Hauptgewinn: Traummann

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HAUPTGEWINN: TRAUMMANN von JEN SAFREY

Wer hat bloß den Lotto-Jackpot geknackt? Pizzaverkäuferin Acey will unbedingt herausfinden, wer der Glückspilz und frischgebackene Millionär ist, zumal er in ihrer Nähe wohnen soll! Da trifft sie auf ihren neuen Nachbarn Harry Wells. Er ist traumhaft attraktiv, kommt aus Texas, ist gerade erst nach New York gezogen und sexy wie ein echter Cowboy. Heiß knistert es zwischen ihr und Harry, und im Rekordtempo kommen sie sich näher, vertrauen sich alles an. Nur wenn es um das Thema Geld geht, ist er verdächtig verschlossen. Und dann entdeckt Acey in seiner Küche ein achtlos geknicktes Lotterie-Los …


  • Erscheinungstag 30.07.2024
  • ISBN / Artikelnummer 9783751524254
  • Seitenanzahl 192
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Aaaaah!“

Ein Aufschrei gellte durch das Apartment, das sich Acey mit ihrer jüngeren Schwester teilte. Vor Schreck drückte sie sich den heißen Lockenstab auf die Wange und fluchte los: „Verdammt! Stephanie! Was ist denn los?“

„Acey“, schrie die nur. „Komm her! Schnell! Beeil dich!“

Normalerweise war Acey diejenige Corelli-Tochter, die zu lautstarken Gefühlsausbrüchen jeder Art neigte, während Steph stets ruhig und ausgeglichen war. Dass sie nun wie am Spieß schrie, war sehr beunruhigend.

Sie legte den Lockenstab weg und stürmte in den kurzen Flur, während ihre Schwester weiter nach ihr rief. Im Wohnzimmer angekommen, sah sie Steph vor dem Fernseher stehen, den sie ungläubig ansah. „Was ist denn los?“, wollte Acey wissen.

Steph zeigte nur stumm auf den Bildschirm, auf dem das Bread and Milk zu sehen war, das kleine Lebensmittelgeschäft, das nur zwei Blocks von ihrem Apartment entfernt lag und in dem die Schwestern regelmäßig einkauften. Rosalia war zu sehen, die Geschäftsinhaberin, und sofort bekam Acey einen Schreck. „Ist ihr etwas zugestoßen?“, wollte sie wissen, kam dann aber auf die Idee, erst einmal zuzuhören, was die Frau zu sagen hatte.

„Ja, wir sind alle sehr aufgeregt“, erklärte Rosalia soeben in ihrem unverkennbaren kolumbianischen Akzent, den sie auch nach so vielen Jahren in New York nicht abgelegt hatte. „Für unser Geschäft ist das eine gute Sache.“

Der Reporter gab zurück ins Studio, wo die Nachrichtensprecherin übernahm. „Das sind also die Glückszahlen“, sagte sie, während neben ihr eine Zahlenfolge eingeblendet wurde, „und die sind fünfunddreißig Millionen Dollar wert. Wenn Sie bei Bread and Milk ein Los gekauft und es sich noch nicht angesehen haben, dann sollten Sie das besser gleich jetzt nachholen.“ Mit diesen Worten wandte sie sich dem Meteorologen zu und fragte ihn nach den Aussichten für das Wochenende.

Steph übertrug die Lottozahlen in ihr Notizbuch, das sie immer griffbereit hielt, und stellte den Ton des Fernsehers ab. Die beiden Schwestern sahen sich einen Moment lang an.

„Habe ich das eben richtig verstanden?“, fragte Acey leise.

„Gestern Abend wurden die Lottozahlen gezogen“, entgegnete Steph. „Es gibt einen Hauptgewinner, und der hat das Los bei Rosalia gekauft.“

Sekundenlang schwiegen die beiden, dann rannten sie fast gleichzeitig los, weil jede von ihnen als Erste im Schlafzimmer ankommen wollte, um sich das Los zu schnappen, das sie beide geholt hatten. Voller Hektik suchten sie die Kommode ab, auf der es hätte liegen sollen, doch da war nichts.

„Wo ist das Los?“, rief Steph.

„Ich lege es immer hierhin! Genau hier!“, entgegnete Acey panisch, konnte aber in den Schmuckdosen auf der Kommode nichts finden. „Wo ist es denn nur?“

„Wir haben aber doch gestern ein Los gekauft, oder nicht?“

„Seit du alt genug bist, um die Hälfte des Gewinns abzubekommen, ist noch nie ein Donnerstag vergangen, an dem wir es je vergessen hätten! Du warst gestern mit mir da, weißt du noch?“

„Dann such in deiner Handtasche!“, forderte Steph sie aufgeregt auf. „Und in deiner Jeans! Such einfach überall!“

Acey nahm ihre Handtasche und kippte sie auf dem Bett aus. „Es muss doch da sein“, setzte sie zu einem Wehklagen an, als das Los nach wie vor verschwunden blieb. „Es kann nicht weg sein …“

Auf einmal bemerkte sie, dass sich die Bettdecke bewegte, sie hob sie hoch und entdeckte ihren Kater Sherlock, der es sich darunter gemütlich gemacht hatte und mit etwas spielte – mit einem Stück Papier!

Steph nahm sich eines von Sherlocks Spielzeugen und lenkte den Kater ab, während Acey versuchte, ihm das Papier wegzunehmen. Es kostete sie einen kleinen Kratzer am Finger, doch dann hatten die Schwestern gewonnen. Acey hielt das Los in der Hand, das zwar zerknittert, ansonsten aber unversehrt war.

„Hol deinen Notizblock“, sagte sie zu Steph. „Ich sehe in der Zwischenzeit nach dem Datum, damit wir auch sicher das richtige Los haben.“

Während ihre Schwester aus dem Zimmer ging, wünschte sich Acey, sie würden jede Woche eine feste Zahlenreihe tippen. Dann hätten sie sich diese Hektik ersparen können. Sie strich das Stück Papier glatt, sah aufs Datum und atmete erleichtert auf. Das Los war vom 24. Mai, also von gestern.

„Fertig?“, fragte Steph, die den Notizblock in der Hand hielt.

„Fertig.“ Acey kniff die Augen zu, weil sie die Spannung nicht mehr ertragen konnte.

„Also, hier kommt die erste Zahl: Vier.“

Acey blinzelte, bis sie die erste Zahl auf dem Los erkennen konnte.

Acht.

„Ach, Mist.“ Sie warf das Los enttäuscht weg. „Nicht zu fassen! Nach dieser Aufregung!“

Steph griff nach dem Los und verglich es mit ihren Notizen. „Oh, Mann, wir haben ja gar keine Zahl richtig getippt.“

In einer dramatischen Geste warf Acey sich aufs Bett. „Siebenundzwanzig Jahre bin ich jetzt auf diesem Planeten – warum kann mir da nicht wenigstens ein einziges Mal was Gutes widerfahren?“

„Tja, da können wir uns die Hand reichen“, meinte Steph.

Acey schüttelte den Kopf. „Nein, bei mir geht alles schief. Du schreibst ja wenigstens noch Bücher.“ So ungern sie es sich selbst gegenüber auch eingestehen wollte, war sie doch manchmal auf ihre zwei Jahre jüngere Schwester eifersüchtig. Wenn eine von ihnen beiden jemals Erfolg haben sollte, dann würde es ganz sicher nicht Acey sein.

„Aber ich verkaufe kein Buch“, widersprach Steph. „Vor zwei Tagen habe ich die nächste Absage erhalten.“

„Wenigstens versuchst du es aber. Ich dagegen bin dazu verdammt, für den Rest meines Lebens tagtäglich in der Pizzeria zu arbeiten.“

„Acey, du könntest tausend andere Dinge tun, wenn du das wirklich wolltest. Du planst immer irgendetwas, aber dabei bleibt es dann auch. Vielleicht solltest du …“

„Hör auf, ich habe keine Lust, über meine trüben Zukunftsaussichten zu reden. Lieber ergötze ich mich an der Enttäuschung, dass ich nicht um fünfunddreißig Millionen Dollar reicher geworden bin.“

„Wenn es dich trösten sollte, dann sag dir doch, dass du mir die Hälfte davon hättest geben müssen.“

Acey seufzte laut, während Steph sich zu ihr setzte. Nachdem die Aufregung sich nun wieder gelegt hatte, fiel ihr auf, dass ihre kleine Schwester wieder die übliche Gelassenheit ausstrahlte. „Hör mal“, meinte Steph. „Es ist ja nicht so, als hätten wir wirklich damit gerechnet, wir könnten den Hauptgewinn einkassieren. Das ist doch nur ein Traum.“

„Aber ich dachte, diesmal hätte es uns erwischt. Hast du das etwa nicht gedacht?“

Steph ließ sich nach hinten sinken. „Ja, gedacht habe ich das auch.“

Nach einigen Minuten hatte sich Acey wieder gefasst und betrachtete die Unordnung, die sie durch die Suche nach dem Los veranstaltet hatten. „Wenn wir gewonnen hätten, dann könnten wir wenigstens eine Putzfrau einstellen, die das hier aufräumt. Jetzt müssen wir das machen.“

„Wir können nur froh sein“, gab Steph lachend zurück, „dass Ma und Dad in Florida sind. Sie würden tot umfallen, wenn sie das hier zu Gesicht bekämen!“

Acey lächelte. Annamaria Christina Corelli!“, imitierte sie ihre Mutter. „Hier sieht es aus wie in einem Schweinestall! Aber Ma, das ist Stephs Schuld. Stephanie Cara Corelli!

Steph begann zu kichern. „Als ob wir aufräumen würden, nur weil sie uns mit all unseren Vornamen anredet.“

„Wenigstens macht sich Dad nie die Mühe“, entgegnete sie und dachte daran zurück, wie ihr Vater sie immer nur kurz A.C. gerufen hatte, woraus nach einer Weile Acey entstanden war.

Ihr kam in den Sinn, dass dies eigentlich gar nicht der richtige Zeitpunkt war, um in schönen Erinnerungen zu schwelgen, immerhin hatten sie eben erst eine schwere Enttäuschung hinnehmen müssen. „Na ja, wer immer das große Los gezogen hat“, meinte sie nachdenklich, „wenigstens trifft es jemanden, der hier in Valley Stream lebt.“

„Nicht unbedingt. Er könnte auch von außerhalb sein.“

„Nein, ich habe so ein Gefühl, dass es jemand von hier ist, jemand wie wir. Jemand, der hart arbeitet und der vermutlich nett ist.“

„Stimmt eigentlich“, pflichtete Steph ihr bei. „Bread and Milk ist nicht gerade ein Ausflugsziel für Touristen vom Land. Bestimmt ist es jemand, dem wir jeden Tag begegnen.“

„Aber wer? Das möchte ich wirklich zu gern wissen!“

„Du musst aber noch warten“, sagte ihre Schwester. „Außerdem wurden die Lottozahlen erst gestern Abend gezogen. Der Gewinner wird sich schon melden.“

„Da hast du recht. Kein Mensch, der so viel Geld gewonnen hat, wird darauf verzichten und stattdessen sein langweiliges Leben weiterführen.“ Acey seufzte. „Kein Mensch.“

Harry packte das Sandwich aus und betrachtete es versonnen. Wenn sich in ihm Sehnsucht nach seinem Leben in Texas zu regen begann, weil eine innere Stimme ihn fragte, ob es nicht verrückt gewesen war, alles hinter sich zu lassen und nach New York zu ziehen, machte er sich auf den Weg und kaufte sich eines dieser unglaublichen Sandwichs, die hier besser schmeckten als irgendwo anders auf der Welt.

Er schaltete den Fernseher an und nahm das Sandwich, um davon abzubeißen. „Das sind also die Glückszahlen“, hörte er eine Nachrichtensprecherin sagen, während er genüsslich kaute, „und die sind fünfunddreißig Millionen Dollar wert. Wenn Sie bei Bread and Milk ein Los gekauft und es sich noch nicht angesehen haben, dann sollten Sie das besser gleich jetzt nachholen.“

Die Frau hörte sich so fröhlich an, als könnte man sich keine schöneren Nachrichten vorstellen. Jemand, der gestern vermutlich noch auf jeden Cent hatte achten müssen, war seit heute Multimillionär.

Sein Blick ruhte auf dem künstlich aussehenden Gesicht der Sprecherin, die nun einem Meteorologen zuhörte, der etwas von ansteigenden Temperaturen erzählte. Ihr kommt gar nicht in den Sinn, dass sie soeben die schlimmste Nachricht des Tages verkündet hat, dachte Harry. Zweifellos war zuvor über irgendwelche Katastrophen berichtet worden, und zum Abschluss hatte es die „erbauliche“ Meldung vom Lottogewinn gegeben.

Er legte das Sandwich hin und lehnte sich nach hinten. Es war eine traurige Tatsache, dass der Spieler mit den richtigen Zahlen auf seinem Lottoschein der unglücklichste Mensch war, den man sich vorstellen konnte. Er wusste es bloß noch nicht, und er würde es auch noch nicht wissen, wenn er seinen Scheck entgegennahm, und selbst wenn er in seine Prachtvilla in Beverly Hills oder in Südfrankreich einzog, würde es ihm noch immer nicht bewusst sein. Erst mit der Zeit wurde aus so viel Geld und aus den Privilegien etwas Unmenschliches, das eine Gefahr für andere darstellte.

Harrys linkes Bein schmerzte, und unwillkürlich musste er an den Stahlstift denken, den man in sein Knie eingesetzt hatte. Es war die beste Qualität, die jeder bekommen konnte, wenn er nur genug Geld besaß. Die Ironie daran war nur, dass genau dieses Geld der Grund war, weshalb man ihn hatte operieren müssen.

Sosehr er sich auch bemühte, nicht daran zu denken, kehrten die Erinnerungen manchmal trotzdem aus völlig nichtigen Anlässen zurück. Mal genügte ein Passant, der an Krücken ging, mal eine Übertragung von einem Pferderennen im Fernsehen. In diesen Augenblicken wurde er prompt zurückversetzt, als er unter seinem Pferd begraben lag, das sich vor Schmerzen wand und gleichzeitig mit seinem Gewicht Harrys Knochen zerdrückte, da es vergeblich versuchte, sich wieder aufzurichten.

Sein Geld war es gewesen, das dem Leben eines Tieres ein Ende gesetzt hatte, sein Geld, das ihm in die Wiege gelegt worden war. Im Krankenhaus hatte Harry sich gewünscht, sein Leben hätte in diesem Moment ebenfalls geendet.

Abrupt stand Harry vom Sofa auf und ging in die Küche, während er die Erinnerungen verdrängte. Vor dem Kühlschrank blieb er stehen und betrachtete das Los, das er gestern gekauft und unter einen Magneten geklemmt hatte. Noch nie zuvor war er auf die Idee gekommen, sich ein Los zu kaufen, und als er bei Bread and Milk an der Theke stand, hatte er sogar darüber lachen müssen, so absurd war ihm der Gedanke erschienen.

Doch das Los war nicht für ihn gedacht, sondern für seinen Nachbarn Joe, der in dieser Woche seine Tochter in Boston besuchte. Der hatte fast sein ganzes Wochenende geopfert, um Harry bei der Reparatur der Klimaanlage zu helfen. Da er sich dafür nicht bezahlen lassen wollte, war Harry auf die Idee gekommen, ihm einen Lottoschein mitzubringen.

Er betrachtete den Schein, die erste Zahl war die Elf. Im Fernsehen hatte er als erste Zahl die Vier gesehen, womit das Thema erledigt war. Aus einem unerfindlichen Grund warf er das Los nicht weg, sondern knickte es so, dass die Zahlen nicht zu sehen waren. Dann holte er eine Dose Rootbeer aus dem Kühlschrank und kehrte ins Wohnzimmer zurück.

Sein Sandwich lag noch da und weckte wieder seinen Appetit, der für ein paar Minuten in Vergessenheit geraten war. Sein Leben hier lief ganz akzeptabel. Er konnte es hinnehmen, wenn von Zeit zu Zeit die Erinnerung zurückkehrte. Wichtig war nur, dass er sich nicht von ihr vereinnahmen ließ.

Er nahm die Fernbedienung und schaltete um, doch auch die Konkurrenz berichtete eifrig vom mysteriösen Lottogewinner. „Ich kann es nicht erwarten, endlich zu erfahren, wer der Glückliche ist“, redete die Moderatorin auf ihren Kollegen ein.

„Ich schon“, meinte Harry und griff wieder nach seinem Sandwich. „Dieser bedauernswerte Kerl.“

2. KAPITEL

Acey war spät dran, darum rannte sie die Straße entlang. Sie trug ihre weißen Halbschuhe, die sie besonders gern anzog, weil sie einfach hineinschlüpfen konnte.

Das Problem war nur, dass sich diese Halbschuhe nicht zum Rennen eigneten, weshalb sie auf halber Strecke zur Arbeit hinfiel und sich das Knie aufschlug.

Mit schmerzverzerrter Miene setzte sie sich auf dem Fußweg auf und begutachtete die Schürfwunde, von der aus ein schmales, blutrotes Rinnsal über ihren Unterschenkel lief.

„Alles in Ordnung?“, hörte sie eine Männerstimme.

„Ja, sicher. Ich falle immer mit dem größten Vergnügen in aller Öffentlichkeit auf meinen Hin…“ Sie hob den Kopf und sah den Mann an, dessen Anblick ihr fast den Atem raubte. „… tern.“

„Ich glaube, von Öffentlichkeit kann man kaum reden“, sagte der Mann. „Es ist niemand sonst unterwegs. Können Sie aufstehen?“

Da bin ich mir nicht so sicher, dachte sie. Hätte sie gestanden, wäre sie angesichts dieses Mannes garantiert wieder zu Boden gesunken.

Sein mittelbraunes Haar war kurz geschnitten, er hatte ein freundliches Lächeln aufgesetzt, und seine Augen waren so blau, wie es ihr bei keinem anderen Mann zuvor aufgefallen war.

„Ich kann aufstehen. Es ist ja nichts gebrochen, ich habe mir nur die Haut aufgeschrammt“, brachte sie schließlich heraus, ließ sich aber von ihm aufhelfen. Sie zuckte zusammen. „Ah, das sticht. Ich hasse diese Schuhe, ständig stolpere ich irgendwo.“

„Warum tragen Sie sie dann überhaupt?“

„Weil sie gut aussehen“, erklärte sie und strich ihr Top glatt.

„Aha.“

„Allerdings werden sie nicht mehr gut aussehen, wenn sie erst mal voller Blut gelaufen sind.“

„Hören Sie, warum kommen Sie nicht mit zu mir nach oben. Dann können Sie die Wunde säubern und einen Verband anlegen.“

Mit zu ihm nach oben? Oh nein! Sie wusste aus den Nachrichten, dass sie das besser nicht machte. „Danke, aber das geht nicht“, entgegnete sie. „Ich bin schon spät dran.“

„Sie werden sich nur noch mehr verspäten“, meinte er amüsiert, „wenn Sie unterwegs verbluten.“

„Das wird schon nicht passieren“, versicherte Acey ihm, doch trotz aller Vorbehalte konnte sie sich nicht losreißen. „Außerdem soll ich nicht mit Fremden reden“, scherzte sie, obwohl sie längst hätte weitergehen müssen. „Apropos Fremder – wenn ich Ihren Akzent so höre, würde ich sagen, Sie sind nicht von hier. Südstaaten?“

„Texas.“

„Schon lange hier?“

„Ein paar Monate.“

„Wieso ausgerechnet Valley Stream?“

„Wieso nicht?“

Sie nickte langsam. „Und warum arbeiten Sie um diese Zeit nicht?“

„Ich arbeite von zu Hause aus.“

„Als was?“

„Ich schreibe Bettelbriefe.“

„Name?“

„Harry.“

„Nachname?“

„Wells. Ist das Verhör jetzt vorbei? Sie sollten nämlich diese Wunde säubern.“

„Ich denke, das genügt erst mal.“ Sie streckte ihm die Hand hin. „Ich bin Acey Corelli.“

„Interessanter Name.“

„Ich bin ja auch eine interessante Frau.“ Als sie bemerkte, wie Harry sie anstarrte, wurde sie rot.

Er nahm sie am Ellbogen und dirigierte sie in den Hauseingang, vor dem sie hingefallen war. „Hier geht’s lang, Acey.“

Nach einem Schritt blieb sie stehen und drehte sich um. „Nur damit Sie das wissen: Ich lasse mich nicht einfach von jedem Mann mit in seine Wohnung nehmen. Das mache ich nur, weil ich im Moment Hilfe gebrauchen kann. Und weil Sie ein echter Gentleman aus dem Süden zu sein scheinen.“

Harry war entzückt. „Der bin ich auch, und Ihre Aussage habe ich zur Kenntnis genommen.“

„Na, dann ist ja alles okay.“

Sie ging vor ihm her bis zur Wohnungstür, während er sich auf ihren Hinterkopf konzentrierte, damit sein Blick nicht abschweifen konnte zu ihrem … ach, verdammt, es war ohnehin sinnlos, sich gegen seine Reaktion zu wehren.

„Es ist offen“, sagte er, woraufhin Acey die Tür öffnete und sie dann aufhielt, damit er an ihr vorbei in sein Apartment gehen konnte. „Zum Badezimmer geht’s hier lang“, erklärte er. „Ich zeige Ihnen den Weg.“

„Nicht nötig“, gab sie in einem Tonfall zurück, der zu bedeuten schien, dass sie sich nicht helfen lassen wollte. „Wo sind die Pflaster?“, fügte sie noch an.

„Im Wandschrank über dem Waschbecken.“

Er hörte, wie sie die Badezimmertür hinter sich schloss, und schlenderte weiter ins Wohnzimmer. Die Situation war etwas eigenartig, immerhin hatte er bislang noch nie eine Frau mit in sein Apartment gebracht.

Das Wasser im Badezimmer wurde wieder abgestellt, und einen Moment später kam Acey heraus. Ihr makelloses Bein war durch zwei über Kreuz geklebte Pflaster verunziert worden. Sie lächelte ihn an und sagte: „Schön haben Sie’s hier. Es ist sehr … na ja, sehr sauber. Ich glaube, nicht mal ein Krankenzimmer ist so sauber.“

Harry musste lachen. Sauber war tatsächlich das Einzige, was man über sein Apartment sagen konnte. Es gab nichts, was die Räumlichkeiten schmückte, die alle weiß gestrichen und karg eingerichtet waren. Dem Einfluss der verschiedenen Dienstmädchen, die seine Mutter beschäftigt hatte, war es zuzuschreiben, dass Harry sich nur in sterilen Umgebungen wirklich wohl fühlte. „Ich mag es nicht, wenn überall etwas herumliegt. Oder wenn überhaupt irgendwo etwas herumliegt.“

„Kein Problem. Das sollte auch keine Kritik sein, sondern nur eine Feststellung.“ Sie verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen und schien sich irgendwie unwohl in ihrer Haut zu fühlen. Harry wusste, er konnte sie mit einer Geste, einer Bemerkung oder einem Drink dazu bringen, dass sie sich nicht so unbehaglich fühlte. So etwas hatte er in seinem Leben schon Hunderte Male gemacht. Aber jetzt in diesem Augenblick war es ihm nicht möglich, sich dazu durchzuringen.

Einige Sekunden verstrichen, ohne dass etwas geschah. „Also …“, begann Acey schließlich. „Ich muss mich jetzt wirklich auf den Weg machen.“ Sie sah auf ihre Armbanduhr, vermutlich nur, um einen Vorwand zu haben, doch dann riss sie die Augen weit auf. „Was? So spät? Ich muss jetzt wirklich los! Das war sehr nett von Ihnen, Cowboy, danke. Wir sehen uns“, rief sie, als sie bereits auf dem Weg zur Tür war.

Harry wollte etwas erwidern, doch ehe er sich versah, war sie schneller aus seinem Leben verschwunden, als sie zuvor hineingeraten war. Das Seltsame daran war nur, dass ihm Acey Corelli schon jetzt fehlte.

In der Pizzeria Focaccia’s war alles beim Alten. Aceys Kollegin Lydia – ihrem Vater gehörte das Lokal – stritt sich wieder mal mit Anthony, ihrem Freund und Kollegen. Die beiden wirkten auf Acey wie eine Fernsehsendung, die unablässig wiederholt wurde. Erst stritten sie so heftig, dass man befürchten musste, sie könnten sich gegenseitig umbringen, und nach ein paar Minuten herrschte wieder eitel Sonnenschein.

Acey rollte mit den Augen, als sie mitbekam, wie die zwei sich nach hinten in den kleinen Pausenraum begaben, um ungestört zu sein, während sie selbst sich allein um die Bestellungen der Kunden kümmern musste.

Als um sieben Uhr Steve kam, um sie abzulösen, war sie froh, ihre fettverschmierte Schürze ablegen und sich auf den Heimweg machen zu können. Normalerweise benötigte sie vom Focaccia’s bis nach Hause eine Viertelstunde, doch heute Abend legte sie einen kleinen Umweg ein – nämlich zu Rosalias Geschäft.

Ihre Neugier, wer sich als Lottogewinner entpuppen würde, war unerträglich, und sie war entschlossen, zur Tat zu schreiten, um daran etwas zu ändern.

Im Gehen zog sie ihre Jeansjacke aus. In den letzten Tagen war es für die Jahreszeit untypisch kühl und regnerisch gewesen, doch nachdem nun der Juni angefangen hatte, schien das Wetter auf einmal mit dem Kalender zusammenarbeiten zu wollen.

Als sie um die Ecke bog, sah sie das Bread and Milk, das einen ungewöhnlichen Glanz ausstrahlte, seit bekannt geworden war, dass das siegreiche Los aus dem kleinen Lebensmittelgeschäft stammte. Acey überquerte die Straße und ging hinein. Die Tür stand weit offen, aber hinter der Theke war niemand zu entdecken. Sie nahm aus dem großen Kühlschrank eine Packung Orangensaft, als Rosalia aus dem Lager kam und eine schwere Kiste trug.

„Hi“, rief Acey, lief zu ihr und nahm ihr die Kiste ab.

„Nein, Acey, nicht“, widersprach Rosalia, doch Acey ignorierte sie.

Stattdessen fragte sie: „Wo soll die hin?“

„Vorne, neben die Kasse. Das ist wirklich lieb von dir“, sagte die Ladenbesitzerin. „Du bist stärker als meine Jungs, die zu nichts taugen. Ich wünschte, du würdest hier arbeiten.“

„Ich würde ja auch gern hier arbeiten“, entgegnete Acey. Es war eine angenehme Gegend, jeder kannte jeden, und es war hier so wunderbar ruhig, ganz anders als im Focaccia’s, vor allem wenn Lydia und Anthony eines ihrer Dramen zum Besten gaben.

„Ich habe dich ja hier schon länger nicht mehr gesehen, Acey.“

„Oh, aber ich habe dich gesehen, nämlich im Fernsehen.“

Rosalia versuchte, gelassen zu bleiben, konnte sich aber ein Grinsen nicht verkneifen. „Ein glücklicher Zufall. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie glücklich.“

„Ich glaube, ich kann mir das vorstellen. Und der Laden bekommt doch auch einen Anteil, oder?“

„Man nimmt, was man kriegen kann“, entgegnete Rosalia ausweichend, ging hinter die Theke und tippte den Preis für den Saft ein.

Acey beugte sich mit dem Geld in der Hand weit über die Theke und fragte verschwörerisch leise: „Weißt du schon, wer gewonnen hat?“

„Das weiß doch niemand.“

„Offiziell nicht, aber … du hast doch bestimmt eine Ahnung, wer es sein könnte, Rosalia.“

„Wie kommst du denn darauf?“

„Weil du jeden deiner Kunden mit Namen kennst. Hat irgendjemand etwas gesagt? Ich verrate es auch niemandem. Ich schwör’s.“

„Aber sicher.“

„Ehrlich“, beteuerte Acey. „Komm schon, Rosalia, sag, was du weißt.“

„Ich kann dir nichts sagen, weil es noch immer ein Geheimnis ist.“

Nach einem letzten kritischen Blick in Rosalias Gesicht, das nichts verriet, gab Acey es auf. „Ich war so sicher, dass du es weißt.“

„Ich bin selbst erstaunt“, gab sie zurück und strich sich eine Strähne hinters Ohr. „Wenn jemand gewinnt, dann sollte man meinen, dass er hier freudestrahlend reinkommt, aber nichts.“

Acey griff nach der Plastiktüte. „Na ja, dann werde ich wohl weiter raten müssen, wer der Gewinner ist.“

„Nun“, sagte Rosalia leise, ehe ihre Kundin das Geschäft verlassen konnte. „Ich wüsste da schon jemanden.“

„Aha! Dann hast du also einen Verdächtigen!“

Rosalia machte eine abwehrende Geste. „Ich weiß überhaupt nichts, ich könnte mir nur vorstellen, wer es ist. Nur eine Vermutung!“

Ungeduldig bedeutete Acey ihr, sie solle weiterreden.

„Da ist dieser Mann. Er ist vor ungefähr einem halben Jahr zum ersten Mal hergekommen. Vielleicht dein Alter. Nicht aus der Gegend hier.“

„Das heißt, er hat einen Akzent?“

„Ja, und er ist so nett. Immer, wenn er herkommt, fragt er, wie es meiner Enkelin geht, nur weil er sie einmal hier gesehen hat. Und im Februar, als es so schlimm geschneit hat, da hat er den Fußweg frei geschaufelt. Er hilft mir, so wie du das auch machst.“

„Wie heißt er?“

„Ich weiß nicht. Er erzählt nicht viel über sich. Aber an dem Tag hat er bei mir ein Los gekauft. Jeder andere würde herkommen und sich darüber freuen, aber weil er so ruhig ist … na ja, vielleicht will er auch nichts über das Los sagen.“

Acey dachte kurz nach. „War er noch mal hier, nachdem die Lottozahlen gezogen wurden?“

Autor

Jen Safrey
Jen Safrey wurde in Queens, New York, geboren und wuchs in Valley Stream, auf Deutsch Talstrom, auf – einem Städtchen in der Nähe von New York, das interessanterweise trotz seines Namens weder ein Tal noch einen Strom aufweist. (Dafür aber viele Imbissbuden und Pizzerien.)

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