Geraubte Küsse unterm Mistelzweig

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Schöne Bescherung! Charity ist überzeugt, dass während der Festtage ihre Verlobung mit Julius Lindgate bekannt gegeben wird. Doch als der verwegene Schotte Sir Andrew das Herrenhaus betritt, erfährt sie, was Liebe auf den ersten Blick bedeutet …


  • Erscheinungstag 26.12.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783751504959
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Oxfordshire, England

Dezember 1819

Andrew „Drew“ MacGregor klopfte in der Diele von Wyecliffe Manor den Schnee von seinen Stiefeln und übergab dem Butler seinen Mantel. Schon früher am Tag war er in Great Tew in Oxfordshire angekommen, und es war ihm gelungen, das letzte freie Zimmer im Gasthof zu ergattern. Danach hatte er sich zu seinem Gastgeber begeben, um dort vor den bevorstehenden Festtagen seine Aufwartung zu machen. Das Haus war voller Gäste, die zu zweit oder zu dritt in den Gästezimmern untergebracht waren. Er wollte sein Zimmer jedoch mit niemandem teilen. Darum hatte er dem Gastwirt lieber den doppelten Preis bezahlt, damit ihm das im Gasthof nicht passieren konnte.

Die große Eingangshalle von Wyecliffe Manor war mit immergrünen Zweigen geschmückt, und der Duft nach Kiefern lag in der Luft. Mistel- und Stechpalmenzweige waren mit Zedern zu Girlanden verflochten und hingen an den Geländern, ein Feuer knisterte fröhlich im Kamin am anderen Ende der Halle. Man hörte Gelächter aus allen Räumen, was zu der glücklichen, erwartungsvollen Atmosphäre beitrug. Fünf Tage noch, dann würde die langerwartete weihnachtliche Hochzeit von Olivia Fletcher und Edward Mackay stattfinden.

Drew war eingeladen worden, auf Wyecliffe Manor zu wohnen, aber er hatte abgelehnt. Obwohl er sehr gern an dieser besonderen Feier teilnahm, brauchte er einen ruhigen Rückzugsort. Engländer waren so schrecklich gesellig und neugierig und mischten sich ständig in die Angelegenheiten anderer ein. Er hielt sich am liebsten in der Abgeschiedenheit seiner Jagdhütte in den schottischen Highlands auf, darum würde er sich gleich dorthin in die wundervolle Einsamkeit zurückziehen, sobald die Hochzeit ein Fait Accompli war.

Er strich den Aufschlag seines dunklen Rocks glatt und ging weiter in die Eingangshalle hinein. Da er keine Anweisungen erhalten hatte und sein Gastgeber noch nicht zur Begrüßung erschienen war, wusste er nicht recht, wohin er sich wenden sollte. Nach rechts zu dem Raum, aus dem ausgelassenes Stimmengewirr zu hören war, oder nach links zu dem Zimmer, aus dem Klavier- und Geigenmusik ertönte? Wenn es eine Bibliothek gab, in der man eine Flasche guten Malt Whiskey finden konnte, würde er Edward Mackay sicherlich dort antreffen. Aber zuerst wollte er sich mit der neuen Umgebung vertraut machen.

Er lenkte seine Schritte nach links zu dem Musikraum, wo die Gesellschaft vielleicht nicht ganz so formell war. Gleich nach dem Eintreten stellte er sich an die Seite und hoffte, dort an der Wand nicht weiter aufzufallen. Er schaute sich um und bemerkte, dass die Anwesenden offenbar sehr locker miteinander umgingen. Ein Geiger stand an der Ecke ihm gegenüber und stimmte gerade sein Instrument, eine auffallend schöne, blonde Frau saß auf der Klavierbank. Sie hatte graziös die Hände auf die Tasten gelegt, während ein aufmerksamer junger Mann die Seiten eines Notenbuches für sie umblätterte. Sie schienen sich gut zu kennen und vertraut miteinander zu sein. Drew musste einen Anflug von Neid unterdrücken.

Der Mann schaute zur Tür, doch er schien Drew gar nicht wahrzunehmen und wandte sich sofort wieder dem Mädchen zu. Sie errötete liebreizend, woraus Drew schloss, dass ihr Begleiter ihr wohl ein Kompliment gemacht hatte. Warum auch nicht – die Frau sah atemberaubend gut aus. Ihr goldblondes Haar war an den Seiten nach oben frisiert und dort mit einer blauen Samtschleife zusammengefasst, die gut zu ihrem Kleid passte, und von da aus wallte die Lockenpracht bis auf den Rücken hinunter. Ihr schlanker Hals war elegant geschwungen, aber ihre Kehle wirkte besonders verführerisch auf ihn. Eine Kehle, die geküsst werden sollte. Von ihm.

Herrje! Wie lange war es her, dass er sich so vom Aussehen einer Frau hatte beeindrucken lassen? Von ihrem züchtigen Erröten? Jahre? Jahrzehnte? Jemals? Er konnte seinen Blick nicht abwenden, nicht einmal, als der Mann eine ihrer Hände von den Tasten hob, um einen galanten Kuss auf den zarten Handrücken zu hauchen.

Aha, er sah also einer Brautwerbung zu. Ein seltsam und ungewohnt besitzergreifendes Gefühl brannte plötzlich in ihm. Welch ein Jammer.

Die Frau warf einen Blick auf die goldbronzene Uhr auf dem Sims neben dem Klavier und schien ein wenig zu erschrecken. Sie zog etwas zögerlich ihre Hand zurück und erhob sich. Mit weicher, musikalisch klingender Stimme sagte sie: „Ich muss schnell in Olivias Salon gehen zur Anprobe meines Brautjungfernkleides. Sehe ich Sie später noch, Mr Lingate?“

„Verlassen Sie sich darauf, Miss Wardlow“, erwiderte der junge Mann.

Die entzückende Miss Wardlow ging rasch zur Tür. Sie begegnete kurz Drews Blick, und lächelte ihn mit ihren verführerischen Lippen bezaubernd an. Als sie an ihm vorbeieilte, wehte ein dezenter, blumiger Duft hinter ihr her, und Drew fühlte sich, als hätte er einen Schlag in den Magen bekommen – für einen Moment stockte ihm der Atem.

Charity Wardlow brachte die Anprobe so schnell wie möglich hinter sich, lief dann auf der Hintertreppe hinunter und durch den Korridor, der zur Vorderseite des Gebäudes führte. Sie wollte unbedingt wieder schnell an den Festlichkeiten teilnehmen, denn sie hatte gehört, dass heute Abend auf der Wiese am Teich Schlittschuh gelaufen werden sollte. Zwar war sie keine besonders gute Läuferin, aber es würde sich sicher eine Gelegenheit ergeben, ein paar Minuten mit Mr Lingate allein zu verbringen. Vielleicht konnte er sie auffangen, wenn sie sich absichtlich fallen ließ?

Am besten aber war, dass sie wusste, er würde ihr einen Antrag machen, noch bevor sich alle nach Olivias Trauung auf den Rückweg nach London machten. Sie hatte die sicheren Anzeichen erkannt – feuchte Handflächen, wenn er ihre Hand hielt oder sie zum Tanzen aufforderte, er war spürbar aufgeregt, wenn er sich mit ihr unterhielt – und er konnte ihr nicht direkt in die Augen sehen.

Ja, er würde ihr sehr bald seinen Heiratsantrag machen. Und wenn es so weit war, hatte sie ihre Antwort parat. Ja! Seit drei Jahren wartete sie darauf, dieses Wort endlich aussprechen zu können. Ihr Vater wäre so stolz gewesen, und ihre Mutter würde einfach auf ihre unbestimmte Art lächeln, weil sie nicht begriff, worum es ging.

Als sie an der Bibliothek vorbeikam, rutschte ihr das blauseidene Tuch von den Schultern. Sie drehte sich um und bückte sich, um es aufzuheben. In diesem Augenblick hörte sie eine Stimme aus der Bibliothek. Lord Edward Mackay, Olivias Verlobter, sprach mit sehr aufgebrachter Stimme. Gerade wollte sie aufstehen und weitergehen, als ein einziges Wort sie zurückhielt.

„… Baby! Was für eine Frechheit“, sagte Edward.

„Fraglos“, stimmte Edwards Bruder Lawrence ihm zu. „Doch das Problem bleibt bestehen. Du wirst es Olivia sagen müssen.“

„Niemals!“, schwor Edward.

„Aber die Mutter des Kindes ist hier in Great Tew wegen der Hochzeit und …“

„Nichts darf diese Hochzeit stören oder …“

„… und stellt eine Bedrohung dar für …“

„… oder sie verzögern“, endete Edward. „Ich warte schon zu lange darauf. Ich dulde nicht, dass etwas dazwischenkommt.“

„Dazwischenkommt? Hast du mich eigentlich verstanden, Edward? Sie ist hier und droht mit einem Skandal. Sie hat mir das hier als Beweis gegeben, um ihren Anspruch zu untermauern. Ich würde sagen, es ist mehr als nur ein ‚Dazwischenkommen‘.“

Charity hielt sich die Hand vor den Mund, um keinen Laut von sich zu geben. Ein Baby! Edward Mackay hatte ein illegitimes Kind! Und Olivia wusste nichts davon. Der Mann war ein Schuft. Sie spähte durch den Türspalt und sah, wie Edward ein Spitzentaschentuch von seinem Bruder entgegennahm. Er blickte angewidert darauf, öffnete dann die oberste Schreibtischschublade und warf es achtlos hinein. Dann wandte er sich wieder seinem Bruder zu.

„Biete ihr Geld an“, sagte Edward. „Gib ihr, was sie haben will.“

„Du weißt, dass es nie ein Ende haben wird, wenn wir uns auf eine Erpressung einlassen“, meinte Lawrence. „Sage es Olivia. Sie wird es verstehen, Edward. Sicher kannst du auf ihr Verständnis bauen.“

„Das kann ich nicht riskieren.“

„Es ist der einzige Weg. Auch wenn es illegitim ist, ist das Kind im Moment der einzige Erbe der Mackays. Olivia wird es sowieso herausfinden.“

„Aber erst später. Nach der Hochzeit“, beharrte Edward.

„Würde sie es sich noch einmal anders überlegen, wenn sie es wüsste?“

„Sie ist ziemlich erschöpft wegen der Planungen und Vorbereitungen, und jetzt noch der Trubel und die vielen Gäste. Wer weiß, wie sie reagieren würde.“

„Wenn so etwas ihre Meinung ändert, ist sie vielleicht doch nicht die Frau für uns“, sagte Lawrence seufzend.

Uns? Bist du eigentlich verrückt geworden, Lawrence? Du bist nicht derjenige, der vor dem Altar stehen wird, oder? Es ist nicht dein Herz, das sie in den Händen hält. Nein, es ist meines, und ich bin derjenige, der die Entscheidungen fällen wird. Olivia wird mit diesem Schmutz nicht behelligt. Zumindest nicht, bevor das Ehegelübde gesprochen ist.“

Oh, wird sie nicht? dachte Charity. Wenn das Wissen um ein illegitimes Kind Olivias Entscheidung zu heiraten beeinflussen konnte, dann musste sie davon erfahren, bevor es zu spät war. Als ihre Freundin war Charity dazu verpflichtet, es ihr zu sagen, wenn ihr Verlobter es nicht selbst tun wollte.

Sie richtete sich mit dem Tuch in der Hand auf und wollte schnell zur Eingangshalle gehen. Doch als sie plötzlich den beunruhigenden Fremden aus dem Musikzimmer vor sich sah, der sich mit einer Schulter an die Wand ihr gegenüber lehnte, wäre sie vor Schreck beinahe ohnmächtig umgesunken. Offenbar hatte er sie die ganze Zeit beobachtet.

Er lächelte träge, ein wenig zynisch und meinte: „Lauschen Sie eigentlich gewohnheitsmäßig oder nur gelegentlich, Miss Wardlow?“

Er kannte ihren Namen? Ganz sicher kannte sie seinen Namen nicht. An das ironische Lächeln und die tiefe, volle Stimme mit dem leicht schottischen Anklang hätte sie sich erinnert. Und ganz sicher an die funkelnden Augen, die tiefblau waren – mitternachtsblau. Seine Schultern waren beeindruckend breit, die Haare von dunklem Kastanienbraun. Aber der unverschämte Ton! Wie konnte er es wagen, in diesem Ton mit ihr zu sprechen?

„Ich habe nicht absichtlich gelauscht, Sir“, flüsterte sie und schaute über die Schulter zur Tür der Bibliothek. „Ich hatte mein Tuch verloren und wollte es aufheben.“

„Und dachten sich, dass Sie dabei einen kurzen Blick in die Bibliothek werfen könnten? Oder hat Sie der Skandal angelockt, über den dort geredet wurde?“

„Sch-sch …! Unabsichtlich habe ich etwas gehört, das eine mir nahestehende Person betrifft.“ Sie wusste beim besten Willen nicht, warum sie sich eigentlich überhaupt vor diesem Fremden rechtfertigte.

„Betrifft, hm?“ Der Mann lachte in sich hinein. Es klang gleichzeitig argwöhnisch und belustigt. „Diese Ausrede für Schnüffelei ist selbst mir noch nicht untergekommen.“

„Ich mische mich nicht ein“, erklärte sie pikiert.

„Von hier aus sieht es aber sehr stark so aus, Miss Wardlow, als wären Sie eine typische Engländerin, die sich immerzu mit anderer Leute Angelegenheiten befasst.“

Charity wusste nicht, auf welche Beleidigung sie zuerst reagieren sollte – die allgemeine über die aufdringliche Engländerin oder die spezielle über sie. Stattdessen reckte sie das Kinn und wollte an dem ungehobelten Mann vorbeieilen. Doch er hielt sie am Arm fest. Sie spürte einen erregten Schauer bei der ungewohnten, vertraulichen Berührung seiner kräftigen Finger an ihrem Oberarm. Nicht einmal Mr Lingate würde sich das ohne ihre Zustimmung erlauben.

„Wenn Sie sich nicht einmischen, Miss Wardlow, was beabsichtigen Sie dann mit der Information anzufangen, die Sie gerade mit angehört haben?“

„Nun, so geschmacklos es auch ist, ich kann nur eins tun. Es Olivia erzählen, natürlich.“

„Das würde ich an Ihrer Stelle nicht tun.“

Etwas in seiner dunklen Stimme klang warnend, aber Charity war nicht dazu bereit, sich einschüchtern zu lassen. „Soll das etwa eine Drohung sein?“

„Wenn es eine Drohung wäre, müssten Sie nicht fragen.“ Der Mann trat dichter an sie heran und sah sie eindringlich an. „Ich möchte nur zur Vorsicht raten und dazu, die Konsequenzen zu bedenken, bevor Sie so eine Enthüllung machen. Es hätte weitreichende Folgen und könnte Leben verändern.“

„Das Gleiche trifft zu, wenn das Geheimnis gewahrt wird, Sir. Olivia Fletcher ist meine Freundin. Was für eine Freundin wäre ich, wenn ich sie in ein mögliches Verhängnis rennen ließe, ohne sie zu warnen? Wenn es Konsequenzen gäbe, von denen sie erfahren müsste, die ich ihr aber vorenthalte?“

„Vielleicht wissen Sie ja gar nichts. Sie haben zufällig ein paar Worte aufgeschnappt, die sich möglicherweise schlimmer anhörten als …“

„Vielleicht … möglicherweise?“, fragte sie. Der Mann machte sie wütend. „Raten Sie mir etwa, zu vergessen, was ich mit eigenen Augen und Ohren gesehen und gehört habe?“

„Es ist nicht immer alles so, wie es den Anschein hat, Miss Wardlow. Augen und Ohren können sich auch täuschen.“

„Die Dinge sind gewöhnlich genauso, wie sie scheinen, Sir. Lord Edward ist ein Lügner.“

Er senkte die Stimme und blickte zur Tür der Bibliothek. „Wenn Sie nicht die Zukunft Ihrer Freundin aufs Spiel setzen wollen, schweigen Sie besser.“

„Wenn Sie wüssten, was ich gehört habe, würden Sie das nicht sagen.“

„Mein Gehör ist ausgezeichnet. Ich weiß genau, was Sie gehört haben.“

„Und trotzdem wollen Sie, dass ich meine Freundin um die Wahrheit betrüge?“

„Ich kenne meinen Freund. Edward Mackay würde sein Leben nicht auf einer Lüge aufbauen. Was auch immer geschehen sein mag – er ist unschuldig.“

Sie zuckte die Achseln, weil sie seine Loyalität zwar bewundernswert, aber auch ein wenig naiv fand. „Gleichwohl bin ich meiner Freundin verpflichtet.“ Sie blickte auf seine Hand an ihrem Arm.

Er ließ sie los und trat zurück, eine dunkle Augenbraue herausfordernd gehoben. „Würden Sie mit mir wetten, Miss Wardlow?“

Charity runzelte erstaunt die Stirn. „Wetten?“

„Ja. Ich wette mit Ihnen, dass mein Freund nicht schuldig ist an dem, was Sie ihm vorwerfen. Meine Einschätzung gegen Ihre.“

Charity legte den Kopf schräg, kniff die Augen zusammen und sagte: „Wie wollen Sie das denn beweisen, Sir? Sie können ihn nicht einfach fragen. Er hat sich bereits als Lügner erwiesen, indem er seiner Verlobten nicht die Wahrheit gesagt hat.“

„Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen, obwohl ich nicht der Meinung bin, dass in einer Auslassung bereits eine Lüge liegt. Nun gut. Wir werden Mackay nicht fragen. Haben Sie einen Vorschlag, wie Sie den Fall aufklären wollen, Miss Wardlow?“

Charity dachte einen Augenblick nach. „Ich könnte die Umstände herausfinden“, überlegte sie laut. Immerhin waren Erkundigungen ihre Stärke bei ihren „blaustrümpfigen“ Freundinnen von der „Mittwochsliga“. Seit Monaten hatten sie keinen spannenden Fall mehr gelöst. „Ja“, meinte sie. „Mit ein paar Erkundigungen sollte man der Sache auf den Grund gehen können.“

„Schwören Sie, niemandem etwas von dem zu sagen, was Sie gehört haben, bis Sie es beweisen können?“

„Nein. Wenn wir die Wahrheit – so oder so – nicht bis zur Trauung herausgefunden haben, müssen wir es Olivia mitteilen, bevor sie das Ehegelübde ablegt. Das ist nur fair.“

„Wir?“, entgegnete er und hob wieder ungläubig die Augenbraue. „Verstehe ich es richtig, dass Sie meine Unterstützung in dieser … Ermittlung erwarten?“

„Selbstverständlich. Wir haben nur fünf Tage Zeit, dann ist die Hochzeit, und es war Ihre Idee.“

„Wieso war es meine Idee?“

„Sie haben die Wette vorgeschlagen und auf mehr Beweisen bestanden. Wenn Sie nicht wären, wäre ich in diesem Moment bei Olivia und würde ihr die Ungeheuerlichkeit erzählen.“

Der Fremde seufzte tief. „Sie könnten angesichts der Weihnachtszeit ein wenig Milde walten lassen, Miss Wardlow.“

Sie lächelte. „Also abgemacht. Fünf Tage, Sir. Wir sollten uns besser gleich ans Werk machen. Heute Nachmittag treffen wir uns und besprechen unsere Strategie.“

Strategie? Wer war diese vorwitzige kleine englische Miss eigentlich? Drew sah ihr nach und bewunderte das Schwingen ihres blauen Kleides und die Kurven ihrer Hüften, die sich unter dem Stoff abzeichneten. Sie war ein wahrer Augenschmaus, aber mit hochfahrenden Prinzipien und überheblichen moralischen Ansprüchen. Es war zwar geschmacklos, in Mackays Angelegenheiten herumzuschnüffeln, aber die Gesellschaft Miss Wardlows dabei war die Sache wert.

Diese Begegnung hatte sich gerade als interessant erwiesen. Ja, in der Tat! Miss Wardlow musste noch viel über die Grauzone lernen, in der sich der größte Teil der Gesellschaft bewegte, und er war der richtige Lehrer dafür. Wer kannte sich besser aus in moralischer Doppeldeutigkeit als er?

Und wenn seine Vermutung sich als korrekt herausstellte, würde Miss Wardlow eine weitere schmerzliche Lektion erhalten, die schlimmer war als alles, was er sie lehren konnte. Es war offensichtlich, dass ihr Mr Lingate sie belügen oder zumindest irreführen würde. Die Zeichen standen auf Sturm, aber er würde, verdammt noch mal, nicht eingreifen – das ging ihn nichts an.

Als Miss Wardlows Rocksaum um die Ecke verschwand, hatte er plötzlich die üble Vorahnung, dass er besser den strategischen Rückzug angetreten und Edward Mackay seinen eigenen Angelegenheiten überlassen hätte. Grundgütiger! War er gerade zu jemandem geworden, der sich in das Leben anderer einmischt?

2. KAPITEL

Charitys Gedanken wirbelten in ihrem Kopf, als sie die Teetasse absetzte und aufstand. Olivia Fletcher, die strahlende zukünftige Braut, lächelte und klopfte auf das Sofakissen neben sich. „Warum gehst du denn schon wieder, Charity? Du hast dich doch gerade erst zu uns gesetzt. Wir müssen noch über das Abendessen am Tag vor Weihnachten sprechen. Edward meinte, es wäre lustig, ein mittelalterliches Bankett zu veranstalten, mit einem Narrenkönig. Edward sagte, dass er in Schottland ‚Abt der Unvernunft‘ genannt wird. Ich weiß ja, dass das heutzutage eigentlich nicht mehr en vogue ist, aber ich finde, für einen Abend könnte es Spaß machen. Was meinst du, wen sollen wir fragen?“

„Ich …“, Charity schaute sich in der Runde der anderen Ladies um. „Ich habe noch nicht alle Gäste kennengelernt, darum habe ich keine Ahnung, wer den besten Narren abgeben würde.“

„Jemand mit einem besonderen Sinn für Humor“, meinte Grace Forbush. Fein säuberlich wie immer, wischte sie die Kuchenkrümel von ihrem Rock auf ihre Hand und bröselte sie dann auf ihre Untertasse. „Bestimmt würde einer der Freunde deines Verlobten zu der Rolle passen, Olivia. Edward hat ja selbst auch einen ziemlich schwarzen Humor.“

Olivia lächelte verträumt. „Das stimmt, wie ich zugeben muss. Ich mag mir lieber nicht vorstellen, was für ein Chaos er verursachen würde. Aber ich glaube, es ist nicht üblich für den Gastgeber, selbst der Narrenkönig zu sein.“

Charity wäre es egal gewesen, auch wenn man den Teufel selbst dazu ernannt hätte. Sie wollte einfach nur in den Besitz des Taschentuches gelangen, das Edward Mackay in seiner Schreibtischschublade versteckt hatte. Momentan war es der einzige Hinweis auf die Identität der Frau, der Lord Edward ein Unrecht getan hatte. Täglich kamen neue Hochzeitsgäste in die Stadt und nach Wyecliff Manor. Je mehr es wurden, desto schwieriger würde es sein, die Frau zu identifizieren. Sie musste sofort mit den Nachforschungen beginnen.

„Ich würde sehr gern noch bleiben und plaudern, Olivia, aber ich bin betrüblich im Rückstand mit meiner Korrespondenz. Mama wartet darauf, von meiner sicheren Ankunft zu erfahren, und ich möchte meine Briefe noch mit der Nachmittagspost verschicken.“

Autor

Gail Ranstrom
<p>Geboren und aufgewachsen ist Gail Ranstrom im Nordwesten der USA, in den Weiten von Montana. Schon damals hörte sie gerne Geschichten über vergangene Epochen und weit entfernte Länder, und dabei durfte natürlich auch Abenteuer, Spannung und Romantik nicht zu kurz kommen! Bevor sie jedoch selbst mit dem Schreiben anfing, machte...
Mehr erfahren