Ginas kleines Geheimnis

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Der neue Patient mit Amnesie heißt Marco Andretti! Schwester Ginas Herz bleibt fast stehen, als sie die Akte liest. Weihnachten vor drei Jahren hatte sie in Florenz eine heiße Affäre mit dem sexy Arzt. Doch plötzlich machte er Schluss - und sie erwartete sein Baby …


  • Erscheinungstag 15.12.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733745288
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

11. Dezember, 16 Uhr

„Die Aufnahme hat gerade angerufen. Rate mal, was die wollten.“

Seufzend sah Schwester Georgina Lee von ihrem Computer auf. „Sag bloß nicht, sie brauchen noch ein Bett!“

„Die Antwort ist richtig!“ Rosie James, die Schwesternschülerin, grinste. „Sie dürfen sich Ihren Gewinn an der Pforte abholen.“

„Gerne, wenn ich die Zeit dafür hätte.“ Mit müden Augen wandte sich Gina wieder dem Monitor zu. „Das ist jetzt mein dritter Anlauf, dieses Bestellformular auszufüllen. Wenn das so weitergeht, haben wir bald nicht einmal mehr eine Mullbinde auf unserer Station.“

„Ja, heute ist mal wieder die Hölle los“, pflichtete Rosie ihr bei. „Dabei hatte ich mir den Job auf der Akutambulanz viel ruhiger vorgestellt. Ich dachte, dass die Patienten bei uns ein paar Stunden verbringen, damit wir sie durchchecken, und dann entweder stationär aufgenommen oder nach Hause geschickt werden.“

„Tja, dem Irrtum bin ich anfangs auch aufgesessen.“ Gina lachte. „Doch inzwischen liebe ich die abwechslungsreiche Arbeit hier. Sie hält einen auf Trab.“

„Das ganz bestimmt. Aber ich weiß nicht, ob ich mit dem Stress auf lange Sicht klarkomme“, gestand Rosie.

„Ach, daran gewöhnt man sich“, erwiderte Gina freundlich, um die junge Frau nicht zu entmutigen, und stand auf. „Aber jetzt sollten wir zusehen, dass wir ein Bett freimachen. Mr Walker soll auf die Kardiologie verlegt werden. Vielleicht können wir die Kollegen dort überreden, ihn etwas früher als geplant aufzunehmen.“

Gina ging voraus und schaute auf dem Weg kurz ins Stationszimmer, um die anderen Schwestern über den Neuzugang zu informieren. „Ich weiß, wir platzen aus allen Nähten“, sagte sie und lächelte, als ihre Freundin Julie Grey laut aufstöhnte. „Demnächst werden wir die Patienten noch in unserem Aufenthaltsraum unterbringen müssen.“

„Prima, und wir trinken unseren Kaffee dann auf dem Flur“, murmelte Julie.

„So weit wird es hoffentlich nicht kommen“, meinte Gina und setzte ihren Weg fort. Sie wollte noch kurz ein paar Worte mit Frank Walker wechseln. Er war gegen Mittag mit Brustschmerzen eingeliefert worden. Bei den folgenden Untersuchungen wurde eine Verstopfung von drei Herzkranzgefäßen festgestellt, die eine Bypass-Operation notwendig machte. Mit einem aufmunternden Lächeln trat Gina an sein Bett.

„Wie geht es Ihnen jetzt, Mr Walker?“

„So lala. Dank der Medikamente haben die Schmerzen ein wenig nachgelassen.“ Er seufzte. „Bin ja selbst schuld daran. Meine Frau drängt mich schon seit Jahren, mit dem Rauchen aufzuhören und mich gesünder zu ernähren.“

„Ja, es ist nicht immer leicht, einen gut gemeinten Rat anzunehmen“, erwiderte Gina taktvoll. „Aber Sie werden sehen, nach dieser Operation fühlen Sie sich gleich viel wohler.“

„Glauben Sie?“ Frank wirkte besorgt. „Dieser junge Arzt, der mich vorhin untersuchte, hat die Operation zwar als Kleinigkeit abgetan, aber trotzdem macht man sich doch Sorgen, oder? Ich meine, dabei wird ja schließlich das Herz angehalten und alles.“

„Ja, das ist richtig. Aber Sie werden an eine Maschine angeschlossen, die die Aufgaben des Herzens und der Lunge übernimmt“, erklärte Gina und wünschte sich nicht zum ersten Mal, dass Miles Humphreys etwas einfühlsamer mit seinen Patienten umginge. Für ihn mochte so eine OP reine Routine sein, nicht aber für die Betroffenen.

„Dann glauben Sie also auch, dass dieser Eingriff nicht gefährlich ist, Schwester? Sollte ich mich wirklich operieren lassen?“

„Unbedingt. Es ist zwar eine größere Operation, doch wir führen sie beinahe täglich durch. Und ich kann Ihnen versichern, dass die Herzchirurgen hier am St Saviour´s bestens dafür ausgebildet sind.“ Sie tätschelte Franks Hand. „Alles wird gut, das verspreche ich Ihnen. Wir werden Sie jetzt gleich auf die Kardiologie verlegen.“

„Ich danke Ihnen.“ Frank lächelte Gina an. „Jetzt geht es mir schon viel besser. Schade nur, dass dieser junge Arzt sich nicht wie Sie die Zeit genommen hat, meine Ängste zu zerstreuen. Vielleicht könnten Sie ihm bei Gelegenheit ein paar Tipps geben, wie man Patienten beruhigt.“

Gina lächelte, erwiderte aber nichts. Mit Miles zu reden war etwas, was sie nach Möglichkeit vermied. Seit dem Tag, als er sich mit ihr verabreden wollte und sie ihm einen Korb gegeben hatte, herrschte Eiszeit zwischen ihnen. Wenn er doch nur verstehen könnte, dass sie es nicht persönlich gemeint hatte.

Gina schüttelte den Kopf, als sie zum Telefon ging, um auf der Kardiologie anzurufen. Die Wahrheit war, dass sie weder an Miles noch an irgendeinem anderen Mann interessiert war. Sie hatte einmal mit einer Liebe Schiffbruch erlitten, und das wollte sie kein zweites Mal riskieren … Nicht, wenn die Möglichkeit bestand, dass Lily darunter zu leiden hätte. Im Augenblick hatte Gina nur einen Wunsch, nämlich dass ihre zweijährige Tochter glücklich und zufrieden aufwachsen konnte. Für eine Beziehung war in ihrem Leben darum kein Platz.

Gina saß wieder an ihrem Computer, um endlich die Bestellungen abzuschicken, als sie hörte, wie die Pfleger die Bahre mit dem angekündigten Patienten hereinrollten und Julie sie zu dem gerade frei gewordenen Platz dirigierte. Seufzend stand Gina auf, um nach dem neuen Patienten zu sehen.

„Und, wen haben wir hier?“, fragte sie und nahm die Krankenakte zur Hand, die am Fußende des Betts in einer Halterung steckte. Sie überflog die Daten. Name: Marco Andretti. Alter: 37. Adresse: Villa Rosa, Florenz, Italien. Im ersten Moment registrierte sie die Angaben ganz routinemäßig, doch dann begann ihr Herz wie verrückt zu schlagen.

Das gibt es doch gar nicht! Das kann doch nicht Marco sein!

Oder doch?

Gina wappnete sich mit einem tiefen Atemzug, ehe sie sich den Mann genauer ansah. Seine Augen waren geschlossen, und die rechte Seite seines Kopfes wurde von einem dicken Verband verdeckt, doch noch während sie den olivfarbenen Teint, die schmale Nase, die markanten Wangenknochen und die sinnlich geschwungenen Lippen registrierte, wusste sie es …

Gina spürte, wie eine Welle der Panik sie überrollte. Das war Marco. Daran bestand nicht der geringste Zweifel!

„Gina? He, du. Alles klar?“

Gina zuckte zusammen, als Julie sie am Arm berührte. „Ich … mir ist … nur ein bisschen schwindlig. Wahrscheinlich vor Hunger.“

„Ja, weil du wieder einmal ohne Pause durchgearbeitet hast.“ Julie wedelte mit der Hand. „Geh, verschwinde und mach dir eine Tasse Kaffee. Wir kommen hier schon allein zurecht. Nicht wahr, Rosie?“

„Na schön, wenn ihr meint …“ Gina wandte sich ab, als die ältere Schwester nachdrücklich nickte. Normalerweise wäre es ihr nicht im Traum eingefallen, sich vor der Aufnahme eines Patienten zu drücken, aber das hier war schließlich keine normale Situation, oder? Auf dem Weg zum Stationszimmer stieg ihr ein hysterisches Lachen die Kehle hoch. Sie presste sich eine Hand auf den Mund, schluckte die Panik hinunter und war froh, dass der Raum leer war. Schnell stellte sie den Wasserkocher an und sank dann auf den nächstbesten Stuhl.

Welche Laune des Schicksals hatte Marco ausgerechnet in dieses Krankenhaus verschlagen, fragte sie sich verwundert. Weihnachten würde es drei Jahre her sein, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte. Drei ganze Jahre, seit er ihr erklärt hatte, dass er sich mit ihr keine gemeinsame Zukunft vorstellen könne. Sein Gesichtsausdruck war dabei so kalt gewesen, dass sie selbst kein Wort über die Lippen gebracht hatte. Warum hätte sie auch versuchen sollen, ihn davon zu überzeugen, dass sie etwas ganz Besonderes verband, etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnte, wenn er anders fühlte? Sie konnte ihn ja nicht zwingen, sie zu lieben. Und um seine Liebe zu betteln, dazu war sie zu stolz gewesen. Also hatte sie seine Entscheidung akzeptiert und war gegangen.

Gina wurde das Herz schwer, als sie sich an diese schreckliche Zeit erinnerte. Anfangs hatte sie noch gehofft, dass er sie mehr vermissen würde, als er vermutet hätte, doch als die Wochen verstrichen, ohne dass er sich bei ihr meldete, musste sie einsehen, wie töricht ihre Hoffnung gewesen war. Marco hatte vielleicht den Sex mit ihr genossen und eine Weile Spaß daran gehabt, seine Zeit mit ihr zu verbringen, doch an einer ernsthaften Beziehung war er nie interessiert gewesen.

Die Trennung war für Gina sehr schmerzhaft gewesen, andererseits hatte sie ihr die Entscheidung erleichtert, was sie nach Lilys Geburt zu tun hatte. Doch jetzt war Marco hier … Gina wusste, dass dieses unerwartete Wiedersehen Konsequenzen haben würde. Marco war Lilys Vater. Er hatte eine Tochter, von der er nichts wusste.

2. KAPITEL

„So, alles klar. Gleich kommt ein Neurologe. Hallo … Erde an Gina, kannst du mich hören?“

„Was?“ Gina war so damit beschäftigt, gegen ihre Panik anzukämpfen, dass sie Julie gar nicht kommen gehört hatte. „Sorry, ich war in Gedanken.“ Rasch löffelte sie löslichen Kaffee in zwei Becher, goss heißes Wasser dazu und griff dann nach der Zuckerdose. Die vertraute Routine beruhigte sie ein wenig. Ja, benimm dich einfach ganz normal, dann merkt Marco nicht, dass du ein Geheimnis vor ihm hast, dachte sie. Eigentlich gab es ja keinen Grund, ihm etwas von Lily zu erzählen.

„Lass mich das lieber machen, Gina. Ich trinke meinen Kaffee ja gerne süß, aber drei Löffel Zucker sind doch etwas üppig.“ Julie drängte Gina beiseite und kippte das Gebräu in den Ausguss. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben, dass dich der Anblick unseres Neuzugangs völlig aus der Bahn geworfen hat.“

„Blödsinn.“ Gina tat Julies Bemerkung mit einer Handbewegung ab. Das Letzte, was sie jetzt brauchte, waren Kolleginnen, die wilde Spekulationen über ihren Gemütszustand anstellten. „Ich sagte doch, dass mir vor Hunger ganz flau im Magen ist.“

„Ich habe noch ein paar Sandwichs übrig.“ Julie drückte Gina eine Plastikbox in die Hand. „Bedien dich.“

„Danke.“ Gina musste sich zwingen, in eine der dick belegten Schnitten zu beißen. Wenn sie etwas nicht hatte, dann Hunger. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Würde es ihr gelingen, Lilys Existenz vor Marco geheim zu halten? Da er bestimmt nur kurz auf der Akutambulanz blieb, ehe man ihn auf eine andere Station oder in ein anderes Krankenhaus verlegen würde, sah sie keine Notwendigkeit, ihre gemeinsame Tochter anzusprechen.

Ein wehmütiges Gefühl durchfuhr sie. Ihre Tochter, das Kind, das sie gemeinsam gezeugt hatten. Sie hatte damals wirklich geglaubt, dass sie sich liebten, doch für Marco war es anscheinend nur purer Sex gewesen.

„So ein Fall ist mir noch nie untergekommen“, sagte Julie.

Wieder war Gina mit ihren Gedanken ganz woanders gewesen. „Was meinst du damit?“

„Amnesie. Hoffentlich kann er sich bald wieder erinnern. Es muss schrecklich sein, nicht zu wissen, wer man ist.“

„Sprichst du von Marco?“, fragte Gina und wurde knallrot, als sie Julies erstaunten Blick bemerkte. „So heißt er doch, oder?“, setzte sie schnell hinzu. „Das stand doch in seiner Krankenakte.“

„Ja, stimmt. Dr. Marco Andretti. Er ist Arzt, genauer gesagt, Unfallchirurg. Ob ihm das in seiner jetzigen Lage hilft, weiß ich allerdings nicht.“

„Ich auch nicht“, murmelte Gina, die angestrengt versuchte, Julies Worten zu folgen. „Hat er wirklich sein Gedächtnis verloren?“

„Sieht so aus. Jedenfalls hatte er beim Eintreffen des Notarztes an der Unfallstelle keine Ahnung, wer er ist oder wo er hinwollte. Fest steht nur, dass er auf dem Weg vom Flughafen Heathrow einen schweren Autounfall hatte.“

„Wie haben sie dann seinen Namen herausgefunden?“

„Einer der Sanitäter hat in seiner Jackentasche seinen Reisepass gefunden. Und einen Brief, in dem ihm der Termin für ein Vorstellungsgespräch für den Posten des Chefarztes der Unfallchirurgie am Southern Free bestätigt wird. Er muss ganz schön was draufhaben, wenn ihm so eine Stelle angeboten wird.“ Julie schnitt eine Grimasse. „Der arme Kerl. Ganz allein in einem fremden Land, und er hat nicht die leiseste Ahnung, wer er ist.“

„Und was passiert jetzt mit ihm?“ Gina schwirrte der Kopf. Marco war zu einem Vorstellungstermin nach London gekommen? Sie hätte sich nie vorstellen können, dass er Italien verlassen würde. Die Nachricht brachte sie so durcheinander, dass sie sich nur mit Mühe auf Julies nächste Worte konzentrieren konnte.

„Die Polizei wird versuchen, seine Familie zu kontaktieren. Ich nehme mal an, dass er verheiratet ist. Oder kannst du dir vorstellen, dass so ein Prachtexemplar von Mann noch zu haben ist? Hoffentlich kann seine Frau es einrichten, hierher zu kommen, um ihm beizustehen. Denn eines ist sicher, er wird eine Menge Unterstützung brauchen, bis sein Gedächtnis wieder funktioniert.“

Nachdem Julie gegangen war, stand Gina auf und spähte quer über den Flur zu Marcos Bett hin. Er hatte also sein Gedächtnis verloren? Er wusste nicht, wer er war, wusste nichts mehr von seinem Leben? Gina hatte noch nie einen Amnesie-Patienten auf ihrer Station gehabt. Würde er sich an sie erinnern?

Ihr Herz begann zu rasen. Einerseits wäre es so viel einfacher, wenn er sie vergessen hätte, andererseits jedoch konnte sie den Gedanken nicht ertragen, dass diese wenigen Wochen, die sie zusammen verbracht hatten, für immer aus seinem Gedächtnis gelöscht sein könnten. Und obwohl sie wusste, dass es verrückt war, musste sie es herausfinden.

Sie schloss die Tür des Schwesternzimmers hinter sich und ging zurück auf die Station. Dort war es inzwischen ruhiger geworden, nachdem die frisch eingelieferten Patienten sich damit abgefunden hatten, dass sie im Krankenhaus lagen. Es gab freie Besuchszeiten, und um die Krankenbetten scharten sich Freunde und Verwandte, aber auch die hatten sich beruhigt. Es war immer ein Schock für die Angehörigen, wenn ein geliebter Mensch ins Krankenhaus eingewiesen wurde, und die Besucher reagierten ganz unterschiedlich auf diesen Stress.

Gina hatte gelernt, mit all diesen Emotionen umzugehen, mit der Wut, der Angst, den Fragen. Nur selten brachte sie etwas aus der Fassung, doch jetzt musste sie sich eingestehen, dass ihre Nerven flatterten, als sie Marcos Bett erreichte. Er hatte die Augen immer noch geschlossen und schien sie nicht zu bemerken, als sie neben seinem Bett stehen blieb und ihn betrachtete. Er war immer noch so attraktiv, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Sein Körper unter dem weißen Laken sah so schlank und fit aus wie eh und je, seine Haut hatte eine gesunde Bräune, sein dichtes dunkles Haar glänzte. Nur die vereinzelten grauen Strähnen an seinen Schläfen zeigten, dass ein paar Jahre vergangen waren.

Gina wurde das Herz schwer, als die Erinnerungen über sie hereinbrachen. Ganz gleich, was Marco vor drei Jahren gesagt oder getan, wie sehr er sie auch verletzt hatte, sie fühlte sich immer noch zu ihm hingezogen!

Marco hatte unerträgliche Kopfschmerzen. Er wusste, dass es Folgen des Unfalls waren. Der Notarzt hatte ihm erzählt, dass der Wagen, in dem er gesessen hatte, mit einem entgegenkommenden Lastwagen zusammengestoßen war. Dabei war er vermutlich mit dem Kopf gegen einen Türholm geprallt und hatte sich eine Gehirnerschütterung zugezogen. Gut, das erklärte die dröhnenden Kopfschmerzen, aber erklärte es auch, warum er sich nicht erinnern konnte, wer er war oder wohin er unterwegs gewesen war?

Langsam öffnete er die Augen. Er wollte sich aufsetzen, doch plötzlich drehte sich alles. Er atmete ein paar Mal tief durch, um gegen die Übelkeit anzukämpfen, und sah sich dann zaghaft um. Weiße Wände, blaue Vorhänge, der vertraute Geruch nach Desinfektionsmittel … Er befand sich in einem Krankenhaus. Gut, jetzt wusste er wenigstens, wo er war. Und auch, dass dieser Ort ihm sehr vertraut vorkam. Aber warum?

War er kürzlich so krank gewesen, dass er längere Zeit im Krankenhaus verbracht hatte? Nein, das glaubte er nicht. Abgesehen von den Kopfschmerzen fühlte er sich nicht schlecht, nicht wie jemand, der sich gerade von einer schweren Krankheit erholt hatte. Wenn er also kein Patient gewesen war, hatte er dann in einem Krankenhaus gearbeitet?

Diese Möglichkeit erschien ihm logischer. Er schloss wieder die Augen und dachte darüber nach. Ja, er arbeitete im Krankenhaus. Instinktiv wusste er, dass es stimmte. Und dennoch fühlte es sich seltsam an, hier zu sein. Was aber nichts damit zu tun hatte, dass er normalerweise nicht in einem Krankenbett lag …

Es waren die Stimmen, erkannte er plötzlich. Oder genauer gesagt, dass sie Englisch sprachen. Und obwohl er verstand, was gesagt wurde, wusste er, dass Englisch nicht seine Muttersprache war. Aber welche war es dann?

„Dr. Andretti. Können Sie mich hören?“

Marco schlug die Augen auf und sah eine Schwester neben seinem Bett stehen. Sie war blond, zierlich und trug das Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Irgendetwas regte sich bei ihrem Anblick in ihm, eine Art Wiedererkennen. Er hatte das merkwürdige Gefühl, diese Frau schon einmal gesehen zu haben. Aber ehe er noch weiter darüber nachdenken konnte, sprach sie ihn erneut an.

„Wie geht es Ihnen?“

Ihre sanfte, ein wenig raue Stimme ging ihm durch und durch. Der angenehme Klang war Balsam für seine angespannten Nerven, und tatsächlich verspürte er zum ersten Mal, seit er in dem Ambulanzwagen das Bewusstsein wiedererlangt hatte, keine Angst.

„Weiß nicht so recht“, krächzte er mühsam. Sein Mund war völlig ausgetrocknet. Der Schwester musste es aufgefallen sein, denn sie füllte ein Glas mit Wasser, hob seinen Kopf ein wenig an und hielt ihm das Glas an die Lippen.

„Hier, trinken Sie.“

Marco schluckte gierig und verzog das Gesicht, als die Schwester das Glas viel zu schnell wieder wegnahm. „Langsam. Wenn Sie zu viel auf einmal trinken, kann Ihnen übel werden“, erklärte sie mit einem mitfühlenden Lächeln.

Als sie seinen Kopf sanft zurück auf das Kissen sinken ließ, spürte Marco eine seltsame Enttäuschung, die nichts damit zu tun hatte, dass sie ihn nicht mehr trinken ließ. Warum fühlte sich ihre Berührung nur so gut an?

Er beobachtete sie, als sie das Glas auf dem Nachttisch abstellte, betrachtete den sanften Schwung ihrer Wangen, die langen Wimpern, die kleine, schmale Nase. Sie war sehr hübsch, auf eine englische Art mit ihrem feinen, blassen Teint und den edlen Gesichtszügen. Alles an ihr wirkte kultiviert und sehr feminin, und das gefiel ihm außerordentlich. Verblüfft stellte er fest, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte, obwohl sie ein völlig anderer Typ war als Francesca.

Die Erinnerung an seine Frau überfiel ihn ohne Vorwarnung. Er wusste wieder, wer Francesca war, wie sie ausgesehen hatte … alles! Trauer und Schmerz wallten in ihm hoch. Er schloss die Augen und fragte sich, ob er es ertragen könnte, alles noch einmal zu durchleben. Wenn es so wehtat, das Gedächtnis zurückzugewinnen, dann wollte er lieber vergessen.

Verwundert sah Gina auf Marco herunter. Er hatte die Augen fest zugekniffen und die Hände zu Fäusten geballt. Alarmiert fühlte sie ihm den Puls, denn sie wusste, dass sich der Zustand von Patienten mit derartigen Kopfverletzungen von einer Sekunde zur anderen dramatisch verschlechtern konnte.

Gina packte die Angst, und ihre Finger schlossen sich fester um Marcos Handgelenk, während sie konzentriert seine Herzschläge zählte. Julie hätte ihn gleich an den Monitor anschließen sollen, dachte sie. Sein Blutdruck und die Sauerstoffsättigung im Blut mussten ständig überwacht werden. Bei so etwas durfte man kein Risiko eingehen.

Als Marco unvermittelt die Augen aufschlug und Gina in diese goldbraunen Tiefen blickte, schnellte ihr eigener Blutdruck rasant in die Höhe. War das Wiedererkennen, das sie in seinem Blick sah? Hatte Marco sich erinnert, wer sie war? Die Vorstellung erschreckte sie derartig, dass sie seine Hand abrupt losließ. Sie fürchtete, dass er sich durch ihre Berührung schneller erinnern würde, und das wollte sie unbedingt verhindern. Erst musste sie sich darüber klar werden, was sie wegen Lily unternehmen wollte.

„Mir wäre wohler, wenn Sie an einen Überwachungsmonitor angeschlossen wären“, stammelte sie und schämte sich gleichzeitig für ihr selbstsüchtiges Verhalten. Es musste grauenvoll für Marco sein, sich an nichts erinnern zu können, und eigentlich sollte sie alles tun, um ihm zu helfen …

Alles, außer ihm von Lily zu erzählen, und wie das kleine Mädchen empfangen worden war.

„Bleiben Sie liegen und entspannen Sie sich. Ich hole nur rasch den Monitor“, sagte sie und eilte davon, denn sie fürchtete, Marco durch ihre Nervosität nur misstrauisch zu machen. Natürlich wünschte sie ihm, dass er sich wieder an sein Leben erinnerte. Sie hielt es jedoch für klüger, sich ab jetzt von ihm fernzuhalten. Man würde ihn ohnehin bald auf die Neurologie verlegen, und das war auch gut so.

Vor ihrem Büro begegnete sie Rosie. „Kannst du Dr. Andretti an den Überwachungsmonitor hängen und ihn im Auge behalten? Er soll aber nicht einschlafen. Wir müssen sicherstellen, dass sich in seinem Gehirn nichts zusammenbraut.“

„Aber der Notarzt hat gesagt, dass er okay ist“, warf die Schwesternschülerin ein. „Sie haben einen CT-Scan gemacht, und der war in Ordnung.“

„Das mag schon sein, aber es kommt immer wieder vor, dass sich ein Blutgerinnsel auch noch später bildet“, versetzte Gina scharf. „Deshalb liegt er ja hier bei uns, damit wir ihn überwachen.“

„Oh, verstehe. Tut mir leid, ich dachte, er sei nur wegen seiner Amnesie hier.“ Rosie sah so niedergeschlagen aus, dass Gina ihre brüske Bemerkung bedauerte.

„Das ist sicherlich einer der Gründe, warum sie ihn zu uns verlegt haben. Hoffentlich kommt bald einer von der Neuro-Abteilung. Ich rufe gleich nochmal dort an. Und du überwachst bitte seine Vitalfunktionen.“

„Geht klar.“ Rosie hatte sich wieder gefangen und grinste, als sie den Monitor auf den Flur rollte. „Es ist ja auch nicht wirklich unangenehm, an seinem Bett zu sitzen. Für sein Alter sieht er noch recht appetitlich aus.“

Gina lachte, als die Lernschwester mit dem Monitor verschwand. Wer ihr zugehört hatte, musste Marco für einen alten Tattergreis halten, dabei befand er sich definitiv in der Blüte seiner Jahre. Der Gedanke an ihn versetzte Gina einen kleinen Stich. Seufzend ging sie zum Telefon, um den Kollegen von der Neurologie ein wenig Druck zu machen. Mehr konnte sie im Moment nicht tun. Außerdem gab es noch andere Patienten, die ihre Aufmerksamkeit verlangten. Sie konnte sich nicht ausschließlich um Marco kümmern, auch wenn sie das gern getan hätte … was aber ganz bestimmt nicht der Fall war, versuchte sie sich selbst zu überzeugen.

Sie straffte die Schultern. Marco hatte ihr vor drei Jahren unmissverständlich klar gemacht, dass er keine tieferen Gefühle für sie hegte. Daran würde auch sein Gedächtnisverlust nichts ändern. Sie hatte schon damals keine Rolle in seinem Leben gespielt, und sie würde auch jetzt keine spielen, ob mit oder ohne Lily.

Autor

Jennifer Taylor
Jennifer Taylor ist Bibliothekarin und nahm nach der Geburt ihres Sohnes eine Halbtagsstelle in einer öffentlichen Bibliothek an, wo sie die Liebesromane von Mills & Boon entdeckte. Bis dato hatte sie noch nie Bücher aus diesem Genre gelesen, wurde aber sofort in ihren Bann gezogen. Je mehr Bücher Sie las,...
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