Heiratsantrag über den Wolken

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Tessa glaubt, sich verhört zu haben: Der attraktive Fremde, der neben ihr im Flugzeug sitzt, macht ihr einen Heiratsantrag! Natürlich lehnt die junge Krankenschwester ab - sie kennt den Mann ja gar nicht. Doch in London kreuzen sich ihre Wege scheinbar zufällig immer wieder. Und schließlich erfährt Tessa von Charles’ verzweifelter Lage: Wenn er nicht bald heiratet, verliert er sein Erbe: ein romantisches Schloss, einen Adelstitel und mehrere Millionen …


  • Erscheinungstag 12.06.2015
  • Bandnummer 0010
  • ISBN / Artikelnummer 9783733733223
  • Seitenanzahl 128
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Wollen Sie meine Frau werden?“

„Wie bitte?“

Vielleicht ist das ein bisschen überstürzt, dachte Charlie. Seit genau fünf Minuten saß er neben Tessa Flanagan.

„War nur so eine Idee von mir“, sagte er hastig. Seine schöne Sitznachbarin starrte ihn an, als sei er nicht ganz richtig im Kopf. Eine plausible Erklärung war notwendig, und zwar schnell.

Charles Cameron zeigte auf die Schriftstücke, die sich vor ihm auf dem Klapptischchen häuften. Dann seufzte er und schenkte Tessa sein charmantestes Lächeln.

„Ich weiß, das kommt etwas plötzlich. Aber nach dem, was hier drinsteht, habe ich die Wahl zwischen einer Ehefrau und einer Armee von Anwälten. Sie gewinnen haushoch.“ Sein bewundernder Blick sprach Bände.

Der Mann musste blind sein. Tessa wusste, wie sie im Moment aussah. Seit der Nachricht von Christines Unfall hatte sie kein Auge zugetan. Der Jogginganzug, den sie für die Reise trug, ließ von ihrer schlanken Figur nichts erkennen. Ihr blonder Schopf war zerzaust, und unter den Augen hatte sie tiefe Schatten. Und da machte ihr dieser Mensch, den sie zum ersten Mal in ihrem Leben sah, einen Heiratsantrag!

Misstrauisch sah sie zu ihm hin. Er lächelte immer noch. Wahrscheinlich war er verrückt – harmlos, aber nicht ganz bei Trost.

„Schon gut“, erwiderte sie kurz. Dann wandte sie sich ab und versuchte, ihn nicht weiter zu beachten.

Das war allerdings leichter gesagt als getan. Charles Cameron war ein Mann, den man nicht so leicht übersehen konnte: gut einen Meter neunzig groß, breitschultrig und schlank. Er trug ein kurzärmeliges Polohemd und Kordhosen. Beides passte ausgezeichnet zu seinem durchtrainierten, wettergebräunten Typ.

Trotz ihres Kummers konnte Tessa den Charme ihres gut aussehenden Nachbarn nicht verleugnen. Er musste um die dreißig sein und verbrachte anscheinend die meiste Zeit im Freien. Sein dichtes schwarzes Haar war an den Spitzen von der Sonne gebleicht, und seine tiefblauen Augen funkelten vergnügt in dem gebräunten Gesicht. Man hatte Lust, ihm zuzulächeln.

Hör auf damit, wies sie sich selbst zurecht. Sie hatte weiß Gott andere Sorgen. Dann dachte sie an Christine, und jeglicher Anflug eines Lächelns verflog. Denn Christine, ihre Zwillingsschwester, war tot, und Tessa kam nicht darüber hinweg. Trotz allem, was Donald immer wieder gesagt hatte.

„Tess, du hast Christine und deinen eingebildeten Schwager seit sechs Jahren nicht mehr gesehen, seit deinem einundzwanzigsten Geburtstag. Nach der Heirat fand sie es nicht mehr für nötig, uns zu besuchen. Nicht mal zur Beerdigung deiner Mutter ist sie gekommen. Geschrieben habt ihr euch so gut wie nie, und du warst nicht ein einziges Mal in England.“

Was wusste Donald schon! Tessa hätte ihre Schwester liebend gern besucht. Aber im Gegensatz zu Christine hatte sie es nicht fertig gebracht, die Mutter allein zu lassen. Als diese nach langer Krankheit starb, waren die Krankenhaus- und Arztrechnungen so hoch, dass eine Reise nach England nicht infrage kam.

Und nun war auch Christine tot, und von Tessas Familie blieb nur noch Ben übrig. Ihr kleiner Neffe.

Sie musste ihn sehen. Auch wenn sie wusste, dass ihr Besuch nicht erwünscht war.

Eine tiefe Stimme brachte sie in die Gegenwart zurück. Ach ja, ihr verrückter Nachbar. Eigentlich klang seine Stimme sehr nett und voller Anteilnahme. „Wenn ich Sie mit meinem Heiratsantrag so aus dem Gleichgewicht gebracht habe, dann nehme ich alles zurück.“

Für einen Moment wünschte Tessa, sie säße wieder in der Economyklasse, trotz des unbequemen Sessels und der dicken Frau neben ihr, die anscheinend gern Knoblauch aß. Doch diese Regung verging sofort. Der Sitz in der Businessklasse, den die Flugbegleiterin ihr nach der Zwischenlandung in Singapur angeboten hatte, war ein Geschenk des Himmels gewesen.

„Allerdings …“, fuhr Charlie fort, als spräche er mit sich selbst, „… haben Sie schon vorher so ausgesehen. Es kann also mit mir nichts zu tun haben.“

„Wovon reden Sie eigentlich?“, fragte Tessa irritiert. Der Mann lächelte schon wieder.

„Davon, dass Sie so traurig aussehen. Wie eine gestrandete Meerjungfrau.“

Eine Meerjungfrau! Er war wirklich nicht ganz bei Trost.

„Ich bin nur sehr müde.“

„Ja, das dachte ich mir schon“, erwiderte er freundlich. „Deswegen habe ich ja die Flugbegleiterin gebeten, Ihnen den Sitz hier zu geben.“

„Sie haben …“

„Der Sessel war frei.“ Er grinste. „Und mir war langweilig. Als ich Sie dann in Singapur sah, da dachte ich, wie nett es wäre, wenn Sie neben mir sitzen würden. Außerdem sahen Sie völlig erschöpft aus. Da habe ich mit der Stewardess gesprochen. Sie meinte auch, dass Sie viel zu jung sind, um allein zu reisen …“ Seine Augen zwinkerten vergnügt.

Tessa war sprachlos. Wie unverfroren er war. Also deswegen flog sie jetzt Businessklasse. Sie hatte sich schon gewundert, warum man ausgerechnet ihr den freien Platz gegeben hatte. Jetzt musste sie ihm auch noch dankbar sein.

„Vielen Dank“, sagte sie steif. „Aber …“

„Aber Sie sind todmüde. Dazu habe ich Sie mit meinem Heiratsantrag auch noch ganz durcheinander gebracht. Wie wär’s mit einem Nickerchen? Ich beschäftige mich in der Zwischenzeit mit meinem Papierkram. Später können wir uns dann über alles unterhalten.“

Freundlich sah er sie an – als sei er gar nicht verrückt, sondern ganz normal.

„Hier.“ Er reichte ihr eine Schlafmaske. Dann gab er ihr ein zweites Kissen und noch eine Decke. „Jetzt drücken wir auf diesen Knopf …“ Er lehnte sich hinüber, drückte auf einen Knopf und verwandelte Tessas Sessel in eine Liege. Dann küsste er sie zu ihrer größten Überraschung leicht auf die Nasenspitze. „Schlafen Sie gut. Ich wecke Sie, wenn wir in London sind.“

Als Tessa zwölf Stunden später erwachte, verspürte sie als Erstes ein ganz ungewohntes Gefühl des Wohlbehagens. Dann wurde ihr bewusst, dass jemand sie im Arm hielt.

Vorsichtig öffnete sie die Augen.

Im Schlaf war ihr Kopf zur Seite gerutscht. Ihr Nachbar, der seinen Sessel ebenfalls zurückgelehnt hatte, schlief neben ihr. Er trug jetzt einen Pullover aus weicher Kaschmirwolle. Und sie, Tessa, benutzte den Pullover des Fremden – und seine Schulter! – als Kopfkissen.

Wie von der Tarantel gestochen fuhr sie hoch, worauf der Mann widerstrebend seinen Arm zurückzog.

„Jetzt haben Sie mich aufgeweckt“, sagte er vorwurfsvoll.

„Das tut mir leid. Wirklich.“ Tessa versuchte, sich aus dem Durcheinander von Decken und Kissen zu befreien. In der abgedunkelten Kabine konnte man kaum sehen. Es war fast wie in einem Schlafzimmer.

„Macht nichts.“ Wieder legte er den Arm Besitz ergreifend um ihre Schulter. „Bis zum Frühstück dauert es noch mindestens eine halbe Stunde. Zeit genug, um noch etwas Augenpflege zu betreiben.“

„W… Wie spät ist es denn?“ Mühselig befreite sie sich aus seinem Arm.

„Drei Uhr morgens in England und Mittag in Australien. Was ist Ihnen lieber?“

Tessa konnte sich weder das eine noch das andere vorstellen. Sie blinzelte ein paar Mal, dann ging das Licht in der Kabine an.

„Verdammt“, klagte ihr Nachbar. „Jetzt gibt es doch schon Frühstück. Wo bleibt da mein Ruf als Vielflieger?“

„Fliegen Sie denn so oft?“ Eigentlich sah er nicht wie jemand aus, der ständig im Flugzeug saß.

„Und ob! Jeden Monat von Warrnambie nach Melbourne und zurück.“ Er grinste.

„Meinen Sie etwa Warrnambie in Victoria? Bis nach Melbourne sind das ganze 160 Kilometer. Und das nennen Sie Vielflieger?“

„Ich war auch schon in England“, erwiderte Charlie im Ton verletzter Eitelkeit. „Allerdings würde ich den Flug nicht jeden Monat machen. Dafür schmeckt mir das Frühstück im Flugzeug nicht gut genug.“ Er gähnte und streckte sich. Dabei berührte er ihre Schulter. Die Wärme, die von seinem Körper ausging, ließ sie von Kopf bis Fuß erschauern.

„Sie leben also in Warrnambie?“

„Dort ist meine Farm.“

Die Flugbegleiterin kam und reichte ihnen mit einer Zange feuchtwarme Handtücher. Charlie rieb sich voller Wohlbehagen das Gesicht ab, dann strahlte er Tessa an. „Das tut gut. Jetzt noch schnell rasieren, und ich kann mich wieder sehen lassen. Laufen Sie mir nicht weg.“

Er stand auf und verschwand in Richtung Toiletten. Tessa blickte ihm nach. Sie hatte das Gefühl, dass in seiner Gegenwart alle Welt den Atem anhielt.

Eine Stunde später, nachdem das Frühstück serviert und wieder abgeräumt worden war, machten sie sich miteinander bekannt. Tessa fühlte sich inzwischen auch wieder wie ein Mensch. Sie hatte sich etwas gewaschen und ein bisschen zurechtgemacht. Das Frühstück war ihre erste richtige Mahlzeit, seit sie die Nachricht von Christines Tod erhalten hatte.

„Sagen Sie bloß, dass Ihnen das Zeug auch noch schmeckt“, sagte Charlie ungläubig und stocherte in seinem Omelett herum. „Die Hühner, die diese Eier gelegt haben, wurden sicher mit einer Diät aus Gummifutter und Orangensirup gefüttert.“

Tessa kicherte.

„Ja, genauso habe ich mir Ihr Lachen vorgestellt“, meinte er. „So richtig nett und melodisch.“ Bevor sie wusste, wie ihr geschah, umschloss er ihre Hand. „Bitte seien Sie mir nicht böse, wenn ich meinen Antrag wiederhole. Ich habe mir alles genau durchgelesen, und es gibt nur eine Lösung: Sie müssen mich heiraten.“

„Reden Sie doch keinen Unsinn.“ Tessa versuchte, ihm ihre Hand zu entziehen. „Sie kennen mich ja kaum.“

„Das mag sein, aber was ich weiß, genügt mir. Sie tragen keinen Ehering und haben das entzückendste Lachen, das ich je gehört habe. Und Sie sind ein lieber Kerl. Das habe ich bei der Zwischenlandung in Singapur gesehen. Als die alte Inderin ihre Tasche fallen ließ, da haben Sie ihr geholfen, alles wieder einzusammeln. Ich war im Wartesaal der Businessklasse und habe alles beobachtet. Leider konnte ich nicht selbst einspringen, sonst hätte ich es getan. Wie es sich für Ihren zukünftigen Mann gehört.“

„Das ist doch lächerlich“, erwiderte sie. „Einer Fremden so mir nichts, dir nichts einen Heiratsantrag zu machen. Ich habe keine Ahnung, wer Sie überhaupt sind.“

„Aber ich weiß, wer Sie sind. Tessa Flanagan. Es steht auf dem Namensschild Ihres Koffers. Und obwohl es ein schöner Name ist, gefällt mir Tessa Cameron noch besser. Was mich betrifft …“ Charlie runzelte die Stirn. „Das ist ein bisschen kompliziert. Ich bin nicht ganz sicher, wer ich eigentlich bin.“

„Ach ja?“ Tessa starrte ihn an. Das Ganze wurde ihr allmählich zu dumm. „Was meinen Sie damit?“

Er seufzte. „Bis vor einer Woche war ich noch Charles Cameron, ein Farmer aus Warrnambie.“

„Und jetzt?“

„Jetzt …“ Er nahm eines der Schriftstücke vor ihm in die Hand. „Hier steht, dass ich jetzt Lord Charles Cameron bin, dreizehnter Earl of Dalston. Und dass mir ein altes und ziemlich baufälliges Schloss gehört – wenn Sie mich heiraten.“

2. KAPITEL

Bis zur Landung in London sprachen sie nur noch sehr wenig miteinander. Tessa war nicht gewillt, diesem Verrückten mehr Beachtung als nötig zu widmen.

„Ich freue mich, dass Sie ein Earl sind oder sein werden“, sagte sie, „aber damit habe ich nichts zu tun. Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich jetzt lesen. Am besten überlegen Sie sich, wie Sie Ihr Schloss auch ledig erben können.“

Entschlossen begann sie mit der Lektüre der Unterlagen, die sie vom Reisebüro ihrer Heimatstadt Yaldara Bay erhalten hatte. Dort stand, wie es nach der Landung weiterging: erst zum Zoll, dann das Gepäck abholen. Anschließend mit dem Flughafenbus zum Busbahnhof. Und dann zu Fuß um ein paar Ecken bis zu der Pension, in der ihr Zimmer reserviert war. Würde sie sich zurechtzufinden? Abgesehen von einer Reise nach Sydney, wo sie ihr Examen als Krankenschwester abgelegt hatte, war sie noch nie verreist. Wieder schaute sie in die Unterlagen. Ein Stadtplan lag bei. Es konnte also nichts schief gehen, wenn sie sich an die Anweisungen hielt.

Erschreckt fuhr sie hoch, als Charlie ihr ins Ohr flüsterte: „Ich werde am Flughafen abgeholt. Wenn Sie wollen, kann ich Sie unterwegs absetzen.“

„Danke, das ist nicht nötig“, erwiderte sie ärgerlich. „Ich habe eine Busfahrkarte.“

Charlie warf einen Blick auf Tessas Unterlagen. „Backblow Street? Das ist doch keine Adresse für meine zukünftige Frau.“

„Dann fragen Sie sie am besten, wo sie wohnen will“, erwiderte Tessa ungehalten. „Mich lassen Sie jetzt bitte in Ruhe.“

„Aber …“

„Kein Aber. Ich meine es ernst.“

Nach der Landung trennten sich ihre Wege bei der Passkontrolle.

Während Tessa auf die Schlange für Ausländer zuging, stellte sich Charles zu ihrem Erstaunen am Schalter für britische Staatsangehörige an.

„Ich warte auf Sie“, versprach er. Tessa schüttelte nur den Kopf.

Sie hatte Glück. Die Passkontrolle verlief wie am Schnürchen, und ihr Koffer war einer der ersten auf dem Gepäckband. Erleichtert machte sie sich auf den Weg zum Flughafenbus. Jetzt war sie Charles Cameron los.

Als sie den Bus bestieg, fühlte sie sich auf einmal so verlassen wie noch nie zuvor. Ihre Schwester war tot und sie selbst ganz allein in einer fremden Stadt, am anderen Ende der Welt.

Als sie mit dem Doppeldeckerbus in Richtung Londoner Innenstadt fuhr, dachte sie an Charlie und sein freundliches Lächeln. Er war zwar verrückt, aber eigentlich sehr nett. Trotzdem, es war besser, nicht mehr an ihn zu denken. Er sah viel zu gut aus, und das Gefühl der Geborgenheit, das sie beim Erwachen an seiner Schulter verspürt hatte, brachte sie nur auf dumme Gedanken.

Eine Stunde später stand Tessa endlich vor ihrer Pension. In London war es erst sieben Uhr morgens, trotzdem war sie völlig erschöpft.

Donald hatte ihr für die Reise einen Koffer mit Rädern geschenkt. „Taxis sind teuer. Und die Reise kostet schon genug“, waren seine Worte gewesen. Leider hatte er schlechte Qualität gekauft, und nach kurzer Zeit zerbrachen die Plastikräder auf dem unebenen Pflaster. Es blieb Tessa nichts anderes übrig, als den Koffer zu tragen.

Im Gegensatz zu Australien, wo jetzt Winter war, herrschte in London im Juni feuchtwarmes Sommerwetter. Dafür war Tessa viel zu warm angezogen.

Bestürzt betrachtete sie die Pension. Primrose Place stand über der Tür eines heruntergekommenen Hauses, aber von Blumen war weit und breit keine Spur. Stattdessen sah man rußgeschwärztes Mauerwerk und eine zerbrochene, notdürftig reparierte Fensterscheibe. Der Geruch von ranzigem Fett hing in der Luft.

Tessa hatte keine Wahl. Das Zimmer war gebucht, und sie musste, bevor sie weiterreiste, mit Christines Rechtsanwälten in London sprechen. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als hier zu wohnen. Donald hatte die Pension wegen des günstigen Zimmerpreises ausgesucht, und sie konnte nur annehmen, dass das Foto in der Broschüre besser ausgesehen hatte als die Wirklichkeit.

Sie sah sich um. Die Gegend machte einen schäbigen Eindruck. Dann bemerkte sie einen schwarzen Wagen, der langsam in ihre Richtung fuhr und in einiger Entfernung stehen blieb. Niemand stieg aus, die Straße war menschenleer. Tessa kam sich wie in einem schlechten Kriminalfilm vor. Schnell drückte sie auf den Klingelknopf.

Sofort erhob sich wütendes Gebell, und ein Hund sprang von innen gegen die Tür. Es schien ein kräftiges Tier zu sein. Dann vernahm man einen Fluch, und das Gebell verstummte. Die Haustür öffnete sich: Ein Mann, unrasiert und nur mit einer schmutzigen Schlafanzughose bekleidet, stand vor ihr.

„Was wollen Sie?“

Tess schluckte.

„Ich … ich habe ein Zimmer reserviert“, stammelte sie und hielt ihm die Buchung entgegen. Der Mann versetzte dem Hund einen Tritt, dann überflog er das Schreiben. „Die Reservierung ist für heute Abend. Kommen Sie nach fünf wieder.“ Er schlug die Tür zu.

Tessa war zum Heulen zu Mute. Sie war deprimiert und todmüde. Nur mit Mühe gelang es ihr, nicht in Tränen auszubrechen. Da legte sich eine Hand auf ihre Schulter.

Sie schrie und sprang auf. Jemand hielt sie fest.

Aber er war bei ihr an der falschen Adresse. Als Krankenschwester war sie daran gewöhnt, schnell zu handeln, und während eines langweiligen Winters hatte sie einen Kurs in Selbstverteidigung belegt. Sie hatte sich oft gefragt, wie sie im Ernstfall reagieren würde. Nun wusste sie es.

Sie wirbelte herum und schlug zu. Mit der Faust traf sie das linke Auge des Mannes, der hinter ihr stand. Gleichzeitig griff sie mit der freien Hand nach unten und quetschte mit aller Kraft einen äußerst empfindlichen Körperteil ihres Angreifers.

Charles Cameron brüllte vor Schmerz, fiel zu Boden und hielt beide Hände schützend vor das misshandelte Organ. Tessa starrte ihn an.

„Charlie …“

„Wen haben Sie denn erwartet? Jack the Ripper? Zum Teufel, Tess, jetzt bin ich für den Rest meines Lebens außer Gefecht!“

Es war Charlie, der angebliche Earl of Dalston.

Das war zu viel. Entsetzt stammelte sie: „Oh Gott! Es tut mir so leid! Ich hatte ja eine Ahnung, dass du …“ Sie merkte gar nicht, dass sie ihn duzte. Dann brach sie in Tränen aus. Und weinte, als wolle sie nie wieder aufhören.

Mühsam richtete er sich ein wenig auf. „Tess … Warum weinst du denn? Ich bin das Opfer.“

„Ich weine ja gar nicht.“

„Und ich bin wohl Rumpelstilzchen, was? Du gefährdest das Fortbestehen derer von Dalton, verpasst mir ein blaues Auge, und dann stehst du da und heulst!“

Aber Tess konnte nicht mehr aufhören. Sie weinte und weinte. Worauf sich der Earl of Dalston mit großer Anstrengung und unter lautem Stöhnen ganz aufrichtete, den Arm um sie legte und sie an sich zog.

Tessa weinte an seiner Schulter weiter und durchnässte sein Hemd. Schließlich gelang es ihr, dem Tränenstrom Einhalt zu gebieten. Sie richtete sich auf, aber Charlie ließ sie nicht los. Besorgt sah er sie an.

„Ich … Es tut mir so leid“, brachte sie endlich hervor. „Wirklich … Ich weine nie.“

„Das sehe ich“, entgegnete er mit einem spöttischen Lächeln. „Du bist der ideale Leibwächter. Noch ein Grund mehr, dich zu heiraten. Hier, nimm mein Taschentuch.“

Tessa schnüffelte und blies ausgiebig in das gräfliche Taschentuch. Dann reichte sie es ihm zurück. Charlie grinste.

„Behalte es. Ich habe genügend davon. Geht es jetzt besser?“

„Ja, viel besser.“ Mit einem zittrigen Lächeln blickte sie zu ihm auf. Das Lächeln verschwand. „Oh Gott, Charlie. Dein Auge … Es verfärbt sich bereits.“

Vorsichtig betastete er die verwundete Stelle. „Ich werde es überleben. Dein anderer Angriff macht mir mehr Sorgen. Was hast du dir nur dabei gedacht?“

„Es war Selbstverteidigung“, entgegnete sie entrüstet, als sie das Zwinkern in seinen Augen entdeckte. Anscheinend konnte er nichts ernst nehmen. Sie sah nach dem schwarzen Auto – ein Jaguar – und stellte anklagend fest: „Also du warst das in dem Auto. Schleichst mir nach wie ein Gangster. Du hast mich ganz schön erschreckt.“

„Aber ich habe weniger Schaden angerichtet als du“, erwiderte er mit einem Stöhnen. „Außerdem hatte ich den Eindruck, dass dir dein neuer Bekannter in dem aufregenden Schlafanzug nicht gefiel.“

„Er ist ekelhaft. Ich kann hier nicht wohnen.“

„Das habe ich dir schon im Flugzeug gesagt, aber du hast mir ja nicht geglaubt. Das hier ist eine ausgesprochen schäbige Gegend.“

„Aber mein Zimmer ist doch schon bezahlt.“

„Viel hat es bestimmt nicht gekostet.“

„Das stimmt. Donald hat gesagt, dass …“

„Wer ist Donald?“

„Mein Verlobter.“

Schweigen. Tessa biss sich auf die Lippen. Umso besser. Jetzt wusste er wenigstens, dass es einen Mann in ihrem Leben gab.

Charlie griff nach ihrer Hand. „Und wo ist der Ring?“

„Wo steht geschrieben, dass ich einen Ring tragen muss?

„Zumindest würde es andere Männer nicht irreleiten.“

„Na und? Soll ich mir ein Schild umhängen, auf dem ‚bereits vergeben‘ steht?“

„Hat dein Donald noch nie etwas von einem Verlobungsring gehört?“

„Wir sparen für ein Haus“, erwiderte sie schroff. Langsam ging er ihr auf die Nerven. „Bist du jetzt mit dem Verhör fertig?“

„Wenn du meine Verlobte wärst, dann hättest du einen Ring am Finger, so groß wie ein Ei“, sagte er. „Jeder sollte wissen, wie stolz ich auf dich bin. So wie du aussiehst! Und nett bist du auch noch. Da wäre mir ein Verlobungsring tausendmal wichtiger als ein Haus.“

„Oder ein Schloss?“, rutschte es Tessa heraus. Charlie grinste. Dann griff er nach ihrem Koffer.

„Du lieber Gott. Der wiegt ja eine Tonne. Warum hast du kein Taxi genommen?“ Abwehrend hob er die Hand, als sie antworten wollte. „Ich weiß schon: Donald und das Sparkonto fürs Haus. Aber eins sage ich dir, Donald zählt nicht. Der passt nicht zu dir, Tessa Flanagan. Du brauchst einen Ritter. So einen wie mich.“

„Ich brauche keinen Ritter.“

„Und einen Earl?“

„Schon gar nicht.“

„Wie wär’s dann mit einem australischen Farmer?“ Charlies Stimme wurde sanft. „Der in London eine Wohnung hat, mit einem schönen Gästezimmer.“ Tessa erstarrte. Charlie lächelte sie beruhigend an. „Mach dir keine Sorgen. Solange du unter meinem Dach wohnst, passiert dir nichts. Absolut nichts.“ Er ergriff Tessas Koffer und ging auf den Jaguar zu.

„Warte … Ich komme nicht mit.“

„Und wohin willst du?“

„Das weiß ich nicht. Ich werde schon etwas finden.“ Sie blickte die Straße entlang. Weit und breit gab es weder ein Café noch ein Hotel. Wo sollte sie bis fünf Uhr ihr Gepäck abstellen? Sie konnte doch nicht damit zum Rechtsanwalt gehen.

Leicht berührte Charlie Tessas Wange.

„Tessa, du kannst mir vertrauen. Ich schwöre es.“

„Das kann ich eben nicht, nach allem, was du mir erzählt hast“, stieß sie hervor. „Hast du wirklich eine Wohnung in London?“

Autor

Trisha David
Mehr erfahren