Gesucht: Arzt mit Herz

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Der Sturm heult, als Thea mit letzter Kraft den Leuchtturm erreicht. Und welches Glück! Denn ihr ehemaliger Kollege Dr. Philip Kincaid ist vor Ort! Behutsam beginnt er Thea zu wärmen, streichelt ihre eiskalten Hände. Nimmt er sie plötzlich als Frau wahr?


  • Erscheinungstag 26.06.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751507318
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Bayside Regional Hospital
Port Lorraine, Maine, USA

Die Zeichen standen auf Sturm.

So feindselig, wie er sie anstarrte, schwante Thea Quinn nichts Gutes. Denn sonst blickten diese Augen freundlich und aufmunternd. Vor allem dann, wenn er sie beschwichtigen wollte.

Tut mir leid, Thea, im nächsten Vierteljahr stehen uns für Ihre Station leider keine weiteren Mittel zur Verfügung. Machen Sie das Beste daraus. Wir sind überzeugt, dass Sie Ihren Job wie immer hervorragend erledigen.

Seit drei Jahren hörte sie sich diese Sprüche an. Seit drei Jahren ließ sie sich mit einem falschen Lächeln vertrösten. Jetzt war Schluss! Letzte Woche hatten sie einen Patienten verloren, und warum? Weil die Station personell und medizinisch miserabel ausgestattet war. Die Familie des Toten hatte Strafanzeige gegen die Klinik erstattet.

„Seit ich die Verantwortung für die chirurgische Intensivstation übernommen habe, bettele ich bei jeder Vorstandssitzung um mehr Gelder und mehr Personal. Jedes Mal warne ich vor den Folgen einer Ablehnung. Ohne Erfolg.“

„Und woher sollen wir die zusätzlichen Gelder nehmen, Miss Quinn?“ Dr. George Becton war ein griesgrämiger, mürrischer Mann. Leider ging in diesem Krankenhaus nichts ohne seine Unterschrift. Theas Meinung nach war der Verwaltungsleiter schon viel zu lange ohne echten Kontakt zum medizinischen Alltag. Solange sie hier arbeitete, hatte sie ihn niemals auf den Stationen gesehen.

„Ich schlage vor, dass Sie die Mittel, die für die Renovierung des Verwaltungstraktes vorgesehen sind, der Intensivstation zur Verfügung zu stellen. Warum sollen Sie neue Vorhänge und Polstermöbel bekommen, wenn wir hier dringend mehr Pflegepersonal brauchen, Dr. Becton? Ist Ihnen ein schickes Büro wichtiger als das Leben von Patienten?“

Okay, dafür würde er sie feuern. Aber verflixt, wenn sie schon gehen musste, dann bestimmt nicht kampflos!

„Klingt vernünftig.“ Dr. Philip Kincaid sah von seiner Patientenkarte auf. Der Chefarzt der Chirurgie war ein viel beschäftigter Mann, und Thea war ihm dankbar, dass er trotzdem an dieser Sitzung teilnahm, um ihr beizustehen.

Dr. Bectons Gesicht verdüsterte sich.

Doch Dr. Kincaid fuhr unbeeindruckt fort: „Eine neue Krankenschwester einstellen oder neue Gardinen kaufen – was für eine schwierige Entscheidung, George. Vielleicht können wir uns auf einen Kompromiss einigen. Sie verzichten auf die Vorhänge, und Miss Quinn bekommt ihre Pflegekraft.“ Er wandte sich wieder seinen Unterlagen zu und vervollständigte die Patientennotizen.

Der Verwaltungsdirektor ging nicht darauf ein. „Wir haben die Station mit erfahrenen Schwestern besetzt“, entgegnete er unwirsch und tippte mit dem Zeigefinger auf einen Bericht, der vor ihm auf dem Tisch lag.

„Nein, mit Zeitarbeitskräften, die keine Erfahrung mit kritischen Situationen haben!“, widersprach Thea heftig. „Dr. Becton, Sie weigern sich hartnäckig einzusehen, dass auch Pflegekräfte für einen bestimmten Einsatzbereich qualifiziert sein müssen. Genauso wie Ärzte.“ Sie warf einen schnellen Blick auf Philip Kincaid, der immer noch mit seinen Notizen beschäftigt war.

„Stimmt“, sagte er, ohne aufzusehen. „Sie als Proktologe, werter Herr Kollege – wie viele Herzoperationen haben Sie denn schon durchgeführt?“ Nun erst hob er den Kopf und blickte den sichtlich wütenden Verwaltungsleiter an. „Vergleichbares kann man auch von Krankenpflegern nicht erwarten, denke ich.“ Dann las er seelenruhig weiter.

Thea unterdrückte ein Lächeln. Schließlich war ihre Lage alles andere als lustig. Entweder würde Becton sie innerhalb der nächsten fünf Minuten vor die Tür setzen, oder sie würde von sich aus kündigen.

Als sie sich entschlossen hatte, Krankenschwester zu werden, hatte sie sich ihren Beruf wirklich anders vorgestellt. Inzwischen hasste sie die ewigen Kämpfe mit der Verwaltung, die einen großen Teil ihrer Arbeitszeit und ihrer Energie beanspruchten.

Jetzt war sowieso alles egal. Thea setzte noch eins obendrauf. „Dr. Becton, wenn Ihnen die Probleme der Intensivstation wirklich am Herzen liegen, dann vergessen Sie Ihre Renovierungspläne, und geben Sie mir zwei Vollzeitpflegekräfte. Oder reduzieren Sie die Anzahl der Patienten, damit wir wenigstens einen Teil anständig betreuen können. Entscheiden Sie sich!“

Philip Kincaid zog die Augenbrauen hoch, schaute aber nicht auf.

„Soll das ein Ultimatum sein?“, fuhr Becton sie an. „Hätten Sie sich nicht persönlich um den Patienten kümmern können, anstatt ihn einer Aushilfskraft zu überlassen? Sie hatten Dienst und damit die Verantwortung für die Station!“

„Nein, Dr. Becton, es ist kein Ultimatum, sondern eine Warnung. Es wird weitere Todesfälle geben, wenn Sie meine Forderungen nicht erfüllen. Und fürs Protokoll …“, Sie sah zur Sekretärin hinüber, die alles mitschrieb. „Zu besagter Zeit hatte ich frei. Außerdem hatte ich meine Vorbehalte gegenüber dieser Aushilfsschwester und habe dies auch geäußert.“

„Da habe ich etwas anderes gehört“, gab Becton zurück. „Sie hätten gerade Pause gemacht.“

„Gerüchte, George, nichts als Gerüchte“, sagte Dr. Kincaid ruhig. „Miss Quinn ging lange vorher. Ich habe sie gehen sehen. Schauen Sie in Ihren Dienstplänen nach, wenn Sie mir nicht glauben. Und vielleicht sollten Sie darauf achten, dass Ihre Personalabteilung kompetente Kräfte einstellt.“

Thea richtete sich auf. „Ich hatte zu der Zeit bereits meine zweite Schicht hinter mir. Den Vorschriften nach hätte ich auf jeden Fall Feierabend machen müssen.“

„Wir sollten die richtigen Prioritäten setzen“, meldete sich da Dr. Mordecai Thurgood vom anderen Ende des Tisches. Er war seit Jahren im Ruhestand, gehörte aber dem Vorstand an, und seine Stimme hatte Gewicht. Thea bewunderte den freundlichen alten Herrn aufrichtig. „George, die Ausstattung der Intensivstation muss an oberster Stelle stehen. Aushilfsschwestern einzusetzen, wo hoch qualifiziertes Pflegepersonal gebraucht wird, ist weder angemessen noch sicher. Wenn sich also die Frage stellt, ob der Verwaltungstrakt modernisiert oder zusätzliche Intensivpflegekräfte eingestellt werden sollen …“

„Wir respektieren Ihre Meinung, Mordecai“, unterbrach Dr. Becton ihn einfach. „Aber ich habe meinen Entschluss bereits gefasst.“ Er wandte sich wieder Thea zu. „Sie haben dreißig Minuten Zeit, Ihre persönlichen Sachen zu packen und jegliches Eigentum der Klinik abzugeben, einschließlich der Stationsschlüssel. Ich habe den Sicherheitsdienst angewiesen, Sie zu Ihrem Spind, ins Personalbüro und anschließend zum Wagen zu begleiten.“

Philip Kincaid klappte seine Aktenmappe deutlich hörbar zu. „Ich glaube, Sie können Miss Quinn nicht hinauswerfen, Dr. Becton. Sie hat sich nichts zuschulden kommen lassen.“

„Klären Sie das mit der Rechtsabteilung. Meine Entscheidung steht.“

„Machen Sie sich nicht die Mühe, sich mit ihm anzulegen“, mischte Thea sich ein. „Wenn er mich wegen dieser Geschichte nicht feuern kann, findet er irgendwann einen anderen Grund.“ Damit stand sie auf, schob ihren Stuhl geräuschvoll unter den Tisch und verließ den Raum.

Zwei Monate später
Cairn Cove, Nova Scotia, Kanada

Der Himmel verdüsterte sich. Für diese frühe Morgenstunde war es viel zu dunkel. Ein Unwetter zog heran. Weiß schäumende Brecher krachten gegen die rauen Felsen, und grelle Blitze zuckten über den Himmel, gefolgt von ohrenbetäubenden Donnerschlägen. Regen peitschte ohne Unterlass gegen das Fenster.

Wie oft war Philip früher vom Sturm geweckt worden und hatte fasziniert das Wüten der Natur beobachtet.

An einem solchen Tag war es geschehen. Der Unfall … Er zwang sich, die Augen weit offen zu halten, denn wenn er sie schloss, sah er alles wieder vor sich. Blitz und Donner, tosende Wellen an den Klippen tief unter ihm.

Wochenlang hatte er an nichts anderes denken können. Immer wieder gegrübelt, in den Zeitungen gelesen, die darüber berichtet hatten. Die örtliche Polizei hatte es für einen schlichten Unfall gehalten, Ursache unbekannt. Ein Toter, zwei Verletzte.

Und der Polizei zufolge war Dr. Philip Kincaid der Fahrer gewesen.

Mehr Informationen gab es nicht, aber Philip brauchte auch keine. Immer, wenn er seine Gedanken schweifen ließ, füllten Bilder die Erinnerungslücken. Und er sah sich hinter dem Steuer sitzen …

Rastlos wanderte Philip vor dem großen Erkerfenster auf und ab. Er liebte diese Aussicht. Hatte sie schon immer geliebt. Die Bucht, den Leuchtturm, die rauen Kliffs, die einsamen Strände.

In den letzten Jahren war er kaum hier gewesen, aber jetzt war es genau der richtige Ort für ihn. Um sich zu verkriechen und dafür zu büßen, dass er seinen Bruder getötet hatte. Die Zeit heilte nicht alle Wunden – auch wenn das allgemein behauptet wurde.

Und jetzt würde Molly kommen, um bei ihm zu bleiben. Wie konnte er ihr ins Gesicht sehen? Er war schuld am Tod ihres Vaters. Unauslöschlich hatten sich die Zeilen des Zeitungsartikels in Philips Gedächtnis gebrannt.

Brett Kincaid starb, seine sechsjährige Tochter erlitt schwere Verletzungen. Dr. Philip Kincaid wurde nur leicht verletzt.

Seufzend blickte Philip auf die Wellen, die sich schäumend am Ufer brachen. Plötzlich fühlte er sich eingesperrt, hatte das Gefühl, in diesem Raum zu ersticken.

Seit er angekommen war, hatte sich das Hausmeisterpaar rührend um ihn gekümmert. Als wäre er noch ein Kind.

Isabelle und Spencer Hanover waren schon immer mehr Mutter und Vater für ihn gewesen als seine eigenen Eltern. Sie meinten es gut, das wusste er. Trotzdem fühlte er sich eingeengt.

„Ich muss hier raus“, murmelte er. Die Wände schienen näher zu rücken, die Luft zum Atmen wurde knapp.

Wenn er das Haus fluchtartig durch die Vordertür verließ, würden die Hanovers sich Sorgen machen. Aber wie sollte er ungesehen hinauskommen? Zum Ozean hin waren die Verandatüren zum Schutz vor Feuchtigkeit und Kälte fest verschlossen. Die Fenster ebenfalls. Ohne entsprechendes Werkzeug bekam er sie nicht auf, das wusste er.

Aber er musste weg hier. Weg, um … zu vergessen. Ihm war, als sauge ihm etwas die Lebenskraft aus dem Körper. Als verkümmere der Philip Kincaid, der er einst gewesen war.

Raus hier! Sofort! Voller Wucht trat er gegen die Verandatür. Glas splitterte, Leisten brachen und wirbelten davon.

Philip verschwand im prasselnden Regen.

Besorgt schaute Thea durch die Windschutzscheibe zum Himmel hinauf. Der Sturm kam schnell näher. Würde sie es noch bis Serenity House schaffen?

Sie fröstelte, ihr war furchtbar kalt. Ausgerechnet an diesem Tag musste ihre Wagenheizung streiken. Ein eisiger Nordostwind fegte übers Land, ziemlich ungewöhnlich für die Jahreszeit. Eigentlich sollte es Mitte September um diese Tageszeit noch einigermaßen hell sein, aber es war so dunkel wie am späten Abend.

Früher hatte sie solche Stürme geliebt. Eingekuschelt in eine warme, weiche Decke vor dem Kamin zu liegen, einen Becher heiße Schokolade in den Händen, während draußen ein Gewitter tobte und der Regen gegen die Fenster schlug … herrlich! Aber jetzt? In einem ausgekühlten Wagen, mitten im Nirgendwo, schlugen ihr schon die Zähne aufeinander, weil sie das Zittern nicht länger unterdrücken konnte.

Hoffentlich wartet im Serenity House heißer Kakao auf mich, dachte sie sehnsüchtig. Wahrscheinlich würde sie mehr als einen Becher brauchen, um sich wieder aufzuwärmen!

Sie nahm die nächste Abzweigung und fuhr in Richtung der Klippen, die die schroffe Felsküste am Atlantik bildeten. In dieser Gegend kannte sie sich aus. Sie war in Cape Breton geboren und aufgewachsen, und Cairn Cove lag nicht weit davon entfernt. Wieder in vertrauten Gefilden zu sein, würde ihr sicherlich guttun. Thea fühlte sich schon seit einer Weile müde und ausgebrannt.

Aber das Wetter … Ein zweiter kritischer Blick zu den dunklen Wolken verriet ihr, dass sie es wohl nicht rechtzeitig bis Serenity House schaffen würde. Jetzt fing es auch noch an zu schütten!

„Wenn ich mir vorstelle, dass ich in Port Lorraine gemütlich im Laden stehen könnte, um die Blumengestecke für Nelsons Hochzeit anzufertigen …“

Na gut, in einem Blumengeschäft zu arbeiten, war zwar nicht gerade ihr Traumjob. Aber es beschäftigte sie ein paar Stunden am Tag, und von dem Gehalt konnte sie ihre Rechnungen bezahlen. Und vom Blumensträußchen für eine alte Dame oder dem üppigen glutroten Rosenbouquet eines heimlichen Verehrers hingen zum Glück keine Menschenleben ab.

Dass die Arbeit auf Dauer ziemlich langweilig war, musste sie eben in Kauf nehmen. Das war der Preis dafür, dass sie vorerst nicht mehr als Krankenschwester arbeiten wollte. Zunächst musste sie mit sich selbst ins Reine kommen.

Doch dann hatte Mordecai angerufen.

„Hätten Sie nicht Lust, ein kleines Mädchen zu betreuen, Thea? Molly Kincaid ist nach einem schrecklichen Autounfall Waise geworden. Das arme Kind hat eine schlimme Zeit hinter sich.“ Mehr als zwei, höchstens drei Wochen würden es nicht werden, hatte er ihr versprochen.

Er hatte von Mollys Operationen gesprochen, unter deren Folgen sie immer noch litt, und von ihrer tiefen Traurigkeit. Thea hatte es nicht übers Herz gebracht abzulehnen.

Molly Kincaid … Anfangs hatte der Nachname sie irritiert, weil sie sofort an Philip Kincaid denken musste. Seit sie das Krankenhaus verlassen hatte, hatte sie nichts von ihm gehört. Andererseits, warum auch? Sie waren Kollegen gewesen, mehr nicht.

Die Böen wurden stärker, dicke Regentropfen klatschten gegen die Windschutzscheibe. Die Scheibenwischer wurden der Wasserflut kaum Herr, und der Kleinwagen wurde hin- und hergerüttelt, wenn der Wind wütend daran zerrte.

Sie war hier aufgewachsen und extreme Wetterverhältnisse gewöhnt. Aber wenn Sturm, Regen und vielleicht auch noch Nebel zusammenkamen, wurde auch sie nervös. Vor allem so dicht an den Klippen.

Thea konnte kaum noch etwas sehen. Sie verringerte die Geschwindigkeit fast auf Schritttempo und beugte sich vor, in der Hoffnung, die Straße besser erkennen zu können.

Da tauchte wie aus dem Nichts eine schemenhafte Gestalt vor ihr auf, mitten auf der Straße! Im letzten Moment trat sie die Bremse bis zum Boden durch. Der Wagen geriet ins Schlingern, aber es gelang ihr, ihn zum Stehen zu bringen, mit dem Heck zu den Klippen.

Ihr klopfte das Herz im Hals, als sie es endlich wagte, das Steuer loszulassen. Ihr erster Gedanke war, die Tür aufzureißen und dem Kerl gehörig die Meinung zu sagen. Doch dann fragte sie sich, was einer mitten im Sturm da draußen trieb. Rasch zog sie die Tür wieder zu.

Doch er war bereits am Wagen und öffnete die Tür von außen.

„Alles in Ordnung?“, keuchte er. „Ich wollte Sie nicht erschrecken.“

Er war außer Atem und nass bis auf die Haut. Thea sah den angsterfüllten Ausdruck in seinen Augen und vertraute ihrem Instinkt. Dieser Mann war nicht gefährlich.

„Mir ist nichts passiert“, beruhigte sie ihn.

„Dann helfen Sie mir bitte, schnell!“, rief er mit erstickter Stimme. „Meine Frau und meine Tochter … sie sind verletzt. Unser Segelboot ist an den Felsen gestrandet, und wir mussten hier raufklettern. Meine kleine Tochter braucht dringend Hilfe … Der Mast ist auf sie gestürzt!“

Thea sprang aus dem Wagen und überzeugte sich kurz, dass er sicher stand. Er war nicht so dicht an den Felsen, wie sie gedacht hatte, aber die Räder steckten tief im Morast. Ohne Abschleppseil würde sie hier nicht mehr wegkommen.

„Wo sind sie denn?“, schrie sie gegen den tosenden Wind an.

„Gleich unterhalb der Straße. Ich wollte loslaufen, um Hilfe zu holen, dann sah ich Ihre Scheinwerfer und … Bitte, meine Tochter stirbt. Helfen Sie uns!“

„Bringen Sie mich zu ihnen!“ Sie schnappte sich ihren Erste-Hilfe-Kasten und eine Taschenlampe. „Sind es nur die beiden?“, rief sie, während sie loslief.

„Ja! Meine Tochter ist erst sechs … bewusstlos …“ Die restlichen Worte trug der Wind davon.

Es war nicht weit. Zusammengekauert hockte die Mutter unterhalb der Straße, schützte ihre kleine Tochter mit dem Körper und redete auf sie ein. Immer wieder unterbrach ein Schluchzen ihre flehentlichen Worte.

„Leuchten Sie hinunter!“ Thea drückte dem Mann die Taschenlampe in die Hand und kniete sich neben die Frau in den Schlamm. Der Regen peitschte ihre Haut wie mit spitzen Nadeln, und der Sturm pfiff ihr wild um die Ohren. „Können Sie mit der Lampe dichter herankommen?“, schrie sie dem Mann zu und zog das Mädchen vorsichtig auf ihren Schoß. Aber der schwache Lichtstrahl reichte nicht aus.

„Noch näher!“, rief sie und drehte sich mit dem Rücken in den Wind, um das Kind abzuschirmen. „Aufs Gesicht!“ Sie griff nach dem schmalen Handgelenk. „Wie lange ist sie schon bewusstlos?“

„Seit einer Stunde“, klagte die Mutter und duckte sich in Theas Windschatten.

Der Puls war schwach, aber gleichmäßig. Thea legte der Kleinen die Hand auf die Brust. Das Kind atmete ein wenig schneller als normal. „Die Straße entlang ist ein Haus!“, rief sie. „Ich weiß aber nicht, wie weit es noch ist.“ Sie blickte den Vater an, der jetzt neben ihr hockte und ihr so gut es ging leuchtete. „So weit können wir sie nicht tragen, aber …“

„Sie heißt Sarah“, unterbrach er sie. „Sarah Palmer. Ich bin Paul Palmer, und das ist meine Frau Elizabeth.“

„Sarah muss so schnell wie möglich ins Trockene. Bei diesem Sturm können wir sie nicht lange durch die Gegend tragen. Wir bringen sie in meinen Wagen, und Sie laufen zum Haus und holen Hilfe.“

„Ich kann sie doch nicht allein lassen!“

„Ich bin Krankenschwester.“ Erstaunlich, wie leicht ihr der Satz von den Lippen kam. Nach all den Wochen, in denen sie nicht einmal mehr daran hatte denken wollen. „Ich kümmere mich um …“

Weiter oben blitzte ein Licht auf. Der Leuchtturm!

„Da, sehen Sie!“ Es erschien ihr wie ein Wunder. Sie reichte Sarah ihrem Vater. „Wir bringen sie zum Leuchtturm.“

Der Zustand des Kindes war kritisch, es litt an lebensbedrohlicher Unterkühlung.

„Folgen Sie mir!“, donnerte eine Männerstimme.

Das war nicht Sarahs Vater. Thea blickte auf und sah eine hochgewachsene, breitschultrige Gestalt im Regenmantel, die Paul das Mädchen abnahm. Der Mann hüllte Sarah in seinen Mantel und eilte mit ihr die Straße entlang, während Wind und Regen auf ihn einpeitschten. Paul Palmer folgte ihm.

Thea half Sarahs Mutter auf die Beine. „Sind Sie verletzt?“

„Nein, nein“, schluchzte sie. „Mir geht’s gut.“

Trotzdem schlang Thea einen Arm um sie und stützte sie, bis sie den Leuchtturm erreicht hatten. Als sie die Tür öffnete, fiel ihr Blick in die Mitte des Raumes. Sarah lag auf dem Tisch, ihr Vater stand auf der einen, ihr Retter auf der anderen Seite. Eine Petroleumlampe warf flackernde Schatten.

Der Mann hatte angefangen, der Kleinen die pitschnasse Kleidung auszuziehen. „Oben in der Kammer des Leuchtturmwärters liegen ein paar Decken“, sagte er, und Paul lief los, um sie zu holen.

Seine Stimme! Sie klang rau und ein bisschen fremd, aber sie war unverkennbar.

„Dr. Kincaid?“, stieß Thea verblüfft hervor. „Dr. Philip Kincaid?“

2. KAPITEL

Philip sah kurz zu ihr herüber und zog die dunklen Brauen zusammen.

„Ich bin Thea Quinn“, sagte sie leise. „Vom Bayside Regional in Port Lorraine. Port Lorraine, Maine“, fügte sie hinzu. Etwas an ihm kam ihr merkwürdig vor. Der trostlose Ausdruck in seinen Augen passte nicht zu dem Philip Kincaid, den sie in Erinnerung hatte.

Vielleicht war er es gar nicht. Vielleicht sah er ihm nur ähnlich.

„Natürlich“, antwortete er schließlich und schwieg wieder einige Sekunden, ehe er endlich fortfuhr: „Bei diesem Wetter hatte ich Sie nicht erwartet.“

„Wie meinen Sie das?“

„Ich dachte, Sie kommen erst morgen.“

Da begriff sie. „Sie sind Mollys Onkel?“, fragte sie verwirrt.

„Ja.“

Warum hatte Mordecai nichts davon gesagt? „Lassen Sie mich das machen“, bot sie an, als er Sarah Schuhe und Socken ausziehen wollte. Sie trat neben ihn und streifte ihn versehentlich. Sofort wich er zurück. „Wieso hat Mordecai mir nicht erzählt, dass Sie der Auftraggeber sind?“

Er war an die andere Seite des Tisches gegangen und bedachte sie mit einem Blick, der sie frösteln ließ. „Wären Sie denn gekommen? Nach dem, was ich getan habe? Ich wollte die Beste für Molly, und das sind Sie. Hätten Sie zugesagt, wenn ich Sie persönlich angesprochen hätte?“

Das ergab keinen Sinn. Damals im Krankenhaus hatte er sich für sie eingesetzt. Warum sollte sie etwas gegen ihn haben? Das mochte für einige andere ehemalige Kollegen gelten, aber nicht für Philip.

„Sie haben doch nichts getan.“

„Und ob!“ Es klang verbittert. Philip machte sich daran, das kleine Mädchen zu untersuchen.

„Es war nicht Ihre Schuld“, flüsterte sie. „Das habe ich nie gedacht.“

„Sollten Sie aber. Alle anderen denken es.“

Thea verstand immer noch nicht, was das sollte, aber im Moment gab es Wichtigeres. Sarah brauchte ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.

„Schwacher, fadenförmiger Puls“, verkündete sie. Sarahs Zustand verschlechterte sich. „Vor ein paar Minuten war er noch gleichmäßig.“

Wortlos griff Philip nach Theas Stethoskop und horchte Sarahs Brust ab. Dann den Bauch. „Sie blutet irgendwo.“ Vorsichtig tastete er die Bauchdecke ab. „Abdomen ist nicht gespannt, Darmgeräusche normal. Kein Befund in der Brust, beide Lungen arbeiten gut.“

Anscheinend keine inneren Blutungen. Thea atmete erleichtert auf. Wenigstens das nicht, dachte sie.

„Wir brauchen mehr Licht.“ Sie warf die durchnässten Schuhe und Socken auf den Boden.

„In den Wohnräumen gibt es keinen Stromanschluss. Meine Mutter wollte das nie. Der urtümliche Charakter gefiel ihr. Sie fand ihn künstlerisch inspirierend. Das Licht oben wurde gelegt, als der Leuchtturm noch in Betrieb war, aber den Rest haben wir im Originalzustand gelassen. Wozu der ganze Aufwand, wenn ein paar Petroleumlampen völlig ausreichen?“

Autor

Dianne Drake
Diane, eine relative neue Erscheinung im Liebesromanbetrieb, ist am meisten für ihre Sachliteratur unter dem Namen JJ Despain bekannt. Sie hat mehr als sieben Sachbücher geschrieben, und ihre Magazin Artikel erschienen in zahlreichen Zeitschriften. Zusätzlich zu ihrer Schreibtätigkeit, unterrichtet Dianne jedes Jahr in dutzenden von Schreibkursen. Dianne`s offizieller Bildungshintergrund besteht...
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