Guten Morgen, meine Schöne!

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Wie ist es nur möglich? Zuerst ist der attraktive Bildhauer Jed Morgan so abweisend zu Sarah, die sich mit ihren beiden Kindern in seine einsame Blockhütte geflüchtet hat. Doch dann verliert Jed bei einem Unfall sein Gedächtnis, und plötzlich ist er der zärtlichste, aufmerksamste Mann, den Sarah sich nur wünschen kann …


  • Erscheinungstag 10.03.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733755881
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Wo, um alles in der Welt, steckte Jedidiah Morgan?

Sarah fröstelte in dem kalten Regen, als sie nun zum x-ten Mal mit dem Löwenkopf aus Messing gegen die Tür pochte. Sie hatte einen weiten Weg auf sich genommen, um diesen Mann um Hilfe zu bitten – er musste einfach zu Hause sein!

„Mom, ich habe Hunger!“, jammerte Vicky.

Müde blickte Sarah auf ihre sechsjährige Tochter hinunter, die wie ein kleines Häufchen Elend neben ihr vor dem von einer Außenlampe beleuchteten Eingang stand. Regen strömte der Kleinen über das Gesicht und floss in kleinen Bächen an ihrem gelben Regenmantel hinunter.

„Dem hübschen Haus nach zu urteilen, hat dein Onkel sicher einen gut gefüllten Kühlschrank, Liebling“, vertröstete Sarah ihre Tochter und verlagerte das Gewicht des dreijährigen Jamie von der linken auf die rechte Hüfte.

„Mommie, ich will ins Bett“, murmelte er schlaftrunken.

Sie drückte ihn liebevoll an sich. „Nur noch ein wenig Geduld, mein Schatz. Bald kannst du dich hinlegen.“

Auch sie sehnte sich nach einem Bett. Immerhin hatte sie seit dem Morgen mit ihrem altersschwachen Auto von Quesnel bis hierher mehr als dreihundert Meilen zurückgelegt, davon die letzten siebzig bei heftigem Wind und Regen und miserabler Sicht. Das schlechte Wetter hatte die Fahrt auf den Whispering Mountain zu einem wahren Albtraum werden lassen, und Sarah war schweißgebadet hier in Morgan’s Hope angekommen.

Bei dem Gedanken, dass womöglich alle Anstrengungen vergeblich gewesen waren und sie von ihrer knappen Barschaft kostbare Dollar umsonst für Benzin ausgegeben hatte, kamen ihr fast die Tränen.

Sie drehte sich um und blickte verzagt in die pechschwarze Nacht hinaus. Der Wind hatte mittlerweile fast Sturmstärke erreicht. Plötzlich blitzte es am Himmel auf. Ein Gewitter hatte ihr gerade noch gefehlt! Einen flüchtigen Moment lang beleuchtete der zickzackförmige Blitz die breite Toreinfahrt, vor der ihr verrosteter blauer Kombi stand, und den dichten Wald ringsum.

„Mom!“ Vickys helle Kinderstimme klang aufgeregt. „Die Tür ist gar nicht abgeschlossen!“

Sarah wirbelte herum. Sie sah, dass ihre Tochter die Tür einen Spaltbreit geöffnet hatte, und streckte den Arm aus, um sie zurückzuhalten. „Liebling, du kannst nicht einfach …“

Zu spät. Schon hatte Vicky die Tür ganz aufgestoßen und marschierte ins Haus.

Sarah zögerte, folgte schließlich nervös ihrer Tochter und zuckte erschrocken zusammen, als hinter ihr die Tür krachend zufiel. Im Schein der durch ein Oberlicht leuchtenden Außenlampe entdeckte Sarah an der Wand einen Schalter und drückte darauf.

Als das Licht aufflammte, sah sie, dass Vicky bereits eine weitläufige und mit stilvollen Eichenmöbeln eingerichtete Halle durchquerte, von der aus eine elegant geschwungene Holztreppe nach oben führte. Entsetzt bemerkte Sarah die nassen Spuren, die ihre Tochter auf dem beigebraunen Berberteppich hinterließ. „Warte!“, rief sie leise.

„Ich suche nur die Küche, Mom!“

Unschlüssig blieb Sarah stehen und warf einen Blick auf Jamie, der wieder an ihrer Schulter eingeschlafen war. Ihr war klar, dass sie sich durch ein lautes „Hallo?“ hätte bemerkbar machen müssen, aber dann wäre ihr Sohn erneut wach geworden. Außerdem hatte sie vorhin lange genug gegen die Tür gehämmert, um selbst Tote zum Leben zu erwecken. Ganz offensichtlich war niemand da. Und irgendwie wirkte das Haus ja auch trotz der schicken Möbel seltsam unbewohnt.

Mit der Kinder eigenen Lockerheit setzte Vicky sich auf den Teppich und zog die gelben Gummistiefel aus. Dann sprang sie auf, warf den nassen Regenmantel auf die Schuhe und steuerte zielstrebig auf einen schmalen Gang zu, der in den hinteren Teil des Hauses führte.

Seufzend folgte Sarah ihrer Tochter. Victoria Jane Morgan war schon als Baby ungewöhnlich eigensinnig gewesen. Und das hatte sich bis heute nicht geändert. Wenn sie sich etwas in den Kopf setzte, konnte niemand sie davon abbringen.

Im Vorbeigehen drückte Sarah auf einen weiteren Lichtschalter und bemerkte nun am Ende des Ganges eine offene Tür.

„Ich habe die Küche gefunden, Mom!“, verkündete Vicky stolz und hatte bereits das Licht angeknipst, als ihre Mutter sie einholte.

Normalerweise wäre Sarah von einer solchen Küche entzückt gewesen, doch jetzt war sie zu erschöpft, um diesen Traum in Schwarz, Weiß und Chrom, der sich bestens als Titelbild für ein Einrichtungsmagazin geeignet hätte, angemessen zu würdigen. Alles blitzte nur so vor Sauberkeit, angefangen von den weißen Bodenfliesen bis zu den Arbeitsflächen aus schwarzem Granit und modernstem technischen Standard entsprechenden Geräten.

Auch der Essbereich mit den lederbezogenen schwarzen Bänken und Stühlen und einem Tisch mit Granitplatte sah teuer und schick aus. Die weißen Jalousien an den Fenstern und der Glastür zum Garten bildeten dazu einen wirkungsvollen Kontrast und ersparten Sarah einen weiteren Blick auf das draußen tobende Unwetter.

Vicky hatte nur Augen für den großen schwarzen Kühlschrank. Neugierig öffnete sie ihn. „Mom, du hattest recht!“ Ihre Stimme überschlug sich beinahe. „Er ist voll bis obenhin!“

Sarah zog dem schlafenden Jamie Schuhe und Anorak aus und bettete ihn vorsichtig auf eine Bank, ehe sie neben Vicky an den Kühlschrank trat. Er war wirklich „voll bis obenhin“, wie ihre Tochter es ausgedrückt hatte.

Beim Anblick all der Köstlichkeiten knurrte Sarah buchstäblich der Magen, und da sie wusste, dass Vicky ebenfalls hungrig wie ein Wolf war, überwand sie ihre Skrupel und durchstöberte die reichhaltigen Vorräte. Sie fand einen Topf mit nahrhafter, hausgemachter Gemüsesuppe und in einem Brotkasten aus Edelstahl eine Packung Vollkorntoast.

Wenige Minuten später saßen Mutter und Tochter am Tisch und löffelten begierig die köstlich schmeckende Suppe, deren würziger Duft sich mit dem anheimelnden Geruch von frisch geröstetem Toast vermischte.

„Wie spät ist es, Mom?“, flüsterte Vicky, um Jamie nicht zu wecken.

„Fast Mitternacht!“

„Mein lieber Scholli!“ Vicky sah ihre Mutter aus großen grauen Augen an. „So lange war ich ja noch nie auf, oder?“

„Nicht, dass ich wüsste“, meinte Sarah. Ihr Blick schweifte zu dem Kalender, der über Vickys Kopf an der Wand hing. Nichts war darauf notiert, nur der letzte Tag des Monats war rot angestrichen, und daneben stand in Großbuchstaben: MINERVA WIRD ABGEHOLT.

„Mom, was machen wir, nachdem wir gegessen haben?“

Sarah lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf Vicky. „Nun, wir suchen uns ein Zimmer mit einer Couch oder Polstersesseln oder sonst etwas, worauf wir schlafen können.“

„Wieso schlafen wir nicht in einem Bett?“

„Lieber nicht. Dein Onkel könnte etwas dagegen haben. Aber ich werde nach oben gehen und uns Decken besorgen, damit wir nicht frieren.“

„Warum ist Daddy nie mit uns hierher gefahren?“

„Das weiß ich nicht, Liebes“, erwiderte Sarah nicht ganz wahrheitsgemäß. Sie wusste, dass ihr Mann mit seinem Bruder zerstritten gewesen war. Chance hatte sich jedoch immer geweigert, ihr den Grund für das Zerwürfnis zu nennen.

„Wo ist unser Onkel jetzt?“ Vicky strich sich eine noch vom Regen feuchte Strähne aus dem Gesicht.

„Er kann nicht weit sein.“ Andernfalls wäre die Haustür sicher abgeschlossen gewesen. Natürlich konnte es sich auch um ein Versehen handeln, und der Mann trieb sich sonst wo in der Welt herum. Sarah hielt das für wenig wahrscheinlich. Wer verreiste, hortete in seinem Kühlschrank nicht massenweise leicht verderbliche Lebensmittel.

Genießerisch leckte Vicky die letzten Tropfen der Suppe von ihrem Löffel. „Vielleicht ist er ja spazieren gegangen.“

„Wohl kaum. Nicht bei diesem Wetter!“

Aber wenn er keinen Spaziergang macht, wo, zum Teufel, ist er dann? fragte sich Sarah. Er war der Einzige, der ihr jetzt noch helfen konnte!

Behutsam ließ Jedidiah Morgan eine Hand über die alabasterweißen Schultern der Frau gleiten, zog mit der Fingerspitze die Linie ihres Schlüsselbeins nach und legte seine Hand in die Mulde zwischen ihren Brüsten. Kritisch betrachtete er die üppigen Kurven und richtete sein Augenmerk dann wieder auf die Brüste.

Ein ironisches Lächeln umspielte seinen Mund, als er mit dem Daumen über eine der aufgerichteten Brustspitzen strich.

„Perfekt“, sagte er. Und fertig. Endlich.

Gähnend streckte er sich und sah auf seine Uhr. Mitternacht. Wieder einmal hatte er völlig die Zeit vergessen. Wie immer, wenn ihm die Arbeit gut von der Hand ging.

Er pfiff dem schwarzen Labrador, der auf der Matte vor dem Ofen vor sich hin döste. „Komm, Max. Zeit, nach Hause zu gehen.“

Der Hund hob den Kopf und musterte seinen Herrn aus goldbraunen Augen. Dann reckte er sich, gähnte, stand auf und trottete schwanzwedelnd zur Tür.

Es goss noch immer in Strömen. Jed hörte, wie der Regen auf das Dach des Ateliers prasselte. Er schlüpfte in seinen Anorak, griff nach der Taschenlampe und öffnete die Tür. Kalter Regen peitschte ihm ins Gesicht. Er zog den Kopf ein und eilte zu dem schmalen Waldpfad, während Max im Gebüsch verschwand. Jed musste sich um ihn keine Sorgen machen, denn als er wenige Minuten später am Haus ankam, erwartete ihn der Hund bereits ungeduldig vor dem Eingang.

„Braver Junge“, lobte Jed und öffnete die Tür. „Jetzt gibt’s noch was zu fressen und dann wird geschlafen.“ Er machte in der Halle Licht und blieb wie angewurzelt stehen, als er die feuchten Spuren auf dem Teppich entdeckte. Außerdem roch es nach frisch geröstetem Toast.

Max begann zu knurren.

„Still!“, befahl Jed ruhig. „Sitz!“

Der Hund gehorchte.

Dem Geruch folgend, ging Jed auf Zehenspitzen auf die Küche zu. Die Tür war angelehnt, es brannte jedoch kein Licht. Er horchte an der Tür, hörte aber nichts außer dem leisen Surren des Kühlschranks. Trotzdem war ihm nicht ganz wohl in seiner Haut, als er nun die Tür aufstieß und das Licht anknipste. Alles war so, wie er es verlassen hatte.

Er öffnete die Kühlschranktür und wollte sie schon wieder schließen, da bemerkte er, dass der Topf mit der gestern übrig gebliebenen Suppe verschwunden war.

Er runzelte die Stirn und warf einen Blick in den Geschirrspüler. Tatsächlich fand er dort im unteren Fach den leeren Topf sowie zwei Suppenteller, zwei Dessertteller, zwei Löffel und ein Messer, alles fein säuberlich eingeordnet.

Jed spürte, wie ein Adrenalinschub durch seine Adern schoss. Jemand war hier gewesen, hatte in seiner Küche gegessen und …

Plötzlich hörte er Max in der Halle knurren. Es klang so bedrohlich, dass Jed unwillkürlich schauderte. Rasch verließ er die Küche und schlich an der Wand entlang zurück zur Halle.

Als Erstes kam Max in Sicht. Der Labrador stand mit gefährlich gefletschten Zähnen mitten in der Halle und knurrte jemand feindselig an, den Jed vom Gang aus nicht sehen konnte.

Lautlos arbeitete Jed sich Schritt für Schritt vorwärts und spähte vorsichtig um die Ecke. Der nächtliche Eindringling war eine Frau. Eine Fremde, die er noch nie gesehen hatte.

Er musterte sie erstaunt. Sie war jung und attraktiv und hatte eine zierliche Figur, soweit man das bei der voluminösen Bluse beurteilen konnte, die sich über ihren Jeans bauschte. Das honigblonde Haar reichte ihr bis zu den Schultern und umrahmte ein herzförmig geschnittenes, blasses Gesicht. Der Blick ihrer grauen Augen mit den langen dunklen Wimpern war voller Entsetzen auf Max gerichtet, der sie ebenfalls anstarrte.

Sie wagte einen kleinen Schritt nach vorn, und sofort begann der Hund wieder zu knurren.

Schnell zog sie den Fuß zurück. Max bellte.

Sie sah aus, als würde sie gleich zu weinen anfangen.

„Verdammt!“, murmelte Jed und trat aus seinem Versteck.

Als sie ihn sah, zuckte sie wie vom Blitz getroffen zusammen. Du meine Güte, die Frau war ja das reinste Nervenbündel! Wieso brach sie dann in fremde Häuser ein?

„Still, Max!“, befahl Jed und wies mit der Hand zum Gang. „Ab in die Küche!“

Der Labrador gehorchte, wenngleich sichtlich widerstrebend.

Jed wandte sich nun wieder der Fremden zu und bekam es mit der Angst zu tun, als er sah, dass ihre Gesichtsfarbe von blass zu kreidebleich gewechselt hatte. Sein Anblick schien der Frau einen regelrechten Schock versetzt zu haben, denn sie blickte ihn an, als wäre er ein Gespenst. Fehlte nur noch, dass sie ohnmächtig wurde. Er verlagerte sein Gewicht, um sie notfalls aufzufangen.

Als sie nun in einer hilflosen Geste ihre Hand an die Kehle presste, bemerkte er an ihrem Finger einen Ehering.

„Tut mir leid.“ Sie war kaum zu verstehen, so leise sprach sie. „Ich dachte nur … einen Moment lang …“

„Was dachten Sie?“

„Ich …“ Sie räusperte sich und begann von neuem. „Im ersten Moment dachte ich, Sie wären Chance.“

Chance? Jed versetzte es einen Stich. Was wollte diese Frau hier? Und wieso erwähnte sie ausgerechnet den Namen des Mannes, den er mehr hasste als jeden anderen Menschen auf der Welt?

„Wer, zum Teufel, sind Sie?“ Unwillkürlich ballte er die Hände zu Fäusten und sah, wie sie zusammenzuckte.

Sie hielt seinem durchdringenden Blick stand und atmete tief durch. „Ich bin Sarah“, sagte sie dann mit zittriger Stimme. „Sarah Morgan.“

„Morgan?“

„Ihre … Schwägerin.“

„Schwägerin?“ Allmählich kam er sich wie ein dämlicher Papagei vor.

„Ja.“ Ihre Stimme klang nun etwas fester. „Ich bin Chance’ Frau … oder vielmehr seine … Witwe.“

„Chance ist tot?“

„Er kam vor sieben Monaten bei einem Autounfall ums Leben.“

Noch nie hatte Sarah einen Menschen so schnell blass werden sehen. Beinahe verspürte sie ein wenig Mitleid mit ihm, aber sie rang selbst noch um Fassung. Woher hätte sie auch ahnen sollen, dass Chance und sein Bruder sich zum Verwechseln ähnlich sahen?

Genau wie Chance war dieser Mann groß und schlank, hatte pechschwarzes dichtes Haar und das gleiche schmale Gesicht mit der leicht gebogenen Nase und den tief liegenden grünen Augen. Doch im Gegensatz zu dem vor Charme nur so sprühenden Chance strahlte sein älterer Bruder etwas Düsteres aus und wirkte eher wie eine finstere Gestalt aus einem gotischen Roman.

„Sie sind also unangemeldet hier aufgekreuzt, um mir mitzuteilen, dass mein Bruder tot ist?“ Seine Stimme drückte offene Feindseligkeit aus. „Nun, jetzt weiß ich Bescheid. Sie können also wieder von hier verschwinden.“

Du lieber Himmel, der Mann hatte das Gemüt eines Henkers! Ungläubig blickte Sarah ihn an. „Sie schicken uns bei diesem Unwetter weg?“

„Uns? Ach, jetzt verstehe ich. Zwei Teller, zwei Löffel … Wen hat Goldlöckchen denn noch mitgebracht? Etwa einen Liebhaber?“

Sarah war fassungslos. Da hatte sie diesem Typ gerade vom Tod ihres Mannes erzählt und … Vor Empörung verschlug es ihr für einen Moment die Sprache.

„Keinen Liebhaber?“ Er zog spöttisch die dunklen Brauen hoch. „Dann also einen … Freund?“

„Nein!“ Ihr Blick war nicht weniger feindselig als seiner. „Ich bin mit meinen Kindern hier. Vicky und Jamie. Sie schlafen im Wohnzimmer.“

Er maß sie mit einem langen, unergründlichen Blick, dann lachte er. Es klang alles andere als fröhlich. „Soso, Sie haben Ihre Kinder mitgebracht. Ich nehme an, es handelt sich um Chance’ Sprösslinge?“

Sie wurde rot vor Zorn. „Natürlich sind es Chance’ Kinder!“

„Dann sind Sie noch unverschämter, als ich dachte, Mrs. Sarah Morgan.“ Sein Gesicht war jetzt völlig ausdruckslos. „Und nun verraten Sie mir bitte, weshalb Sie wirklich gekommen sind, damit wir die Sache hinter uns bringen.“

Konnte er etwa Gedanken lesen?

Er lächelte grimmig. „Woher ich das weiß? Nun, wenn es Ihnen nur darum gegangen wäre, mir mitzuteilen, dass mein Bruder tot ist, hätten Sie mich auch anrufen oder mir schreiben können. Also, Mrs. Morgan, was wollen Sie von mir?“

Sie hasste ihn. Hasste diesen Mann, obwohl sie so gut wie nichts von ihm wusste. „Ich brauche Geld“, antwortete sie kühl. „Ihr Bruder hat mir einen Berg unbezahlter Rechnungen hinterlassen. Ich habe nicht die Mittel, seine Schulden zu be…“

„Sehr schlau, von ihm als meinem Bruder zu sprechen“, fiel er ihr ins Wort. „Sollten wir ihn nicht besser Ihren Ehemann nennen?“

Der Mann war ein echter Widerling! Kaltherzig, gemein und überheblich! „Sicher, ich war mit ihm verheiratet“, gab sie ihm recht. „Aber er war auch Ihr Bruder!“

„Okay. Wie viel?“

Es handelte sich um eine so riesige Summe, dass Sarah befürchtete, ins Stocken zu geraten, doch der Betrag ging ihr glatt über die Lippen.

Jedidiah Morgan zuckte nur gleichgültig die Schultern. „In Ordnung. Fahren Sie nach Hause, und schicken Sie mir einen Brief mit einer entsprechenden Bitte. Sie bekommen dann postwendend einen Scheck von mir.“

„Danke“, sagte sie steif, „das ist sehr freundlich von …“

„Das wäre also erledigt“, unterbrach er sie barsch. „Ich schlage vor, Sie setzen sich nun wieder in Ihr Auto … Sie sind doch mit einem Wagen da, oder?“

„Ja, aber …“

„Dann nehmen Sie Ihre Kinder und verschwinden von hier!“

Sarah zwang sich, seinem Blick standzuhalten. „Die Kinder sind völlig übermüdet. Können wir nicht wenigstens diese Nacht hier bleiben?“

„Das ist mir zu riskant. Wer weiß, ob bei diesem Wetter morgen früh die Straße nach unten noch passierbar ist? Nein, Sie fahren besser jetzt gleich!“

„Bitte!“ Es kostete sie große Überwindung, ihn darum zu bitten, aber noch entsetzlicher war die Vorstellung, Vicky und Jamie aus dem Schlaf zu reißen und mit den beiden Kindern mitten in der Nacht und bei diesem Wetter die kurvenreiche Bergstraße hinunterzufahren. Zumal sie nicht wusste, wohin. Nur mühsam unterdrückte sie einen Schauder. „Ich verspreche Ihnen, dass wir morgen ganz früh aufbrechen werden.“

Er musterte sie kalt. „Na schön.“ Seine Stimme klang schroff. „Sie können im Wohnzimmer schlafen und die Toilette hier unten benutzen. Aber morgen früh verschwinden Sie aus meinem Haus. Ist das klar?“

„Absolut.“ Sarah war versucht, ein „Sir“ hinzuzufügen, wollte ihn aber nicht noch mehr verärgern. Immerhin tat er ihr einen Gefallen, und so sagte sie stattdessen: „Vielen Dank. Auch dafür, dass Sie Chance’ Schulden bezahlen wollen. Selbstverständlich werde ich Ihnen das Geld in Raten …“

Sie verstummte, da er ihr nicht mehr zuhörte, sondern bereits auf dem Weg zur Küche war. Er bewegte sich mit der Selbstsicherheit eines Mannes, der wusste, was er wollte, und nicht duldete, dass sich ihm jemand in den Weg stellte.

Sarah seufzte. Sie fühlte sich, als hätte man sie durch die Mangel gedreht. Wenigstens hatte sie erreicht, dass er ihr Geld lieh, obgleich Chance’ Schulden im Moment nicht ihr Hauptproblem waren. Doch Jedidiah Morgan würde nie erfahren, weshalb sie wirklich gekommen war. Dass sie gehofft hatte, er wäre ein gütiger und verständnisvoller Mann, der die Familie seines Bruder herzlich willkommen heißen und solange bei sich aufnehmen würde, bis sie, Sarah, wieder in der Lage war, allein für sich und ihre Kinder zu sorgen.

Reglos stand Jed am Fenster seines Schlafzimmers und sah in die Nacht hinaus.

Chance lebte nicht mehr. Mit allem hatte er gerechnet, nur nicht damit.

Fast sieben Jahre waren seit Jeralyns Tod vergangen. Sieben Jahre, seit sein Bruder sich aus dem Staub gemacht hatte und spurlos verschwunden war. Sieben lange Jahre, in denen sein Hass auf Chance fast schon krankhafte Züge angenommen hatte und drohte, ihn innerlich aufzufressen.

Ein bitteres Lächeln umspielte Jeds Lippen. Es war typisch für Chance, selbst nach seinem Tod noch andere in Schwierigkeiten zu bringen. Seine Witwe hatte von einem „Berg unbezahlter Rechnungen“ gesprochen. Nun, für sie mochten fünfzigtausend Dollar eine unerschwingliche Summe sein, doch für ihn, Jed, waren das nur Peanuts. Er zahlte diesen Betrag gern, wenn er dadurch diese Frau und ihre Familie vom Hals hatte.

Er wünschte sich nur, in Ruhe gelassen zu werden.

2. KAPITEL

Am nächsten Morgen wurde Sarah von einer barschen Männerstimme geweckt, die sagte: „Ich fahre schnell mal den Berg hinunter, um zu sehen, ob die Straße noch passierbar ist. Spätestens in zwanzig Minuten bin ich wieder zurück.“

Als Sarah schlaftrunken die Augen aufmachte, hatte Jedidiah Morgan bereits wieder das Wohnzimmer verlassen. Sekunden später hörte sie ihn die Haustür zuknallen.

Sie schlug die Decke zurück und setzte sich auf der niedrigen, langen Couch auf. Sie hatte gestern Abend die Vorhänge nicht zugezogen, und das Zimmer war von grauem Dämmerlicht erfüllt.

Beide Kinder schliefen noch, Vicky auf einem zweisitzigen Sofa, Jamie in den Tiefen eines Lehnstuhls. Sarah gab es einen Stich ins Herz, als sie die zwei betrachtete.

Sie hatten Chance abgöttisch geliebt und vermissten ihn sehr. Natürlich versuchte sie, die große Lücke, die sein Tod im Leben der Kinder hinterlassen hatte, durch viel Liebe und Zuwendung auszugleichen, aber reichte das? Sie selbst hatte ihren Vater im Alter von acht verloren, und es hatte Jahre gedauert, bis sie seinen Verlust einigermaßen überwunden hatte.

Nun war sie eine allein stehende Mutter, und ihr Traum von einer glücklichen und intakten Familie mit beiden Elternteilen würde sich wohl nie erfüllen.

Seufzend stand sie auf und ging zum Fenster. Draußen pfiff der Wind ums Haus, und es goss wie aus Kübeln. Nicht gerade das ideale Reisewetter, dachte sie schaudernd.

Gleich darauf wurde ihre Aufmerksamkeit von Jedidiah Morgan abgelenkt, der den breiten Kiesweg entlangging. Er trug einen dunkelblauen Anorak und Jeans, und sein Haar flatterte im Wind, als er nun mit Riesenschritten auf einen unter einem Baum geparkten Landrover zusteuerte. Neben ihm trottete der schwarze Labrador.

Sarah beobachtete, wie Jedidiah die Wagentür öffnete, den Hund ins Auto ließ und dann ebenfalls einstieg. Kies spritzte auf, als er in rasender Geschwindigkeit die Einfahrt hinunterfuhr. Er hat es wirklich eilig, mich loszuwerden, dachte sie bedrückt.

Hinter ihr begann Vicky, sich zu regen.

Sarah ging zu ihr hin und setzte sich auf den Rand der kleinen Couch. „Guten Morgen, mein Schatz.“ Liebevoll drückte sie ihre Tochter an sich und atmete den Duft der noch vom Schlaf warmen Haut ein. „Zeit, aufzustehen.“

Als sich Vicky schlaftrunken durch das zerzauste Haar strich, fiel ihre Puppe zu Boden. Sarah bückte sich nach ihr. Chance hatte sie zum Geburtstag seiner Tochter gekauft, und als die Kleine zu sprechen anfing, hatte sie eines Tages ihre heiß geliebte Puppe hochgehalten und stolz „Puppe“ gesagt. Und so hatte die Puppe nie einen richtigen Namen bekommen, sondern Vicky nannte sie noch heute immer nur „meine Puppe“.

Sarah setzte die Puppe auf den Couchtisch. Mittlerweile war auch Jamie wach geworden und blinzelte schläfrig. Sie umarmte ihn zärtlich und gab ihm einen Kuss. „Guten Morgen, Liebling.“

Er legte ihr die Ärmchen um den Nacken. „Ich habe Hunger!“

„Ich auch“, sagte Vicky. „Mir knurrt der Magen.“

Sarah stellte Jamie auf den Boden, und Vicky, die inzwischen aufgestanden war, nahm ihn an der Hand. „Komm, Jamie, ich weiß, wo es was zu essen gibt!“

In der Küche duftete es verführerisch nach Kaffee, doch die Kanne war frisch gespült und der Tisch leer. Falls Sarah gehofft hatte, ihr Gastgeber würde wenigstens ein Frühstück für sie bereitstellen, sah sie sich getäuscht. Der Mann ließ keinen Zweifel daran, dass sie in seinem Haus nicht willkommen waren.

Sie machte für die beiden Kinder Rührei und Toast, und nachdem sie selbst ein Glas Milch getrunken und ihr tägliches Quantum an Vitamintabletten genommen hatte, ging sie zu einem der Fenster und sah hinaus.

Durch den Regen blickte sie über einen mit dichtem Wald bewachsenen Abhang hinunter ins Tal. An einem sonnigen Tag musste die Aussicht hier oben geradezu atemberaubend sein. Ein Anblick, der ihr nie vergönnt sein würde, denn schon in einer Stunde würde sie wieder in ihrem Auto sitzen.

Obwohl sie von Natur aus eher lebensbejahend und optimistisch war, überfiel sie auf einmal Verzweiflung. Eine allein stehende Mutter mit wenig Geld hatte es in dieser Welt schwer, speziell in ihrer momentanen Lage und ohne einen Ort, wo sie Unterschlupf finden konnte.

Letzteres stimmte nicht ganz, denn als Ausweg blieb ihr immer noch Wynthrop. Aber der Gedanke, dorthin zurückzukehren, wo sie noch weniger willkommen sein würde als hier, war alles andere als verlockend.

„Mom“, riss Vicky sie aus ihren düsteren Überlegungen, „hast du inzwischen unseren Onkel gesehen?“

„Ja, er ist gestern Abend noch gekommen.“

„Wohnen wir jetzt eine Weile hier bei ihm?“

„Nein, Liebling. Wir reisen ab, sobald er zurück ist. Er überprüft im Moment, ob die Straße nach unten noch befahrbar ist.“

„Dann kommt er ja bald wieder?“

„Ja, bestimmt.“

Als er nach einer Stunde immer noch nicht zurück war, begann Sarah, unruhig zu werden.

Und nachdem weitere drei Stunden verstrichen waren, ertappte sie sich beim Nägelkauen. Das hatte sie nicht mehr getan, seit sie dreizehn war. Jedidiah Morgan hätte längst wieder hier sein müssen. Sie selbst hatte gestern trotz Dunkelheit und schlechtem Wetter, und obwohl sie die Straße nicht kannte, höchstens eine Viertelstunde benötigt, um den Berg hochzufahren. Was also war geschehen?

Nervös ging sie im Wohnzimmer auf und ab und wich Jamie aus, der auf dem Teppich mit seinen Autos spielte. Vicky stand am Fenster und trippelte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, nachdem sie zuvor stundenlang mit bewundernswerter Ausdauer laut gelesen hatte.

„Mom, da kommt ein Polizeiauto!“, rief die Kleine plötzlich aufgeregt.

„Ein Polizeiauto?“

„Ja!“

Sarah eilte zum Fenster und sah, wie der Wagen neben ihrem blauen Kombi hielt, den sie vorhin abreisebereit vor dem Haus geparkt hatte. Ein Polizist in Uniform stieg aus.

Vicky presste die Nase ans Fenster. „Was will er hier, Mom?“

Autor

Grace Green
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