Große Versuchung in Venedig

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Die traumhaften Kanäle, Brücken und Paläste Venedigs sind auf einmal nur noch schöne Erinnerung, als das bildhübsche Modell Francine die Wahrheit erfährt: Der leidenschaftliche Venezianer Alessandro hat sie nicht aus Liebe geheiratet, sondern aus Rache an ihrem Vater.


  • Erscheinungstag 25.07.2024
  • ISBN / Artikelnummer 9783751530477
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Es wurde langsam dunkel, als der Vaporetto durch den Canale Grande schipperte. Die glühende Hitze des ausklingenden Tages hing noch immer über den Dächern von Venedig. Francine schwitzte unter ihrer langen Lockenpracht.

Sie hatte sich durch die Menge der Fahrgäste bis zur vordersten Spitze des Boots vorgearbeitet, um von diesem idealen Platz aus keine Sehenswürdigkeit zu verpassen. Als das Boot unter der Rialto-Brücke durchfuhr, war sie voller Bewunderung für die in blassem Stein verankerten dunklen Brückenbögen. Die Wasseroberfläche glitzerte von dem Licht, das sich von den Läden und Wohnhäusern widerspiegelte. Elegante Gondeln glitten vorbei, und Francine blickte etwas neidisch auf die Pärchen, die gerade die romantischste Bootsfahrt ihres Lebens genossen.

Doch schnell verdrängte sie den Wunsch, auch in einer solchen Gondel zu sitzen. Sie führte sich rasch zu Bewusstsein, dass sie zum Arbeiten hier war. Und so, wie sie Pete kannte, würde sie keine freie Minute haben.

Francine war die Assistentin von Pete, einem Fotografen. Gemeinsam wollten sie in Venedig romantische und außergewöhnliche Aufnahmen für einen aufwendigen Kalender machen. Pete war schon ein paar Tage zuvor hierhergeflogen, um nach geeigneten Standorten und Motiven Ausschau zu halten. Das Besondere an dieser Reise war, dass Francine diesmal nicht nur als Assistentin mitwirken sollte, sondern auch als Fotomodell.

Pete war ein brillanter Fotograf, und Francine konnte gut organisieren und Buch führen. Gemeinsam bildeten sie ein unschlagbares Team. Dennoch war das vergangene Jahr anstrengend für sie verlaufen. Das Gerangel um Fotoaufträge wurde angesichts steigender Konkurrenz immer härter, was auch die Preise und damit ihre Einnahmen niederdrückte. Um auch diesmal ein kostengünstiges Angebot machen zu können, hatte Pete auf ein professionelles Model verzichtet und stattdessen auf Francine zurückgegriffen.

Francine war zu allem bereit, um das kleine Unternehmen am Leben zu erhalten. Sie war keineswegs eitel. Dennoch war ihr wohl bewusst, dass sie aufgrund ihrer beachtlichen Größe, ihres feinen Knochenbaus und ihres kerzengeraden Wuchses mit jedem berufsmäßigen Mannequin mithalten konnte. Sie hatte das Zeug für ein Topmodel. Aber an einer solchen Karriere war ihr nicht gelegen – sie liebte ihren jetzigen Beruf über alles.

Der Vaporetto legte bei San Marco an, und Francine nahm ihre Segeltuchtasche auf. Sie reiste immer mit leichtem Gepäck. Pete hatte bereits ihren großen Koffer mitgenommen. Sie verließ das Boot und marschierte im Pulk der Touristen in Richtung Markusplatz.

Pete hatte ihr am Abend zuvor am Telefon den Weg zu ihrem Hotel beschrieben. Er hatte ihr auch angeboten, sie am Landungssteg abzuholen. Doch Francine war klar, wie sehr beschäftigt Pete mit den vorbereitenden Arbeiten war. Also hatte sie sein Angebot dankend abgelehnt und sich mit ihm im Hotel verabredet.

So stand sie nun hier mitten in Venedig mit ihrem Notizzettel und versuchte, aus der Wegbeschreibung schlau zu werden. Sie wusste, dass sie den Markusplatz überqueren und dann eine der ruhigen Seitenstraßen weitergehen musste. Francine lief nun etwas schneller. Jenseits des großen Platzes wurden die Menschen immer weniger.

Abseits des von den Touristen verursachten Trubels und Lärms hatte die Stadt einen anderen Charakter und wirkte geheimnisvoller. Die wenigen Straßenlampen warfen nur ein mattes Licht. Francine blieb unter einer Laterne stehen, um erneut ihre Anweisungen zu studieren. Am Ende dieser Straße musste sie links abbiegen. Sie folgte ihrem Plan, doch der Weg führte über einen schmalen Kanal, von dem Pete nichts erwähnt hatte.

Leicht verunsichert kehrte sie daher um und probierte eine andere Seitenstraße, doch die führte in eine enge, unbeleuchtete Gasse. Francine wurde nervös und rannte vorwärts in der Hoffnung, am Ende in einer belebteren Gegend wieder herauszukommen. Sie überquerte einen winzigen Platz, der jedoch wieder in eine enge Gasse mündete. An deren entferntem Ende sah sie das Wasser eines Kanals glitzern. Und nun merkte sie, dass sie sich hoffnungslos verlaufen hatte.

Francine spürte, wie ihr Selbstvertrauen schwand. Nicht nur war sie hier mutterseelenallein, sondern obendrein war es mittlerweile stockdunkel. Nur hier und da brannte in den umliegenden Häusern noch Licht. Sie hatte bei Tageslicht ankommen wollen. Doch ihr Flug hatte sich verspätet, sodass sie erst am frühen Abend am Flughafen von Venedig eingetroffen war. Wie sehr sie jetzt das schützende Tageslicht herbeisehnte, selbst wenn die Sonne herabbrennen würde!

Francine biss sich auf die Lippe und überlegte angestrengt, was sie nun tun sollte. Das Vernünftigste war wohl, den gleichen Weg wieder zurückzugehen. Doch die kurzen Gässchen Venedigs kamen ihr wie ein Irrgarten vor. Sie wusste nicht mehr genau, aus welcher Richtung sie gekommen war.

Auf einmal erschienen zwei Männer auf der Brücke, die auf die andere Seite des vor ihr liegenden schmalen Kanals führte. Francine sah die beiden unsicher an. Sie musste jemanden nach dem Weg fragen. Aber es konnte auch gefährlich sein, zwei fremde Gestalten in einer dunklen Gasse anzusprechen.

Die beiden Fremden blieben in der Mitte der Brücke unter der Laterne stehen. Francine blickte nervös umher und fasste dann Mut. Schließlich waren die beiden die einzigen Passanten weit und breit. Also hatte sie keine Wahl, wen sie um Hilfe bitten konnte. Sie atmete einmal tief durch, ging dann auf die beiden Personen zu und hielt ihnen den Notizzettel entgegen.

„Entschuldigen Sie bitte“, begann sie höflich. Sie hoffte, dass wenigstens einer der beiden Englisch sprechen würde. „Können Sie mir sagen, wie ich zu diesem Hotel komme?“

Einer der Männer starrte sie lange und eindringlich an, bevor er sich seinem Begleiter zuwandte und in schnellem Italienisch einige Sätze sprach. Etwas im Ton seiner Stimme ließ Francine erschaudern, und instinktiv trat sie einen Schritt zurück. Dann drehte er sich um und musterte ihre Reisetasche. Da war sie sich sicher, dass er gerade den Entschluss fasste, sie auszurauben. Oder Schlimmeres mit ihr anzustellen! Als schließlich der andere Mann ein schmutziges Lachen ausstieß und sie von oben bis unten begaffte, wusste sie, dass sie in eine Falle geraten war.

Leicht hysterisch sah Francine um sich, ob es nicht jemanden gab, der ihr helfen könnte. Doch die Straße lag einsam und verlassen da. Die beiden Fremden wussten es und wähnten sich sicher, als sie langsam näher auf Francine zugingen. Francines Herz pochte wie wild. Als sie einen Schritt zurück trat, stellte sich ihr der eine Mann blitzschnell in den Weg und blockierte ihr so jede Fluchtmöglichkeit.

Francine wollte um Hilfe rufen, aber sie brachte keinen Ton heraus. Renn weg, rief ihr eine innere Stimme zu. Doch ihre Beine waren vor Angst weich wie Pudding.

Sie konnte es kaum für möglich halten, dass in dieser touristenüberladenen Stadt niemand in der Nähe war, um ihr zu Hilfe zu kommen. Doch auch auf dem Wasser war keine einzige Gondel in Sicht.

Einer der Männer bewegte sich zielbewusst auf sie zu. Francine riss all ihre Kraft zusammen, um ihm selbstsicher in die Augen zu blicken. Sie wusste, dass ihre weichen Knie ihr ein Wegrennen unmöglich machten. So versuchte sie, es bis zum Brückengeländer zu schaffen, um sich über die niedrige Brüstung in den Kanal zu werfen. Die Aussicht, in das schwarze, ölige Wasser zu tauchen, erschien ihr zwar grässlich, doch allemal besser, als von diesen Kerlen angefasst zu werden.

Francine hatte bereits einen Fuß auf der Balustrade, als sie plötzlich eine hart klingende Männerstimme vernahm, die vom anderen Ende der Brücke her den beiden Halunken im Befehlston etwas auf Italienisch zurief. Erleichtert atmete sie auf, dass im letzten Moment doch noch eine rettende Hand aufgetaucht war.

Die beiden Männer hatten die Botschaft natürlich sofort verstanden. Verärgert murmelten sie sich leise etwas zu. Dann warfen sie dem Neuankömmling einen abschätzenden Blick zu, als ob sie sich ihre Chancen – zwei gegen einen – ausrechnen wollten.

Auch Francine drehte sich um und sah den dritten Fremden an. Plötzlich verspürte sie ein Herzklopfen, das allerdings ein ganz anderes war als das, was sie beim Anblick der beiden Schurken verspürt hatte. Gleichzeitig wurde ihr klar, warum die beiden Männer – obwohl zu zweit – zögerten, es mit dem lästigen Störer aufzunehmen.

Der Fremde war bis auf einen weißen, steifen Hemdkragen ganz in Schwarz gekleidet. Sein Haar war so dunkel wie sein maßgeschneiderter, schwarzer Abendanzug. Eine Narbe quer über seinem rechten Wangenknochen verstärkte noch die Aura des Finsteren und Unheimlichen, die diesen Mann umgab. Er war um etliche Zentimeter größer als seine beiden Gegenspieler und wirkte körperlich überlegen. Seine Augen funkelten gefährlich im Laternenlicht. Auch wenn Francine seine Augenfarbe nicht erkennen konnte, so entnahm sie doch seinem herausfordernden Blick, dass er sich geradezu auf eine Konfrontation freute.

Den beiden Männern entging dies offensichtlich auch nicht. Brummend schlichen sie sich davon und fingen sogar zu rennen an, als der stattliche Fremde mit einer Drohgebärde einige Schritte hinter ihnen herlief.

Francine stand nun allein mitten auf der Brücke, ihre Augen wie gebannt auf die dunkle Gestalt gerichtet. Ihr Puls schlug unregelmäßig. Sie merkte, dass sie sich vor diesem Mann fast genauso sehr fürchtete wie vor den beiden Ganoven. Es war jedoch eine völlig andere Art von Furcht. Jeder einzelne Nerv ihres Körpers schien sie vor diesem Mann warnen zu wollen. Und dennoch fuhr ihr ein warmer, angenehmer Schauer durch die Glieder, als der Fremde einen Schritt näher kam.

Ohne ein Wort zu sprechen, schaute er sie mit einer solchen Intensität an, dass ihr einige Sekunden lang der Atem stockte.

Francine musste mehrmals schlucken, bevor es ihr endlich gelang, etwas zu sagen. „Vielen Dank. Sie kamen gerade rechtzeitig …“ Sie wartete ab, ob er ihr Englisch verstanden hatte. Sie selbst sprach leider nur ein halbes Dutzend Worte Italienisch.

„Ja, Sie waren in Gefahr“, erwiderte er auf Englisch. „Doch was treiben Sie im Dunkeln in diesen einsamen Gassen?“

„Ich habe mich verlaufen.“ Ihre Stimme zitterte. „Ich war auf der Suche nach meinem Hotel …“ Nun wurden ihre Knie weich, und sie lehnte sich rasch an das Brückengeländer. „Entschuldigung“, murmelte sie, „aber mir ist etwas mulmig.“

Sie spürte, wie starke Finger durch ihr Haar fuhren und eine kräftige Hand ihren Kopf festhielt, so lange, bis ihr Schwindelgefühl verschwand. Als es ihr wieder besser ging, atmete Francine einige Male kräftig durch. Sie versuchte, von der Hand, die leicht über ihren Nacken strich, keine Notiz zu nehmen. Sehr langsam und vorsichtig stand sie wieder auf.

„Es geht mir schon wieder gut.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich hatte immer geglaubt, mit Situationen wie der vorhin selbst fertig werden zu können. Ich war jedoch starr vor Schreck und konnte mir überhaupt nicht helfen“, gestand sie zerknirscht.

„Vorher weiß man nie genau, wie man in einer bestimmten Situation reagieren wird.“ Er betrachtete eingehend ihr fahles Gesicht. „Mein Haus ist ganz in der Nähe“, meinte er dann abrupt. „Ich schlage vor, Sie kommen mit zu mir. Meine Hausangestellte wird sich um Sie kümmern. Wenn Sie sich dann wieder besser fühlen, bringe ich Sie in Ihr Hotel.“

„Ich fühle mich aber schon jetzt sehr wohl“, versuchte sie ihn zu beschwichtigen. Ihre Stimme klang jedoch immer noch brüchig, und sie selbst wusste nur zu genau, dass ihre Aussage keineswegs stimmte. Der ganze Vorfall hatte sie wirklich mitgenommen, und ihre eigene Hilflosigkeit deprimierte sie.

Der Fremde ließ sich auf keine weiteren Diskussionen ein. Er nahm einfach ihre Reisetasche auf und ging los, in der Annahme, dass sie ihm schon folgen würde.

Sehr arrogant, dieser Mann, dachte Francine bitter. Aber was blieb ihr schon anderes übrig in diesem Moment? Sie war unendlich erleichtert, dass ihr jemand beistand und die Dinge in die Hand nahm.

Er bewegte sich sicher durch ein Netz enger und schlecht beleuchteter Gassen. Schließlich, mit reichlich Verspätung, fragte sich Francine, ob sie denn wohl recht bei Sinnen war, hinter einem wildfremdem Mann durch dunkle, verlassene Gassen Venedigs herzulaufen. Der hatte sie zwar vor zwei Schurken gerettet, aber das hieß ja noch lange nicht, dass er nicht selbst einer war!

Gerade überlegte sie, ob sie nicht besser umdrehen und wegrennen sollte, als die Gasse plötzlich in eine hellere und viel breitere Straße mündete. Francine seufzte erleichtert. Sie atmete noch mehr auf, als sie Leute erblickte, von denen viele wie Touristen aussahen. Hier konnte sie jederzeit um Hilfe rufen.

Dies schien allerdings nicht nötig zu sein. Trotz seiner etwas düsteren Erscheinung hatte sie immer mehr den Eindruck, dass von diesem Mann keine Bedrohung ausging. Dass sie jetzt nervös war, lag vielmehr an ihrer Reaktion auf diesen Mann. Seine dunkle Gestalt mochte etwas Furcht erregend wirken, aber dennoch war er das anziehendste männliche Wesen, dem sie je begegnet war.

Einige Minuten später standen sie vor einer schmalen Tür, die in eine hohe Mauer eingelassen war. Der Fremde öffnete sie, und Francine fand sich in einem kleinen, eingezäunten Hof wieder, der nur von dem silbrigen Mondlicht beschienen war. Sie erkannte die Konturen exotischer Pflanzen in steinernen Gefäßen und das Glitzern des Wassers von einem vertieft angelegten Swimmingpool in der Mitte.

Sie überquerten den Hof und durchschritten eine zweite Tür, die in das Haus führte. Francine konnte von außen wenig erkennen, aber in jedem Fall war das Gebäude riesig.

Ihr Retter führte Francine durch einen aufwendig dekorierten Eingangsbereich und danach eine elegant geschwungene Treppe hinauf. An den Wänden hingen eindrucksvolle Gemälde. Francine war überwältigt – was für ein Haus!

Die Treppe mündete in einen langen Flur. Kleine Lämpchen an der Wand strahlten ein sanftes Licht aus. Durch ein großes Fenster konnte Francine einen Blick ins Freie werfen. Sie sah Wasser, Gondeln, Menschen und weiter entfernt einen Brückenbogen – sie schaute direkt auf den Canale Grande! Sie befand sich in einem richtigen Palazzo, einem der großartigen Gebäude, die man von Postkarten her kennt!

Doch wer war dieser Mann, der sie vor Schlimmem bewahrt hatte? Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie ihn noch nicht einmal nach seinem Namen gefragt hatte. Ja – es gab eine Menge Fragen, die sie ihm eigentlich hätte stellen sollen, bevor sie ihm gefolgt war. Sie musste es in ihrem Angstzustand vergessen haben. Doch jetzt fühlte sie sich schon viel besser, und nun verlangte es sie nach einigen Antworten.

Gerade wollte sie zur ersten Frage ansetzen, als sich vor ihr eine große schwere Flügeltür auftat, an der sie gerade angekommen waren. Bei dem Anblick, der sich ihr bot, stockte Francine der Atem.

Vor ihr lag ein riesiger, geschmackvoll und erlesen eingerichteter Prunksaal. Beleuchtet wurde er durch zahllose Kerzen, die hintersten Ecken lagen in einem geheimnisvollen Dunkel. Ein kolossaler, in Goldrahmen gefasster Spiegel reflektierte das Kerzenlicht und den kristallenen Kronleuchter, der in der Mitte des Raumes von der Decke hing. Der Saal war gefüllt mit einer Menge Leute, die in ihren eleganten Kleidern und Abendanzügen perfekt in diesen exquisiten Rahmen passten.

Eine dunkelhaarige Frau kam durch die offene Tür auf die beiden zugeschritten. Sie hatte das ebenmäßigste Gesicht, das Francine je gesehen hatte.

„Alessandro, wo warst du so lange?“ Die Frau sprach leise, ihre Stimme klang sehr sinnlich. Sie sah wie eine Italienerin aus, aber ihr Akzent klang nach amerikanischem Englisch. „Wir haben dich hier vermisst.“

Also hieß er Alessandro. Francine sprach den Namen in Gedanken mehrfach aus.

„Ich bitte für meine Abwesenheit um Entschuldigung. Aber ein unerwarteter Anruf zitierte mich kurzfristig zu einem wichtigen Geschäftstermin.“ Seine Stimme klang äußerst anziehend. „Und auf dem Rückweg konnte ich gerade noch rechtzeitig einen Raubüberfall – oder etwas noch Schlimmeres – verhindern.“

Die Frau musterte Francine, die mit ihrer Erscheinung so gar nicht in den Rahmen passte. „Das Kindchen braucht wohl jemanden zur Betreuung. Geh mit ihr zu Angelina; sie bemuttert doch so gerne.“

Francine stellte sich kerzengerade hin. Sie mit ihren einundzwanzig Jahren ‚Kindchen‘ zu nennen! Dies heute Abend war ein unglücklicher Vorfall gewesen – normalerweise konnte sie sehr wohl auf sich aufpassen!

„Danke, ich brauche keine Bemutterung“, erwiderte sie daher ungnädig. „Ich möchte mich nur gerne frisch machen. Dann werde ich mein Hotel aufsuchen.“

„Angelina wird alles erledigen“, bestimmte Alessandro. „Gisella, würdest du dich bitte kurz um meine Gäste kümmern? Ich bin so bald wie möglich zurück.“

Der dunkelhaarigen Frau schien es offenkundig gar nicht zu gefallen, dass Alessandro sich nicht sofort der Party anschloss. Irritiert ging sie in den Ballsaal zurück.

Francine folgte Alessandro auf dem Weg über weitere Flure und dann eine Treppe hinunter. Dort angekommen, öffnete er eine Tür, und Francine fand sich in einer riesigen, modern eingerichteten Küche wieder. Eine korpulente ältere Dame lief hin und her und kommandierte einige junge Mädchen in dunklen Uniformen herum, die anscheinend für den Abend als Hilfskräfte engagiert worden waren.

Sobald die ältere Dame Alessandro erblickte, lächelte sie ihn an und redete auf Italienisch heftig auf ihn ein. Francine verstand kein einziges Wort davon. Alessandro hörte geduldig zu. Als er endlich zu Wort kam, stellte er Francine vor und berichtete, was vorgefallen war.

Angelina kam sofort auf Francine zu und legte teilnahmsvoll einen Arm um ihre Schulter. „Keine Angst“, sagte sie beruhigend auf Englisch. „Ich werde alles für Sie tun.“ Zu Alessandro gewandt, ergänzte sie: „Kommen Sie in einer Stunde wieder. Bis dahin werde ich sie wieder aufgepäppelt haben.“

Alessandro war schon dabei zu gehen, als er sich noch einmal zu Francine umdrehte. „Ich denke, Sie sollten mir Ihren Namen verraten“, verlangte er, während er sie eingehend musterte.

Sein intensiver Blick verwirrte sie. „Francine Allen“, brachte sie mühsam heraus.

„Francine“, wiederholte er, und die Art und Weise, wie er ihren Namen aussprach, kitzelte jeden einzelnen Nervenstrang ihres Körpers. „Und ich heiße Alessandro Zancani“, stellte er sich vor. Dann sah er sie eine Sekunde lang erwartungsvoll an, so, als müsse ihr der Name bekannt sein.

Doch Francine hatte seinen Namen noch nie zuvor gehört und diesen Mann noch nie vorher gesehen. Denn an eine so eindrucksvolle Erscheinung hätte sie sich auf alle Fälle erinnert.

Alessandro verließ die Küche, und in der darauffolgenden Stunde wurde Francine umhegt und umsorgt wie niemals zuvor in ihrem Leben. Erst wurde ihr starker Tee mit einem großzügigen Schuss Brandy angeboten. Danach führte Angelina sie in ein luxuriös ausgestattetes Badezimmer, wo sie in einer Badewanne mit heißem Wasser und erlesener, parfümierter Seife schwelgen und sich danach in ein flauschiges Badetuch hüllen konnte. Zu guter Letzt bürstete ihr Angelina sogar noch mit einer samtweichen Bürste das Haar.

Beide waren gerade auf dem Weg zurück zur Küche, als Alessandro wieder erschien. Francine schluckte schwer. Sie hatte schon fast vergessen, welch starken Eindruck er auf sie gemacht hatte!

„Jetzt sehen Sie ja schon viel besser aus“, begrüßte er Francine. „Hätten Sie nicht Lust, sich für ein Weilchen auf meiner Party zu vergnügen und sich dabei noch gründlicher von dem Schrecken von vorhin zu erholen?“

Francine war von dem Angebot überrascht. „Ich werde aber im Hotel erwartet. Und außerdem kenne ich niemanden auf dem Fest.“

„Sie kennen doch mich“, entgegnete Alessandro mit sanfter Stimme. „Und das Hotel ist kein Problem. Ich werde dort anrufen und Bescheid geben, dass Sie später kommen.“

Francine stellte an sich selbst alarmiert fest, dass sie schwach zu werden drohte. Sie spürte, wie sie dieser Mann gegen ihren Willen immer stärker faszinierte. Eine innere Stimme warnte sie, dass dieser Fremde gefährlich war. Doch das machte ihn noch unwiderstehlicher.

„Ich bin aber nach Venedig gekommen, um zu arbeiten, und nicht zum Vergnügen.“ Ihre Stimme klang allerdings nicht sehr überzeugend.

„Man kann beides miteinander verbinden“, hielt er mit nun seidig weicher Stimme entgegen, die Francine elektrisierte.

„Außerdem bin ich gar nicht passend angezogen“, versuchte sie als letzte Ausflucht.

„Daran soll es nicht scheitern“, erwiderte Alessandro mit einem Lächeln. „Kommen Sie.“

Sie folgte ihm wieder eine andere Treppe hinauf – langsam kam ihr der Palazzo wie ein einziges Labyrinth vor. Er geleitete sie in ein Ankleidezimmer, wo er die Tür zu einem riesigen Garderobenschrank öffnete. Francine fielen fast die Augen aus dem Kopf, als sie die sündhaft teuren Kleider erblickte. „Hier wird sich mit Sicherheit etwas Passendes für Sie finden“, bemerkte Alessandro aufmunternd.

Francine wurde misstrauisch. Welcher Frau die Kleider wohl gehörten? Seiner Geliebten? Etwas in ihr sträubte sich, diese Sachen anzuprobieren.

Er spürte ihr Unbehagen sofort und erahnte ihre Gedanken. „Damit Sie Klarheit haben: Dies ist die Garderobe meiner Schwester.“

„Oh.“ Francine war erschrocken, wie mühelos er aus ihrem Gesicht ablas, was in ihr vorging.

„Suchen Sie sich in Ruhe ein Kleid aus. Ich erwarte Sie dann im Ballsaal.“ Mit einem Augenzwinkern verließ er das Zimmer.

Einen Moment lang stand Francine unentschlossen da. Noch war es Zeit, einfach zu verschwinden. Doch die schicken und ausgefallenen Gewänder, die ihr entgegenblitzten, waren eine zu große Versuchung. Sie ließ ihre Finger über einige der erlesensten Stücke gleiten und fühlte glatte Seide, weichen Samt und feinste Wolle.

Schließlich entschied sich Francine für ein langes, reich besticktes, mattgrünes Seidenkleid mit einem eng anliegenden, ärmellosen Oberteil. Sie streifte es vorsichtig über und fand unter Dutzenden von Paaren auch noch passende Schuhe. Von ihrem Anblick in dem großen Spiegel war sie selbst beeindruckt.

Autor

Joanna Mansell
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