Heimkehr nach Elmswood

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"Da ist eine hübsche Frau, Dad", bemerkt der siebenjährige Jamie - und Nick muss seinem Sohn zustimmen: Ryanne zieht ihn magisch an. Und sie ist nach Elmswood zurückgekehrt! Kann Nick seine Traumfrau überzeugen, bei ihm und seinem Sohn Jamie zu bleiben - für immer?


  • Erscheinungstag 15.03.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733776763
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Nick Sinclair hielt die Luft an, presste sich eng an die Wand und glitt lautlos in das Schlafzimmer, wobei er seine Smith und Wesson fest in beiden Händen hielt. „Keine Bewegung!“

Der darauf folgende markerschütternde Schrei ließ ihn so zusammenzucken, dass er die Waffe beinahe fallen ließ, aber er blickte weiterhin unverwandt auf die Person, die sich in dem Zimmer befand.

Eine gut gebaute Blondine in einem Unterhemd, das ihr nicht mal bis zum Nabel reichte, ansonsten nur mit einem winzigen Slip bekleidet, hatte den Wäschestapel fallen gelassen, den sie auf dem Arm trug, bevor sie sich zu Nick umdrehte und ihn anstarrte.

Sie hatte die schmalste Taille und die längsten Beine, die er je gesehen hatte. Unter dem knappen Hemd zeichneten sich kleine feste Brüste ab. Das Haar hatte sie hochgesteckt, sodass es ihr an einer Seite in wilden Locken ins Gesicht fiel. Mit weit geöffneten blauen Augen starrte sie ihn ängstlich an.

Die Augen von Ryanne Whitaker.

Ryanne lebte schon viele Jahre in Kalifornien, und ihre Mutter, der das Haus gehörte, wohnte jetzt in Arizona. Als er das Licht und die Musik bemerkt hatte, war er davon ausgegangen, dass Jugendliche in das Nachbarhaus eingebrochen waren.

Jetzt ließ er die Waffe sinken. „Ryanne?“

Verwirrt schaute sie ihn an. „Nick?“, frage sie, als sie ihn erkannt hatte. „Was machst du denn hier?“

„Ich dachte, es hätte jemand eingebrochen, denn deine Mutter ruft immer an, bevor sie herkommt.“

Sofort veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. „Wie bist du ins Haus gekommen?“

„Ich habe einen Schlüssel.“

„Mom hat dir einen Schlüssel gegeben?“

Er nickte. „Ich kümmere mich für sie um das Haus.“

„Du kommst also einfach herein und schaust dich um, wenn dir danach zumute ist?“

„Nein! Ich dachte, du wärest ein Einbrecher. Hier in Elmwood gibt es zwar nicht viele Einbrüche, aber in letzter Zeit haben einige Jugendliche in leer stehenden Häusern Partys gefeiert.“

„Deshalb dieses Theater mit der Waffe“, bemerkte sie trocken.

Schon immer war es ihr gelungen, ihm das Gefühl zu vermitteln, der Idiot zu sein. „Hätte ich geahnt, dass du hier bist, dann hätte ich mir keine Sorgen gemacht.“

„Ich wusste nicht, dass ich meine Ankunft anmelden muss. Außerdem halte ich es nicht für illegal, meine eigene Unterwäsche in meinen eigenen Schrank einzuräumen.“

„Bist du allein hier?“

Von Evelyn wusste er, dass Ryanne verheiratet war, aber ihr Mann schien sie nie nach Hause zu begleiten. Trotzdem konnte der Typ irgendwo sein. Der Glückliche!

Als sie seinen forschenden Blick bemerkte, hielt sie sich einen seidenen Morgenmantel vor den fantastischen Körper. „Keine Komplizen dabei. Nur ich.“

„Wo ist dein Mann?“

Ryanne versteifte sich und runzelte die Stirn. „Da du jetzt weißt, dass ich das Haus nicht ausrauben will, könntest du eigentlich gehen.“

Nick blickte kurz an seiner kurzärmeligen Kaki-Uniform herunter. Er hatte einen Moment lang überlegt, ob er seine Waffe mitnehmen sollte, aber die Jugendlichen nahmen ihn eher ernst, wenn er sie bei sich trug. Schließlich gehörte eine Waffe zu seiner Dienstausrüstung.

Er steckte den Revolver weg. „Was machst du hier?“

Seit sie weggezogen war, war Ryanne äußerst selten nach Elmwood gekommen. Und immer nur an Feiertagen.

„Das Haus gehört meiner Mutter. Ich muss dir also nicht erklären, warum ich hier bin.“

„Nein, das musst du nicht. Ich bin nur neugierig.“

Er machte Anstalten zu gehen, und sie folgte ihm, während sie den Morgenmantel anzog. Ironischerweise hatte er erst vor einer Stunde an seine unerfüllten sexuellen Bedürfnisse gedacht, als er in seinem Zimmer stand und nach draußen geblickt hatte. Ein alleinerziehender Vater in einer Kleinstadt hatte nicht viele Möglichkeiten, das Problem diskret anzugehen. Und nach dieser Begegnung würde er heute Nacht erst recht nicht einschlafen können.

Ryanne zog den Gürtel fest, aber Nick konnte nicht vergessen, was er gerade unter dem glänzenden Stoff gesehen hatte. Ob er das je vergessen könnte? Er drehte sich um und ging die Treppe hinunter, wobei er sich jetzt keine Mühe gab, leise zu sein.

„Ich nehme an, es gibt noch mehr ahnungslose Frauen, die du in deinem Nachtdienst erschrecken kannst. Lass dich nicht aufhalten.“

Das Haus sah immer noch so aus wie vor dreißig Jahren. Dieselben Bilder im Treppenhaus, dieselben antiken Möbel und die Spitzengardinen. „Ich bin nicht im Dienst.“

„Nun, ich wette, du bist ein richtiger Held, wenn du Dienst hast.“

Er hatte die Tür schon geöffnet, aber er drehte sich noch mal kurz um. „Sieh mal, Rye, ich habe Licht gesehen. Dann habe ich Fenster und Türen überprüft. Ich hörte Musik, und ich hatte einen Schlüssel, also bin ich in das Haus gegangen. So sollten aufmerksame Nachbarn sich verhalten. Ich war vorsichtig und habe meine Arbeit gemacht. Dabei habe ich dich nun mal in Unterwäsche gesehen. Entschuldige also bitte.“

„Schon geschehen.“

„Gut.“

„Gute Nacht.“

„Gute Nacht.“

Sie schlug die Tür zu, und er hörte, wie sie die Kette vorlegte.

Undankbare, reizbare, verwirrende Frau. Früher waren sie sich so nah gewesen wie Geschwister. Das hatte ihm zwar nicht ganz gepasst, aber es war angenehm gewesen. Freunde … Doch sie hatte etwas aus sich machen wollen. Sie hatte ein Stipendium für Stanford bekommen, war weg aus Elmwood und hatte nie mehr zurückgeschaut.

Deshalb war es merkwürdig, dass sie jetzt ohne ihre Mutter in der Stadt war. Um ihre Mutter zu besuchen, hätte sie nach Arizona reisen müssen. Die Kisten, die er im Esszimmer gesehen hatte, schienen nicht nur für einen Kurzbesuch gedacht zu sein. Es sah eher so aus, als ob sie einziehen wollte.

Ryanne blickte auf die Kartons und überlegte, ob sie noch einen weiteren die Treppe nach oben tragen konnte. Eigentlich hatten sich in ihrem bisherigen Leben ohnehin nur äußerst wenige Besitztümer angesammelt. Aber sie hatte fast den ganzen Rest verkaufen müssen, um das Finanzamt zufriedenzustellen.

Wenn sie an einen anderen Ort gehen könnte, hätte sie das getan. Doch nur hier konnte sie mietfrei wohnen und versuchen, ihr Leben in die Hand zu nehmen und einen Job zu finden.

Mit den gesprächigen, neugierigen, biederen Bewohnern der Stadt hatte sie schon gerechnet. Aber ausgerechnet Nick musste als Erster seine Nase in ihre Angelegenheiten stecken!

Nick Sinclair, der Sheriff. Sie hatte zwar von seinem Amt gewusst, aber ihn noch nie bei der Arbeit gesehen. In all den Jahren war sie ihm fast nie über den Weg gelaufen. Jetzt war er ein Mann, und er sah fantastisch aus. Beim Anblick seiner schwarzen Haare und der dunklen Augen musste eine Frau sich geradezu zwangsläufig fragen, wie es sich wohl anfühlte, von diesen Lippen geküsst zu werden.

Ryanne hielt inne. Wie konnte sie nur so von Nick denken? Sie war einfach zu lange unterwegs gewesen und hatte nicht genug geschlafen. Einsamkeit und mangelnder Schlaf konnten einen Menschen verrückt machen.

Während sie sich selbst bemitleidete, liefen ihr einige Tränen über das Gesicht, die sie jedoch schnell wieder wegwischte. Wer hätte gedacht, dass sie, Ryanne Davidson, irgendwann gezwungen sein würde, ins Haus ihrer Mutter zu fahren, in die Stadt, aus der sie immer nur fliehen wollte. Ihre Mutter wusste, dass sie eine Weile hier leben wollte, aber sie kannte keine Einzelheiten. Ryanne hatte einfach noch nicht den Mut gehabt, ihr Versagen einzugestehen.

Ärgerlich hob sie einen Karton und ging zur Treppe. Niemand sollte von ihrer Demütigung erfahren, dafür würde sie sorgen. Wenn jemand herausfand, dass ihr feiner untreuer Exmann Gelder aus der gemeinsamen Firma gestohlen hatte und verschwunden war, dann würde sie von allen ausgelacht werden.

Den Karton stellte sie neben das Bett, machte das Licht aus und starrte aus dem Fenster. Erst nachdem Mason untergetaucht war, hatte sie erfahren, dass er nie Steuern bezahlt hatte. In ihrer Werbeagentur war er für die Buchhaltung zuständig gewesen. Sie hatte sich um Kunden, neue Aufträge und das Personal gekümmert. Wenn sie von seinem Betrug geahnt hätte, hätte sie sich einigen Kummer ersparen können. Aber sie hatte keinen Anlass zu glauben, dass nicht alles perfekt war.

Sie hatten viel Geld verdient. Ihre Agentur genoss einen guten Ruf, und sie konnten viele Aufträge hereinholen. Bei ihrer Arbeit hatten sie und Mason mehr Erfolg als in ihrer Ehe. Als sie von seinen diversen Affären erfahren hatte, war sie jedoch nicht am Boden zerstört gewesen, sondern hatte sich nur geärgert. Sie hatten weiter miteinander gearbeitet, aber Ryanne hatte angefangen, von Scheidung zu sprechen.

Kurz darauf hatte er Firmenschecks eingelöst und war verschwunden. Vergeblich hatte Ryanne Geld, das sie im Grunde gar nicht hatte, dazu ausgegeben, um ihn aufzuspüren. Die Detektive gingen davon aus, dass er das Land verlassen hatte, und sie konnten weiter nichts unternehmen. Die Scheidung wurde unangefochten ausgesprochen, aber dann hatte das Finanzamt sich gemeldet.

Ryanne schaute in die Dunkelheit und bemerkte das Nachbarhaus. Hinten war eine Veranda angebaut, die früher nicht da gewesen war. Außerdem war die Doppelgarage neu. Als junges Mädchen hatte sie oft aus diesem Fenster geschaut und sich gefragt, wie die Welt außerhalb von Elmwood wohl aussah und wie sie ihren Weg machen würde.

Nun, sie hatte alles verloren.

Ryanne öffnete das Fenster, damit etwas frische Luft in das warme, feuchte Zimmer gelangen konnte.

Wie lange würde es wohl dauern, bis sie eine Stelle fand, wo sie so viel verdiente, dass sie ihre Schulden begleichen konnte?

Den Behörden war es ebenfalls nicht gelungen, Mason zu finden. Also gab es nur noch sie. Nach drei Monaten hatten die Finanzbehörden zusätzlich Mahngebühren und Zinsen erhoben, die die ursprüngliche Steuerschuld mehr als verdoppelten. Sie hatte das Unternehmen und alles, bis auf ihr Auto verkauft, denn um eine neue Wohnung und einen Job zu finden, musste man mobil sein.

Das Gefühl des Verlustes und des Versagens lastete auf Ryanne schwerer als die Hitze. Warum war sie ausgerechnet hier in Iowa gelandet? Auf der Fahrt hierhin hatte sie mehrmals überlegt, an einen Ort zu gehen, wo sie niemanden kannte. Aber wie und womit? Unter neuem Namen? Wie bekam man einen Führerschein und eine Sozialversicherungsnummer mit neuem Namen?

Sie war nicht Mason. Ihren Verpflichtungen musste sie nachkommen, und zwar ohne kriminelle Handlungen. Warum war sie nur so dumm gewesen, ihm zu vertrauen? Außerdem wollte sie nicht ständig ängstlich über die Schulter zurückschauen und damit rechnen müssen, dass die Steuerbehörden sie auffinden würden.

Also hatte sie weitergemacht und einen Ort gesucht, an dem sie sich wieder neu orientieren konnte. Der letzte Ort, an dem sie sein wollte, war andererseits der einzige Ort, der zur Verfügung stand. Jetzt war sie hier, aber es gefiel ihr nicht. Außerdem bräuchte sie nicht freundlich zu den Nachbarn zu sein, selbst wenn ihr Nachbar Nick Sinclair war und sie ihn nicht nett behandelt hatte. Sobald sie einen Job hätte, wäre sie wieder weg.

Um etwas Besseres zu finden.

Ryanne nahm die Tagesdecke ab und legte sich auf ihr altes Bett. Wie oft hatte sie schon hier gelegen und sich etwas Besseres gewünscht? Aber das Schicksal hatte es anders gemeint. War sie wirklich zu jemandem unfreundlich gewesen, der es nur gut gemeint hatte? Völlig erschöpft schlief sie schließlich ein.

„Da ist eine hübsche Frau, Dad“, bemerkte der siebenjährige Jamie, der am Frühstückstisch saß.

Nick drehte sich um und schaute kurz aus dem Fenster. „Das ist die Tochter von Mrs Whitaker“, erklärte er und widmete sich wieder der Zubereitung des Frühstücks. „Sie ist mit mir und deinem Onkel Justin aufgewachsen.“

„Ist Ryanne zu Hause?“, erkundigte sich Nicks Vater Mel, der gerade aus seinem Zimmer kam. Er warf einen Blick aus dem Fenster und ließ einen lauten Pfiff hören.

„Dad!“, rief Nick entrüstet.

„Du musst dir diese Kurven anschauen“, fuhr sein Vater fort.

„Mann!“ Jamie war zu seinem Großvater gegangen und stieß ebenfalls anerkennende Laute aus. „Kann ich hingehen und mir das genau anschauen?“

„Nein!“, erwiderte Nick energisch und stellte den Herd ab. Er nahm Teller aus dem Schrank. „Dad, kannst du bitte etwas vorsichtiger sein?“

„Was meinst du?“, wollte sein Vater wissen, der immer noch gebannt aus dem Fenster starrte.

„Du sollst vor Du-weißt-schon-wem nicht so gaffen.“

Endlich wandte sein Vater sich zu Nick. „Ich bin überrascht, dass du nicht auch gaffst. Nein, es wundert mich, dass du nicht längst draußen bist und deine Hände über diese perfekten Formen gleiten lässt!“

Schockiert blickte Nick seinen Vater an. „Wovon redest du?“

„Ich rede über den Wagen. Und du?“

„Über … das Auto?“ Nick sah noch mal genau hin, und es verschlug ihm die Sprache.

Ryanne stand vor ihrem Haus. Sie trug ein Paar Shorts, die sie sicher in ihrem alten Mädchenzimmer gefunden hatte. Nach dem, was er letzte Nacht gesehen hatte, war es keine Überraschung, wie perfekt die Shorts passten. Überraschend war allerdings die glänzende rote Dodge Viper, die in der Einfahrt stand. Liebevoll wusch sie den Kotflügel und die Chromfelgen.

„Eine Viper“, staunte Nick.

„Ist er nicht cool, Dad? Darf ich bitte hingehen?“

In diesem Moment streckte Ryanne sich und blickte zu ihnen herüber. Mel hielt den Vorhang zurück, und die drei starrten aus dem Fenster, als wenn sie noch nie ein Auto gesehen hätten. So einen allerdings hatten sie tatsächlich noch nie zu Gesicht bekommen. Als ob sie gleichzeitig gemerkt hätten, dass man sie beim Zuschauen erwischt hatte, zogen sie sich zurück. Mel ließ den Vorhang zurückfallen.

„Nein“, sagte Nick zu Jamie, „stör sie bitte nicht.“

„So sollten sich Nachbarn aber nicht verhalten“, protestierte Mel. „Wir könnten sie zum Frühstück einladen. Das ist doch Ryanne, Menschenskind!“ Er ging zur Hintertür.

„Dad! Nein, Dad!“

Aber sein Vater war schon verschwunden. „Granpa geht? Kann ich auch gehen?“

Nun stimmte Nick doch, wenn auch widerwillig, zu. Er stellte die drei Teller auf den Tisch und gab Schinken, Eier und Pfannkuchen auf seinen. Sie würde bestimmt nicht kommen. Er hatte schließlich schon erfahren, wie unfreundlich sie geworden war.

Er strich Butter auf die Pfannkuchen, gab Sirup darauf und widmete sich seinem Frühstück. Nach einigen Bissen ging er jedoch wieder zum Fenster.

Ryanne zeigte Großvater und Enkel gerade den Motor.

Mist, er würde auch gerne einen Blick darauf werfen und den Motor hören. Vielleicht konnte er das Geräusch hören, wenn er das Fenster öffnete. Aber aus der Entfernung sicher nicht. Das gute Stück schnurrte vermutlich wie ein Kätzchen. Entschieden ging Nick wieder an den Küchentisch, um seine Pfannkuchen zu essen.

Ryanne wischte mit dem riesigen Schwamm über den Kühlergrill, um die Insekten zu entfernen. Noch nie war ihr Wagen so schmutzig gewesen. Sie rümpfte die Nase und versuchte, das Schlimmste mit dem Schlauch abzuspritzen. Durch die Arbeit und die Sonne wurde ihr warm, und sie richtete den Schlauch auf ihre Beine, um sich zu erfrischen.

„Ich wusste nicht, dass du zu Hause bist!“ Die Stimme überraschte Ryanne. Sie drehte sich um und bemerkte einen älteren grauhaarigen Mann mit einem Jungen, der aus dem Haus der Sinclairs kam. Zu Hause? Das klang merkwürdig.

„Wann bist du angekommen?“

„Mel. Mel Sinclair!“ Meine Güte, dachte Ryanne, er ist älter geworden, seit ich ihn zuletzt gesehen habe. Wie lange war das schon her? „Gestern erst“, erwiderte sie lächelnd.

„Das ist mein Enkel Jamie. Jamie, das ist Ryanne Whitaker. Aber du heißt sicher nicht mehr so.“ Mel sah sie nachdenklich an.

„Schon in Ordnung. Ich heiße jetzt Davidson.“

Der dunkelhaarige Junge winkte kurz zur Begrüßung, aber dann konzentrierte er sich auf den Wagen hinter ihr. „Wow“, meinte er, „das ist ein scharfes Auto.“

Ein Enkel. Da Mel nur noch einen Sohn hatte, musste der Junge zu Nick gehören. Sie schaute sich den hübschen Jungen genauer an und erkannte die dunkelblauen Augen und das dichte schwarze Haar. Der Junge sah so aus wie Nick vor ungefähr zwanzig Jahren.

„Danke. Bist du gerade zu Besuch bei deinem Großvater?“, fragte sie, um etwas zu sagen.

Er blickte vom Auto zu ihr, dann zu Mel.

„Jamie lebt bei mir. Bei uns. Wir wohnen zusammen.“

„Oh!“ Sie wusste nichts mehr über die Sinclairs, obwohl ihre Mutter sicher von ihnen erzählt hatte. Ryanne erinnerte sich über Nachrichten von Nicks Hochzeit vor vielen Jahren. Er hatte das Mädchen geheiratet, mit dem sein Bruder Justin befreundet gewesen war. Damals war es ihr merkwürdig vorgekommen, aber sie war nicht da gewesen, um eine neue Romanze zu verfolgen. Wie hieß sie noch? Haley? Hattie?

„Er ist wirklich cool“, meinte Jamie, der wieder zu dem Auto blickte. Er ging zur Vorderseite, während Mel ihm folgte. „Sicher schnurrt der Motor wie eine Katze.“

Ryanne konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Sie blickte zu Mel. „Das hört sich an wie jemand, den ich früher mal kannte.“

„Er ist der Sohn seines Vaters, da gibt es gar nichts.“

„Möchtest du den Motor sehen?“, fragte sie, weil sie wusste, dass das die meisten Männer interessierte.

„Cool!“, war die Antwort.

Sie öffnete die Motorhaube, und Mel und Jamie waren ganz ergriffen. „Toll“, flüsterte Jamie, als wäre er in der Kirche. „Dad wird es sicher leidtun, dass er das verpasst“, meinte er und schaute Ryanne an. „Seid ihr immer noch Freunde?“

Sie dachte kurz an letzte Nacht, als Nick mit einer Pistole in ihr Schlafzimmer eingedrungen war. Nick war ein alter Freund, und sie war nicht sehr nett gewesen.

„Wir sind zusammen aufgewachsen und waren beste Kumpel.“

„Das hat Dad mir schon erzählt.“ Begeistert blickte er zu seinem Großvater. „Kann sie mit uns frühstücken, Granpa? Dad macht sowieso immer viel.“

„Oh, ich möchte nicht stören“, wandte sie ein.

„Du gehörst zur Familie“, entgegnete Mel ernsthaft. „Du hast doch so oft hier gegessen wie meine Jungs. Und wenn du nicht hier warst, dann waren sie bei euch.“ Freundlich lächelte er sie an. „Komm doch mit zum Frühstück.“

Ryanne wollte Nick und seine Frau eigentlich nicht sehen. Ob sie noch mehr Kinder hatten? Gleichzeitig wollte sie Mel nicht verletzen. Er war so gut zu ihrer Mutter gewesen, nachdem ihr Vater sie verlassen hatte. Und offensichtlich kümmerte Nick sich in ihrer Abwesenheit um das Haus. „In Ordnung, aber nur kurz.“

„Super!“, rief Jamie. „Dad wird überrascht sein!“

Nicht überraschter als Ryanne, die sich wunderte, dass sie zugestimmt hatte. Sie war nicht gerade in bester Laune und wollte Nick eigentlich nicht gegenübertreten nach dem, was letzte Nacht geschehen war. Dennoch zog sie ihre Tennisschuhe an und ging mit ihren Nachbarn über den Hof.

Die Hintertür wurde geöffnet. „Hätte ich euch sagen können“, meinte Nick trocken und war schon wieder am Esstisch.

Ryanne sah sich in der umgebauten Küche um. Sie sah völlig anders aus als früher. „Was denn?“

Nick fuhr herum. Völlig verblüfft blickte er Ryanne an.

Hinter ihr kamen Mel und Jamie in die Küche.

„Dein Vater hat mich zum Frühstück eingeladen“, erklärte sie.

Mel war immer freundlich gewesen, ein echter Bilderbuchvater. Er hatte Zeit gehabt, mit ihr, Nick und Justin Ball zu spielen, sie ins Schwimmbad oder ins Kino zu fahren. Mit Mel Sinclair hatte sie keine Probleme. Sie mochte ihn, und deshalb war sie hier.

Nick sprang auf und holte einen weiteren Teller aus dem Schrank.

„Ryanne isst mit uns, Dad“, verkündete Jamie fröhlich. „Ist das nicht cool?“

„Das ist es wirklich“, entgegnete Nick. „Setz dich doch.“

„Schön, dich zu sehen“, sagte Mel, der ihr gegenübersaß. „Du warst so lange weg, ich möchte alles über dein Leben erfahren.“

„Danke.“ Sie nahm das Glas Orangensaft, das Nick ihr hinstellte. „Da gibt es nicht viel zu erzählen.“

„Wieso? Deine Mutter hat uns über die Firma und deine Erfolge berichtet. Das ist doch großartig.“

Sie konnte nur schwach lächeln. „Ja.“

„Und dein Mann? Führt ihr das Unternehmen gemeinsam?“

Nick hielt ihr die Kaffeekanne mit fragendem Blick hin.

„Ja, danke, ich nehme gerne eine Tasse.“

„Er ist koffeinfrei.“ Mel war offensichtlich enttäuscht. „Nick gibt uns keinen anständigen Kaffee mehr.“

„Schon okay.“ Sie beobachtete, wie Nick mit ruhiger Hand einschenkte.

„Wieso machst du nicht bei deiner Mutter in Arizona Urlaub?“, wollte Mel wissen.

„Urlaub?“

„Schließlich ist doch gerade Ferienzeit.“

„Oh, ja, nun, ich brauchte …“

Alle drei blickten sie erwartungsvoll an.

„Ich brauchte …“ Eine Zuflucht? Eine kostenlose Unterkunft? „Eine Veränderung“, antwortete sie schließlich.

„Sicher kann ein so wichtiger Job sehr anstrengend werden“, warf Mel verständnisvoll ein.

Eine Minute später stellte Nick einen gut gefüllten Teller vor sie hin. Sie blickte Nick an. „Das hast du gemacht?“

Er nickte und setzte sich neben sie. Er trug ein dunkelblaues T-Shirt, das seinen Körper wie eine zweite Haut umschmiegte, und sie musste ihn einfach verstohlen anschauen. Er war so viel größer, als sie ihn in Erinnerung hatte. Muskulöse Arme, kräftige Hände … Wie merkwürdig, dass ihr das auffiel. Natürlich hatte er sich zu einem Mann entwickelt.

„Samstags macht Dad immer das Frühstück“, erklärte Jamie. „Manchmal auch sonntags. Ab und zu gehen wir ins ‚Waggin’ Tongue‘. Da macht Miss Rumford mir Pfannkuchen, die wie Tiere aussehen. Dad hat es versucht, aber es kamen nur Klumpen dabei heraus.“

„Und ist Harry Ulrich noch mit ihr im Geschäft?“, fragte Ryanne und biss in einen köstlichen Pfannkuchen.

Nick bejahte. Schon seit dreißig Jahren betrieben die beiden das Restaurant.

„Gibt es immer noch nur einen Lebensmittelladen in der Stadt?“

„,Turner Foods‘. Norm ist jetzt der Eigentümer. Sein Vater ist in einem Pflegeheim.“

„Ich müsste nämlich noch einiges einkaufen. Es ist wirklich nett, dass ich bei euch frühstücken darf. Zu Hause waren nur noch Konserven, und darauf hatte ich keine Lust.“

„Gern geschehen.“

„Früher habt ihr fast immer zusammen gegessen“, erinnerte sich Mel. „Das war sicher leichter für eure Mütter.“ Sein Blick wurde traurig, und er schaute aus dem Fenster. „Diese Zeiten fehlen mir. Manchmal sehe ich uns alle noch wie damals. Florence in ihrer Schürze am Herd, während du, Nick und Justin hereinstürmen, um euch die Hände zu waschen.“

Ryannes Mutter und Florence Sinclair waren beste Freundinnen gewesen. Die Ferien hatten sie immer gemeinsam verbracht. Ryanne, Nick und sein jüngerer Bruder waren unzertrennlich gewesen.

Mels Frau war an Krebs gestorben, und ein Jahr später starb sein jüngster Sohn bei einem Autounfall. Damals war Ryanne schon im College gewesen. Zu beiden Beerdigungen war sie gekommen, und sie konnte sich noch an die Trauer der Sinclairs erinnern. Sie war ebenfalls tief betroffen gewesen. „Ich mochte Florence sehr. Sie war eine ganz besondere Frau“, sagte sie zu Mel.

Er nickte und blinzelte.

Spontan legte sie ihre Hand auf seine. „An einem Tag in der Woche fuhr sie uns immer zur Bücherei“, erinnerte sie sich. „Irgendwann lieh ich ein Buch so oft aus, dass die Bibliothekarin mir schließlich sagte, dass ich es nur noch einmal im Monat haben dürfte, damit andere es auch lesen konnten.“

„Was war das für ein Buch?“, wollte Jamie wissen.

„Es war die Geschichte von einem Mädchen und seinem Falken. Und weißt du was? Deine Großmutter hat mir das Buch dann geschenkt, damit ich endlich mein eigenes hatte.“

„Das hat sie getan?“

Ryanne nickte. „Ich habe es immer noch.“ Sie nahm sich vor, Jamie das Buch zu zeigen.

„Ich habe keine Großmutter mehr“, sagte Jamie leise.

Mel drückte leicht Ryannes Hand. Sie sah ihn kurz an und wandte sich dann an Jamie.

„Das tut mir leid“, erwiderte sie.

„Ich habe auch keine Mom“, fügte er ernst hinzu.

Da erinnerte sich Ryanne, dass ihre Mutter ihr mal etwas über Nicks Frau erzählt hatte. Sie wusste nur nicht mehr, was. Jetzt fehlten ihr die Worte.

„Dad sagt, Miss Lottie und Miss Kris sind meine weiblichen Vorbilder“, erklärte Jamie.

Ryanne blickte Nick fragend an. „Die Erzieherinnen in der Tagesstätte“, gab er mit einem Lächeln auf seinen Sohn Auskunft.

Die Bemerkung über weibliche Vorbilder schien viel zu scharfsinnig für den Jungen. „Wie alt bist du?“, erkundigte Ryanne sich.

„Sieben.“

„Er geht schon auf die dreißig zu“, bemerkte Nick trocken.

„Das sagt Dad immer“, beschwerte der Junge sich.

„Na, dann denke ich mir demnächst was anderes aus“, versprach Nick.

„Wo sind denn deine Kinder?“, wollte Jamie wissen.

„Ich habe keine.“

„Wie kommt das?“

„Jamie, das geht dich nichts an“, tadelte sein Vater.

„Ich habe doch nur gefragt. Es wäre cool, wenn ich mit einem Nachbarskind spielen könnte, so wie ihr das früher getan habt.“

„Du hast doch Wade“, erinnerte Nick ihn.

„Ja“, stimmte Jamie zu. „Wade ist mein allerbester Freund“, erklärte er Ryanne. „Wir machen viel zusammen.“

„Erinnerst du dich an Forrest Perry?“, fragte Nick. „Wade ist ein Kind von Forrest und Natalie.“

„Ja, ich erinnere mich an ihn.“

Nick grinste. „Schon lange her.“

Mel und Jamie waren mit dem Frühstück fertig. Auch Ryanne legte die Gabel hin. „Das war sehr lecker.“

„Brauchst du Hilfe beim Autowaschen?“, wollte Jamie wissen.

„Danke, ich bin schon fertig.“

„Gut, nächstes Mal kann ich dir helfen.“

„Das wäre schön.“

„Jetzt gehe ich mit Granpa angeln.“

„Wir sollten besser nachsehen, ob die Würmer in der Garage sich noch bewegen“, meinte Mel.

„Soll ich dir beim Abwaschen helfen?“, fragte Jamie seinen Vater.

„Nein, geht ihr nur.“ Nick ging in die Hocke, und Jamie umarmte ihn. Er zerzauste das Haar seines Sohnes. „Ich hab dich lieb, kleiner Mister.“

„Ich hab dich auch lieb, großer Mister. Bis bald, Ryanne!“

Sie winkte. „Viel Spaß!“ Vater und Sohn gemeinsam zu erleben, berührte sie sehr.

Autor

Cheryl StJohn
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