Gezähmt im Bett der Lady

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Ausgerechnet der Marquess of Dain, dieser berüchtigte Schurke, lässt sie vor Verlangen erbeben. Dabei hat Jessica die weite Reise nach Paris nur angetreten, um ihren unglückseligen Bruder vor dem Ruin zu retten, der ihm in der Gesellschaft Lord Dains droht. Aber etwas an diesem zügellosen, unergründlichen Mann berührt ihr Herz. Als Dain sie in aller Öffentlichkeit in die Arme reißt und aufreizend küsst, ist es um sie - und ihren Ruf - geschehen. Jessica, die sich wider alle Vernunft in den skandalösen Marquess verliebt hat, wartet auf seinen Antrag. Vergebens! Da ersinnt sie einen gewagten Plan …


  • Erscheinungstag 12.09.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733737757
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Danksagung

Danke an Sal Raciti für die eingestreuten italienischen Sätze; Carol Proko Easton für das Ausleihen ihrer hervorragenden Bücher über russische Ikonen; Cynthia Drelinger für die Übertragung meiner handschriftlichen Hieroglyphen in den Computer und meinem Ehemann Walter und unserem Freund Owen Halpern für eine unvergessliche Reise durch Englands wunderschönen Westen.

PROLOG

Im Frühjahr 1792 verlor Dominick Edward Guy de Ath Ballister, dritter Marquess of Dain, Earl of Blackmoor, Viscount Launcells, Baron Ballister und Launcells, seine Gattin und vier Kinder an Typhus.

Obwohl die Ehe auf Anweisung seines Vaters geschlossen worden war, hatte Lord Dain eine gewisse Wertschätzung für seine Ehefrau entwickelt, die ihm pflichtschuldig drei wohlgestaltete Söhne und eine hübsche Tochter geboren hatte. Er hatte sie soweit geliebt, wie er imstande war. Das war allerdings nach allgemeinen Maßstäben nicht sonderlich viel. Aber es lag nun einmal nicht in Lord Dains Wesen, überhaupt irgendwen zu lieben. Was er an Gefühlen erübrigen konnte, galt seinen Ländereien, vor allem jedoch Athcourt, dem Ahnensitz in Devon. Seine Besitzungen waren gewissermaßen seine Mätresse.

Die war aber kostspielig, und er gehörte nicht zu den reichsten Männern. Daher war Lord Dain im fortgeschrittenen Alter von zweiundvierzig Jahren genötigt, erneut und zudem, um das Verlangen seiner Mätresse nach immer mehr Geld zu befriedigen, reich zu heiraten.

Ende 1793 begegnete, umwarb und heiratete er schließlich Lucia Usignuolo, die siebzehnjährige Tochter eines überaus begüterten Florentiner Adeligen.

Die gute Gesellschaft war verblüfft. Die Ballisters konnten ihre Ahnenreihe bis in sächsische Zeiten zurückverfolgen. Vor sieben Jahrhunderten hatte einer von ihnen eine normannische Lady geehelicht und als Belohnung dafür von William I. die Baronswürde verliehen bekommen. Seit dieser Zeit hatte kein Ballister jemals außerhalb Englands eine Ehe geschlossen. Die Gesellschaft gelangte zu dem Schluss, dass der Verstand des Marquess of Dain vor Trauer verwirrt war.

Nicht allzu viele Monate später drängte sich Seiner Lordschaft missgestimmt selbst der Verdacht auf, dass sein Verstand von irgendetwas verwirrt gewesen sein musste. Er hatte, davon war er zumindest ausgegangen, ein wunderschönes junges Mädchen mit rabenschwarzem Haar geheiratet, das ihn voller Bewunderung anschaute und lächelte und jedem Wort zustimmte, das er sagte. Was er hingegen in Wahrheit geheiratet hatte, so fand er heraus, war ein schlafender Vulkan. Die Tinte war kaum unter dem Eintrag im Kirchenregister getrocknet, als dieser auszubrechen begann.

Seine junge Frau war verwöhnt, stolz, leidenschaftlich und temperamentvoll. Sie war hemmungslos extravagant, redete zu viel und zu laut, machte sich über seine Befehle lustig. Am schlimmsten war jedoch ihr zügelloses Benehmen im Ehebett, das ihn regelrecht abstieß.

Einzig die Angst, die Ballisterlinie könne andernfalls aussterben, sorgte dafür, dass er weiterhin in dieses Bett kam. Er biss die Zähne zusammen und tat seine Pflicht. Als sie schließlich schwanger wurde, stellte er seine Besuche bei ihr ein und begann inbrünstig um einen Sohn zu beten, damit er diese Anstrengung nicht würde wiederholen müssen.

Im Mai 1795 erhörte die Vorsehung seine Gebete.

Als er jedoch seinen ersten Blick auf das Neugeborene warf, keimte in Lord Dain der Verdacht auf, der Teufel habe sie erhört.

Sein Erbe war ein verschrumpeltes olivfarbenes Ding mit großen schwarzen Augen, unförmigen Gliedmaßen und einer abartig großen Nase. Und er schrie unablässig.

Wenn er hätte abstreiten können, dass dieses Ding seines war, er hätte es getan. Aber das ging nicht, weil sich auf seiner linken Pobacke genau das gleiche winzige braune Muttermal in Form einer Armbrust fand, das auch Lord Dains Körper zierte. Generationen von Ballisters wiesen dieses Muttermal auf.

Unfähig, zu leugnen, dass diese Missgeburt sein Fleisch und Blut war, entschied der Marquess, dass es die unweigerliche Folge von lüsterner und unnatürlicher Ausübung der ehelichen Pflichten war. In düstereren Momenten glaubte er, seine junge Ehefrau sei des Satans Magd und der Junge eine Ausgeburt der Hölle.

Lord Dain kehrte nie wieder in das Bett seiner jungen Frau zurück.

Der Junge wurde auf den Namen Sebastian Leslie Guy de Ath Ballister getauft und übernahm nach alter Sitte den zweithöchsten Titel seines Vaters, Earl of Blackmoor. Der Titel passte gut, flüsterte man sich hinter dem Rücken des Marquess zu, denn das Kind hatte den dunklen Teint, die obsidianschwarzen Augen und das rabenschwarze Haar der Familie seiner Mutter geerbt. Er zeichnete sich ebenfalls durch die Usignuolo-Nase aus, dem vornehmen Florentiner Riechorgan, an dem entlang zahllose mütterliche Vorfahren herablassend Unwürdige gemustert hatten. Diese Nase stand dem durchschnittlichen erwachsenen Usignuolo-Mann gut zu Gesicht, die gewöhnlich eher über hünenhafte Formen verfügten. An einem schmächtigen kleinen Jungen mit überlang scheinenden Gliedmaßen wirkte sie jedoch monströs.

Unseligerweise hatte der Knabe auch das ausgeprägte Einfühlungsvermögen der Usignuolos mitgeerbt. Als Folge daraus war er sich im Alter von sieben Jahren unglücklich des Umstandes bewusst, dass etwas mit ihm nicht stimmte.

Seine Mutter hatte ihm eine Reihe hübscher Bilderbücher besorgt. Keiner der Menschen in diesen Büchern sah auch nur entfernt aus wie er – außer ein hakennasiges buckliges Teufelchen, das auf der Schulter des kleinen Tommy saß und ihn dazu verleitete, böse Sachen zu tun.

Obwohl er nie auf seiner eigenen Schulter irgendwelche Teufelchen entdecken konnte oder irgendwelche ihm etwas zuflüstern hörte, wusste Sebastian, dass er böse sein musste, weil er dauernd gescholten oder geschlagen wurde. Er zog die Schläge seines Lehrers vor. Die Schelte seines Vaters bewirkte, dass es Sebastian gleichzeitig heiß und feuchtkalt wurde, und dann fühlte sich sein Magen an, als sei er voller Vögel, die alle mit den Flügeln schlugen, um daraus zu entkommen, und dann begannen auch seine Knie zu zittern. Aber er wagte es nicht zu weinen, weil er nicht länger ein Säugling war und Weinen seinen Vater nur noch ärgerlicher machte. Ein Ausdruck trat dann auf sein Gesicht, der noch schlimmer war als die Schelte.

In den Bilderbüchern lächelten Eltern ihre Kinder an, herzten sie und gaben ihnen Küsse. Seine Mutter tat das manchmal, wenn sie gut aufgelegt war, aber sein Papa nie. Sein Vater redete nicht mit ihm und spielte nie mit ihm. Er hatte sich Sebastian nie für einen Ritt auf seine Schultern gesetzt oder auch nur vor sich auf sein Pferd. Sebastian ritt sein eigenes Pony, und das Reiten selbst hatte ihm Phelps, einer der Stallburschen, beigebracht.

Er wusste, er konnte seine Mutter nicht fragen, was mit ihm nicht stimmte und wie sich das in Ordnung bringen ließe. Sebastian hatte gelernt, nicht viel zu ihr zu sagen – außer, dass er sie liebe und sie die schönste Mutter auf der Welt sei –, weil nämlich so gut wie alles sie aus der Fassung bringen konnte.

Einmal, als sie nach Dartmouth fahren wollte, hatte sie ihn gefragt, was sie ihm mitbringen solle. Er hatte um einen kleinen Bruder gebeten, mit dem er spielen konnte. Sie war erst in Tränen ausgebrochen, dann war sie wütend geworden und hatte schlimme Wörter auf Italienisch geschrien. Obwohl Sebastian nicht wusste, was all diese Ausdrücke bedeuteten, war ihm klar, dass sie schlimm sein mussten, denn als Papa sie hörte, schimpfte er mit ihr.

Und dann stritten sie. Und das war sogar noch schlimmer als das Weinen seiner Mutter und die ärgerlichste Miene seines Vaters.

Sebastian wollte nicht der Auslöser irgendwelcher furchtbaren Streitereien sein. Vor allem wollte er seiner Mama nicht Anlass dazu geben, die schlimmen Wörter zu sagen, weil Gott dann am Ende böse werden könnte und sie sterben und in die Hölle kommen würde. Und dann würde ihn niemand mehr herzen oder küssen – nie mehr.

Und so kam es, dass Sebastian niemanden fragen konnte, was mit ihm nicht stimmte und was er tun konnte, außer den Himmlischen Vater. Aber auch Er antwortete ihm nicht.

Dann, eines Tages, als Sebastian acht Jahre alt war, ging seine Mutter mit ihrer Zofe aus und kam nicht zurück.

Sein Vater weilte in London, und die Dienerschaft sagte Sebastian, seine Mutter habe beschlossen, ebenfalls dorthin zu fahren.

Doch kurz darauf kehrte sein Vater zurück, und Mama war nicht bei ihm.

Sebastian wurde in das düstere Arbeitszimmer seines Vaters bestellt. Sein Papa saß mit grimmiger Miene hinter dem gewaltigen Schreibtisch, die Bibel vor sich aufgeschlagen. Er befahl Sebastian, sich zu setzen. Zitternd gehorchte der. Das war alles, was er tun konnte. Er konnte nicht sprechen, die Flügel in seinem Magen flatterten so heftig, dass es ihn seine ganze Kraft kostete, sich nicht zu übergeben.

„Du wirst aufhören, die Diener wegen deiner Mutter zu belästigen“, teilte ihm sein Vater mit. „Du wirst nicht wieder von ihr reden. Sie ist ein böses, gottloses Geschöpf. Ihr Name ist Jezebel und ‚Jezebel werden auf der Flur von Jesreel die Hunde fressen und niemand wird sie begraben‘.“

In Sebastians Kopf schrie jemand ganz laut. So laut, dass er seinen Vater kaum verstehen konnte. Aber sein Vater schien das Schreien nicht zu hören. Er blickte auf die Bibel vor sich.

„Denn die Lippen der fremden Frau triefen von Honig, glatter als Öl ist ihr Mund. Doch zuletzt ist sie bitter wie Wermut, scharf wie ein zweischneidiges Schwert. Ihre Füße steigen zur Totenwelt hinab, ihre Schritte finden Halt in der Hölle.“ Er schaute auf. „Ich sage mich von ihr los und bin von Herzen froh, dass die Verderbtheit das Haus meiner Väter verlassen hat. Wir werden nicht mehr darüber sprechen.“

Er stand auf und zog an der Klingelschnur, und einer der Lakaien kam, um Sebastian aus dem Zimmer zu geleiten. Dennoch, selbst nachdem sich die Tür zum Studierzimmer geschlossen hatte, während sie zur Treppe gingen, hörte das Schreien in Sebastians Kopf einfach nicht auf. Er versuchte sich die Ohren zuzuhalten, aber es ging weiter, und dann war alles, was er tun konnte, den Mund zu öffnen und es herauszulassen – ein lang gezogenes, entsetzliches Aufheulen.

Als der Lakai versuchte, ihn zum Schweigen zu bringen, trat Sebastian nach ihm und biss ihn, riss sich von ihm los. Und dann kamen all die bösen Worte aus seinem Mund. Er konnte sie einfach nicht aufhalten. In ihm hauste ein Ungeheuer, das er nicht zügeln konnte. Das Ungeheuer packte sich eine Vase von einem Tisch und warf sie in einen Spiegel. Es nahm eine Gipsfigur und schleuderte sie auf den Boden. Es lief durch die gesamte Eingangshalle und zerbrach alles, an das er herankam.

Die gesamte höhere Dienerschaft lief zu dem Lärm, aber alle scheuten davor zurück, das Kind anzufassen, da sie alle miteinander davon überzeugt waren, es sei von Dämonen besessen. Sie standen starr vor Schreck und verfolgten, wie Lord Dains Erbe eine Spur der Verwüstung durch die Halle zog. Kein tadelndes Wort, ja, kein einziges Geräusch drang aus dem oberen Stockwerk. Die Tür Seiner Lordschaft blieb geschlossen – wie gegen den unten wütenden Teufel.

Endlich kam die dicke Köchin aus der Küche gewatschelt, hob den schreienden Jungen auf ihre Arme, ohne sich um das Treten und Schlagen zu kümmern, und drückte ihn an sich. „Ist ja gut, Kindchen“, brummte sie beschwichtigend.

Da sie weder Dämonen noch Lord Dain fürchtete, nahm sie Sebastian mit in die Küche und scheuchte alle ihre Helfer fort, setzte sich auf den großen Stuhl vor das Feuer und wiegte das schluchzende Kind, bis es zu erschöpft war, weiter zu weinen.

Wie der Rest des Haushaltes wusste auch die Köchin, dass Lady Dain mit dem Sohn eines reichen Handelsschiffers durchgebrannt war. Sie war nicht nach London gefahren, sondern nach Dartmouth, wo sie an Bord eines der Schiffe ihres Geliebten gestiegen und mit ihm zu den westindischen Inseln gesegelt war.

Das lauthalse Schluchzen des Jungen über Hunde, die seine Mutter fraßen, weckte in der Köchin den heftigen Wunsch, mit einem Fleischbeil auf ihren Herrn loszugehen. Der junge Earl of Blackmoor war der hässlichste kleine Junge, den man je in ganz Devon gesehen hatte – und vermutlich auch in Cornwall und Dorset. Er war zudem launisch, leicht reizbar und insgesamt wenig gewinnend. Andererseits war er auch einfach nur ein kleiner Junge, der Besseres verdiente, dachte sie, als das, was das Schicksal ihm beschert hatte.

Sie sagte Sebastian, seine Mama und sein Papa kämen nicht gut miteinander aus, und seine Mama sei so unglücklich gewesen, dass sie fortgelaufen sei. Leider sei Fortlaufen für erwachsene Frauen ein noch schlimmeres Vergehen als für kleine Jungs, erklärte die Köchin weiter. Es sei ein so schlimmer Fehler, dass es nie wieder in Ordnung gebracht werden konnte. Daher werde Lady Dain nie wieder nach Hause kommen.

„Kommt sie in die Hölle?“, fragte der Junge. „Papa h…hat g…ges…sagt …“ Seine Stimme brach.

„Der Herr wird ihr vergeben“, erwiderte die Köchin bestimmt. „Wenn Er gerecht und gnädig ist, wird Er das.“

Dann brachte sie Sebastian nach oben, verjagte sein gestrenges Kindermädchen und steckte ihn ins Bett.

Nachdem sie gegangen war, setzte sich Sebastian auf und nahm von seinem Nachttischchen das Bildchen der Heiligen Jungfrau mit dem Jesukindlein, das seine Mutter ihm geschenkt hatte. Er drückte es an seine Brust und betete.

Er hatte alle möglichen Gebete aus dem Glauben seines Vaters gelernt, aber in dieser Nacht betete er das, was er seine Mutter hatte aufsagen hören, wenn sie die lange Kette mit den Perlen in der Hand hielt. Er hatte es so viele Male gehört, dass er es auswendig kannte, obwohl er noch nicht genug Latein gelernt hatte, um alle Worte zu verstehen.

„Ave Maria, gratia plena, Dominus tecum, benedicta tu in mulieribus“, begann er.

Er wusste nicht, dass sein Vater vor der Tür stand und ihn hörte.

Und er wusste nicht, dass dieses papistische Gebet für Lord Dain der Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Vierzehn Tage später wurde Sebastian in eine Kutsche verfrachtet und nach Eton gebracht.

Nach einer kurzen Befragung durch den Direktor wurde er in dem gewaltigen Schlafsaal zurückgelassen und der Gnade seiner Mitschüler ausgeliefert.

Lord Wardell, der Älteste und Größte in seiner unmittelbaren Umgebung starrte Sebastian eine ganze Weile an, dann brach er in schallendes Gelächter aus. Die anderen Jungen taten es ihm prompt nach. Sebastian stand wie erstarrt und lauschte auf das, was in seinen Ohren wie das Heulen Tausender Hyänen klang.

„Kein Wunder, dass seine Mutter fortgelaufen ist“, bemerkte Wardell zu den versammelten Knaben, als er wieder zu Atem gekommen war. „Hat sie geschrien, als du geboren wurdest, Blecker-Mohr?“

„Es heißt Blackmoor“, sagte Sebastian und ballte die Hände zu Fäusten.

„Es heißt so, wie ich es sage, du Wanze“, unterrichtete Wardell ihn. „Und ich sage, deine Mama ist durchgebrannt, weil sie deinen Anblick nicht einen Moment länger ertragen konnte. Weil du wie ein schmutziger kleiner Ohrenkneifer aussiehst.“ Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und umkreiste den verwirrten Sebastian. „Was sagst du dazu, Blecker-Mohr?“

Sebastian schaute in die Gesichter, die ihm verächtlich zugewandt waren. Phelps, der Stallbursche, hatte behauptet, er werde in der Schule Freunde finden. Sebastian, der nie zuvor jemanden gehabt hatte, mit dem er spielen konnte, hatte sich auf der langen einsamen Reise an diese Hoffnung geklammert.

Jetzt sah er keine Freunde, nur spöttische Gesichter – und alle überragten ihn um einiges. Jeder einzelne Junge in dem weiten Rund war älter und größer als er.

„Ich habe dir eine Frage gestellt, Ohrenkneifer“, sagte Wardell. „Wenn Höhergestellte dir eine Frage stellen, solltest du besser antworten.“

Sebastian starrte seinem Peiniger geradewegs in die blauen Augen. „Stronzo, lautete seine Antwort.

Wardell versetzte ihm eine Kopfnuss. „Lass das Makkaroni-Kauderwelsch, Blecker-Mohr.“

„Stronzo“, wiederholte Sebastian kühn. „Arschloch.“

Wardell hob seine blassen Augenbrauen und blickte in die Runde seiner Kameraden. „Habt ihr das gehört?“, fragte er sie. „Es ist nicht genug, dass er hässlich ist wie die Nacht, er hat auch noch ein schmutziges Mundwerk. Was gibt es da zu tun, Jungs?“

„Werfen wir ihn zu Boden“, erwiderte einer.

„Ducken wir ihn unter“, schlug ein anderer vor.

„Im Abort“, ergänzte ein weiterer. „Er hat schließlich mit Scheiße angefangen.“

Dieser Vorschlag wurde mit johlender Begeisterung aufgenommen.

Und einen Augenblick später hatten sie sich auf ihn gestürzt.

Mehrere Male auf dem Weg in sein Verderben gaben sie Sebastian die Gelegenheit, alles zurückzunehmen. Er hätte nur Wardell die Stiefel lecken und ihn um Verzeihung bitten müssen, dann wäre er verschont worden.

Aber das Ungeheuer hatte von ihm Besitz ergriffen, und Sebastian antwortete trotzig mit einem ganzen Schwall von Beschimpfungen, allen Schimpfwörtern, die er auf Englisch und Italienisch kannte.

Trotz half ihm im Augenblick nicht viel. Was half, waren bestimmte Gesetze der Physik. Zwar war er klein, aber sein Körperbau war unausgewogen. Seine knochigen Schultern waren so zum Beispiel zu breit, um in das Loch im Abort zu passen. Wardell konnte daher nur seinen Kopf so lange hineindrücken und dort halten, bis er sich übergeben musste.

Der Vorfall lehrte den Ohrenkneifer jedoch sehr zur Verärgerung Wardells und seiner Gefährten keinen Respekt. Obwohl sie danach einen erheblichen Teil ihrer freien Zeit der Aufgabe widmeten, ihn darin zu unterweisen, wollte Sebastian es einfach nicht lernen. Sie verspotteten sein Aussehen und dass er ein Mischling war, nur zur Hälfte englisch. Sie verfassten schlimme Lieder über seine Mutter. Sie hängten ihn an den Füßen aus dem Fenster, wickelten ihn in Decken und versteckten tote Nagetiere in seinem Bett. Wenn er allein und ungestört war – allerdings war man in Eton fast nie allein und ungestört –, weinte er aus Elend, Wut und Einsamkeit. Vor anderen fluchte und kämpfte er, auch wenn er stets verlor.

Zwischen den ständigen Misshandlungen außerhalb des Klassenzimmers und den regelmäßigen Prügelstrafen darin benötigte Eton weniger als ein Jahr, um ihm jegliche Neigung zu liebevollem Verhalten, Vertrauen und Sanftheit auszutreiben. Die Erziehungsmethoden in Eton brachten in vielen Jungen das Beste zum Vorschein, in ihm jedoch weckten sie die schlimmsten Seiten.

Als er zehn Jahre alt war, nahm der Schulleiter Sebastian beiseite und teilte ihm mit, dass seine Mutter auf einer der westindischen Inseln an einem Fieber gestorben war. Sebastian hörte ihm in versteinertem Schweigen zu, dann ging er und verwickelte Wardell in eine Schlägerei.

Wardell war zwei Jahre älter, doppelt so groß und schwer wie Sebastian und zudem schnell. Aber dieses Mal war das Ungeheuer in Sebastian eisige bittere Wut, und er kämpfte kalt, stumm und verbissen, bis er seinen Nemesis zu Boden geworfen und ihm eine blutige Nase versetzt hatte.

Dann, selbst übel zugerichtet und blutig, sandte Sebastian einen verächtlichen Blick in die Runde der Zuschauer.

„Noch jemand?“, fragte er, obwohl er kaum Atem für die Worte finden konnte.

Niemand äußerte einen Laut. Als er sich zum Gehen wandte, machten sie ihm Platz.

Als Sebastian die Hälfte des Hofes überquert hatte, durchbrach Wardells Stimme die seltsame Stille.

„Gut gemacht, Blackmoor!“, rief er.

Sebastian blieb stehen und drehte sich um. „Geh zum Teufel!“, rief er zurück.

Da flog Wardells Kappe in die Höhe, begleitet von Beifallsgeheul. Im nächsten Augenblick wurden zahllose Kappen in die Luft geworfen, und alle Knaben spendeten Beifall.

„Dummes Pack“, murmelte Sebastian vor sich hin. Er lüftete seinen nicht vorhandenen Hut – seiner lag unrettbar zerstört auf dem Pflaster – und machte eine Verbeugung.

Einen Moment später war er umgeben von lachenden Jungen, und im nächsten wurde er auf Wardells Schultern gehoben; je mehr er sie mit Schimpfwörtern belegte, desto begeisterter waren die Spinner.

Binnen kürzester Zeit wurde er Wardells Busenfreund. Und damit gab es natürlich keine Hoffnung mehr für ihn.

Unter all den Unruhestiftern, die zu jener Zeit in Eton zu erwachsenen Männern misshandelt und geprügelt wurden, war der Kreis um Wardell bei Weitem der ärgste. Außer den gewöhnlichen Streichen in Eton und dem Belästigen der hilflosen örtlichen Bevölkerung frönten sie dem Glücksspiel, rauchten und betranken sich, bis ihnen übel wurde, noch ehe sie die Pubertät erreicht hatten. Und mit den Frauengeschichten begannen sie kurz darauf.

Sebastian wurde an seinem dreizehnten Geburtstag in die Geheimnisse der Beziehung zwischen Mann und Frau eingeweiht. Wardell und Mallory – der Junge, der seinerzeit das Eintunken in den Abort vorgeschlagen hatte – versorgten Sebastian mit Gin, verbanden ihm die Augen und zerrten ihn dann über mehrere Treppen nach oben in ein modrig riechendes Zimmer. Sie zogen ihn nackt aus, und nachdem sie ihm die Binde von den Augen genommen hatten, gingen sie und schlossen hinter sich die Tür ab.

Im Raum befanden sich eine stinkende Öllampe, eine schmutzige Strohmatratze und ein überaus wohlgerundetes Mädchen mit goldenen Locken, roten Wangen und großen blauen Augen sowie einer Nase, die nicht größer als ein Knopf war. Sie starrte Sebastian an, als sei er eine tote Ratte.

Er musste nicht lange raten, warum. Obwohl er seit seinem letzten Geburtstag zwei Zoll in die Höhe geschossen war, sah er immer noch wie ein Waldschrat aus.

„Ich werde es nicht tun“, erklärte sie, den Mund aufmüpfig verzogen. „Nicht für hundert Pfund.“

Sebastian entdeckte, dass er doch noch Gefühle hatte. Wenn das nicht der Fall gewesen wäre, hätte sie sie nicht verletzen können. Seine Kehle brannte, und er hätte am liebsten geweint, und er hasste sie dafür, dass sie ihn so weit gebracht hatte. Sie war eine gewöhnliche dumme Kuh, und wenn sie ein Junge wäre, hätte er sie windelweich geprügelt.

Aber seine Gefühle zu verbergen war ihm inzwischen zur zweiten Natur geworden.

„Das ist aber schade“, erwiderte er kühl. „Es ist mein Geburtstag, und ich war so gut aufgelegt, dass ich daran dachte, dir zehn Schilling zu zahlen.“

Sebastian wusste, Wardell zahlte einer Dirne nie mehr als einen Sechser.

Sie sandte Sebastian einen schmollenden Blick, der an ihm abwärts glitt bis zu seinem Geschlechtsteil, um dort zu verweilen. Das war genug, dessen Aufmerksamkeit zu erregen. Es begann sogleich anzuschwellen.

Ihr Schmollmund bebte.

„Ich habe ja gesagt, dass ich gutmütig gestimmt bin“, sagte er, bevor sie ihn auslachen konnte. „Sechzehn. Aber nicht mehr. Wenn du nicht magst, was ich habe, kann ich immer noch zu einer anderen gehen.“

„Ich nehme an, ich kann die Augen schließen“, bemerkte sie.

Er schenkte ihr ein spöttisches Lächeln. „Offen oder geschlossen, das ist mir egal – ich erwarte, dass ich etwas bekomme, was mein Geld wert ist.“

Das bekam er dann auch, und sie schloss die Augen nicht, sondern zeigte all die Begeisterung, die man sich nur wünschen konnte.

Darin lag eine Lektion fürs Leben, überlegte Sebastian später, und er begriff diese Lektion so rasch wie alle anderen.

Von da an, entschied er, würde er sein Leben unter das Motto von Horaz stellen: „Mache Geld, Geld – ehrlich wenn du kannst; wenn nicht, egal wie, mache Geld.“

Seit dem Zeitpunkt, da er in Eton angekommen war, bestand die einzige Form von Kommunikation, die Sebastian von zu Hause erhielt, aus einsilbigen Nachrichten, die mit seiner vierteljährlichen Apanage eintrafen und die vom Sekretär seines Vaters verfasst wurden.

Als sich das Ende von Sebastians Zeit in Eton näherte, erreichte ihn ein zweizeiliger Brief, der ihn darüber informierte, dass für ihn das Studium in Cambridge arrangiert sei.

Er wusste, dass Cambridge eine ausgezeichnete Universität war, die von vielen für fortschrittlicher gehalten wurde als die eher mönchisch geprägte in Oxford.

Er wusste ebenfalls, dass sein Vater aus einem bestimmten Grund nicht Oxford gewählt hatte. Die Ballisters hatten praktisch seit den Zeiten, da diese Lehranstalten gegründet wurden, Eton und Oxford besucht. Seinen Sohn irgendwo anders hinzuschicken kam einer Enterbung so nahe, wie es Lord Dain möglich war. Es verkündete der Welt, dass Sebastian ein Schmutzfleck auf dem Wappen der Familie sei.

Was er mit Sicherheit war.

Er führte sich nicht nur wie ein Ungeheuer auf – allerdings niemals schlimm genug vor irgendwelchen Würdenträgern, um der Schule verwiesen zu werden – sondern war auch rein körperlich eines geworden: mehr als sechs Fuß groß und jeder Zoll davon dunkel und von brutaler Härte.

Er hatte den Hauptteil seiner Karriere in Eton damit verbracht, dafür zu sorgen, dass man sich seiner als eines Ungeheuers erinnerte. Er war stolz auf die Tatsache, dass anständige Leute ihn als „Fluch und Verderben der Ballisters“ bezeichneten.

Bis jetzt hatte Lord Dain durch nichts verraten, dass es ihn störte oder auch nur kümmerte, was sein Sohn trieb.

Der in knappem Ton verfasste Brief bewies das Gegenteil. Seine Lordschaft hatte vor, seinen Sohn zu strafen und zu erniedrigen, indem er ihn an eine Universität verbannte, die nie ein Ballister betreten hatte.

Die Strafe kam zu spät. Sebastian hatte mehrere sehr wirkungsvolle Methoden gelernt, auf Versuche zu reagieren, ihn zu beeinflussen, zu strafen oder zu beschämen. Er hatte herausgefunden, dass Geld in vielen Fällen wesentlich effektiver war als körperliche Gewalt.

Horaz’ Motto übernehmend hatte er gelernt, wie er seine Apanage mit Glücksspiel und Wetten verdoppeln, verdreifachen oder gar vervierfachen konnte. Die Hälfte seines Gewinns gab er für Frauen aus, verschiedene andere Laster und Privatunterricht in Italienisch – Letzteres, weil er verhindern wollte, dass jemand ahnte, dass er empfindlich war, wenn es um seine Mutter ging.

Er hatte vorgehabt, mit der anderen Hälfte seiner Gewinne ein Rennpferd zu erstehen.

Er schrieb zurück und empfahl seinem Vater, er möge das dafür bestimmte Geld doch einem bedürftigen Jungen zur Verfügung stellen, um ihm den Besuch von Cambridge zu ermöglichen, da der Earl of Blackmoor auf eigene Kosten nach Oxford gehen werde.

Dann setzte er sein angespartes Guthaben für das Rennpferd in einem Ringkampf.

Der Gewinn daraus – und der Einfluss, den Wardells Onkel ausgeübt hatte – brachte Sebastian nach Oxford.

Das nächste Mal, als er von zu Hause hörte, war Sebastian vierundzwanzig Jahre alt. Die einzeilige Nachricht unterrichtete ihn vom Tod seines Vaters.

Zusammen mit dem Titel hatte der neue Marquess of Dain eine Menge Land geerbt, mehrere beeindruckende Häuser – Athcourt eingeschlossen, der prächtige Steinhaufen, der sich als Ahnensitz am Rande von Dartmoor befand, zusammen mit all den dazugehörigen Hypotheken und Schulden.

Sein Vater hatte seine Angelegenheiten in abstoßender Unordnung hinterlassen, und Sebastian hegte nicht den geringsten Zweifel an dem Grund dafür. Unfähig, seinen Sohn zu kontrollieren, hatte der teure Verstorbene sein Möglichstes getan, ihn zu ruinieren.

Aber wenn der bigotte alte Bastard im Jenseits lächelnd darauf harrte, dass der vierte Marquess of Dain ins nächste Schuldengefängnis verschleppt wurde, stand ihm eine lange Wartezeit bevor.

Sebastian hatte inzwischen die Welt der Wirtschaft für sich entdeckt und sie mithilfe seines Verstandes und seiner Risikobereitschaft zu meistern gelernt. Er hatte jeden Heller seines derzeitigen angenehmen Auskommens selbst verdient oder gewonnen. Dabei hatte er mehr als ein Unternehmen vor dem Bankrott bewahrt und wieder in eine gewinnbringende Investition verwandelt. Mit dem läppischen Chaos seines Vaters fertigzuwerden war ein Kinderspiel.

Er verkaufte alles, was nicht untrennbar zum Familienbesitz gehörte, beglich die Schulden und strukturierte das Finanzsystem dahinter neu, entließ den Sekretär, den Verwalter und den Familienanwalt, ersetzte sie durch Leute mit Verstand und teilte diesen mit, was von ihnen erwartet wurde. Dann brach er zu einem letzten Ritt über die Moore auf, die er seit seiner Kindheit nicht mehr gesehen hatte, bevor er nach Paris reiste.

1. KAPITEL

Paris, März 1828

Nein, das kann nicht sein“, flüsterte Sir Bertram Trent entsetzt. Seine runden blauen Augen traten vor Schreck vor, und er presste seine Stirn gegen die Scheibe des Fensters, das auf die Rue de Provence hinausging.

„Ich fürchte, es ist so, Sir“, erwiderte sein Kammerdiener Withers.

Sir Bertram fuhr sich mit einer Hand durch die zerzausten braunen Locken. Es war zwei Uhr am Nachmittag, und er hatte sich gerade erst seines Morgenrockes entledigt. „Genevieve“, sagte er mit hohler Stimme. „Oh Himmel, sie ist es.“

„Es ist Ihre Großmutter, Lady Pembury, ganz ohne Zweifel – und Ihre Schwester Miss Jessica, die sie begleitet.“ Withers unterdrückte ein Lächeln. Er unterdrückte im Augenblick eine ganze Menge. Den wahnwitzigen Wunsch zum Beispiel, vor Freude durchs Zimmer zu tanzen und dabei Halleluja zu rufen.

Wir sind gerettet, dachte er. Wenn jetzt Miss Jessica hier war, würde alles bald in Ordnung kommen. Er war ein großes Risiko eingegangen, als er ihr geschrieben hatte, aber es hatte sein müssen, zum Wohl der Familie.

Sir Bertram war in üble Gesellschaft geraten. In Withers Augen die übelste der gesamten Christenheit: eine Horde verderbter Wüstlinge, angeführt von dem Ungeheuer, dem vierten Marquess of Dain.

Aber Miss Jessica wird dem schon bald ein Ende bereiten, beschwichtigte sich der ältere Kammerdiener im Geiste, während er seinem Herrn rasch das Halstuch knotete.

Sir Bertrams siebenundzwanzigjährige Schwester hatte das bezaubernde Aussehen ihrer verwitweten Großmutter geerbt: Ihr seidiges Haar war fast blauschwarz, ihre silbergrauen Augen waren mandelförmig und ihr Teint wie kostbarer Alabaster, ihre Gestalt anmutig geformt. Und all das hatte sich in Lady Pemburys Fall zudem als unempfindlich gegenüber den oft genug verheerenden Spuren der Zeit erwiesen.

Wichtiger noch jedoch war nach Ansicht des praktisch veranlagten Withers, dass Miss Jessica darüber hinaus die Intelligenz ihres Vaters geerbt hatte, zusammen mit seiner körperlichen Gewandtheit und seinem Mut. Sie konnte reiten, fechten und schießen wie die besten Männer. Genau genommen war sie, wenn es um Pistolen ging, die beste Schützin der gesamten Familie, und das wollte etwas heißen. Während ihrer zwei kurzen Ehen hatte ihre Großmutter ihrem ersten Gatten Sir Edmund Trent vier Söhne geboren und dem zweiten – Viscount Pembury – zwei. Ihre Kinder hatten eine ebenso zahlreiche männliche Nachkommenschaft. Aber keiner dieser feinen Herren konnte besser schießen als Miss Jessica. Sie konnte auf zwanzig Fuß den Zinken einer Harke treffen – das hatte Withers mit eigenen Augen gesehen.

Es würde ihn nicht stören, wenn er mit ansehen könnte, wie sie sich Lord Dains Zinken einmal vornahm. Der Kerl war ein Ungeheuer, eine Missgeburt, eine Schande für sein Vaterland und ein Schuft mit nicht mehr Gewissen als ein Mistkäfer. Er hatte Sir Bertram – der beklagenswerterweise nicht der Klügste war – in seinen verderbten Freundeskreis gelockt und damit auf den schlüpfrigen Weg in den Ruin. Noch ein paar Monate in Lord Dains Gesellschaft und Sir Bertram wäre pleite – wenn ihn nicht die endlose Abfolge von Ausschweifungen vorher umbrachte.

Aber es würde keine paar Monate mehr geben, überlegte Withers erfreut, während er seinen zaudernden Herrn zur Tür manövrierte. Miss Jessica würde alles in Ordnung bringen. Das tat sie immer.

Bertie war es gelungen, überraschte Freude darüber zum Ausdruck zu bringen, seine Schwester und seine Großmutter zu sehen. Sobald Letztere sich in ihr Schlafzimmer zurückgezogen hatte, um sich von den Anstrengungen der Reise auszuruhen, zerrte er Jessica mit sich in den Raum, der als Empfangssalon zu fungieren schien in dem lang gezogenen – und viel zu teuren, wie Jessica verärgert überlegte – Appartement.

„Verdammt, Jess, was soll das alles?“, verlangte er zu wissen.

Jessica nahm einen unordentlichen Stapel Sportzeitschriften von einem Polsterstuhl am Kamin, warf sie auf den Rost und ließ sich seufzend auf den weichen Sitz sinken.

Die Kutschfahrt von Calais war lang, staubig und holperig gewesen. Jessica hegte keinen Zweifel daran, dass dank des beklagenswert schlechten Zustands der französischen Straßen ihr Hinterteil mit blauen Flecken übersät war.

Gegenwärtig würde sie den Hintern ihres Bruders am liebsten in denselben Zustand versetzen. Unseligerweise war er jedoch, obwohl zwei Jahre jünger als sie, einen Kopf größer und um einiges schwerer. Die Tage, in denen sie ihn mit einer kräftigen Birkenrute zu Sinnen bringen konnte, waren längst vergangen.

„Es ist ein Geburtstagsgeschenk“, sagte sie.

Seine ungesund fahlen Züge hellten sich sogleich auf, und das vertraute liebenswerte Grinsen erschien. „Also wirklich, Jess, das ist aber furchtbar lieb …“ Dann verblasste das Grinsen, und eine Falte erschien auf seiner Stirn. „Aber mein Geburtstag ist erst im Juli. Du kannst doch unmöglich vorhaben, bis dahin …“

„Ich meinte Genevieves Geburtstag“, erklärte sie.

Eine von Lady Pemburys zahlreichen exzentrischen Marotten bestand darin, dass sie darauf beharrte, dass ihre Kinder und Enkelkinder sie mit ihrem Namen ansprachen. „Ich bin eine Frau“, sagte sie immer zu denen, die dagegen einwandten, eine solche Anrede sei respektlos. „Ich habe einen Namen. Mama, Großmama …“ An dieser Stelle erschauerte sie immer höchst anmutig. „Das ist so unpersönlich.“

Berties Miene wurde argwöhnisch. „Wann ist der?“

„Ihr Geburtstag ist, wie du eigentlich wissen müsstest, übermorgen.“ Jessica streifte sich die grauen Ziegenlederstiefelchen ab, zog den Fußschemel zu sich und legte ihre Füße darauf. „Ich wollte, dass der Tag für sie etwas Besonderes ist. Sie ist seit Urzeiten nicht in Paris gewesen, und zu Hause ist es nicht angenehm gewesen. Ein paar der Tanten reden davon, sie in eine Irrenanstalt einzusperren. Nicht, dass es mich wundert. Sie haben sie nie verstanden. Weißt du, dass sie allein letzten Monat drei Heiratsanträge erhalten hat? Ich glaube, Nummer drei war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Lord Fangiers ist vierunddreißig. Die Familie sagt, es sei peinlich.“

„Nun, in ihrem Alter ist es jedenfalls nicht würdevoll.“

„Sie ist nicht tot, Bertie. Ich kann nicht erkennen, warum sie sich benehmen sollte, als sei sie es. Wenn sie heiraten will, dann ist das ihre Sache.“ Jessica betrachtete ihren Bruder forschend. „Natürlich würde das bedeuten, dass ihr neuer Ehemann die Gewalt über ihr Vermögen erhielte. Ich nehme an, das macht allen Sorge.“

Bertie wurde rot. „Es besteht kein Grund, mich so anzusehen.“

„Ach nein? Du wirkst auf mich ziemlich besorgt. Vielleicht hattest du die Vorstellung, dass sie dir aus der Klemme hilft.“

Er zog unbehaglich an seinem Halstuch. „Ich stecke nicht in Schwierigkeiten.“

„Oh, dann muss ich es sein. Deinem Agenten nach bleiben mir, wenn ich deine gegenwärtigen Schulden bezahlt habe, noch genau siebenundvierzig Pfund, sechs Schilling und drei Pence für den Rest des Jahres. Was bedeutet, dass ich entweder wieder bei unseren Onkeln und Tanten einziehen muss oder arbeiten. Ich war zehn Jahre lang das unbezahlte Kindermädchen für ihre Blagen. Ich habe nicht vor, das auch nur für zehn Sekunden wieder zu tun. Damit bleibt nur noch Arbeiten übrig.“

Er riss seine blassblauen Augen auf. „Arbeiten? Du meinst, für Lohn?“

Sie nickte. „Ich sehe keine akzeptable Alternative.“

„Bist du übergeschnappt, Jess? Du bist ein Mädchen. Du heiratest – einen Kerl, der die Taschen voller Geld hat. Wie Genevieve es getan hat, zwei Mal sogar. Du hast ihr Aussehen, weißt du. Wenn du nur nicht so verflixt wählerisch wärest …“

„Das bin ich aber nun einmal“, erwiderte sie. „Und glücklicherweise kann ich es mir auch leisten.“

Sie und Bertie waren sehr jung zu Waisen geworden und der Obhut von Tanten, Onkeln und Cousins überlassen gewesen, die es sich kaum leisten konnten, ihre eigene hoffnungsvolle Brut durchzubringen. Die Familie hätte eigentlich finanziell gut dastehen müssen, wenn sie nur nicht so viele gewesen wären. Aber Genevieve entstammte einer fruchtbaren Linie, die vor allem männliche Nachkommen hervorbrachte, und ihre Kinder hatten das Talent dafür geerbt.

Das war einer der Gründe, warum Jessica so viele Heiratsanträge erhielt – im Durchschnitt sechs pro Jahr, selbst gegenwärtig noch, obwohl sie eigentlich längst eine alte Jungfer, ein Ladenhüter war. Aber sie wollte eher hängen als heiraten und die Zuchtstute für irgendeinen reichen Esel mit Titel spielen – oder anfangen, hausbackene Häubchen zu tragen.

Sie hatte ein Talent dafür, auf Auktionen und in Gebrauchtwarenläden echte Schätze zu entdecken und sie dann mit einem hübschen Gewinn weiterzuverkaufen. Obwohl sie so beileibe kein Vermögen aufbaute, war sie in den vergangenen fünf Jahren imstande gewesen, sich modische Kleider und Accessoires selbst zu kaufen, statt die abgelegten Kleider ihrer Verwandten aufzutragen. Es war eine bescheidene Form von Unabhängigkeit. Sie wollte mehr. Während des vergangenen Jahres hatte sie Pläne geschmiedet, wie sie dieses Mehr erreichen konnte.

Sie hatte endlich genug gespart, um sich einen eigenen Laden mieten zu können und Waren dafür anzukaufen. Es würde ein überaus elegantes und exklusives Geschäft werden für einen auserwählten Kundenkreis. In den zahllosen Stunden auf gesellschaftlichen Veranstaltungen hatte sie ein feines Verständnis für die reichen Müßiggänger entwickelt, nicht nur in Bezug auf das, was sie mochten, sondern auch wie man sie am effektivsten anlocken konnte.

Sie hatte auch immer noch fest vor, damit zu beginnen, die Reichen anzulocken, aber erst nachdem sie ihren Bruder aus dem Schlamassel befreit hatte, in das er verstrickt war. Dann würde sie sich darum kümmern, dass seine Charakterfehler nie wieder ihren Frieden und ihr wohlgeordnetes Leben stören würden. Bertie war ein verantwortungsloser, unzuverlässiger, hirnloser Dummkopf. Sie erschauerte bei der Vorstellung, dass sie in Zukunft für irgendetwas auf ihn angewiesen wäre.

„Du weißt sehr gut, dass ich nicht des Geldes wegen heiraten muss“, teilte sie ihm jetzt mit. „Alles, was ich tun muss, ist mein Geschäft zu eröffnen. Ich habe mir schon den Laden ausgesucht, und ich habe genug gespart …“

„Diese hirnverbrannte Idee mit dem Trödelladen?“, rief er.

„Kein Trödelladen“, verbesserte sie ihn ruhig. „Wie ich dir bestimmt schon ein Dutzend Mal erklärt habe …“

„Ich werde nicht zulassen, dass du dich als Ladeninhaberin niederlässt.“ Bertie richtete sich auf, reckte die Schultern. „Keine Schwester von mir wird unter die Kaufleute gehen.“

„Ich würde gerne sehen, wie du mich davon abhalten willst“, entgegnete sie.

Er zog seine Brauen zu einem finsteren Ausdruck zusammen.

Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück und betrachtete ihn nachdenklich. „Himmel, Bertie, du siehst wie ein Schwein aus, wenn du so die Augen zusammenkneifst. Genau genommen bist du einem Schwein reichlich ähnlich geworden, seit ich dich letztes Mal gesehen habe. Du hast mindestens fünfzehn Pfund zugenommen. Vielleicht sogar zwanzig.“ Ihr Blick wanderte abwärts. „Und alles am Bauch, wie es aussieht. Du erinnerst mich irgendwie an den König.“

„Dieses Walross?“, rief er empört. „Niemals. Nimm das zurück, Jess!“

„Oder was? Setzt du dich auf mich?“ Sie lachte.

Er marschierte zum Sofa und warf sich darauf.

„Ich an deiner Stelle“, bemerkte sie, „würde mir weniger Sorgen machen um das, was deine Schwester sagt und tut, sondern mehr um deine eigene Zukunft. Ich sorge schon für mich selbst, Bertie. Aber du … Nun, ich glaube, du solltest darüber nachdenken, jemanden zu heiraten, der die Taschen voller Geld hat.“

„Heiraten ist nur etwas für Feiglinge, Narren und Weiber.“

Sie lächelte. „Das hört sich ganz nach den Weisheiten an, mit denen irgendein betrunkener Idiot um sich wirft – kurz bevor er in die Punschschale kippt – zu einer Gruppe ebenso betrunkener Idioten, zusammen mit all den üblichen männlichen geistreichen Witzchen über Unzucht und verschiedene Körperausscheidungen.“

Sie wartete nicht, bis Bertie die Bedeutung dieser Äußerung erfasst hatte. „Ich weiß, was Männer komisch finden“, sagte sie. „Ich habe mit dir gelebt und zehn Cousins aufgezogen. Betrunken oder nüchtern, sie mögen Witze über das, was sie mit Frauen tun – oder tun wollen –, und sie sind endlos fasziniert von Blähungen, Wasserlassen und …“

„Frauen haben keinen Humor“, unterbrach Bertie sie. „Sie brauchen auch keinen. Der Allmächtige hat sie geschaffen, um den Männern einen üblen Streich zu spielen. Woraus man den logischen Schluss ziehen kann, dass der Allmächtige eine Frau ist.“

Er sprach die Worte langsam und bedächtig, als hätte er sich große Mühe gegeben, sie auswendig zu lernen.

„Woher stammt diese philosophisch tiefschürfende Erkenntnis, Bertie?“, wollte sie wissen.

„Wie bitte?“

„Wer hat dir das gesagt?“

„Das war kein betrunkener Idiot, Miss Hochnäsig und Eingebildet“, erwiderte er selbstzufrieden. „Ich habe vielleicht nicht den schärfsten Verstand, aber ich denke, ich erkenne einen Idioten, wenn ich einen sehe. Und Dain ist keiner.“

„Allerdings nicht. Er hört sich ganz nach einem klugen Kerlchen an. Was hat er sonst noch so zu sagen, mein Lieber?“

Es entstand eine längere Pause, während der Bertie zu entscheiden suchte, ob sie sarkastisch war oder nicht. Wie gewohnt gelangte er zum falschen Schluss.

„Nun, er ist wirklich klug, Jess. Ich hätte es wissen müssen, dass du das auch bemerkst. Die Sachen, die er sagt – Himmel, sein Verstand arbeitet ununterbrochen, rasend schnell. Ich weiß nicht, womit sein Hirn angetrieben wird.“

„Soweit ich es verstehe, betreibt er es mit Gin“, murmelte Jessica.

„Wie bitte?“

„Ich sagte: ‚Vermutlich ist sein Verstand wie eine Dampfmaschine.‘“

„Das muss es sein“, sagte Bertie. „Und nicht nur zum Reden. Er hat auch Verstand für Geldsachen. Er spielt die Börse, als sei sie eine Fiedel, sagen die anderen. Nur dass die Musik, die Dain damit macht, das Klimpern von Goldmünzen ist. Und es ist eine Menge Geklimper, Jess.“

Daran zweifelte sie nicht. Allem Vernehmen nach war der Marquess of Dain einer der reichsten Männer Englands. Er konnte sich ohne Frage alle möglichen Extravaganzen leisten. Und der arme Bertie, der sich noch nicht einmal den bescheidensten Luxus erlauben konnte, war wild entschlossen, sein verehrtes Idol nachzuahmen.

Denn es handelte sich gewiss bei ihm um eine Form von Vergötterung, wie Withers es in seinem kaum verständlichen Brief geschrieben hatte. Dass Bertie sein unterentwickeltes Erinnerungsvermögen so weit überanstrengt hatte, um sich einzuprägen, was Dain gesagt hatte, war unwiderlegbarer Beweis, dass Withers nicht übertrieben hatte.

Lord Dain war der Herrscher von Berties Universum geworden … und er führte ihn geradewegs in die Hölle.

Lord Dain schaute nicht auf, als die Klingel an der Ladentür läutete. Es kümmerte ihn nicht, wer der neue Kunde sein könnte, und Champtois, den Antiquitätenhändler und Anbieter kunstgewerblicher Kuriositäten, konnte es auch nicht interessieren, denn der wichtigste Kunde in ganz Paris hatte seinen Laden bereits betreten. Da er der bedeutendste war, erwartete und erhielt Dain die exklusive Aufmerksamkeit des Ladenbesitzers. Champtois blickte nicht nur nicht zur Tür, sondern verriet durch kein äußerlich sichtbares Zeichen, dass er etwas anderes sah, hörte oder berücksichtigte, das nichts mit dem Marquess of Dain zu tun hatte.

Gleichgültigkeit geht jedoch bedauerlicherweise nicht mit Taubheit einher. Die Glocke hatte kaum aufgehört zu läuten, als Dain auch schon eine bekannte Stimme auf Englisch etwas sagen hörte, worauf eine unbekannte Frauenstimme leise antwortete. Er konnte die Worte nicht verstehen. Dieses Mal gelang es Bertie Trent, seine Stimme zu mäßigen und nicht sein allseits gefürchtetes Bühnenflüstern hören zu lassen, das man noch quer über ein Fußballfeld vernehmen konnte.

Dennoch war es Bertie Trent, der größte Dummkopf auf der nördlichen Erdhalbkugel, was hieß, dass Lord Dain seinen eigenen Kauf aufschieben musste. Er hatte nicht vor, in Verhandlungen mit Champtois einzutreten, während Trent in der Nähe war und alles sagte und tat, was nur dazu beitragen konnte, den Preis in die Höhe zu schrauben, während er sich der albernen Illusion hingab, er unternähme gerissen alles, um ihn zu senken.

„Ach nein“, ertönte die Rugbyspielfeld-Stimme. „Ist das nicht … Nun, beim Jupiter, das ist er!“

Schwere Schritte, die sich näherten.

Lord Dain unterdrückte ein Seufzen, wandte sich um und richtete seinen Blick auf den Störenfried.

Trent blieb jäh stehen. „Das heißt natürlich, ich will Sie auf keinen Fall unterbrechen, vor allem nicht, wenn Sie gerade mit Champtois feilschen“, sagte er und deutete mit einer Kopfbewegung zu dem Ladenbesitzer. „Wie ich eben Jess schon sagte, muss man seinen Verstand zusammenhalten und darauf achten, keinesfalls mehr als die Hälfte dessen zu bieten, was man zu zahlen bereit ist. Und gar nicht zu vergessen, dass man dabei verflixt aufpassen muss, was die Hälfte und was nun das Doppelte ist, wenn es in diesen vermaledeiten Francs und Sous ist, oder was sie hier sonst noch für unverständliche Namen für die Münzen haben. Ständig muss man teilen und malnehmen, um es in vernünftige Pfund, Schilling und Pence umzurechnen – wobei ich wirklich nicht begreife, warum sie es nicht einfach von Anfang an richtig machen, höchstens vielleicht, um einen auf die Palme zu bringen.“

„Ich glaube, ich habe zuvor schon angemerkt, Trent, dass Sie eine Menge Ärgernisse vermeiden könnten, wenn Sie Ihre empfindliche Konstitution nicht dadurch aus dem Gleichgewicht bringen, indem Sie versuchen zu rechnen.“

Er hörte das Rascheln, das eine Bewegung verriet, und einen gedämpften Laut irgendwo links vor sich. Sein Blick glitt dorthin. Die Frau, deren gemurmelte Antworten er gehört hatte, beugte sich über eine Auslage in einem Schaukasten mit Schmuck. Der Laden war außerordentlich schlecht beleuchtet – wahrscheinlich mit Absicht, um es den Kunden schwer zu machen, zu erkennen, was sie da betrachteten. Alles, was Dain erkennen konnte, war, dass die Frau ein blaues Kleidungsstück trug und einen dieser schrecklich überladen verzierten Hüte, die derzeit so in Mode waren.

„Ich empfehle Ihnen besonders“, fuhr er fort, ohne den Blick von der Frau zu wenden, „dass Sie der Versuchung widerstehen zu rechnen, wenn Sie ein Geschenk für Ihre chère amie in Erwägung ziehen. Frauen bewegen sich in höheren mathematischen Dimensionen als Männer, vor allem wenn es um Geschenke geht.“

„Das, Bertie, rührt daher, dass das weibliche Gehirn eine höhere Entwicklungsstufe erreicht hat“, bemerkte die Frau, ohne aufzusehen. „Sie erkennt, dass die Auswahl eines Geschenkes dem Lösen einer höchst komplexen moralischen, psychologischen, ästhetischen und emotionalen Gleichung entspricht. Ich werde mich hüten, einem bloßen Mann zu empfehlen, den Versuch zu unternehmen, sich an diese empfindliche Lösung zu wagen, besonders nicht mit einer so primitiven Methode wie Rechnen.“

Einen furchtbaren Moment lang kam es Lord Dain vor, als habe jemand soeben seinen Kopf in den Abort geduckt. Sein Herz begann wie wild zu klopfen, seine Haut war mit einem Mal klamm und schweißfeucht, dann bekam er Gänsehaut – fast so wie an jenem unvergesslichen Tag in Eton vor fünfundzwanzig Jahren.

Er versuchte sich einzureden, dass sein Frühstück verdorben gewesen war. Die Butter hatte einen Stich gehabt, das musste es sein.

Es war vollkommen unvorstellbar, dass die verächtliche weibliche Antwort ihn derart aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Er konnte doch unmöglich durch die Erkenntnis erschüttert worden sein, dass dieses scharfzüngige weibliche Wesen nicht, wie er es angenommen hatte, ein leichtes Mädchen war, das Bertie in der vergangenen Nacht irgendwo aufgegabelt hatte.

Ihre Sprechweise kennzeichnete sie als Dame. Schlimmer noch – wenn es denn eine schlimmere Unterart der Spezies Mensch gab –, sie war allem Anschein nach ein Blaustrumpf. Lord Dain war nie zuvor in seinem Leben ein weibliches Wesen begegnet, das auch nur von einer Gleichung gehört hatte, geschweige denn, dass man sie löste.

Bertie näherte sich und erkundigte sich mit seinem vertraulichen Spielfeldflüstern: „Irgendeine Idee, was sie gesagt hat, Dain?“

„Ja.“

„Was war es?“

„Männer sind ignorante Esel.“

„Bist du sicher?“

„Restlos.“

Bertie stieß ein Seufzen aus und drehte sich zu der Frau um, die immer noch von dem Inhalt des Schaukastens fasziniert zu sein schien. „Du hast mir doch versprochen, meine Freunde nicht zu beleidigen, Jess.“

„Ich verstehe nicht, wie ich das hätte tun können, da ich noch keine kennengelernt habe.“

Sie schien von etwas gefesselt. Der mit Bändern und Blumen verzierte Hut neigte sich erst in die eine, dann in die andere Richtung, während sie das Stück, das sie interessierte, von allen Seiten betrachtete.

„Gut, willst du einen kennenlernen?“, fragte Trent ungeduldig. „Oder willst du weiter dort stehen und die ganze Zeit den Trödel betrachten?“

Sie richtete sich auf, wandte sich aber nicht um.

Bertie räusperte sich. „Jessica“, sagte er entschlossen, „Dain. Dain … verflixt, Jess, kannst du deinen Blick nicht mal eine Minute von dem Krempel losreißen?“

Sie drehte sich um.

„Dain – meine Schwester.“

Sie schaute auf.

Und eine Hitzewelle – rasch und heftig – erfasste Dain von seinem Scheitel bis zu den Sohlen seiner mit Champagnerpaste polierten Stiefel. Auf die Hitze folgte sogleich kalter Schweiß.

„Mylord“, sagte sie mit einem knappen Nicken.

„Miss Trent“, erwiderte er. Und dann war es ihm unmöglich, selbst wenn sein Leben davon abgehangen hätte, eine weitere Silbe von sich zu geben.

Unter dem monströsen Hut befand sich das perfekte Oval eines Gesichts mit einem makellosen hellen Porzellanteint. Dichte rußschwarze Wimpern umrahmten silbergraue Augen, die an den Enden perfekt nach oben geschwungen waren, in vollkommener Harmonie mit ihren hohen Wangenknochen. Ihre Nase war gerade und zierlich schmal, ihr Mund weich und rosa und nur ein wenig voll.

Sie war nicht klassische englische Vollkommenheit, aber unleugbar auf eine Weise vollkommen, und da er weder blind noch dumm war, erkannte Lord Dain, was er da sah.

Wenn sie eine Figur aus Sèvresporzellan gewesen wäre oder ein Ölgemälde oder ein Wandteppich, hätte er sie auf der Stelle gekauft und wegen des Preises nicht gefeilscht.

Einen wahnwitzigen Moment lang, während er unwillkürlich in Erwägung zog, sie von ihrer Alabasterstirn bis zu den Spitzen ihrer zierlichen Zehen abzulecken, überlegte er, wie hoch ihr Preis wohl wäre.

Aber aus dem Augenwinkel erhaschte er einen Blick auf sein Spiegelbild.

Sein dunkles Gesicht war hart und harsch, das Antlitz von Beelzebub selbst. In Dains Fall konnte man das Buch anhand des Einbandes treffend beurteilen, denn er war auch innerlich dunkel und hart. Seine Seele war wie Dartmoor, wo der Wind heftig blies und der Regen auf schroffe graue Felsen prasselte und wo die hübschen grünen Flecken in Wahrheit Moorlöcher waren, in denen ein Ochse versinken konnte.

Jeder mit auch nur einem halben Hirn konnte die Warnschilder lesen, die überall aufgestellt waren: „Lass alle Hoffnung fahren, Unseliger, der du hier eintrittst“ oder noch passender: „Achtung – Treibsand!“

Und ebenso unverkennbar war das Geschöpf vor ihm eine Dame, und um sie mussten keine Schilder aufgestellt werden, um ihn zu warnen. Damen waren in seinem Wörterbuch unter Pest, Seuchen und Hungersnot aufgelistet.

Mit der Rückkehr seiner Vernunft merkte Dain, dass er sie eine ganze Weile kühl gemustert haben musste, weil Bertie sich – offensichtlich gelangweilt – abgewandt hatte, um ein Paar hölzerner Soldaten zu betrachten.

Dain raffte seinen Verstand zusammen. „Waren Sie nicht an der Reihe, etwas zu sagen, Miss Trent?“, fragte er spöttisch. „Wollten Sie nicht eine Bemerkung über das Wetter machen? Ich glaube, das betrachtet man gemeinhin als richtigen – oder besser sicheren – Weg, eine Unterhaltung zu beginnen.“

„Ihre Augen“, sagte sie, und ihr Blick blieb ganz ruhig und fest, „sind tiefschwarz. Rein verstandesmäßig weiß ich, es kann nur ein sehr dunkles Braun sein. Aber die Illusion ist … überwältigend.“

Es fühlte sich an, als habe er einen Stich in die Gegend seines Zwerchfells bekommen oder in den Bauch, das konnte er nicht genau sagen.

Seine Fassung geriet nicht ins Wanken. Er hatte Selbstbeherrschung auf die harte Tour gelernt.

„Die Unterhaltung hat sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit der persönlichen Ebene zugewandt“, erwiderte er gedehnt. „Sie sind von meinen Augen fasziniert.“

„Ich kann nichts dagegen tun“, sagte sie. „Sie sind außergewöhnlich. So völlig schwarz. Aber ich möchte Sie nicht in Verlegenheit bringen.“

Mit einem leisen Lächeln drehte sie sich wieder zu dem Schaukasten um.

Dain war sich nicht sicher, was genau mit ihr nicht stimmte, aber er zweifelte nicht daran, dass es etwas war. Er war Lord Beelzebub, oder etwa nicht? Sie müsste in Ohnmacht sinken oder sich wenigstens in Entsetzen von ihm wenden. Doch sie hatte ihn kühn angeschaut, und einen Moment lang hatte es so ausgesehen, als flirte sie mit ihm.

Er entschied sich zu gehen. Er konnte ebenso gut vor der Tür mit seiner Unentschiedenheit ringen. Er war schon auf dem Weg zum Ausgang, als Bertie sich umdrehte und ihm nacheilte.

„Sie sind leicht davongekommen“, flüsterte Trent laut genug, um noch bei Notre Dame gehört zu werden. „Ich war sicher, sie würde Sie zerfleischen – und das tut sie auch, wenn sie dazu aufgelegt ist, und es ist ihr völlig egal, wer es ist. Nicht, dass Sie mit ihr nicht fertigwerden könnten, aber von ihr bekommt man Kopfschmerzen, und wenn Sie mit dem Gedanken spielen sollten, einen trinken …“

„Champtois hat eine neue mechanische Puppe bekommen, die Sie faszinierend finden werden“, teilte Dain ihm mit. „Warum bitten Sie ihn nicht, dass er sie für Sie aufzieht, damit Sie ihr zusehen können?“

Berties fast quadratisches Gesicht hellte sich entzückt auf. „Eine von diesen … Wie nennen Sie sie noch mal? Ehrlich? Was macht sie?“

„Warum gehen Sie nicht und sehen Sie selbst?“, schlug Dain vor.

Bertie trollte sich zu dem Ladenbesitzer und begann unverzüglich in einem Französisch auf den armen Mann einzureden, das jeder rechtschaffene Pariser als hinreichenden Grund zum Selbstmord betrachtet hätte.

Nachdem er Bertie von der offenkundigen Absicht abgebracht hatte, ihm zu folgen, musste Lord Dain nur noch wenige Schritte tun, um aus der Tür zu treten. Aber sein Blick wanderte zu Miss Trent, die wieder in die Betrachtung von etwas versunken war, das sich in dem Schmuckschaukasten befand, und von Neugier fast zerfressen zögerte er.

2. KAPITEL

Über dem Surren und Klicken der mechanischen Puppe hörte Jessica den Marquess zögern, so klar und deutlich wie das Trompetensignal zu Beginn einer Schlacht. Dann marschierte er los. Kühne, arrogante Schritte. Er hatte sich entschieden und kam mit schwerer Artillerie.

Dain ist selbst schwere Artillerie, dachte sie. Nichts, was ihr Bertie oder sonst wer über ihn hätte sagen können, hätte sie darauf vorbereiten können. Kohlrabenschwarzes Haar und kühne schwarze Augen und eine verwegene Eroberernase und ein verboten sinnlicher Mund – das Gesicht allein reichte, um ihm die direkte Abstammung von Luzifer nachzuweisen, wie Withers es behauptet hatte.

Und was den Körper anging …

Bertie hatte ihr gesagt, Dain sei ein sehr großer Mann. Sie hatte halb mit einem Gorilla gerechnet. Sie war hingegen nicht auf einen Hengst gefasst gewesen: groß und herrlich proportioniert – und mit mächtigen Muskeln versehen, wenn das, was sich unter seinen eng sitzenden Hosen abzeichnete, als Hinweis taugte. Sie hätte gar nicht dort hinsehen dürfen, auch wenn es nur ein ganz flüchtiger Blick gewesen war, aber ein Körperbau wie seiner forderte Aufmerksamkeit und lenkte sie auf sich … überallhin. Nach diesem wenig damenhaften Moment hatte sie jedes Quäntchen ihres sturen Willens zusammennehmen müssen, um den Blick auf sein Gesicht zu richten. Selbst das war ihr nur gelungen, weil sie Angst hatte, dass sie anderenfalls auch noch den winzigen Rest, der von ihrem Verstand übrig war, einbüßen und etwas ganz Entsetzliches tun könnte.

„Nun denn, Miss Trent“, erklang seine tiefe Stimme von irgendwo eine Meile oberhalb ihrer rechten Schulter. „Sie haben meine Neugier geweckt. Was zum Teufel haben Sie hier gefunden, das Sie derart fesselt?“

Sein Kopf mochte sich eine Meile über ihr befinden, aber der Rest seines harten Körpers war unanständig nah. Sie konnte die Zigarre riechen, die er vor Kurzem geraucht haben musste, und ein edles – und bestimmt unverschämt teures – maskulines Rasierwasser. Ihr Körper begann wieder mit dem langsamen Simmern, das sie zum ersten Mal vor wenigen Minuten erlebt und von dem sie sich noch nicht restlos wieder erholt hatte.

Ich werde ein langes Gespräch mit Genevieve führen müssen, sagte sie sich. Diese Gefühle und Empfindungen konnten unmöglich das sein, was sie Jessicas Vermutung nach wohl waren.

„Die Uhr“, antwortete sie beherrscht. „Die mit dem Bild der Frau in dem rosa Kleid.“

Er beugte sich vor, um in die Auslage zu spähen. „Sie steht unter einem Baum? Meinen Sie die?“

Er legte seine in einem teuren Lederhandschuh steckende linke Hand auf den Schaukasten, und ihr wurde der Mund ganz trocken. Es war eine sehr große, kräftige Hand. Sie war sich des Umstandes deutlich bewusst, dass er sie mit einer Hand hochheben konnte.

„Ja“, sagte sie und widerstand dem Drang, sich die trockenen Lippen zu lecken.

„Sie würden sie sich gerne genauer ansehen, kann ich mir vorstellen“, bemerkte er.

Er streckte eine Hand aus, nahm einen Schlüssel von einem Nagel an der Wand, ging hinter den Schaukasten und sperrte ihn auf, nahm die Uhr heraus.

Champtois konnte diese Kühnheit nicht entgangen sein. Er verlor keine Silbe darüber. Jessica blickte zu ihm. Er schien tief ins Gespräch mit Bertie vertieft. Wobei „schien“ das entscheidende Wort hier war. Was man gemeinhin unter Gespräch verstand, lag mit Bertie kaum im Bereich des Möglichen. Und ins Gespräch vertieft – zudem auf Französisch – stand außer Frage.

„Vielleicht sollte ich Ihnen besser vorführen, wie die Uhr funktioniert“, sagte Dain und lenkte damit ihre Aufmerksamkeit auf sich zurück.

In seiner tiefen Stimme erkannte sie einen allzu unschuldigen Unterton, der unweigerlich einem typisch idiotischen Männerwitz vorausging. Sie hätte ihm erklären können, dass sie, da sie nicht erst gestern geboren war, sehr wohl wusste, wie die Uhr funktionierte. Aber das Glitzern in seinen schwarzen Augen verriet ihr, dass er seinen Spaß hatte, und den wollte sie ihm nicht verderben. Jetzt noch nicht.

„Wie freundlich von Ihnen“, murmelte sie.

„Wenn Sie diesen Knopf betätigen“, sagte er und zeigte es ihr, „teilen sich, wie Sie sehen, ihre Röcke, und dort, zwischen ihren Beinen befindet sich ein …“ Er tat so, als schaue er genauer hin. „Gütiger Himmel, wie schockierend. Ich glaube, da kniet jemand.“ Er hielt ihr die Uhr dichter vors Gesicht.

„Ich bin nicht kurzsichtig, Mylord“, erwiderte sie und nahm ihm die Uhr ab. „Sie haben recht. Da ist jemand, ein Mann – und offenkundig ihr Liebhaber, denn er scheint ihr einen Liebesdienst zu erweisen.“

Sie öffnete ihr Retikül und holte ein kleines Vergrößerungsglas heraus, unterzog die Uhr einer eingehenden Musterung, während sie sich bewusst war, dass sie selbst auf ähnliche Weise gemustert wurde.

„Etwas von der Emaille an der Perücke des Herrn ist abgeplatzt, und auf der linken Seite des Rocks der Dame befindet sich ein winziger Kratzer“, stellte sie fest. „Davon abgesehen würde ich sagen, dass die Uhr sich in einem ausgezeichneten Zustand befindet, berücksichtigt man ihr Alter, auch wenn ich ernsthaft bezweifle, dass sie die korrekte Uhrzeit anzeigen wird. Schließlich ist es keine Breguet.“

Sie steckte das Vergrößerungsglas wieder weg und schaute ihn an. „Was, glauben Sie, wird Champtois dafür verlangen?“

„Sie möchten sie kaufen, Miss Trent?“, fragte er. „Ich bezweifle sehr, dass Ihre Familie diesen Kauf billigen wird. Oder hat sich die englische Ansicht zu Anstandsregeln, während ich fort war, drastisch geändert?“

„Oh, sie ist nicht für mich“, erklärte sie. „Sie ist für meine Großmutter.“

Sie musste es ihm lassen, er zuckte mit keiner Wimper.

„Ach so, dann ist ja gut“, sagte er. „Das ist natürlich etwas völlig anderes.“

„Zu ihrem Geburtstag“, erklärte Jessica. „Jetzt, wenn Sie mir verzeihen wollen, sollte ich besser Bertie aus seinen Verhandlungen erlösen. Sein Tonfall verrät mir, dass er zu rechnen versucht, und wie Sie so scharfsinnig festgestellt haben, bekommt ihm das gar nicht.“

Ich könnte sie mit einer Hand hochheben, überlegte Dain, während er ihr nachschaute, wie sie durch den Laden schlenderte. Ihr Kopf reichte kaum bis zu seinem Schlüsselbein, und selbst mit dem überladenen Hut konnte sie unmöglich mehr als hundert Pfund wiegen.

Er war es gewöhnt, Frauen zu überragen – so gut wie alle – und er hatte gelernt, sich in seinem übergroßen Körper wohlzufühlen. Sport – Boxen und vor allem Fechten – hatte ihn gelehrt, sich leichtfüßig zu bewegen.

Neben ihr war er sich wie ein großer Trottel vorgekommen. Ein riesiger, hässlicher, dummer Trottel. Sie hatte sehr gut gewusst, was für eine verfluchte Sorte Uhr das war. Die Frage lautete, zu was für einer verfluchten Sorte Frau sie gehörte. Die Kleine hatte ihm geradewegs in das Schurkengesicht geschaut und nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Er hatte viel zu dicht vor ihr gestanden, und sie war nicht zurückgewichen.

Dann hatte sie zu allem Überfluss auch noch ein Vergrößerungsglas hervorgeholt und den anstößigen Zeitmesser so ungerührt betrachtet, als handele es sich um eine seltene Ausgabe von Foxes Buch über die Märtyrer.

Er wünschte sich jetzt, er hätte Trents Äußerungen über seine Schwester mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Das Problem war nur, wenn man irgendetwas, das Bertie Trent von sich gab, Aufmerksamkeit schenkte, würde man unweigerlich binnen kürzester Zeit verrückt werden.

Lord Dain hatte den Gedanken kaum beendet, als Bertie ausrief: „Nein. Auf keinen Fall. Du ermutigst sie nur, Jess. Das lasse ich nicht zu. Sie werden es ihr nicht verkaufen, Champtois.“

„Doch, das werden Sie, Champtois“, erwiderte Miss Trent in ausgezeichnetem Französisch. „Es ist nicht nötig, auf meinen kleinen Bruder zu achten. Er hat keinerlei Recht, über mich zu bestimmen.“ Freundlicherweise übersetzte sie das für ihren Bruder, dessen Gesicht sich leuchtend rot verfärbte.

„Ich bin nicht klein! Und ich bin das Oberhaupt dieser verflixten Familie. Und ich …“

„Geh und spiel mit dem Trommler, Bertie“, sagte sie. „Oder noch besser, warum nimmst du nicht deinen reizenden Freund mit und gehst etwas mit ihm trinken?“

„Jess.“ Berties Stimme nahm einen verzweifelt flehenden Tonfall an. „Du weißt genau, sie wird es herumzeigen und … und mir ist das peinlich.“

„Himmel, was für ein pingeliger Schnösel du geworden bist, seit du England verlassen hast.“

Berties Augen drohten ihm aus dem Kopf zu treten. „Ein was?“

„Ein pingeliger Schnösel, Lieber. Pingelig und prüde obendrein. Ein richtiger Methodist.“

Bertie gab ein paar schlecht verständliche Geräusche von sich, dann drehte er sich zu Dain um, der inzwischen jeglichen Gedanken daran, den Laden zu verlassen, aufgegeben hatte. Er lehnte sich gegen den Schaukasten und beobachtete Bertie Trents Schwester mit grüblerischer Faszination.

„Haben Sie das gehört, Dain?“, wollte Bertie wissen. „Haben Sie gehört, was das grässliche Mädchen gesagt hat?“

„Ich konnte es nicht überhören“, erwiderte Dain. „Ich habe aufmerksam zugehört.“

„Ich!“ Bertie bohrte sich den Daumen in die Brust. „Pingelig.“

„In der Tat, es ist wahrhaft schockierend. Ich werde genötigt sein, unsere Bekanntschaft aufzukündigen. Ich darf nicht zulassen, dass ich durch tugendhafte Gefährten korrumpiert werde.“

„Aber Dain, ich …“

„Dein Freund hat recht, Lieber“, sagte Miss Trent. „Wenn das bekannt werden sollte, kann er es nicht riskieren, in deiner Gesellschaft gesehen zu werden. Sein Ruf wäre ruiniert.“

„Ah, Sie sind mit meinem Ruf vertraut, Miss Trent?“, erkundigte sich Dain.

„Oh ja. Sie sind der verderbteste Mann, der je gelebt hat. Sie verspeisen kleine Kinder zum Frühstück, wie die Kindermädchen es ihren Schützlingen erzählen, wenn sie ungehorsam sind.“

„Aber Sie sind nicht im Geringsten beunruhigt.“

„Es ist nicht Frühstückszeit, und ich bin bestimmt kein kleines Kind mehr. Allerdings kann ich nachvollziehen, wenn Sie, angesichts Ihres erhöhten Aussichtspunktes, mich mit einem verwechseln könnten.“

Lord Dain musterte sie von oben bis unten. „Nein, ich denke nicht, dass mir dieser Fehler unterläuft.“

„Ich glaube nicht, nachdem Sie mit angehört haben, wie sie einen herunterputzt und beleidigt“, warf Bertie ein.

„Auf der anderen Seite, Miss Trent“, fuhr Dain fort, gerade so, als existiere Bertie gar nicht – was in einer Welt, in der alles mit rechten Dingen zuging, auch nicht der Fall wäre – „wenn Sie unartig sind, könnte ich natürlich versucht sein …“

„Qu’est-ce que c’est, Champtois?“, fragte Miss Trent. Sie ging an dem Verkaufstresen entlang zu dem Tablett mit Waren, die Dain sich angesehen hatte, als sie und ihr Bruder hereingekommen waren.

„Rien, rien.“ Champtois legte seine Hand schützend über das Tablett. Er schaute Dain nervös an. „Pas intéressante.“

Sie blickte in die gleiche Richtung. „Ihr Einkauf, Mylord?“

„Nein, nichts dabei“, erwiderte Dain. „Ich war einen Moment lang an dem silbernen Tintenfass interessiert, das, wie Sie sicher erkennen, der einzige Gegenstand darauf ist, der einen zweiten Blick verdient.“

Es war nicht das Tintenfass, das sie nahm und unter ihrem Vergrößerungsglas betrachtete, sondern das kleine staubige Bild mit dem dicken, halb vermoderten Rahmen.

„Es scheint das Porträt einer Frau zu sein“, sagte sie.

Dain löste sich von dem Schaukasten mit dem Schmuck und stellte sich neben sie an den Tresen. „Ah ja, Champtois hat behauptet, es sei ein menschliches Abbild. Sie werden sich die Handschuhe beschmutzen, Miss Trent.“

Bertie näherte sich schmollend. „Es riecht wie … ich weiß nicht was.“ Er schnitt eine Grimasse.

„Weil es gammelt“, bemerkte Dain.

„Das liegt daran, dass es ziemlich alt ist“, stellte Miss Trent fest.

„Hat vermutlich eher die letzten zehn Jahre in der Gosse gelegen“, versetzte Dain.

„Sie hat einen interessanten Gesichtsausdruck“, teilte Miss Trent Champtois auf Französisch mit. „Ich kann nicht entscheiden, ob es traurig oder glücklich ist. Was wollen Sie dafür?“

„Quarante sous.“

Sie legte es zurück.

Autor

Loretta Chase
Loretta Chase wuchs in Neu-England auf und machte zunächst was Sprache und Schreiben angeht nicht nur freudvolle Erfahrungen, denn in der Schule wurde sie in Rechtsschreibung und Grammatik richtiggehend gedrillt. Trotzdem – oder gerade deshalb? - studierte sie nach der Schule Literatur an der berühmten Clark University. Sie schrieb damals...
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