatte ihr Leben verändert. Anfangs hatte sie sein Geld nicht annehmen wollen, dann aber war ihr klar geworden, dass sie damit ihre kleine Schwester wieder auf den Pfad der Tugend zurückbringen konnte. Für die Eröffnung des eigenen Friseursalons in der weit vom modischen London entfernten Vorortsiedlung Hounslow hatte sie nur das ausgegeben, was sie benötigte. Angesichts dessen, was Emma damals brauchte, glaubte Hilary, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Nur manchmal fragte sie sich, ob Roel vielleicht seine Reserviertheit aufgegeben und sie mehr respektiert hätte oder sogar mit ihr in Kontakt geblieben wäre, wenn sie bei ihrer ursprünglichen Absicht geblieben wäre, ihn einfach nur zu heiraten und jede Belohnung abzulehnen.

Schließlich hatte sie ihn als Freundin heiraten wollen, die ihm einen Gefallen tat. Da sie heftig verliebt war in diesen Mann, der ihre Existenz kaum zur Kenntnis zu nehmen schien, hätte sie alles getan, um Roel zufrieden zu stellen oder zu beeindrucken. Doch indem sie das Geld von ihm annahm, veränderte sie alles zwischen ihnen.

„Ich ziehe es vor, für geleistete Dienste zu bezahlen“, hatte er gesagt, und Hilary war sich dabei wie eine Prostituierte vorgekommen. „Auf diese Weise beugt man Missverständnissen vor.“

Am Vormittag des folgenden Tages hatte Dr. Lerther Mühe, sein Erstaunen zu verbergen, als seine Sekretärin Roel Sabatinos Frau Hilary hereinführte. Die kleine blonde Frau, der die Angst im Gesicht geschrieben stand, war in keiner Hinsicht so, wie er es erwartet hatte.

„Ich habe versucht anzurufen, bevor ich England verließ, aber die Vermittlung fand die Nummer dieses Krankenhauses nicht“, erklärte Hilary hastig.

Sie war sehr nervös. In seiner luxuriösen Pracht war dieses Krankenhaus wie kein anderes, das sie je zuvor betreten hatte, und sie hatte einige Beweise ihrer Identität vorlegen müssen, um überhaupt hereingelassen zu werden. Ihre zunehmend verzweifelten Fragen nach Roels Gesundheitszustand wurden mit höflichem, aber bestimmtem Schweigen quittiert. Nachdem ihre Hoffnung enttäuscht wurde, Roels Tante Bautista würde sie erwarten und zu ihm führen, war sie gezwungen, sich als Roel Sabatinos Frau vorzustellen. Dadurch kam sie sich schrecklich unaufrichtig vor, doch war sie überzeugt davon, dass man sie gar nicht erst zu ihm vorgelassen hätte, wenn sie die ganze Wahrheit über ihre Ehe gesagt hätte.

„Dies ist eine Privatklinik, und da unsere Patienten Diskretion und Sicherheit wünschen, ist die Nummer nicht ohne weiteres zu erfragen.“ Der ältere, grauhaarige Mann streckte ihr die Hand entgegen. „Ich bin froh, dass Sie so schnell kommen konnten.“

Seine Worte ließen Hilary Schlimmes ahnen. „Roel?“, hauchte sie.

„Entschuldigen Sie, es war nicht meine Absicht, Sie zu beunruhigen. Abgesehen von heftigen Kopfschmerzen und ein paar Prellungen geht es Ihrem Mann körperlich gut.“ Mit einem ermutigenden Lächeln führte er sie durch sein luxuriöses Büro zu einem Sessel. „Dummerweise steht es um sein Erinnerungsvermögen nicht so günstig.“

Ein wenig erleichtert setzte Hilary sich, dann schaute sie verwirrt auf. „Sein … Erinnerungsvermögen?“

„Mr Sabatino erhielt einen Schlag auf den Kopf und war mehrere Stunden lang bewusstlos. Nach einem solchen Ereignis ist eine Phase der Orientierungslosigkeit nicht selten. Leider scheint in diesem Fall eine vorübergehende Beeinträchtigung des Erinnerungsvermögens vorzuliegen.“

„Und das bedeutet?“

„Eine Standarduntersuchung, nachdem er das Bewusstsein wiedererlangt hatte, ergab eine Störung seiner zeitlichen Wahrnehmung …“

„Zeitliche Wahrnehmung?“, unterbrach Hilary ihn ängstlich.

„Roels Erinnerung hat meiner Einschätzung nach die letzten fünf Jahre seines Lebens falsch eingeordnet. Ihm selbst war das Problem nicht bewusst, bis er darauf aufmerksam gemacht wurde. Jeder Aspekt seiner Vergangenheit vor dieser Zeit ist ihm bekannt, aber alles, was danach kam, ist für ihn ein Buch mit sieben Siegeln.“

Hilary sah den Arzt ungläubig an. „Fünf ganze Jahre? Sind Sie sicher?“

„Selbstverständlich. Mr Sabatino hat auch keine Erinnerung an den Autounfall.“

„Aber wieso ist ihm das passiert?“, wollte sie besorgt wissen.

„Ein Gedächtnisverlust bis zu einem gewissen Grad als Folge einer Kopfverletzung ist nicht selten, allerdings meistens nur über einen kurzen Zeitraum. Man nennt es retrograde oder rückläufige Amnesie. Manchmal führt ein emotionales Trauma oder auch Stress zu diesem Phänomen, aber in diesem besonderen Fall können wir das wohl ausschließen“, erläuterte Dr. Lerther überzeugt. „Mit ziemlicher Sicherheit ist es ein vorübergehender Zustand, und innerhalb von Stunden oder Tagen kehrt das Vergessene zurück, bruchstückhaft oder auch auf einmal.“

Autor

Lynne Graham
<p>Lynne Graham ist eine populäre Autorin aus Nord-Irland. Seit 1987 hat sie über 60 Romances geschrieben, die auf vielen Bestseller-Listen stehen. Bereits im Alter von 15 Jahren schrieb sie ihren ersten Liebesroman, leider wurde er abgelehnt. Nachdem sie wegen ihres Babys zu Hause blieb, begann sie erneut mit dem Schreiben....
Mehr erfahren