Harfenklang und zarte Küsse

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Behutsam nimmt Charles, Earl of Wytham, die zarte Fremde in die Arme: Verletzt und ohne Erinnerung hat er sie gefunden! Lediglich ihren Namen - Elaine - meint sie noch zu wissen. Liebevoll auf seinem Landsitz umsorgt, kommt sie allmählich wieder zu Kräften. Doch ihre Vergangenheit liegt weiterhin im Dunkeln … Nur eins ist gewiss: Mit jedem Tag fühlt Charles sich zärtlicher zu ihr hingezogen. Und nicht nur ihr einfühlsames Harfenspiel versetzt sein Herz in Unruhe! Bis Elaines Erinnerung zurückkehrt und alle romantischen Hoffnungen zerstört: Sie glaubt, verheiratet zu sein …


  • Erscheinungstag 29.12.2009
  • Bandnummer 17
  • ISBN / Artikelnummer 9783862953783
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL
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Als die junge Frau zu sich kam, lag sie allein an einem ihr fremden Ort. Der Anblick der Bäume, deren ausladende Zweige riesenhaften Stämmen entwuchsen und ein dichtes Schattendach über ihr bildeten, löste kein Wiedererkennen in ihr aus. Wo war sie? Mühsam richtete sie sich in eine sitzende Position auf und schaute sich um.

Matte Sonnenstrahlen, die zwischen den Blättern hindurchdrangen, malten dunkle Flecke auf ihr weißes Musselinkleid. Sie erschauerte, rieb sich die Arme und fühlte unwillkommene Feuchtigkeit auf dem schwarzen Samtjäckchen, das sie trug. Ihre Füße in den knöchelhohen Stiefeletten aus weichem blauen Glacéleder, die kaum geeignetes Schuhwerk für einen solch taufeuchten Morgen waren, fühlten sich eiskalt an.

Wie um alles in der Welt war sie nur hierhergekommen? Mit wackligen Beinen erhob sie sich und nahm ihre Umgebung mit wachsender Verwirrung in sich auf. War sie verrückt geworden, sich so leicht bekleidet in derart unwegsames Gelände zu wagen?

Sie führte ihre bebende Hand zu der dumpf schmerzenden Stelle an ihrer Schläfe und bemerkte undeutlich, dass sie keinen Schutenhut trug. Sie spürte etwas Klebriges, und ein plötzlicher stechender Schmerz ließ sie scharf Luft holen. Im nächsten Moment starrte sie voller verständnisloser Verwunderung auf ihre blutigen Finger.

Panik wallte in ihr hoch, und sie wandte den Blick entsetzt ab. Was war ihr zugestoßen? Unsicher machte sie ein paar Schritte vorwärts und verfing sich in dem Gestrüpp, das sie am Knöchel festzuhalten schien, als wollte es ihr Entkommen vereiteln.

Als sie unter den Bäumen hervortrat, spürte sie die Wärme der Sonne. Wieder schaute sie sich suchend um. Vor ihr erstreckte sich eine von niedrigen Hecken durchzogene Wiesenlandschaft, der sich hügelan ein Baumgürtel anschloss.

Ihr Herz begann heftig zu pochen. Wo war sie? Was hatte sie hier zu suchen?

Doch die Fragen verstärkten nur den Schmerz, der von ihrer Kopfverletzung herrührte. Sie durfte jetzt nicht nachdenken, sie musste etwas tun! Sie musste Hilfe suchen – aber wo in dieser Wildnis? In welche Richtung sollte sie sich wenden?

Als sie an sich hinabschaute, um ihre Röcke zu raffen, erstarrte sie. Was sie für Schatten gehalten hatte, entpuppte sich in hellerem Licht als Schmutzflecken. Am Saum wie auch an ihren Stiefeletten klebte Erde, und die Musselinfalten ihres Kleides, die unordentlich unter dem Jäckchen hervorquollen, wiesen Risse auf. Der Stoff war außerdem feucht. Kein Wunder, dass sie fror. Wie lang hatte sie dort gelegen?

Kalte Angst stieg in ihr auf, und sie begann am ganzen Leib zu zittern. Ihr Verstand fand keine Erklärung für ihren erbärmlichen Zustand. Fast wie in Trance begann sie auf die freie Fläche vor ihr zuzugehen.

Sich völlig allein an einem solchen Ort wiederzufinden erschien ihr wie ein Albtraum. Und dies umso mehr, als der einzige Erfolg ihres verzweifelten Nachdenkens eine erinnerungslose Leere war, die das Kopfweh in einem stechenden Schmerz explodieren ließ und sie zwang, mitten auf der Wiese stehen zu bleiben und mit geschlossenen Augen beide Hände gegen die Stirn zu pressen.

Einen Augenblick lang war sie überzeugt, ohnmächtig zu werden. Doch die schwindelerregende Pein ließ nach. Kurz darauf wurde sie sich bewusst, dass ihr ein Geräusch von außen ins Bewusstsein drang. Es waren Stimmen!

Sie riss die Augen auf und entdeckte menschliche Gestalten, die zwischen den Bäumen auf dem Hügel auftauchten. Eine innere Stimme riet ihr, vorsichtig zu sein, und ehe sie noch begriff, wie sie es geschafft hatte, so schnell dorthinzugelangen, lehnte sie keuchend und bebend an der hohlen Rückseite einer mächtigen alten Eiche, an der sie Augenblicke vorher vorbeigekommen war.

Es dauerte einige Zeit, bis sie wieder mehr als ihr eigenes heftiges Atmen hören konnte. Doch dann vernahm sie lauter werdendes Sprechen. Mit Erleichterung erkannte sie neben einer Männerstimme auch die von Frauen.

Verstohlen spähte sie um den Baum, der ihr Schutz gewährte. Drei Personen kamen den Hügel herab: Zwei Frauen folgten in kurzem Abstand einem hochgewachsenen Mann, der zielstrebig ausschritt. Selbst auf diese Entfernung vermittelte die Gruppe einen Eindruck von Vornehmheit, der sowohl vom Klang ihrer Stimmen als auch vom Schnitt ihrer Kleidung ausging. Dies war kein einfaches Landvolk.

Die junge Frau hielt den Atem an. Irgendetwas in ihr verlieh ihr die Sicherheit, gleich gerettet zu sein. Gleichzeitig jedoch spürte sie deutlich, dass sie auf keine einzige ihr gestellte Frage eine Antwort würde geben können.

Die Stimmen wurden deutlicher, sie konnte einzelne Gesprächsfetzen ausmachen, aber die auf Streit hindeutende Lautstärke ließ sie in ihrem Versteck verharren, während sie um den Mut rang, die Spaziergänger anzusprechen.

„Du hältst mich nicht zum Narren, Margaret“, hörte sie den Mann trocken bemerken. „Ich weiß ganz genau, was dich und Harriet hierher bringt.“

„Was stellst du dir vor, Charles?“, ließ eine der beiden Frauen, die ihre Musselinröcke sorgfältig vor Stechginsterästen in Sicherheit brachte, scharf und kritisch vernehmen. „Jedes Jahr am Ende der Saison erwarten wir zu hören, dass du verlobt bist.“

„Und jedes Jahr werden wir enttäuscht“, ergänzte die andere Begleiterin, die mit einem grünen Reitkleid und robusten Lederstiefeletten vernünftig gekleidet war. Ihre Stimme klang etwas wärmer, und die junge Frau in ihrem Versteck entspannte sich ein wenig. „Du musst zugeben, Charles, dass dein an Widerspenstigkeit grenzendes Zaudern schändlich ist.“

Der Mann trat nach einer unschuldigen Wurzel, die ihm zufällig im Weg war. „Ich gebe nichts dergleichen zu. Ganz im Gegenteil, ich verdiene Glückwünsche, dass es mir Jahr für Jahr gelingt, den mir gestellten Fallen auszuweichen.“

„Wenn du dich endlich mit Belinda verloben würdest, hätte dieser ganze Unsinn ein Ende.“

Der Gentleman blieb abrupt stehen, und die Frauen taten es ihm gleich, während er sich zu ihnen umdrehte. „Wie kommt ihr nur auf die Idee, ich könnte Belinda heiraten? Habe ich in dieser Richtung jemals auch nur eine Andeutung gemacht?“

„Nein, Charles, das hast du nicht. – Er hatte fünf Jahre Zeit, Harriet, um sich ihr zuzuwenden, und da er es nicht getan hat …“

„Umso schlimmer!“

„… wird er es jetzt wohl auch kaum tun.“

„Das wäre mir ja gleichgültig, wenn er die leiseste Neigung zeigen würde, eine andere zu heiraten.“

„Findet eine Frau für mich, die mich nicht mit überschwänglichem Charme zu Tode langweilt, und ich werde bereitwillig um ihre Hand anhalten.“

Der Gentleman wandte sich um und setzte seinen Weg in Richtung des Baumes fort, hinter dem sie hervorlugte. Hastig zog die junge Frau den Kopf zurück. Immer noch waren die erhobenen Stimmen der beiden Damen zu hören. Entweder sie zeigte sich nun, oder die Gelegenheit ginge ungenutzt vorüber. Sie versuchte vorzutreten, doch eine undeutliche Befürchtung ließ sie wie angewurzelt stehen bleiben.

Vom Äußeren des Mannes hatte sie wenig mehr aufgenommen als seine Größe und die Kleidung, die man von einem Herrn bei einem Landspaziergang erwartete. Kniehosen und ein dunkler Gehrock, das Haar unter einem breitkrempigen Biberfilzhut verborgen. Seine Stimme hatte kultiviert geklungen. Selbst in seinem offenkundigen Ärger über die Frauen in seiner Begleitung hatte in ihr nichts Beängstigendes mitgeschwungen. Diese Erkenntnis gab der jungen Frau Mut.

Sie holte tief Luft, löste sich von dem Baum und trat aus ihrem Versteck hervor dem Gentleman direkt in den Weg.

Er blieb unvermittelt stehen und wich dann mit einem erschrockenen Ausruf zurück.

Es entging Charles Clevedon, Earl of Wytham, dass seine Schwestern ebenso erstaunt waren wie er, als die gertenschlanke Erscheinung plötzlich vor ihnen auftauchte.

Sie war jung und schön und, nach dem Schnitt ihrer Garderobe zu schließen, vornehm. Doch ihr Kleid war zerrissen und schmutzig, ihre blassen Züge schmutzverschmiert, und sie zitterte erbärmlich. In demselben Moment, in dem er ihren unglücklichen Zustand erfasste, erkannte Charles auch, dass keine noch so große Ungepflegtheit den außerordentlichen Liebreiz ihres Gesichts verbergen konnte.

„Bitte helfen Sie mir“, brachte sie schwach hervor. „Ich weiß nicht, wo ich bin.“

Charles stand immer noch schweigend da, er konnte den Blick nicht von ihren blauen Augen losreißen. Etwas in seiner Brust schien zu schmelzen. Doch dann wurde er sich seiner guten Erziehung bewusst.

„Selbstverständlich helfen wir Ihnen, Madam“, erwiderte er und trat vor. „Was fehlt Ihnen?“

„Du liebe Güte!“, ließ sich Harriet hinter ihm vernehmen.

„Sind Sie verletzt?“, fragte Margaret, während sie an ihm vorbei an die Seite der jungen Frau eilte.

„Mein Kopf.“ Die Unbekannte führte die Finger zu einer Stelle in der Nähe ihrer Schläfe. Als sie sie auf die kurzen blonden Locken legte, die ihre Züge umspielten, zuckte sie zusammen. „Es blutet und tut schrecklich weh.“

„Was ist Ihnen zugestoßen?“

Die junge Frau wandte Margaret das Gesicht zu. Ein Muskel zuckte in ihrer blassen Wange. „Ich … weiß nicht.“

„Sie wissen es nicht? Aber …“

„Ich kann mich nicht erinnern.“ Die gertenschlanke Gestalt schwankte ein wenig.

„Stützen Sie sich auf mich“, erbot Charles sich rasch. Er trat neben sie und fasste sie unter dem Ellbogen.

„Merci.“ Sie nahm seine Hilfe dankbar an, und er hielt sie fest. Undeutlich nahm er das französische Wort wahr, beachtete es aber nicht. Ihre Kleidung war feucht und fühlte sich kühl an, sodass eine bestürzende Ahnung in seinem Geist aufkeimte. Nach ein, zwei Momenten schien die Unbekannte Kraft gesammelt zu haben, holte tief Atem und straffte sich.

„Was heißt das, Sie können sich nicht erinnern?“, wollte Harriet wissen, und der Klang ihrer Stimme ließ Charles seiner Schwester einen warnenden Blick zuwerfen. Worauf wollte sie hinaus?

„Wie sind Sie hierhergekommen?“, fragte Margaret.

Charles fühlte die junge Frau an seinem Arm erzittern. Als er sie anschaute, sah er ihre Wimpern flattern.

„Auch daran erinnere ich mich nicht.“

„Aber Sie sind allein?“ Harriets Tonfall drückte Missbilligung aus.

„Es scheint so.“

„Es scheint so? Du lieber Himmel!“

„Harriet, sei still!“, fuhr Margaret sie an. „Siehst du denn nicht, dass das arme Mädchen nicht in der Lage ist, Fragen zu beantworten? Charles, kann sie sich nicht irgendwo hinsetzen?“

Ihr Bruder schaute sich um und entdeckte ein Stück des Wegs zurück einen Baumstumpf. Ohne Vorwarnung hob er die Unbekannte auf die Arme und trug sie dorthin. Seine Schwestern folgten ihm.

Die Welt schien zu schwanken, die junge Frau schloss die Augen und klammerte sich an seine Schultern. Ihre Angst war bei den Fragen wieder aufgeflackert. Sie hatte sie erwartet, und keine Antworten zu wissen beunruhigte sie trotz der Erleichterung über ihre Rettung. Ihre Kopfschmerzen quälten sie.

Vorsichtig setzte der Gentleman sie auf dem Baumstumpf ab. Sie fühlte seine starken Hände auf ihren Schultern und bemerkte, dass er sich über sie beugte und sie musterte.

Sie sah hoch und blickte in haselnussbraune Augen in einem markanten Gesicht mit festen Linien, einer geraden Nase und einem Kinn, das verriet, dass sein Besitzer keinen Widerspruch duldete. Das kastanienbraune Haar unter dem Biberfilzhut schien durch den modischen Haarschnitt nicht völlig gezähmt. Eine Sorgenfalte war zwischen kräftigen Brauen erschienen. Seine Stimme klang angenehm, aber trocken.

„Können Sie allein sitzen?“

„Ja, danke.“ Dennoch hielt sie sich an der borkigen Kante fest, als der Gentleman seinen Griff löste und einen Schritt zurücktrat. Sie war froh, sich einigermaßen wohlauf zu fühlen, und seufzte erleichtert.

„Nun, also“, kam es von der Dame im grünen Reitkleid, die als Erste herankam.

Der Gentleman ergriff sie am Arm. „Plage das Mädchen nicht, Margaret.“

„Ich möchte nur herausfinden, was passiert ist.“

„Wenn sie sich nicht daran erinnert, hat es keinen Sinn zu fragen“, erwiderte er.

„Sie muss sich den Kopf schlimm gestoßen haben“, meinte die als Margaret Angesprochene.

Die junge Frau sah eine sorgenvoll-stirnrunzelnde Miene auf dem rundlichen Gesicht, dessen Züge Ähnlichkeit mit denen des Mannes hatten. Sie waren jedoch sanfter und von dichteren Locken umrahmt, die unter einem hübschen Hut mit einem Federbusch in der Farbe ihres Reitkleides festgesteckt waren. Ihr Lächeln verriet Wärme.

„Sie müssen sich ziemlich benommen fühlen, armes Ding. Wahrscheinlich wird Ihnen alles sehr bald wieder einfallen.“

Sie fühlte sich in der Tat nicht fähig, über den Augenblick und den Trost, nicht mehr allein zu sein, hinauszudenken. Nur zu gern überantwortete sie sich den Händen ihrer Retter.

Der Earl blickte stirnrunzelnd auf sie hinab und fragte sich, was ihr wohl durch den Sinn ging. Noch nie hatte er jemanden so blass und verstört erlebt.

Harriet, die ebenfalls herangekommen war, brach das Schweigen. „Wie heißen Sie?“

Charles beobachtete, wie eine nachdenkliche Linie zwischen den Brauen der jungen Frau auftauchte.

„Mein Name …“, begann sie zögernd.

„Ja, Ihr Name“, wiederholte seine Schwester ungeduldig.

„Harriet!“

„Wenn dir das nicht eigenartig vorkommt, Margaret, dann halte ich dich für ziemlich begriffsstutzig.“

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“

„Seid still, alle beide!“, befahl der Earl, der den schmerzhaft konzentrierten Ausdruck auf den Zügen der Unbekannten sah. „Ihr quält sie.“

Noch während er sprach, zuckte die junge Frau zusammen und griff sich an die Stirn. Ihr Blick verdunkelte sich.

„Ich erinnere mich nicht an meinen Namen.“

Charles sah sie an und war gebannt von dem entsetzten Ausdruck, der ihre Worte begleitete. Sie unterdrückte ein Schluchzen und ballte die schlanken Finger zur Faust, während sie um Fassung rang. Eine tapfere Bemühung unter den gegebenen Umständen, dachte er.

Er wandte sich seinen Schwestern zu und sah, dass selbst Harriet von dem Jammer des Mädchens gerührt war. Margaret war unübersehbar erschrocken. Da begann die junge Frau zu sprechen. Ihre Stimme klang rau, aber beherrscht.

„Verzeihen Sie mir … ich kann mich an gar nichts erinnern. Ich kam eben erst zu mir, unter den Bäumen dort drüben. Ich habe keine Ahnung, wie ich dorthin gekommen bin, ebenso wenig, wie lang ich dort gelegen habe. Vor Kopfschmerzen konnte ich nicht denken, und die Umgebung war mir fremd. Und jetzt, als Sie mich fragten, wurde mir klar … ich weiß nicht einmal, wer ich bin!“

Mit einem Ausdruck des Entsetzens sah sie den Earl und seine Schwestern an. Charles fühlte den eigenartigen Wunsch in sich aufsteigen, sie tröstend in die Arme zu nehmen. Welch absurder Gedanke! Er schob ihn beiseite, und die unvermeidliche Frage drang in den Vordergrund: Was sollten sie mit dem Mädchen anfangen?

„Na, Sie kommen besser mit uns nach Hause“, bestimmte Margaret, als hätte sie seine Frage gehört.

Die Unbekannte wirkte erleichtert. Dennoch widersprach sie aus Höflichkeit.

„Ich möchte mich nicht aufdrängen.“

„Hier können Sie kaum bleiben“, widersprach Harriet sichtlich widerstrebend.

„Das meine ich auch“, sagte Margaret. „Sie braucht einen Arzt. Charles, hör auf, das arme Kind derart hoffnungslos anzustarren, und tu etwas!“

Der Earl nickte. Er war in der Tat geistesabwesend gewesen. Natürlich mussten sie die Unbekannte mitnehmen. In sein Haus. Aber ein irritierender Gedanke war ihm in den Sinn gekommen.

War das möglicherweise ihr Ziel?

„Erinnern Sie sich denn an gar nichts?“, fragte er sie.

Sie schüttelte den Kopf. „Nichts.“

„Vielleicht wird es besser, wenn Sie sich ausgeruht haben.“

Ihre Lippen bebten. „Das hoffe ich.“

Charles wurde geschäftsmäßig. „Dann wollen wir Sie mal nach Hause bringen. Denken Sie, dass Sie laufen können? Bis zur Kutsche ist es etwa eine halbe Meile.“

Die Unbekannte nickte. Er half ihr auf, ohne auf Margarets unnötige Anweisungen zu achten. Die junge Frau stützte sich schwer auf seinen Arm, und er war versucht, sie zu tragen, da sie nur langsam vorankamen. Nur war der in ihm aufgekeimte Verdacht, so er denn begründet war, derart ärgerlich, dass er sich keinesfalls übermäßig bemühen wollte.

Mit jedem Schritt wuchs die Verwirrung der jungen Frau. Zunächst war sie froh gewesen, die Dinge anderen überlassen zu können, doch wurde ihr sehr rasch ihre Situation bewusst. Zu gehen war schwierig genug, und der Kopfschmerz beeinträchtigte ihre Sehschärfe ein wenig. Aber das Schlimmste war ihr versagendes Gedächtnis. Eine Erklärung für ihre Notlage fand sie nicht, doch blieb eine beunruhigende Frage: Hatte sie sich selbst in diese Lage gebracht, oder war sie von einem übelwollenden Menschen hier ausgesetzt worden? Der letzte Gedanke erschreckte sie dermaßen, dass sie stolperte.

„Nur ruhig!“

Fast hätte sie den Besitzer des stützenden Arms vergessen. Sie erkannte, dass sie ihn nicht einmal nach seinem Namen gefragt hatte.

„Dürfte ich wissen, wem ich zu danken habe?“, wandte sie sich an ihn.

Sie glaubte einen eigenartigen Ausdruck über seine Züge huschen zu sehen, als er sich zu ihr drehte, doch konnte sie die Ursache nicht benennen. Er antwortete freundlich.

„Ich bin Wytham.“

„Charles Clevedon, Earl of Wytham“, warf die eine der Damen hinter ihnen ein. Der scharfe Klang ihrer Stimme ließ die junge Frau aufhorchen.

„Wir sind seine Schwestern. Zweifellos werden Sie uns jetzt sagen, dass Ihnen der Name unbekannt ist.“

„Harriet, worauf willst du hinaus?“, wollte die Freundlichere der beiden wissen.

„Ich glaube, das sollte man zu einem geeigneteren Zeitpunkt besprechen“, warf der Earl ein.

Die junge Frau sah, wie er seinen Begleiterinnen eigenartige Blicke zuwarf. Er musste gespürt haben, dass sie ihn anschaute, denn er wandte sich ihr zu und lächelte. Sie war sich seiner Nähe deutlich bewusst und empfand sie plötzlich als bedrängend.

„Machen Sie sich keine Gedanken. Erst einmal muss Ihre Verletzung versorgt werden, Madam.“

„Sehr vernünftig“, stimmte die matronenhafte Frau zu. „Wie fühlen Sie sich, meine Liebe? Strengt das Gehen Sie sehr an?“

In dem kurzen Wortwechsel hatte eine beunruhigende Bedeutung gelegen, die die junge Frau jedoch nicht zu benennen wusste. Sie spürte nur eine plötzliche Kälte. Deshalb ließ sie den Arm des Earls los, auf den sie sich gestützt hatte.

„Es geht schon, danke“, meinte sie tapfer.

„Vorsichtig!“

Zu spät wurde ihr klar, dass sie voreilig gewesen war. Die Landschaft schien sich um sie zu drehen. Sie fasste sich an die Schläfe, bevor sie von Schwärze verschlungen wurde.

Charles fing sie auf, als sie zusammenbrach. „Verflixt! Ich fürchte, sie ist ohnmächtig geworden.“

„Wie praktisch!“

„Harriet, wie kannst du nur? Charles, willst du sie nicht tragen?“

Doch Margarets Bruder brauchte diese Aufforderung nicht. Er war schon dabei, die junge Frau auf die Arme zu heben. Für ihre Größe wog sie erstaunlich wenig. Ihr Kopf war zur Seite gefallen, und der Earl sah das Blut in ihrem Haar.

„Eines ist sicher“, sagte er laut, während er mit rascherem Schritt weiterging, „sie ist eindeutig verletzt.“

„Hast du es etwa bezweifelt?“, fragte Margaret und eilte hinter ihm her.

„Ich würde annehmen, es gibt allen Grund zu Zweifeln“, fauchte Harriet, die atemlos hinterherstolperte. „Eine unverschämtere List ist mir noch nicht begegnet!“

„List?“

„Ob sie wissen dürfe, wem sie zu danken hat, dass ich nicht lache! Als ob sie seine Identität nicht ganz genau kennen würde.“

„Harriet, hast du den Verstand verloren? Charles, du machst diesen Unsinn doch hoffentlich nicht mit?“

Aber dem Earl war es momentan nicht danach, das Thema zu erörtern. „Was ich auch denken mag, jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um das zu besprechen. Zuerst wollen wir sie nach Hause bringen. Es ist sinnlos, mitten im Wald darüber zu streiten.“

Damit beschleunigte er den Schritt, ohne auf den Protest seiner Schwestern zu hören, die bald zurückfielen. Er war froh, in Ruhe nachdenken zu können.

Es kam ihm in den Sinn, dass der Zufall gnädig zu der Unbekannten in seinen Armen gewesen war. Denn nur aufgrund einer Laune war er an dem Tag in diesen Teil seines Besitzes gekommen. Gemeinsam hatten sich seine beiden Schwestern mit ihrem Anliegen, er möge sich endlich zur Ehe entschließen, auf ihn gestürzt. Sein Entschluss, den nördlichen Wald in einem der Randgebiete seines Gutes Teddington zu überprüfen, war dem Wunsch entsprungen, die Frauen zu entmutigen. Zu seinem Leidwesen hatten jedoch beide erklärt, ihn begleiten zu wollen.

Er hatte sich zwar nur flüchtig umgesehen, doch schienen seine Forstleute die Wildnis im Zaum zu halten. Der dichte Wald war fast frei von Unterholz. Und wenn seine Schwestern nicht auf dem uralten Thema seines Junggesellendaseins beharrt hätten, hätte er womöglich den Anblick des einen oder anderen Wildtiers erhascht, deren Vermehrung die Förster zu begünstigen suchten.

Ein Gedanke schoss ihm durch den Sinn, der ihn die Frau in seinen Armen näher anschauen ließ. Welche Ironie, dieses aufgezwungene Gespräch, wenn sich ihr Verhalten tatsächlich auch nur als List erwies, ihn zur Eheschließung zu bringen. Falls das so sein sollte, dann war es zumindest ein neuartiger Versuch. Von allen Frauen, die auch nur einen Funken Erfindungsgeist besaßen, wurde er mit allen erdenklichen Mitteln verfolgt. Doch keiner war es bisher in den Sinn gekommen, ihm in seinem eigenen Wald aufzulauern und zu behaupten, das Gedächtnis verloren zu haben!

Ein solcher Plan – wenn es denn einer war – hätte nicht wenig Vorbereitung erfordert, von Schauspielkunst ganz zu schweigen. Unwahrscheinlich? Ja, aber nicht völlig unmöglich. Nun, ob zumindest die Verletzung echt war, würden sie bald genug erfahren.

Wenn ja, musste dies seine Zweifel dämpfen. Sie hätte ihre Kleidung behandeln können, um den notwendigen Eindruck zu vermitteln, doch müsste sie schon wild entschlossen sein, um sich selbst eine Kopfwunde beizubringen! Und ihre Sachen waren feucht, was für einen längeren Aufenthalt im Wald sprach. Womöglich die ganze Nacht? Verflixt, das musste echt sein!

Seine offene Kutsche kam in Sicht, und das nicht zu früh. Die Unbekannte war zwar ein Leichtgewicht, doch hatte der Earl sie über eine längere Strecke getragen. Nun machte sich die Anstrengung bemerkbar. Der Pferdeknecht war sichtlich erstaunt über die Last seines Herrn.

„Öffnen Sie die Tür, Parr“, befahl dieser knapp.

Hastig gehorchte der Knecht, und Charles setzte seine Bürde – ein wenig unsanft und mit großer Erleichterung – auf dem gepolsterten Sitz ab.

„Wer ist das, Mylord?“, fragte der Lakai neugierig, während sich der Kutscher vorn auf dem Bock umwandte.

„Ich habe nicht die blasseste Ahnung“, antwortete der Earl. „Wir haben sie im Wald gefunden.“

Die Unbekannte drohte vom Sitz zu rutschen, und er unterdrückte eine Verwünschung. Gewandt stieg er hinauf und versuchte, sie sicherer aufzusetzen. Sie regte sich und äußerte etwas Unverständliches.

„Keine Angst“, murmelte er beruhigend. „Sie sind in Sicherheit.“

Sie öffnete die Lider und starrte ihn mit überzeugender Verständnislosigkeit an. Sofort vergaß Charles seine Bedenken.

„Sie sind in Sicherheit“, wiederholte er sanft.

„Elaine“, murmelte sie.

„Wie bitte?“

Sie blinzelte verwirrt. „Sie sind … nicht Elaine.“

„Ich bin Lord Wytham. Erinnern Sie sich nicht? Ich habe Sie vor Kurzem im Wald gefunden.“

Wieder erschien eine Denkfalte zwischen ihren Brauen. „Wer ist dann Elaine?“

Charles musterte sie nachdenklich. War dies eine Erinnerung aus den Tiefen ihres widerstrebenden Gedächtnisses? Oder sorgfältig geprobtes Theater? Sie sprach den französischen Namen mit perfektem Akzent aus.

„Vielleicht sind Sie Elaine?“, wagte er eine Frage.

Mit umwölktem Blick schaute sie ihn an. „Wenn ich es bin, dann weiß ich es nicht.“

Sie versuchte sich aufzurichten, doch die Anstrengung entlockte ihr ein Stöhnen.

„Haben Sie immer noch Schmerzen?“

„Mein Kopf.“ Sie hob die Hand zitternd an die Schläfe und ließ sie dorthin wandern, wo die Pein am stärksten war. Sie musste die Wunde berührt haben, denn sie stieß unwillkürlich einen leisen Schrei aus. „Was habe ich da?“

Mit seiner warmen Hand umschloss der Earl ihre Finger und zog sie fort. „Berühren Sie die Stelle besser nicht. Sie sind verletzt.“

Die junge Frau ließ den Blick von seiner Hand zu seinem Gesicht wandern. Ein Erinnerungssplitter durchdrang den dumpfen Schmerz in ihrem Kopf. Langsam blickte sie an ihrem Retter vorbei und wurde sich der Tatsache bewusst, dass sie in einer Kutsche saß. Etwas kam ihr in den Sinn, und sie sah den Earl erneut an. „Sie bringen mich nach Hause. Die zwei Frauen, wo sind sie?“

„Gut, Sie erinnern sich“, meinte ihr Begleiter. „Meine Schwestern werden gleich eintreffen, ich sehe sie schon. Sie sind ohnmächtig geworden, und ich eilte mit Ihnen voraus.“

Die junge Frau schaute sich um und entdeckte die beiden heranhastenden Damen. Eine dunkle Erinnerung an die vorangegangene Begegnung stieg in ihr auf, und sie stöhnte verzweifelt auf, als die jämmerliche Situation ihr voll zu Bewusstsein kam.

„Ich bin im Wald aufgewacht, nicht wahr? Mein Kopf – mein Kleid – nichts ergibt Sinn.“

Sie griff nach dem beschmutzten Musselin, während jene Verwirrung wieder in ihr aufstieg, die sie befallen hatte, bevor sie diesen Leuten in den Weg getreten war. Die Ankunft der Frauen lenkte sie ab.

„Sie sind also zu sich gekommen?“, fragte die eine ziemlich außer Atem.

„Nicht nur das“, antwortete ihr Retter für sie, „sondern sie hat auch einen Namen entdeckt. Sie weiß zwar nicht, ob es ihr eigener ist, doch da wir keinen anderen haben, weshalb sollten wir ihn nicht verwenden? Elaine, das sind meine Schwestern. Dies ist Lady Margaret Huntly.“

Die junge Frau lauschte dem Klang des Namens nach, mit dem der Earl sie angeredet hatte. Er erschien ihr seltsam vertraut. Elaine

Sie ließ zu, dass die freundlichere der beiden Damen ihre Hand nahm.

„Nennen Sie mich Margaret, wie alle“, sagte Lady Huntly und lächelte. Sie ließ sich von Parr in die Kutsche hinaufhelfen und setzte sich Elaine gegenüber.

„Lady Harriet Penderyn“, stellte der Earl seine andere Schwester vor, als sie einstieg und ihrem Bruder gegenüber Platz nahm. Sie ähnelt ihm nicht, dachte Elaine, denn sie hatte ein schmales Gesicht mit einer langen Nase und einem verkniffenen Mund. Ihre Augen waren kalt und blickten missbilligend, und ihr Haar war von so vielen grauen Strähnen durchzogen, dass seine ursprüngliche Farbe nicht festzustellen war. Dennoch war es von einem Schutenhut bedeckt, der ebenso frivol aussah wie ihr Kleid, dessen Wirkung von einem leichten Mantel und unpassenden Glacéledersandaletten noch verstärkt wurde.

„Elaine – das ist ein sehr hübscher Name“, stellte Margaret fest und machte es sich auf ihrem Platz behaglich. „Wir werden Sie so nennen, selbst wenn er sich vielleicht als falsch erweist.“

Während Elaine von ihr zu ihrer Schwester und dann weiter zu dem Earl blickte und von den dreien ihrerseits interessiert gemustert wurde, hatte sie plötzlich das Gefühl, ihre eigene Beobachterin zu sein. Sie gehörte nicht dazu, da die Beteiligten ihr fremd waren, einschließlich der Person, die sie selbst war. Unwillkürlich fasste sie ihre Gedanken in gemurmelte Worte.

„Ich fühle mich wie betäubt … nichts ergibt einen Sinn. Sie starren mich an und ich Sie. Genauso gut könnten Sie Geister sein. Der Stoff, aus dem die Träume sind? Alors, je ne sais pas qui je suis – ich weiß nicht, wer ich bin … noch, wer Sie sind. C’est un mystère – es ist ein Rätsel. Werde ich vielleicht aufwachen – und es wissen?“

Die entsetzliche Unsicherheit ließ sie im Innersten erzittern. Sie spürte weder, wie Tränen sich in ihren Augen sammelten und ihr über die Wangen rollten, noch dass ihre Finger und Lippen ihr inneres Beben widerspiegelten. Nur undeutlich nahm sie die geflüsterten Bemerkungen der anderen wahr.

„Hast du das gehört? Sie spricht Französisch.“

„Halluziniert sie?“

„Vermutlich steht sie unter Schock.“

„Da ist sie nicht die Einzige!“

„Sei still, Harriet! Wie kannst du nur so unfreundlich sein!“

„Elaine? Elaine!“

Sie spürte, dass sie gemeint war, und wandte den Blick dem Earl zu, der den Namen ausgesprochen hatte. Ihr Retter legte seine Hand auf ihre und durchbrach ihre sorgenvollen Grübeleien mit fester Stimme.

„Hören Sie, Elaine, es ist sinnlos, sich mit diesen Gedanken zu quälen. Was auch geschehen sein mag, ich werde nicht zulassen, dass Ihnen noch mehr zustößt. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Und nun ruhen Sie sich aus!“

Bei diesen Worten fühlte Elaine, wie der Earl sie mit seinem starken Arm an sich zog, damit sie den Kopf an seine breite Schulter legen sollte. Diese Einladung war zu verlockend, um ihr zu widerstehen. Dankbar ließ sie sich sinken und schloss die Augen.

„Du Narr, Charles! Wie konntest du ihr nur ein derartiges Versprechen geben?“

Der Earl trat zum Kamin und zog die Klingelschnur. An diesem heißen Junitag brannte kein Feuer darin, doch aus Gewohnheit blieb er an der offenen Feuerstelle stehen. Er stützte den Ellbogen auf den beinah schmucklosen Sims, der von zwei Wedgwood-Vasen und einer alten Uhr mit Ebenholzfurnier gekrönt wurde.

Er wandte sich seiner Schwester Harriet zu, die ihm in den Salon gefolgt war, während Margaret den unerwarteten Gast mithilfe der Haushälterin Miss Tumby nach oben gebracht hatte. Der Hausherr hatte den Befehl erteilt, dass ein geeignetes Zimmer für sie hergerichtet wurde.

„Keine Ahnung, Harriet“, erwiderte er ironisch. „Vielleicht hatte es etwas mit dem besorgniserregenden Geisteszustand unserer unerwarteten Besucherin zu tun.“

„Gewöhnlich lässt du dich nicht ausnutzen“, stellte seine Schwester fest, während sie zu dem langen Chippendale-Kanapee neben der Terrassentür ging. Wie die Stühle hatte es einen goldfarbenen Rahmen und war mit blassgelber Seide bezogen, die im Farbton zu den Wänden passte.

„Aber werde ich denn ausgenutzt?“

„Du lieber Himmel, Charles, wie kannst du daran Zweifel haben?“

„Vermutlich gibt es Anlass dazu.“ Er hob abwehrend die Hand, als seine Schwester zum Widerspruch ansetzte. „Ich weiß, Harriet. Die Geschichte klingt höchst unwahrscheinlich, und mein Misstrauen wurde ebenso rasch geweckt wie deines. Dennoch finde ich es schwer zu glauben, dass ihre Aufregung nicht echt gewesen sein soll.“

„Unsinn. Jede begabte Schauspielerin wäre ebenso überzeugend.“

„Und die Kopfverletzung?“

„Bisher wissen wir noch gar nicht, ob eine Wunde vorhanden ist“, gab Harriet zu bedenken.

Das gab zwar seine eigenen Gedanken wieder, doch Charles schwieg. Er fand es schwer zu glauben, dass die Verletzung vorgetäuscht sein sollte. Außerdem würde dieser Zweifel bald ausgeräumt, da er Schritte zur ärztlichen Versorgung der jungen Frau zu unternehmen gedachte.

Durch den Eintritt seines Schwagers blieb ihm eine Antwort erspart. Lord Huntly war ein untersetzter Mann Ende dreißig, der mit seiner ungezwungenen Art schon vor langer Zeit Charles’ Freundschaft und Zuneigung gewonnen hatte.

„Was soll das, mein Junge?“, begann der Mann seiner Schwester ohne Vorrede, während er an den Kamin trat und Charles kräftig auf den Rücken klopfte. „Gibt es in der Stadt nicht genug Frauen, dass du verlassene Waisen auflesen musst?“

„Fang du nicht auch noch an, Matthew“, meinte der Earl müde. Dann wandte er sich dem Butler zu, der Lord Huntly in den Salon gefolgt war. „Moffat, bitte lassen Sie Doktor Gorsty holen.“

„Selbstverständlich, Mylord.“

Da der Butler sich nicht sofort zurückzog, fragte er nach: „Ja, Moffat?“

„Miss Tumby quartiert die junge Dame in das blaue Schlafzimmer neben dem von Lord und Lady Huntly ein, Mylord. Das war Lady Huntlys Wunsch.“

„Ja, gut. Danke. Der Doktor soll so rasch wie möglich kommen.“

Der Butler verneigte sich und verließ den Raum.

„Margaret spielt Krankenpflegerin, wie?“, bemerkte Matthew schmunzelnd. „Und ich dachte, sie wollte sich erholen.“

Das war ihre Ausrede bei Charles gewesen. Nicht dass er darauf hereingefallen wäre. Tatsächlich hatte er sich sogar heftig gegen den Besuch beider Schwestern gewehrt.

„Ihr habt selbst wunderbare Häuser. Warum könnt ihr nicht dortbleiben? Und falls ihr vorhabt, mich mit eurem zahlreichen Nachwuchs zu überfallen“, hatte er energisch hinzugefügt, „dann lasst euch sagen, dass ich soeben eine heftige Abneigung gegen meine Nichten und Neffen entwickelt habe.“

„Warum, glaubst du, bin ich geflüchtet?“, hatte Margaret gefragt. „Die Zwillinge sind aus Eton zurück, und wenn ich die Sommerferien überleben soll, brauche ich dringend eine Pause. Dein Problem, Charles“, hatte sie hinzugesetzt, „ist, dass du es von jeher zu sehr gewohnt bist, dass alle Welt dir hinterherläuft. Du bist zynisch und gelangweilt geworden.“

„Vor allem gelangweilt“, hatte Charles zugestimmt.

„Darüber hinaus“, war Margaret unbeirrt fortgefahren, „hast du es satt, nur wegen deiner Eignung als Ehemann begehrt zu werden.“

„Wie schade, dass diese intelligente Einschätzung meines Zustands keine Auswirkungen auf dein und Harriets Bemühen zeigt, mir eine Ehe aufzudrängen.“

„Du bist zweiunddreißig, und diese törichte Unentschiedenheit ist lächerlich, aber leider haben wir dazu keine Macht“, hatte Harriet bissig erwidert.

Anscheinend ging ihr Wunsch nach seiner Vermählung jedoch nicht so weit, dass er dieser vermeintlichen Intrigantin zum Opfer fallen sollte, mochte sie auch noch so schön sein, denn nun brach ihre Missbilligung aus ihr hervor. „Ich wüsste nicht, was daran so erheiternd sein sollte, Matthew! Margaret verhält sich wirklich unmöglich!“

„Also, also“, widersprach Matthew gutmütig. „Manchmal kann sie zwar aufdringlich sein, aber das geht zu weit.“

„Ach wirklich? Wirst du das immer noch sagen, wenn du feststellst, dass sie sich eine romantische Idee in den Kopf gesetzt hat? Ehe du dich versiehst, wird sie sich für diese Dahergelaufene einsetzen und Charles drängen, sie zu heiraten!“

Die fragliche junge Frau war sich zu diesem Zeitpunkt keines anderen Wunsches bewusst als dem, dass ihr unerträgliches Zittern aufhören möge.

Trotz Verwirrung und Schmerz hatte Elaine eine gewisse Vernünftigkeit aufrechterhalten. Vage hatte sie die kiesbestreute Auffahrt zu dem prächtigen Anwesen wahrgenommen. Sie hatte den heftigen Wortwechsel überstanden, der ausgebrochen war, als ihr Retter sie aus der Kutsche gehoben und sie die Stufen hinauf, über eine säulengeschmückte Veranda und in die große Eingangshalle mit Prunktreppe geführt hatte, die sich an einem Absatz teilte und zu einer Galerie im oberen Stockwerk führte.

Nachdem der Earl ihr seinen Halt gebenden Arm entzogen hatte, hatte sie sich stattdessen auf die mütterliche Margaret und eine kräftige Frau gestützt, die sie auf der anderen Seite begleitete. Gehorsam war sie die Treppe hinauf und durch einige Gänge gewandert, bis man sie durch eine getäfelte Tür geleitet hatte, hinter der pfauenblaue Wände aufgetaucht waren.

„So, meine Liebe, nun haben Sie nichts mehr zu fürchten“, hatte Margaret herzlich gesagt.

Als Elaine sich bedanken wollte, hatte sie plötzlich derart zu zittern begonnen, dass sie sich an einen Bettpfosten klammern musste. Einige Augenblicke lang hatte sie weder sprechen noch sich bewegen können, und selbst jetzt, da sie auf dem weichen Bett lag, auf das die beiden Frauen sie mit Mühe befördert hatten, konnte sie das krampfhafte Beben nicht unterbinden.

„Ein Schock, das ist es“, verkündete Margaret, während sie Elaine sorgfältig zudeckte. „Armes Ding, Sie müssen Todesängste ausgestanden haben!“

Sie schickte die Haushälterin ein heißes Getränk holen. Dann warf sie ihren Hut auf einen Stuhl und begann Hände und Füße der Patientin zu reiben. Elaine brachte nur ein schwaches Dankesgemurmel zustande, denn ihr schmerzender Kopf war wie in dichtem Nebel versunken. Nur eine intensive Angst drang ihr ins Bewusstsein.

Doch schließlich ließ das Zittern nach, und der Schmerz verwandelte sich in einen dumpfen Druck. Elaine seufzte dankbar auf. Aus dem Gemurmel an ihrem Ohr entnahm sie Worte.

„So ist es besser, nun kehrt ein wenig Farbe zurück. Armes Kind, Sie waren leichenblass! Hoffentlich hat Charles unverzüglich Gorsty holen lassen!“

„Gorsty?“, wiederholte Elaine verständnislos.

„Unser Arzt. Er ist ein einfühlsamer Mensch und behandelt unsere Familie schon seit Jahren, denn früher haben wir hier viel Zeit verbracht.“

Hier? Wo war das, hier? „Wo sind wir?“

„Wir sind in Clevedon House“, erläuterte Margaret bereitwillig. „Ach, das sagt Ihnen vermutlich nichts. Es ist unser zweites Familiengut, in Teddington.“

„Teddington?“

„Am Fluss“, erklärte Margaret weiter. „In der Nähe von Hampton Court. Es liegt fast vor unserer Haustüre, obwohl die königliche Familie zurzeit nicht dort residiert.“

„Aber der Wald … dort herrschte Wildnis.“

Autor

Elizabeth Bailey
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