Gestern Freunde, heute mehr?

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Seine Umarmung änderte alles! Bis zu dem Moment waren Eve und Ryan allerbeste Freunde. Aber dann zerbrach ihre Freundschaft. Und nun wird ausgerechnet Dr. Ryan Sullivan ihr neuer Boss auf der Kinderstation. Eve weiß: Für ein zweites Nein reicht ihre Kraft nicht …


  • Erscheinungstag 07.04.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751506380
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Hopp, hopp, hopp, Pferdchen lauf Galopp. Über Stock und über Steine, aber brich dir nicht die Beine. Hopp, hopp, hopp, Pferdchen lauf Galopp.“

Ryan Sullivan zuckte zusammen, als er durch die Tür zur Kinderpflegestation des Allgemeinkrankenhauses von Dalverston ging. Obwohl er von sich nie behaupten würde, eine wundervolle Gesangsstimme zu besitzen, war er mit Sicherheit in der Lage, eine Melodie zu halten. Das war mehr, als man von der Person sagen konnte, die gerade dieses Kinderlied entstellte.

Er betrat das Krankenzimmer und war völlig überrascht, dass es Eve Pascoe war, die am Bett der kleinen Patientin saß. Denn neben der Tatsache, dass sie eigentlich in der Mittagspause sein sollte, war sie die letzte Person, von der er eine solche Performance erwartet hätte.

Ryan runzelte die Stirn, je länger er darüber nachdachte. Er hatte Eve während seiner Hospitanz kennengelernt – sie hatten zusammen in London studiert und ihre Ausbildung im selben Krankenhaus absolviert. Damals war Eve aufgeweckt, witzig, fröhlich und warmherzig gewesen … alles, was sie jetzt nicht mehr war. Was mochte mit ihr in den letzten Jahren wohl passiert sein, fragte er sich nicht zum ersten Mal. Warum hatte sie sich so sehr verändert? Obwohl sie ihm gegenüber immer ausgesprochen höflich war, kam sie ihm äußerst distanziert vor, und nicht nur ihm gegenüber.

Eve arbeitete jetzt seit zwei Monaten im Krankenhaus von Dalverston. Doch in all dieser Zeit hatte sie nicht einmal den Versuch unternommen, sich den Freizeitaktivitäten des Personals anzuschließen. Die Kollegen hatten sie immer wieder zu den beliebten Curryessen beim Inder oder ins Kino eingeladen, aber Eve hatte stets abgelehnt, ohne einen triftigen Grund dafür zu nennen. Damit hatte sie sich den Ruf eingehandelt, ein Snob zu sein, obwohl Ryan das nicht glaubte.

Vielleicht kam sie ja aus vermögendem Hause, aber er kannte sie nun schon lange und hatte sie nie für arrogant gehalten. Darüber hinaus fragte er sich, warum dieser Umstand ihn so sehr beschäftigte. Natürlich hätte er gern herausgefunden, was mit ihr geschehen war, aber das war die ganz normale Neugier, nicht mehr. Als Frau interessierte sie ihn kein bisschen.

In diesem Moment sah Eve hoch, und Ryan bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck. Er war kein Freund romantischer Beziehungen und vermied jede festere Bindung, denn er wollte niemanden unglücklich machen. Die Liebe mit all ihren Komplikationen stand bei ihm nicht auf der Tagesordnung – weder jetzt noch später.

„Ich habe dich singen hören“, sagte er und lieferte ihr damit den Grund für sein Eintreten. Als sie errötete, musste er grinsen. „Das war … na ja, sagen wir mal, sehr besonders.“

„Daisys Mutter hat mir erzählt, das wäre ihr liebstes Kinderlied“, verteidigte sich Eve und stand auf.

Sie beugte sich über das Bett, in dem die kleine fünfjährige Daisy Martin zusammengerollt lag. Ryan bekam einen zweiten Schock, als er sah, wie sie das Kind anlächelte. Das war wieder die Eve, die er kannte – glücklich, warmherzig und fürsorglich. Es veränderte sie so sehr, dass sein Interesse an ihr erneut erwachte. Plötzlich wurde ihm klar, dass er nicht eher ruhen würde, bis er wusste, was der Grund für diesen Wandel war.

„Ich komme später wieder und schau nach dir, Liebes. Jetzt mach die Augen zu, und schlaf ein bisschen. Ja, genau so. Du bist ein braves Mädchen.“ Zärtlich strich sie der Kleinen die schwarzen Locken aus dem Gesicht und ging zur Tür. Als Ryan sich nicht rührte, um ihr aus dem Weg zu gehen, blieb sie stehen und sah ihn fragend an.

„Entschuldige.“

Er trat zur Seite und folgte ihr den Flur hinunter, obwohl er eigentlich vorgehabt hatte, in die Kantine zu gehen. Aber das Mittagessen konnte warten. Viel mehr interessierte ihn, was mit Eve in den letzten Jahren geschehen war, obwohl er natürlich nicht so eitel war, zu glauben, dass sie es ihm einfach erzählen würde. Sie blieb ziemlich auf Distanz in letzter Zeit, und es gab keinen Grund zu der Annahme, dass sie ausgerechnet ihm ihr Herz ausschütten würde.

Dieser Gedanke irritierte Ryan ein wenig – jedenfalls weit mehr als der Situation angemessen. Denn obwohl sie immer Freunde gewesen waren – gute Freunde sogar –, waren sie kein Paar. Dafür hatte er schon gesorgt. Gut, es hatte eine einzige Gelegenheit gegeben, als er sie an Weihnachten unter dem Mistelzweig geküsst hatte. Damals war er versucht, sich auf eine Beziehung mit ihr einzulassen, aber ihm war schnell klar geworden, was für ein Fehler das gewesen wäre.

Obwohl Eve ausgesprochen hübsch war mit den langen rotgoldenen Haaren und den wunderschönen graugrünen Augen, war sie ganz anders als die Frauen, mit denen er sich normalerweise traf. Er zog weibliche Wesen vor, die ein bisschen weltgewandter waren – Frauen, die, genau wie er, nicht wirklich auf eine Bindung aus waren. Zu dieser Kategorie hatte Eve nie gehört. Obwohl sie auf vielen anderen Ebenen gut zusammengepasst hatten, hatte er nie mehr von ihr gewollt, besonders nicht nach diesem Kuss. Denn ihm war bewusst, wie leicht es für ihn gewesen wäre, sich auf sie einzulassen, und das war das Letzte, was er gewollt hätte.

Tatsächlich war er sogar erleichtert gewesen, als sie sich wenig später mit einem der Assistenzärzte eingelassen hatte. Denn nun hatte er sich keinen Fantasien von einer gemeinsamen Zukunft mehr hingeben müssen. Eve war nicht die richtige Frau für ihn. Doch obwohl er das wusste, hatte er immer wieder an sie denken müssen. Aber nachdem Damien Blackwell aufgetaucht war, hatte sich die Situation schlagartig geändert. Ab diesem Moment hatte Eve nur noch Zeit für Damien gehabt, und Ryan und ihre Freunde bekamen sie kaum noch zu Gesicht.

Ryan hatte versucht, sich einzureden, dass er froh über ihr Glück war, was sogar ein bisschen gestimmt hatte. Ihre Freundschaft hatte ihm sehr viel bedeutet, und deshalb war er auch so bestürzt gewesen, als er erfuhr, dass sie ihre Ausbildung abgebrochen hatte. Eve hatte ihm nichts von ihren Plänen erzählt und war von einem Tag auf den anderen verschwunden.

Obwohl Ryan sich oft gefragt hatte, was sie zu diesem Schritt bewogen haben mochte, hatte er nicht versucht, sie zu finden. Er hatte Angst gehabt, sich zu sehr in die Sache zu verstricken. Schließlich konnte er Eve nichts bieten. Daher hatte er sich eingeredet, es wäre allein ihre Entscheidung, und sich damit zufriedengegeben.

Doch jetzt hatte Ryan den Eindruck, dass Damien für diese Veränderung verantwortlich war. Damien hatte ihr ihre Strahlkraft geraubt, ihre Wärme und ihren Humor, und sie zu der distanzierten kühlen jungen Frau gemacht, die sie jetzt war. Ryan spürte, dass er mit dieser Vermutung richtiglag, und es machte ihn wütend. Der Gedanke, dass der andere Mann ihr Leben verpfuscht hatte, war unerträglich für ihn. Und er verstärkte seinen Entschluss, sich unter keinen Umständen auf eine Beziehung mit ihr einzulassen. Auf keinen Fall wollte er das Leben dieser armen Frau ruinieren!

Eve lud die Datei von Daisy Martins Krankengeschichte auf dem Computer hoch. Das kleine Mädchen litt an Sichelzellenanämie, einer vererbten Blutkrankheit. Daisys rote Blutkörperchen wiesen eine Anomalie auf, die in einer chronischen und äußerst schweren Form von Anämie resultierte. Sie war das jüngste von drei Kindern, ihre Eltern kamen aus Jamaika. Offenbar war sie die einzige in der Familie, die diese Krankheit geerbt hatte.

Zum ersten Mal war sie aufgetaucht, als Daisy noch ein Baby gewesen war, und hatte sich in Müdigkeit, Kopfschmerzen, Kurzatmigkeit und Anfällen von Gelbsucht geäußert. Obwohl es der Kleinen jetzt schon seit einiger Zeit wieder besser ging, hatte sie vor Kurzem eine Krise gehabt und war daher auf die Kinderpflegestation verlegt worden, wo man sie rund um die Uhr betreuen konnte. Sie ist so ein liebes Mädchen, dachte Eve traurig, während sie ihre Notizen in das Dokument eintrug. Es war einfach nicht fair, dass sie so leiden musste.

Eve gab die Zeit und das Datum ein und versuchte, Ryan zu ignorieren. In seiner Gegenwart fühlte sie sich immer ein wenig unsicher, war stets auf der Hut. Denn schließlich kannte er sie von früher, aus der Zeit vor Damien, und bestimmt war ihm aufgefallen, wie sehr sie sich seitdem verändert hatte.

Eve stieß einen tiefen Seufzer aus und dachte an den Schock, der sie ereilt hatte, als sie herausgefunden hatte, dass Ryan ebenfalls im Krankenhaus von Dalverston arbeitete. Dabei hatte sie sich extra hier um eine Stelle beworben, weil sie geglaubt hatte, niemandem von früher zu begegnen. Ihre damaligen Studienkollegen hatten inzwischen wesentlich besser bezahlte Jobs und waren die Karriereleiter hochgeklettert, so wie Ryan.

Sie hingegen war für kurze Zeit ausgestiegen und hatte jetzt eine Menge nachzuholen. Sie war niemandem eine Erklärung schuldig, warum sie ihre Ausbildung abgebrochen hatte. Diesen Stress brauchte sie einfach nicht. Der Einzige, dem sie alles erzählt hatte, war Roger Hopkins, der Personalchef des Krankenhauses, bei dem sie sich um die Stelle beworben hatte, und das war schwierig genug gewesen.

Nur Ryan kannte ihren beruflichen Werdegang, und sie hatte gehofft, dass sie sonst niemand danach fragen würde, wenn sie die anderen auf Distanz hielt. Doch das war auch der Grund, warum sie ihm gegenüber besonders vorsichtig sein musste. Gut, sie waren einmal Freunde gewesen, aber sie schämte sich, ihm gegenüber zuzugeben, was für eine Närrin sie gewesen war.

„Daisys Gesundheitszustand verbessert sich von Tag zu Tag, findest du nicht auch?“

Plötzlich stand der Mann, an den Eve die ganze Zeit gedacht hatte, im Zimmer und ließ sich auf der Kante des Schreibtisches nieder. Unwillkürlich zuckte sie zusammen. Obwohl sie ihre Scheu vor körperlicher Nähe ihren Patienten gegenüber ein wenig verloren hatte, geriet sie immer noch in Panik, wenn ihr ein Mann zu nahe kam.

Aber nicht jeder Mann ist wie Damien, rief sie sich ins Gedächtnis. Ryan würde nicht versuchen, sie zu tyrannisieren oder zu kontrollieren … jedenfalls glaubte sie das. Er war immer sehr warmherzig und lustig gewesen und schien sich auch nicht verändert zu haben. Das war jedenfalls ihr Eindruck.

Der Panikanfall nahm ihr die Luft, und sie zwang sich, erst einmal langsam ein- und auszuatmen, bevor sie auf seine Frage antwortete. Trotzdem merkte sie, wie angespannt sie war, und das gefiel ihr gar nicht. So wollte sie nicht sein, sie wollte kein Opfer sein, doch genau das war sie. Sie hatte zugelassen, dass Damien Blackwell über ihr Leben bestimmte und sie kontrollierte. Es würde lange dauern, wieder zu sich selbst zu finden, wenn es überhaupt je möglich war.

„Ja. Es geht ihr heute schon wesentlich besser“, erwiderte sie schließlich und beendete schnell ihren Bericht, bevor sie die Datei abspeicherte. Sie stand auf und wollte um den Schreibtisch herumgehen, als ihr klar wurde, dass sie Ryan dann berühren würde. Allein der Gedanke daran ließ sie erzittern.

„Hey, geht’s dir gut?“ Er beugte sich vor und sah sie besorgt an. „Du bist ja ganz blass!“

Eve versuchte, sich wieder in den Griff zu bekommen. „Ich … ich habe heute noch nicht gefrühstückt“, stieß sie hervor. Ob sie ihre Angst vor Nähe je überwinden und mit einem Mann zusammen sein könnte? Sie hatte schon viel versucht, von Therapien bis zu Gesprächen mit anderen Opfern von seelischem und körperlichem Missbrauch. Aber ihre Angst war so groß, die Erinnerungen an das, was Damien ihr angetan hatte, waren so stark, dass es bisher nicht viel gebracht hatte. Sie hatte es einfach nicht für möglich gehalten – zunächst war er so zärtlich zu ihr gewesen, und dann hatte es angefangen …

„Darf ich dich zum Mittagessen einladen?“

Ryan nahm ihren Ellenbogen und wollte sie zur Tür geleiten, doch sie flippte aus und riss sich von ihm los. „Fass mich nicht an!“

Er trat sofort einen Schritt zurück und sah sie bestürzt an. „Oh, das tut mir leid, ich wollte dich nicht bedrängen. Vielleicht solltest du wirklich etwas zu dir nehmen. Ich habe den Eindruck, du kannst es brauchen.“

Er drehte sich auf dem Absatz um und verließ mit schnellen Schritten das Zimmer. Seine Verletzung war offenkundig. Eve sah ihm hilflos hinterher und ließ sich auf einen Stuhl sinken, während sie am ganzen Körper zitterte. Was war sie nur für ein Idiot! Warum hatte sie so reagiert? Jetzt würde bald das ganze Krankenhaus erfahren, wie instabil sie war!

Allerdings konnte sie sich nicht vorstellen, dass Ryan jemand davon erzählen würde. Nein, er würde nicht herumtratschen, dessen war sie sich sicher. Das passte einfach nicht zu ihm.

Eve holte tief Luft und spürte, dass dieser Gedanke etwas Beruhigendes hatte. Zu wissen, dass er sich nicht verändert hatte, tat ihr gut.

Ryan musste den ganzen Nachmittag über immer wieder an die Szene mit Eve denken. Während er seine Runden auf der Station machte, beschäftigte ihn ihre Reaktion auf seine leichte Berührung. Normalerweise freuten sich die Frauen, wenn er sie anfasste und noch eine Menge mehr mit ihnen machte. Aber er hatte die Panik in Eves Augen gesehen und fand dafür nur eine Erklärung: War es möglich, dass sie in ihrer letzten Beziehung misshandelt worden war?

Dieser Gedanke war unerträglich für ihn, und ihm wurde klar, dass er die Wahrheit herausfinden musste. Wenn Eve geschlagen worden war, wollte er ihr helfen. Falls das überhaupt möglich war. Er seufzte, während er Rex Manning, dem Gutachter des Krankenhauses, erklärte, warum er den kleinen Patienten, den sie gerade untersuchten, am nächsten Tag entlassen wollte.

„Prima. Freut mich, dass er in kurzer Zeit solche Fortschritte gemacht hat.“ Rex lächelte den besorgten Eltern des siebenjährigen Alfie Hudson beruhigend zu. Alfie war mit einer Blinddarmentzündung eingeliefert und inzwischen erfolgreich operiert worden. Das Lob für diese Tat gebührte eigentlich Ryan, der die Operation durchgeführt hatte, doch Rex tat so, als wäre er derjenige, dem die Heilung des Kleinen zu verdanken war. „Ein besseres Ergebnis hätten wir uns nicht wünschen können, nicht wahr, Mr. und Mrs. Hudson?“

Ryan zog eine Grimasse, während das junge Paar Rex mit Lob überschüttete. Selbst wenn Rex etwas von einer Diva hatte, so genoss er doch einen ausgezeichneten Ruf als Facharzt. Deshalb beließ Ryan es dabei. Allerdings zwinkerte er Eve, die ebenfalls anwesend war, zu, und zu seiner Überraschung zwinkerte sie zurück. Dieses veränderte Verhalten von ihr bewirkte, dass ihm plötzlich viel leichter ums Herz wurde.

Die Gruppe setzte ihre Runde fort, und Ryan ärgerte sich ein bisschen darüber, dass Eve einen solchen Einfluss auf ihn hatte. Ja, er wollte ihr helfen, und gleichzeitig wollte er sich auch nicht zu sehr mit ihr einlassen.

Schließlich hatte er genug mit seinen eigenen Angelegenheiten zu tun. Wie zum Beispiel der Sache mit seinem Zwillingsbruder Scott. Während Ryan Schritt für Schritt die Karriereleiter hochgeklettert war, hatte Scott nicht so viel Glück gehabt. Er war mit siebzehn Jahren auf tragische Weise ums Leben gekommen, woraufhin Ryan beschlossen hatte, dass sein Tod nicht umsonst gewesen sein sollte.

In all den Jahren danach hatte er nur auf dieses eine Ziel hingearbeitet. Ihm war es zu verdanken, dass das Geld für über dreißig tragbare Defibrillatoren zusammengekommen war, die jetzt in Einkaufszentren, Schwimmbädern und Fußballstadien hingen. Der nächste Schritt war, sie auch in Schulen aufzuhängen.

Niemand sollte so qualvoll enden wie Scott, nur weil die nötige technische Ausrüstung fehlte. Keine Eltern sollten die Qual erleiden müssen, ein Kind zu verlieren, so wie es seinen Eltern passiert war. Diese Aufgabe hatte Ryan sich gestellt, und er würde bis zum Ende seiner Tage an der Erfüllung arbeiten. Deshalb hatte er keine Zeit für eine Beziehung, selbst wenn sie im Bereich des Möglichen wäre.

Er warf Eve einen Seitenblick zu und spürte, wie sein Herz sich zusammenzog. Er wusste, was zu tun war, doch warum erschien es ihm plötzlich wichtiger, Eve zu helfen, wieder die warmherzige und fürsorgliche Frau zu werden, die sie einmal gewesen war?

2. KAPITEL

Es war bereits sieben, als Eve das Krankenhaus verließ. Daisy Martins Eltern hatten noch einmal mit ihr sprechen wollen, und es hatte etwas gedauert, bis sie sie hatte beruhigen können. Einer der schlimmsten Aspekte einer Sichelzellenanämie bestand darin, dass man nie genau vorhersagen konnte, wann eine Krise auftrat, was eine zusätzliche Belastung für Mr. und Mrs. Davis war.

Die abendliche Besuchsrunde der Ärzte war noch in vollem Gange, als die Eingangstür hinter ihr zufiel. Eves Wohnung lag nah beim Fluss, und sie entschloss sich, zu Fuß zu gehen, anstatt den Bus zu nehmen. Der Abend war warm, die Sonne ging gerade hinter den Hügeln unter.

Früher war Dalverston ein verschlafenes kleines Marktstädtchen an der Grenze zwischen den Grafschaften Lancashire und Cumbria gewesen. Obwohl der Ort in den letzten dreißig Jahren ziemlich gewachsen war, hatte er seinen Charme behalten und zog jedes Jahr viele Touristen an. Ostern stand kurz vor der Tür, und der Strom der Besucher hatte sich verdoppelt. Eve, die immer in der Stadt gelebt hatte, war nicht sicher gewesen, ob sie sich an das Landleben gewöhnen würde. Aber der Wechsel hatte ihr gutgetan. Hier fühlte sie sich sicher und beschützt, was sie inzwischen über alles schätzte.

Jetzt hatte sie den Pfad erreicht, der hinunter zum Fluss führte, und beschloss, eine Abkürzung nach Hause zu nehmen. Schließlich hatte sie einen schwierigen Tag gehabt und sehnte sich danach, die Tür hinter sich zumachen und mit ihren Gedanken allein sein zu können. Allerdings glaubte sie nicht, dass sie den Zwischenfall mit Ryan einfach vergessen könnte. Sie hatte überreagiert, als er sie leicht berührt hatte. Bestimmt wunderte er sich über ihr Verhalten. Ob er sie danach fragen würde? Das hing davon ab, ob er sich für sie interessierte.

Bei diesem Gedanken lief ihr ein Schauer über den Rücken, und sie beschleunigte ihre Schritte. Der Gedanke, dass er herausfinden könnte, was ihr passiert war, war unerträglich. Sie schämte sich auch so schon genug dafür, ohne dass andere davon wussten. Sie hatte Damien Blackwell erlaubt, über ihr Leben zu bestimmen, weil sie geglaubt hatte, dass er sie lieben würde. Aber es war keine Liebe gewesen, sondern etwas viel Zerstörerisches.

Sie hatte lange gebraucht, bis sie das erkannt hatte, und danach war ihr klar geworden, dass sie ihrer eigenen Menschenkenntnis nicht mehr vertrauen konnte. Sie war schon einmal auf einen Mann hereingefallen, also konnte es ihr auch ein zweites Mal passieren.

Dieser düstere Gedanke begleitete sie auf dem Heimweg. Doch es war so friedlich hier, dass sie nach einer Weile anfing, sich zu entspannen. Sie hatte deutlich überreagiert und sollte sich bei Ryan entschuldigen. Aber was konnte sie sagen? Dass die Vorstellung, ein Mann könnte sie berühren, für sie ein Horror war? Das würde nur noch Anlass zu weiteren Fragen geben, was Eve auf keinen Fall wollte. Trotzdem spürte sie, es würde nicht leicht werden, die Wahrheit vor Ryan zu verbergen.

Ryan war zu unruhig, um an diesem Abend fernzusehen. Der Zwischenfall mit Eve hatte ihn nicht losgelassen, und er musste immer wieder daran denken. Bestimmt war ihr etwas Schreckliches zugestoßen, denn sonst hätte sie nie so reagiert. Diese Vorstellung quälte ihn. Eve war früher so lieb und fröhlich gewesen, und er hätte ihr gern seine Unterstützung angeboten. Doch er wusste, sie würde ihn bestimmt abweisen. Sie wollte seine Hilfe nicht, das hatte sie eindeutig klargemacht.

Um sich abzulenken, beschloss er, joggen zu gehen. Er trainierte für den Three-Peaks-Wettbewerb, der in ein paar Wochen stattfinden würde und bei dem zusätzliche Gelder für das Krankenhaus gesammelt werden sollten. Nachdem er zu Hause angekommen war, zog er sich schnell um und schlug den Weg zum Pfad neben dem Fluss ein, seiner üblichen Laufstrecke. Der Abend war mild, perfekt zum Joggen, und bald merkte er, wie er begann, sich zu entspannen. Vielleicht gab es ja doch etwas, was er für Eve tun konnte. Aber zunächst musste sie lernen, ihm zu vertrauen. Das wäre zumindest ein Anfang.

Er bog in schnellem Lauf um die Ecke und wäre fast mit der Frau zusammengestoßen, an die er die ganze Zeit denken musste. „Oh, entschuldige!“, stieß er keuchend hervor und hielt sie fest, als sie stolperte. Doch er merkte sofort, wie sie instinktiv zusammenzuckte, und ließ sie ganz schnell los. Dann wurde er wütend. Niemand sollte so verängstigt sein, besonders nicht Eve.

„Ich … ich hatte ja keine Ahnung, dass du gern joggst.“ Ihre Stimme klang gepresst, es kostete sie anscheinend große Überwindung, überhaupt zu sprechen. Eine unglaubliche Zärtlichkeit für sie überkam ihn. Ja, sie hatte Angst, aber sie gab auch ihr Bestes, es nicht zu zeigen.

„Na ja, ich weiß nicht, ob ich es gern tue, aber es ist ein notwendiges Übel“, erwiderte er. „Ich habe mich nämlich für den Marathonlauf angemeldet und muss dafür noch eine Menge trainieren. Schließlich habe ich keine Lust, als Letzter durchs Ziel zu laufen.“

Sie lächelte ihn an und schien sich etwas gefangen zu haben. „Das wird bestimmt nicht passieren. Du machst einen ziemlich fitten Eindruck auf mich.“

„Oh, danke“, gab er leichthin zurück. „Ich wünschte, ich könnte deine Zuversicht teilen.“ Plötzlich musste er an ihre erste Begegnung vor vielen Jahren denken. Hätte er vielleicht mehr auf Eve zugehen, sich mehr um sie bemühen müssen? Doch dann ermahnte er sich wieder, sich nicht zu sehr in die Sache reinzusteigern. Schließlich hatte er genug am Hals.

„Läufst du aus sportlichen Gründen, oder geht es dir nur um die Wohltätigkeitsveranstaltung?“, fragte sie interessiert und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Letzteres“, erwiderte Ryan mit belegter Stimme. Er räusperte sich und versuchte, sich wieder zu fangen. Komisch – was war nur mit ihm los? Er mochte Frauen, und Frauen mochten ihn. Eigentlich hatte er nie lange über das andere Geschlecht nachgedacht, deshalb waren ihm die Nuancen einer Beziehung auch völlig fremd. Wenn er eine Frau zum Essen einlud und sie die Einladung annahm – was meist geschah –, erfreute er sich normalerweise an ihrer Gesellschaft und genoss die gemeinsamen Stunden. Wenn es dann weiterging und die Sache intimer wurde, hatte er nichts dagegen. Falls nicht, verabredete er sich eben mit der Nächsten.

Aber was er bisher noch nie gemacht hatte, war, seine Gefühle zu analysieren und herauszufinden, wie viel davon auf sexueller Anziehung beruhte. Denn so war er nicht, er sah eine Frau immer als ganzes Wesen. Doch jetzt bei Eve war es völlig anders. Er fühlte sich von ihr unglaublich angezogen und hätte am liebsten die Hand ausgestreckt, um ihr über das glänzende Haar zu streichen.

„Ich nehme am Marathon teil, weil wir damit Geld für weitere mobile Defibrillatoren sammeln wollen, die in der Highschool aufgehängt werden sollen“, erklärte er. Der Gedanke an Scott und seine Mission ernüchterte ihn ein wenig und erinnerte ihn an sein selbstgestecktes Ziel. Hastig fuhr er fort: „Wenn wir das hinkriegen, sind als Nächstes die Grundschulen dran.“

„Verstehe“, nickte Eve. „Das ist eine großartige Idee. Aber wieso engagierst du dich so dafür?“

„Wegen meines Bruders.“

„Er ist auch in dieses Projekt verwickelt?“

„In gewisser Weise schon.“

„Komisch – ich hatte keine Ahnung, dass du einen Bruder hast.“

Sie runzelte die Stirn und sah ihn nachdenklich an. Ryan wurde plötzlich klar, dass er ihr tatsächlich nie von Scott erzählt hatte. Ja, sie waren damals Freunde gewesen, aber in ihren Gesprächen war es nie um Privates gegangen. Wenn sie sich trafen, hatten sie über die Arbeit gesprochen, ihre Ziele und über die Musik oder Filme, die ihnen gefielen. Doch er hatte ihr nie von dem erzählt, was in seinem Leben das Wichtigste war.

Im Nachhinein wusste er auch, warum. Für ihn waren die Begegnungen mit Eve immer wie ein ruhiger Hafen gewesen, in den er sich hatte flüchten können – unbelastet von den Sorgen des Alltags. Wenn er mit ihr zusammen war, konnte er alles andere vergessen. Dann war er nicht mehr Scotts Bruder oder der einzig verbliebene Sohn seiner Eltern. Nein, bei ihr war er einfach nur er selbst.

Eve wusste nicht, was Ryan alles durch den Kopf ging, und sie wollte es auch nicht wissen. Unbewusst spürte sie, dass es sie belasten würde, mehr über ihn zu erfahren. Daher schenkte sie ihm nur eines jener leeren Lächeln, die sie in ihrem Schlafzimmer vor dem Spiegel eingeübt hatte. Ein Lächeln, das alles und nichts bedeutete.

Nachdem sie Damien verlassen hatte, hatte sie monatelang nicht mehr gelächelt. Aber im Laufe der Zeit war ihr klar geworden, dass sie nicht alleine auf der Welt war und dass man sie mit Fragen bombardieren würde, wenn sie immer mit einer Trauermiene herumlief.

„Freut mich“, erwiderte sie daher. „Es muss schön sein, ein gemeinsames Anliegen zu haben.“

„Ja, das wäre es bestimmt auch gewesen, wenn Scott noch ein wenig länger bei uns geblieben wäre.“

Seine Stimme klang so hohl, dass sie ihn überrascht ansah. Ihr Herz zog sich zusammen, als sie den Schmerz in seinen Augen sah.

„Was willst du damit sagen? Was soll das heißen?“

Er holte tief Luft. „Mein Bruder ist mit siebzehn Jahren gestorben. Wir waren Zwillinge – zweieiige, nicht eineiige. Was natürlich letztlich egal ist.“

„Ich hatte ja nicht den Schimmer einer …“ Sie brach mitten im Satz ab, und er zuckte die Achseln.

„Woher hättest du das auch wissen sollen? Ich habe dir schließlich nie davon erzählt.“

„Warum eigentlich nicht?“ Sofort bereute sie den Satz und biss sich auf die Lippen. Das war genau die Falle, in die sie nicht hatte tappen wollen – sie stellte Fragen, hörte jemandem zu, nahm Anteil an seinem Schicksal und kam ihm damit näher. Aber gerade das war falsch. Sie musste auf Distanz bleiben, durfte sich nicht verwickeln lassen – ganz besonders nicht von Ryan.

„Warum ich dir nicht davon erzählt habe?“ Er verzog das Gesicht. „Oh, dafür gibt es eine Menge Gründe. Aber vor allem wollte ich, dass unsere Gespräche unbelastet von diesem Thema bleiben. Dir gegenüber wollte ich einmal nicht Scotts Zwillingsbruder sein – der Bruder, der überlebt hatte. Ich wollte nur ich selbst sein. Vielleicht war das ja egoistisch von mir.“

Autor

Jennifer Taylor
Jennifer Taylor ist Bibliothekarin und nahm nach der Geburt ihres Sohnes eine Halbtagsstelle in einer öffentlichen Bibliothek an, wo sie die Liebesromane von Mills & Boon entdeckte. Bis dato hatte sie noch nie Bücher aus diesem Genre gelesen, wurde aber sofort in ihren Bann gezogen. Je mehr Bücher Sie las,...
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