Heirs to an Empire - 6-teilige Miniserie

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Nach dem Tod ihres Vaters, des englischen Aristokraten Cedric Pemberton, wird es Zeit für die Pemberton-Erben, ihren Anspruch auf das Familienimperium geltend zu machen.

Während die Geschwister lernen müssen, Verantwortung für die verschiedenen Unternehmensbereichen des internationalen Konzerns zu übernehmen, warten ungeahnte Herausforderungen auf sie: Skandale, Intrigen und dunkle Geheimnisse … Aber erst, wenn sie es wagen, auf ihr Herz hören, liegt eine strahlende Zukunft vor ihnen!

Miniserie von DONNA ALWARD
FLUCHT IN DEINE ARME
VERBOTENE KÜSSE FÜR DEN BODYGUARD
DEM GLÜCK SO VERBOTEN NAH
WEIHNACHTSWUNDER AUF CHATSWORTH MANOR
UNTER DEM WEITEN HIMMEL DER PROVENCE
DAS ZIMMERMÄDCHEN UND DER EARL


  • Erscheinungstag 11.07.2024
  • ISBN / Artikelnummer 9783751530422
  • Seitenanzahl 782
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

IMPRESSUM

JULIA erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de
Geschäftsführung: Katja Berger, Jürgen Welte
Leitung: Miran Bilic (v. i. S. d. P.)
Produktion: Christina Seeger
Grafik: Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn,
Marina Grothues (Foto)

© 2020 by Donna Alward
Originaltitel: „Scandal and the Runaway Bride“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
in der Reihe: ROMANCE
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA
Band 082021 - 2021 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Übersetzung: Grit Wölten

Abbildungen: Harlequin Books S.A. Dean Drobot / Shutterstock, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 04/2021 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH , Pößneck

ISBN 9783733718695

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

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1. KAPITEL

Surrey, Mitte Juli

Mit zusammengepressten Lippen starrte William Pemberton auf den cremefarbenen Bogen Papier in seiner Hand. Nebenan, in der Hauskapelle von Chatsworth Hall, wartete sein älterer Bruder Stephen, Earl von Chatsworth, auf seine Braut. Die Gäste hatten bereits in den Kirchenbänken Platz genommen, und die Organistin spielte leise Melodien. Allerdings zog sich die Wartezeit mittlerweile so lange hin, dass sie begann, die Stücke zu wiederholen. Die Brautjungfern standen aufgereiht am Eingangsportal, ihre Kleider und die Blumensträuße waren perfekt aufeinander abgestimmt. Und nun war William losgeschickt worden, um herauszufinden, wo die Braut blieb.

Doch statt der künftigen Frau seines Bruders hatte er nur diese Nachricht gefunden.

Es tut mir leid. Bitte verzeih mir.

William versuchte, seinen Zorn im Griff zu behalten. Sein Bruder war ein guter Mensch, und so etwas hatte er nicht verdient – insbesondere nicht, nachdem schon eine frühere Verlobung gelöst worden war. Zwar wusste der Rest der Familie die genauen Umstände der Trennung von Bridget nicht. Nur William, der seinen Bruder in einer Nacht im vergangenen Februar völlig betrunken in der Bibliothek gefunden hatte, kannte die Wahrheit. Der Gin hatte die Zunge seines Bruders gelockert, und so hatte William die ganze schäbige Geschichte erfahren.

Auch wenn William von Anfang an der Meinung gewesen war, dass Stephens Hochzeit mit Gabriella ein Fehler war, ging dieses Verhalten hier zu weit. Wofür hielt sich diese Gabriella Baresi eigentlich? Sie hatte reichlich Zeit gehabt, über ihren Entschluss nachzudenken. Stattdessen hatte sie bis zum letzten Moment gewartet und somit Stephen – und seine Familie – im größtmöglichen Maße gedemütigt. Die Wut brachte Williams Blut zum Kochen. Nicht nur, dass Gabriella seinen Bruder verletzte, das Ganze war auch eine Katastrophe für den Ruf der Firma.

Er atmete tief durch. Jetzt war Schadensbegrenzung angesagt, und das war seine Aufgabe. Heute würde es keine Hochzeit geben, und er musste sich ganz schnell etwas überlegen, damit daraus kein Skandal wurde, der Schlagzeilen machte. Das konnten die Pembertons und die Firma nicht gebrauchen. Insbesondere nicht jetzt, so kurz nach dem Tod ihres Vaters.

Er faltete die Nachricht zu einem kleinen Quadrat, schob sie in seine Hosentasche, straffte die Schultern und wappnete sich für die entsetzliche Aufgabe, die vor ihm lag. Seine Schuhe klackerten auf dem Steinboden, als er beherzten Schrittes in die Kapelle zurückkehrte. Sobald er durch die Hintertür eintrat, warf ihm sein Bruder einen fragenden Blick zu. Mit einer kaum merklichen Kopfbewegung bat William ihn zu sich, und Stephen eilte auf ihn zu.

Noch immer lag das strahlende Lächeln des glücklichen Bräutigams auf seinen Lippen. Doch sobald die beiden Brüder hinter den üppigen Bouquets aus Rosen und Lilien verborgen waren, legte er die Fassade ab.

„Was ist los?“, erkundigte sich Stephen leise. „Du siehst aus, als würdest du am liebsten jemanden umbringen.“

„Das trifft es genau“, gab William grimmig zurück. „Gabriella kommt nicht. Aber ich habe einen Plan. Also hör zu und bewahre die Fassung.“

Alle Farbe wich aus Stephens Gesicht. Mit schmalen Lippen sah er seinen Bruder an. „Mein Gott. Was meinst du damit, sie kommt nicht?“

„Sie hat eine Nachricht hinterlassen, in der sie schreibt, es tue ihr leid und du mögest ihr verzeihen.“

„Zeig her.“

Schon vor langer Zeit hatte William gelernt, diesen Tonfall seines Bruders nicht zu unterschätzen. Vorsichtig, damit die Gäste nichts mitbekamen, zog er den Zettel heraus, entfaltete ihn und reichte ihn seinem Bruder.

Stephen fluchte.

„Genau meine Meinung“, stimmte William zu. „Du wirst jetzt Folgendes tun – und es wird dir deine gesamten schauspielerischen Fähigkeiten abverlangen: Du gehst zum Altar und teilst den Gästen äußerst besorgt mit, dass deine Braut sehr krank ist. Dann bittest du sie, dich zu entschuldigen, und gehst zurück ins Haus. Lass dich nicht mehr blicken. In der Zwischenzeit suche ich Gabriella, und sobald ich sie gefunden habe, überlegen wir, was zu tun ist, um den Schaden wiedergutzumachen. Binnen einer Stunde wird die ganze Sache in den sozialen Medien auftauchen, deshalb will jeder unserer Schritte gut überlegt sein.“

„Du wirst sie finden.“

„Und ob“, versprach William grimmig. „Ich weiß noch nicht, ob wir Gabriella an einer Lebensmittelvergiftung oder einer schweren Grippe erkranken lassen, auf jeden Fall wird sie zu ihrer ‚Genesung‘ von der Bildfläche verschwinden, bis wir alles unter Kontrolle haben. Und dann kannst du überlegen, ob du diese Farce weiter vorantreiben willst.“

„William …“

„Ich weiß, entschuldige. Lass uns später weiterreden. Jetzt leg den Auftritt deines Lebens hin und verschwinde dann im Haus. Ich glätte die Wogen und mache mich auf die Suche nach Gabriella.“

Stephen nickte kurz. Wenn William jemals Zweifel an den Gefühlen seines Bruders für dessen Braut gehabt hatte, waren sie jetzt ausgeräumt – Stephen war zornig, aber nicht am Boden zerstört, wie es ein Bräutigam gewesen wäre, der seine künftige Frau wirklich von Herzen liebte. Auch wenn das nur ein schwacher Trost war, so war es zumindest ein kleiner Lichtblick.

Gemessenen Schrittes ging Stephen zum Altar und räusperte sich. „Verehrte Gäste, es tut mir leid, mitteilen zu müssen, dass es heute keine Hochzeit geben wird. Gabriella ist krank geworden, es geht ihr sehr schlecht. Danke, dass Sie alle gekommen sind. Sobald die Braut wieder genesen ist, werden wir die Feier nachholen. Jetzt werde ich mich um meine … um Gabriella kümmern.“

Er setzte eine so besorgte Miene auf, dass selbst William ihm fast geglaubt hätte. Dann stürmte er hinaus, wie es einem Verlobten gebührte, der sich entsetzliche Sorgen um seine Braut machte. Doch William kannte diesen Blick und entspannte. Denn nun wusste er: Egal, was Gabriella auch sagen würde, dieses Arrangement war vorbei. Und das war wahrscheinlich ein Segen, auch wenn vorher eine Menge Scherben wegzuräumen sein würden.

Er bemerkte, dass seine Mutter auf ihn zu hastete. Ihre normalerweise weichen, fast ätherischen Züge waren von Sorge geprägt.

„William, was ist los?“, verlangte Aurora Germain Pemberton zu wissen.

„Gabriella ist abgehauen“, erklärte er leise. „Ich werde mich auf die Suche nach ihr machen und versuchen, den Schaden gering zu halten. Kannst du dich um die Gäste kümmern? Erkläre so wenig wie möglich.“

Spöttisch hob sie eine Augenbraue, als wäre allein die Frage schon überflüssig gewesen. „Selbstverständlich. Ich wünschte, ich könnte behaupten, es täte mir leid. Aber sie war keine Frau für Stephen, und sie haben sich nicht geliebt. Aber, mon dieu , sie hätte es wirklich auf eine andere Weise regeln können.“

„Du weißt, er hat sich ein freudiges Ereignis gewünscht – etwas, das dich positiv in die Zukunft blicken lässt und dich aus deiner Trauer herausholt.“

Als Aurora ihn direkt ansah, bemerkte William den Schmerz in den Tiefen ihrer grauen Augen. „Ich werde für immer um deinen Vater trauern, William. Das kann auch keine noch so schöne Hochzeit ändern.“

„Es tut mir leid.“

„Das muss es nicht. So ist das Leben.“ Sie lächelte leicht und küsste ihn auf die Wange. „Mach dir keine Gedanken – das hier ist nicht meine erste PR-Krise.“

Damit wandte sie sich um und mischte sich hoch erhobenen Hauptes und selbstsicher unter die Gäste. Seine Mutter war eine unglaublich starke Frau.

Als er sich umschaute, entdeckte William eine der Brautjungfern, die sich zurückgezogen hatte und betroffen an ihrer Unterlippe kaute. Gabriellas jüngere Schwester Giulia war extra aus Italien angereist. William winkte sie zu sich heran.

Giulia war Anfang zwanzig, und ihre Schwester hatte auch sie im Stich gelassen, wurde William klar. Normalerweise hätte er Mitleid mit ihr gehabt, doch dafür war jetzt kein Platz.

Ein junger Mann begleitete sie – nun, vielleicht war Giulia doch nicht so allein wie befürchtet.

„Geht es meiner Schwester gut?“, erkundigte sie sich vorsichtig.

„Hast du heute Morgen noch mit ihr gesprochen?“, wollte William wissen.

Giulia nickte. „Sie war aufgeregt – aber wer ist das nicht vor seiner Hochzeit?“

Forschend sah William sie an, doch er erkannte kein Anzeichen dafür, dass sie log. Auf seine Menschenkenntnis konnte er sich verlassen, und diese junge Frau war ehrlich.

„Komm mit“, sagte er und legte eine Hand auf ihren Arm. „Ich möchte offen mit dir sprechen.“

Als sich auch der junge Mann anschickte, ihnen zu folgen, schüttelte sie den Kopf, und er blieb zurück. William steuerte auf den kleinen Raum zu, in dem er Gabriellas Nachricht gefunden hatte. Nachdem er die Tür geschlossen hatte, sah er Giulia eindringlich an. „Deine Schwester ist nicht krank. Sie hat die Flucht ergriffen.“

„Oh, Dio mio !“

Diesen Kommentar hatte er mittlerweile in drei Sprachen gehört.

„Weißt du, wo sie ist? Ich muss zu ihr.“ Entsetzt sah Giulia ihn an, das Brautjungfernsträußchen baumelte unbeachtet in ihrer Hand.

„Ich hatte eigentlich gehofft, du könntest uns einen Hinweis geben, wo wir Gabriella finden. Das Ganze ist ein echtes Drama. Wir wollen nicht, dass sich die Nachricht herumspricht, verstehst du? Hat sie irgendwelche Andeutungen dir gegenüber gemacht?“

„Ich verstehe das alles nicht.“ Giulia schluchzte, und William reichte ihr ein Taschentuch.

Geduldig wartete er ab, bis sie sich die Nase geputzt hatte, dann versuchte er es erneut. „Giulia, die Hochzeit deiner Schwester mit meinem Bruder beruhte auf rein wirtschaftlichen Interessen. Wir wissen beide, dass sie nicht aus Liebe geheiratet hätten. Euer Familienunternehmen ist ziemlich angeschlagen und hätte von unserer Firma Aurora profitiert.“

Mit großen Augen sah sie ihn an, und auch wenn er nur die Wahrheit gesagt hatte, fühlte er sich wie ein Schuft, sie so kühl und sachlich ausgesprochen zu haben. So war er normalerweise nicht. Es lag vermutlich daran, dass er seit dem Tod seines Vaters eine Krise nach der anderen bewältigen musste.

„Aber meine Eltern … es ist nicht ihre Schuld …“

„Nein, natürlich nicht“, beschwichtigte er sie. „Aber bis ich Gabriella gefunden und alles geregelt habe …“ Er brach ab, denn Giulias Gesichtsausdruck verriet, dass sie sich gerade selbst über die Auswirkungen bewusst wurde.

„William …“, begann sie zögerlich, „bitte, ich möchte helfen. Schließlich ist sie meine Schwester.“

„Es gibt zwei Arten, wie du helfen kannst“, erklärte er mit fester Stimme. „Erstens: Kein Wort zu irgendjemandem. Wenn herauskommt, dass sie Stephen vor dem Traualtar hat stehenlassen, wird es keine Beziehung zwischen unseren Familien mehr geben, das schwöre ich dir.“

Eilig nickte sie.

„Und zweitens kannst du mir helfen, sie zu finden. Hast du eine Idee, wo sie sein könnte?“

Giulia schüttelte den Kopf, dann hielt sie inne. „London. Sie würde versuchen, nach London zu kommen und dort unterzutauchen. Gabriella hat mal gesagt, dass ein Mensch dort verlorengehen könnte. Wir haben damals darüber gelacht.“

„Das ist ein ziemlich vager Hinweis.“

Sie sah ihn an. „Ich weiß nicht … Sie hat erwähnt, dass sie gern im Ritz wohnen würde wie Julia Roberts in diesem Film, weißt du? Notting Hill .“

William unterdrückte das Bedürfnis, die Augen zu verdrehen. Das Ritz war keine heiße Spur, aber zumindest ein Anfang. Kurz entschlossen riss er von Gabriellas Notiz eine Ecke ab, nahm einen Stift vom Schreibtisch des Pastors und schrieb seine Handynummer darauf. „Wenn du irgendetwas von ihr hörst oder dir noch etwas einfällt, ruf mich an. Wenn ich sie nicht finde, kann ich ihr nicht helfen.“

Und er wollte ihr helfen. Denn das war die einzige Möglichkeit, seiner Familie zu helfen. Und für seine Familie würde er alles tun.

Gabriellas Hand zitterte, als sie die Tasse an die Lippen setzte. Wenn sie jetzt in Chatsworth Hall wären, hätte Stephen nach Tee verlangt. Aber Tee war in diesem Moment nicht das Richtige für Gabriella. Sie brauchte jetzt starken Espresso, und zwar mehr als einen.

Sie hatte ihn verlassen. In ihrem Brautkleid und seinem Wagen war sie aus Surrey geflohen. Am Bahnhof hatte sie das Auto stehenlassen, das Brautkleid gegen Alltagskleidung getauscht und war in den Zug nach London gestiegen. Nie zuvor hatte sie so impulsiv gehandelt.

Das maßgeschneiderte Brautkleid hing in einem Kleidersack im Schrank, sodass ihr der Anblick erspart blieb. Jetzt saß sie hier und dachte über die Konsequenzen ihrer Flucht nach, und das half nicht gerade, das Zittern ihrer Hände und den Druck auf ihrem Magen zu lindern.

Was würde nun mit Baresi Textil passieren? Mit ihren Eltern? Mit ihrer kleinen Schwester, die sie einfach zurückgelassen hatte? Zumindest hatte Giulia Marco, sie war also nicht ganz allein.

Gabriella stellte die Espressotasse ab und legte den Kopf in die Hände. Sie hatte alles ruiniert. Aber wie hätte sie es ertragen sollen, einen Mann zu heiraten, den sie nicht liebte? Ein Kind bekommen, die Scheidung einreichen – und alles nur aus wirtschaftlichen Interessen?

Es war von Anfang an eine dumme Idee gewesen. Sie hätte den Mut haben sollen, Nein zu sagen. Auch wenn sie sich Sorgen um ihren Vater gemacht und ihren eigenen Herzschmerz verborgen hatte, war das keine Entschuldigung für falsche Entscheidungen. Doch zumindest konnte sie jetzt versuchen, das Richtige zu tun.

Sobald sie an Stephen dachte, zog sich ihr Magen erneut zusammen. Er war kein schlechter Mann. Er war nett und extrem gutaussehend, und er hatte sie stets mit Respekt und Höflichkeit behandelt. Es war einfach, ihn zu mögen. Doch lieben konnte sie ihn nicht. Die Chemie zwischen ihnen stimmte nicht. Ziemlich deutlich hatte er klargemacht, dass er einen Erben wollte, der den Titel in der nächsten Generation trug. Und nach und nach hatte sie begriffen, dass sie nicht mit jemandem schlafen konnte, den sie nicht im Mindesten begehrte.

War das selbstsüchtig? Vielleicht, aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Es war vorbei. Sie hatte die Hochzeit ruiniert und damit auch Stephens Pläne und seine Garantie für die Firma ihrer Familie.

In diesem Moment mochte sie sich selbst nicht. Sie hatte sich wie ein Feigling verhalten und war panisch abgehauen. Für eine Frau, die sich selbst für stark und vernünftig hielt, war es unverzeihlich, den Bräutigam am Altar stehen zu lassen.

Sie hatte gerade erneut nach ihrer Kaffeetasse gegriffen, als es an der Tür klopfte. Verwundert stand sie auf. Weder hatte sie etwas beim Zimmerservice bestellt noch irgendjemandem mitgeteilt, wo sie sich aufhielt, nicht einmal Giulia.

Ein Blick durch den Türspion verriet ihr, wer draußen stand. Als sie William Pemberton erkannte, schnürte sich ihr Magen zusammen.

„Gabriella, ich weiß, dass du hier bist. Mach auf“, rief er ungeduldig.

Sie schluckte, doch der Kloß in ihrer Kehle blieb.

„Du hast ziemlichen Mist gemacht. Ich will dir helfen.“

„Das bezweifle ich.“ Ihre Stimme klang fester als erwartet. Sehr gut.

„Den Schaden zu begrenzen, den du angerichtet hast, hilft dir und Stephen. Lass mich rein.“

„Ist er mitgekommen?“

„Nein. Und jetzt mach endlich auf.“

Sie gab nach, denn das Letzte, was sie brauchte, war ein Gespräch, das jeder mitbekam, der über den Hotelflur lief.

William trat ein, und sie schloss die Tür hinter ihm.

Ein schneller Blick in sein Gesicht verriet ihr, dass er ausgesprochen wütend war. Zu Recht. Aber sie würde nicht nachgeben. Auch wenn es für Schwierigkeiten sorgen würde, war es richtig, was sie getan hatte.

„Deine Schwester hatte eine Vermutung, wo du sein könntest“, erklärte er.

„Ich habe ihr kein Wort verraten“, widersprach sie erstaunt.

„Sie ist deine Schwester, und sie kennt deine Vorliebe für Notting Hill .“

„Ich konnte es nicht tun, William. Ich hätte ihn nicht heiraten können. Es ist … Wir haben nicht …“ Ihre Stimme brach, und sie wandte sich ab. Trotz des Espressos fühlte sie sich plötzlich müde.

Er seufzte. „Verdammt, Gabriella, ich bin echt wütend. Du weißt, dass ich dich mag. Eigentlich fand ich immer, dass eure Heirat ein Fehler ist. Aber ernsthaft? Am Tag der Hochzeit, wenn schon alle Gäste in der Kapelle sind? Warum hast du so lange gewartet?“

Tränen stiegen ihr in die Augen. „Ich habe geglaubt, ich würde es schaffen. Mama und Papa … ich wollte es für sie tun. Dass Aurora in unsere Firma einsteigt, wäre die Rettung gewesen, jetzt wo mein Vater …“ Sie konnte den Satz nicht zu Ende bringen. Das Wort Krebs brachte sie nicht heraus. „Und nun habe ich alles noch schlimmer gemacht.“

Sie drehte sich um und starrte aus dem Fenster, um ihre Fassung wiederzuerlangen. In der Dämmerung lag die Stadt unter ihr. Sie atmete tief durch und hatte sich schnell wieder unter Kontrolle. „Was ist in der Kapelle geschehen?“, wollte sie wissen, als sie sich wieder zu William umgewandt hatte.

„Stephen hat erzählt, du wärst krank. Dadurch konnten wir ein bisschen Zeit schinden, um neu zu planen.“

„Neu planen?“, wiederholte sie alarmiert. „William … nein, das kann ich nicht. Das mit der Hochzeit hat sich erledigt. Ich verspreche dir, dass ich alles zurückzahle, was ich ausgegeben habe, und …“ Sie dachte an ihren Vater, der die Tortur der Krebsbehandlung über sich ergehen lassen musste. Er war zu schwach gewesen, zu ihrer Hochzeit zu kommen. All die Ängste, die sie in den vergangenen Wochen nicht zugelassen hatte, brachen nun über ihr zusammen. Was, wenn sie die Firma nicht retten konnten? Was, wenn er starb?

Sie spürte Williams große, kraftvolle Hände auf ihren Schultern, und ohne ein Wort schob er sie hinüber zu dem Tisch, wo ihre Kaffeetasse und die Kanne noch standen. Er drückte sie in einen der Sessel, setzte sich in den anderen und schenkte sich Espresso ein.

„Lass dir Zeit“, sagte er. „Ich schätze, du selbst musst auch erstmal damit klarkommen.“

Als sie ihn ansah, bemerkte er, dass erneut Tränen in ihren Augen standen.

„Es hat wenig Sinn, jetzt etwas übers Knie zu brechen“, fuhr er fort.

„Wenn du wieder weißt, was du willst, können wir darüber nachdenken, was wir tun wollen.“

Sie hatte ihn immer für den Lustigen der beiden Brüder gehalten, während Stephen der Ernsthaftere war. Nun erkannte sie, dass auch William genau wusste, was er wollte.

Während sie sich die Tränen abwischte, zog er sein Smartphone aus der Tasche und tippte eine Nachricht.

„Was machst du?“, wollte sie wissen.

„Ich schreibe Stephen, dass er die Geschichte von deiner Krankheit noch aufrechterhalten soll. Und dann informiere ich deine Schwester, dass ich dich gefunden habe und es dir gut geht. Immerhin hast du auch sie einfach im Stich gelassen, in einem fremden Land, in dem sie niemanden kennt.“

„Immerhin ist Marco bei ihr“, wandte sie ein, doch sie wusste, dass er recht hatte.

„Ja, und sie wohnen jetzt bei uns im Haus. Was meinst du, was das für ein Gefühl für sie ist?“

Gabriella sprang auf. „Ja, ich bin ein ganz, ganz schlechter Mensch. Ist es das, was du hören willst, William?“

Doch weder ihre Tränen noch ihre Wut beeindruckten ihn. „Alles, was ich sage, ist, dass einiges zu bedenken ist. Alle Welt geht davon aus, dass du eine Lebensmittelvergiftung hattest und zu krank warst, um die Hochzeitszeremonie mitzumachen. Wir füttern die Medien mit kleinen Häppchen über deinen aktuellen Gesundheitszustand. Und auch hier wird niemand plaudern, dafür werde ich sorgen.“

Ja, die Pembertons hatten das Geld und den Status, um all das zu regeln, dachte sie bitter.

„Nun, scheint so, als hättest du alles unter Kontrolle.“ Sie schaffte es nicht, den ironischen Unterton zu unterdrücken.

„Nicht ganz“, gab er völlig unbeeindruckt zurück. „Damit alles klappt, musst du dich aus der Öffentlichkeit heraushalten – insbesondere fern von allen Paparazzi. Und das bedeutet, dass du nicht hierbleiben kannst.“

Sie verschränkte die Finger, um das verräterische Zittern zu verbergen. „Und was schlägst du vor, wohin ich gehen soll?“

„Nicht du . Wir . Ich lasse dich nicht aus den Augen. Was hältst du davon, uns etwas zu essen zu bestellen, während ich alles organisiere?“

Ohne sie weiter zu beachten, wandte er sich ab. Deutlicher hätte er ihr nicht machen können, dass ab sofort er die Kontrolle über ihr Leben übernommen hatte. Sie war auf die Gnade der Familie Pemberton angewiesen. Aber das würde nicht so bleiben, schwor sie sich.

2. KAPITEL

Es war schon dunkel, als sie den Privatjet der Firma bestiegen. William hatte auf keinen Fall das Risiko eingehen wollen, mit einer Linienmaschine zu fliegen und in der Öffentlichkeit gesehen zu werden. Gabriella kam sich vor wie ein schmutziges kleines Geheimnis, das versteckt werden musste, bis es einen Plan gab, wie mit der Situation umzugehen war. Die Situation – das war sie, so viel war klar.

Zu gern wäre sie wütend gewesen darüber, wie William mit ihr umging. Aber wenn sie ehrlich war, wusste sie, dass sie der Firma einen PR-Albtraum eingebrockt hatte.

Obwohl sie schon mehrfach mit dem Jet geflogen war, kam sie sich an diesem Abend vor wie ein Eindringling.

Als Stephen Pembertons Verlobte war sie mit ihm von Italien nach London geflogen – von dort war es nicht weit bis nach Chatsworth Hall – oder nach Paris, wo er eine großzügige Wohnung hatte. Jetzt war das Flugzeug vollgetankt und wartete bereits auf die Passagiere. Allerdings war das eigentliche Ziel Malta gewesen, wo Gabriella und Stephen ihre Flitterwochen hatten verbringen wollen.

„Wohin fliegen wir eigentlich?“, wollte sie wissen.

„Zum Château.“

Richtig, er hatte Frankreich erwähnt. Aber sie war zu nervös gewesen, um es zu registrieren. Sie ließ sich in das butterweiche Leder des Sitzes gleiten und biss sich auf die Lippe. „Und wie lange?“

Er zuckte die Schultern. „Ein paar Tage, eine Woche – schwer zu sagen.“

Eine Woche. Sie runzelte die Stirn. Hauptsache, sie war in Italien, wenn ihr Vater operiert wurde.

Während William mehrere Telefonate geführt hatte, um alles zu organisieren, hatte sie nur mit drei Menschen gesprochen: ihrer Schwester und ihren Eltern.

Giulia gegenüber war sie vollkommen ehrlich gewesen und hatte sich entschuldigt, sie einfach so im Stich gelassen zu haben. Giulia hatte sie beruhigt und versichert, die Pembertons seien sehr nett zu ihr, und sie müsse sich keine Sorgen machen. Das war typisch für ihre kleine Schwester – Giulia versuchte immer, es allen recht zu machen.

Ihren Eltern hatte sie eine andere Geschichte aufgetischt. Sie hatte sie angelogen, und das hatte ihr das Herz zerrissen. Da es am einfachsten gewesen war, auch ihnen die Version der Lebensmittelvergiftung zu erzählen, war sie dabei geblieben. Mit der Begründung, es gehe ihr noch nicht wieder besonders gut, hatte sie das Telefonat kurzhalten können.

Doch die Lüge lastete schwer auf ihr, und sie wusste nicht, ob sie ihnen jemals wieder in die Augen sehen könnte. Denn es war viel mehr gewesen als nur eine Unwahrheit – sie hatte ihren Eltern die Chance genommen, das Familienunternehmen zu retten. Wenn sie das nicht irgendwie doch noch schaffte, würden ihre Eltern vielleicht verkaufen müssen.

Die Partnerschaft mit Aurora hätte ihrem Vater während seiner Krebsbehandlung die notwendige Atempause verschafft. Sie war achtundzwanzig Jahre alt und hatte vor nicht allzu langer Zeit ihr Betriebswirtschafts-Studium abgeschlossen – wie sollte sie eine große Firma leiten, die noch dazu in finanziellen Schwierigkeiten steckte?

Ihre Kehle schnürte sich zu. Sie war im Begriff, eine Menge Menschen zu enttäuschen, und das setzte ihr massiv zu.

„Woran denkst du?“, riss William sie aus ihren Grübeleien. Er hatte ihr gegenüber Platz genommen und griff nach seinem Sicherheitsgurt.

„Daran, dass ich alles ruiniert habe. Meine Eltern … Die Hochzeit mit Stephen hätte es ermöglicht, die Firma im Namen meines Vaters weiterzuführen. Jetzt werden wir wohl verkaufen müssen.“ Sie sah William direkt an. „Ich fühle mich entsetzlich selbstsüchtig. Auch wenn ich weiß, dass es falsch gewesen wäre, Stephen zu heiraten.“

„Wäre es tatsächlich so schlimm gewesen, eine Gräfin zu werden?“

„Vielleicht glaubst du mir nicht, aber ich mache mir nichts aus solchen Dingen. Was bedeutet es schon, einen Titel zu haben, wenn man unglücklich ist? Nicht, dass dein Bruder so schrecklich wäre“, fügte sie hastig hinzu. „Aber ich liebe ihn nicht, und ich kann mir nicht vorstellen, mit jemandem zusammenzuleben, der mir nichts bedeutet. Ich hatte geglaubt, es zu schaffen, aber …“ Sie wandte sich ab. „Vielleicht bin ich nur naiv. Vermutlich klingt das alles für dich ziemlich albern.“

„Nein, das tut es nicht“, versicherte William. „Du hättest uns den Eklat in der Kirche ersparen können, aber ich stimme dir absolut zu. Die Verlobung war Unsinn. Ich habe nie verstanden, wie Stephen auf diese Idee kommen konnte.“

Das Flugzeug fuhr langsam auf die Startbahn zu, und Gabriella schloss den Anschnallgurt. „Er liebt eure Mutter sehr. Und er wollte ihr Hoffnung geben, eine Vision für die Zukunft, um ihr über den Tod ihres Mannes hinwegzuhelfen. Eine Hochzeit und … ein Baby. Ein Enkelkind, das die Familientradition weiterführt. Ist das so falsch?“

Sein Angebot war ihr verlockend erschienen. Und sie mochte ihn wirklich gern. Vor drei Jahren waren sie sich zum ersten Mal begegnet. Damals hatte sie angefangen, bei Baresi zu arbeiten, und Stephen hatte die Zulieferer von Aurora kennenlernen wollen. Er war charmant gewesen und höflich, und sie hatten sich angefreundet. Irgendwann im Laufe der Jahre hatte sie ihm bei einem Glas Chianti anvertraut, dass sie sich Sorgen um die finanzielle Situation von Baresi machte. Und dann hatte er ihr angeboten, sie zu heiraten und die Firma in die Aurora-Holding zu übernehmen.

Er hatte gesagt, er vertraue ihr, weil sie Freunde seien. Bei der Erinnerung an diese Worte röteten sich ihre Wangen voller Scham. Genau dies war der Knackpunkt. Ein Kind von Stephen zu bekommen, erschien ihr unmöglich. Er war ihr ein guter Freund, er war ehrbar und zuverlässig. Sie mochte ihn sehr – aber mehr auch nicht.

Genau darauf lief es immer wieder hinaus. Die Liebe fehlte. Es war eine rein platonische Beziehung, zumindest von ihrer Seite, und sie ging davon aus, dass er ähnlich empfand.

„Die Idee war nicht schlecht“, sagte sie. „Andererseits war es … Ich mag deine Familie. Sie war immer gut zu mir. Wahrscheinlich hassen mich jetzt alle.“

„Nun, soweit sie wissen, hast du Stephen das Herz gebrochen und einen Skandal provoziert.“

„Bist du immer so geradeheraus?“

„Allerdings.“ Doch dabei lächelte er, und in seinen Augen lag ein amüsiertes Blitzen. „Wer sich klar ausdrückt, läuft nicht Gefahr, missverstanden zu werden.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob mir das gefällt. Aber ich bin dir dankbar, dass du mich nicht anschreist oder so etwas in der Art.“

Inzwischen hatten sie ihre Flughöhe erreicht. William löste seinen Sicherheitsgurt und stand auf, um an die Bar zu gehen. Dort griff er nach zwei Gläsern und schenkte eine großzügige Menge Whiskey ein. Mit einem Lächeln reichte er Gabriella eines der bauchigen Gläser. „Mir geht es nur darum, den Medien die richtige Geschichte zu erzählen. Eine Woche in der Provence wird helfen, dir die Paparazzi vom Leib zu halten. Und danach könnt ihr ein neues Hochzeitsdatum festlegen.“

Sie setzte zu einem Protest an, doch er hob die Hand und brachte sie so zum Schweigen. „Einen Termin, der nicht stattfinden wird. Nach einem angemessenen Zeitraum wird die Hochzeit ohne viel Aufsehen abgesagt, ihr geht getrennte Wege – und das war’s.“

Ein ganz sauberer Abgang. Sollte sie William dankbar sein, dass er sich um alles kümmerte, oder empört, weil er einfach über ihr Leben bestimmte? „Und was ist mit Baresi Textil?“, wollte sie beinahe trotzig wissen.

Ganz ruhig nahm er einen Schluck Whiskey, dann hob er eine Augenbraue. „Das musst du Stephen fragen. Aber damit wartest du besser, bis sein Stolz sich wieder erholt hat.“

Gedankenverloren nippte sie an ihrem Drink und genoss das Gefühl der Entspannung, das der Whiskey in ihrem Innern auslöste. Zwischen William und ihr lag ein Schweigen, das nicht unangenehm war – vorerst war alles gesagt. Er hatte sein Handy hervorgeholt und tippte in rasender Geschwindigkeit Nachrichten. An wen schrieb er wohl? Neugierig versuchte sie, einen Blick zu erhaschen.

William sah seinem Bruder sehr ähnlich, doch seine Züge waren markanter. Sein braunes Haar trug er kurz geschnitten, und sobald er sein seltenes Lächeln zeigte, lag in seinen Augen ein goldenes Funkeln, das an Kornfelder erinnerte, über die der Abendwind streifte. Er trug noch seine Smokinghose, doch er hatte die Ärmel seines weißen Hemdes hochgekrempelt und die obersten Knöpfe geöffnet, sodass ihr Blick auf das leicht gebräunte V fiel, das am Hemdkragen zu sehen war.

Ebenso wie die anderen Mitglieder seiner Familie war er groß und schlank, doch er hatte ein breites Kreuz und bewegte sich mit attraktiver Lässigkeit. Die Pembertons waren eine gutaussehende Familie, und William bildete da keine Ausnahme.

Es hätte alles so einfach sein können, wenn sie Stephen liebte. Aber es spielte eigentlich keine Rolle, denn er wollte gar nicht von ihr geliebt werden.

Sie trank ihren Whiskey aus und lehnte sich in das weiche Leder zurück. Wenig später war sie eingeschlafen.

Nachdenklich betrachtete William die Braut seines Bruders. Er hatte beobachtet, wie der Schlaf sie einfach übermannt hatte. Ohne dass sie es sich gemütlich gemacht oder gegähnt hätte, waren ihre Lider einfach schwer geworden und die Augen irgendwann zugefallen.

Stephen war ein Idiot. Gabriella Baresi war eine wunderschöne Frau – klug, ein bisschen zurückhaltend. Was sie heute getan hatte, konnte er allerdings überhaupt nicht nachvollziehen. Doch abgesehen von dem Skandal, den sie ausgelöst hatte, fand er es mutig, dass sie den entscheidenden Schritt verweigert hatte.

Die letzte Beziehung seines Bruders war unschön beendet worden, und noch immer litt Stephen darunter. Deshalb hatte er Gabriella vermutlich nie ganz an sich herangelassen.

Viele würden Gabriella jetzt als kalt und hartherzig verurteilen, doch William wusste, dass das nicht stimmte. Sie hatte der Ehe mit Stephen zugestimmt, um ihre Familie und deren Firma zu retten. Ihr Vater war schwerkrank. Nach der Hochzeit hätte es eine Fusion von Aurora und Baresi geben sollen. Gemeinsam hätten sie die feinsten Kaschmirwaren auf den Markt gebracht, und obwohl Aurora der finanzstärkere Partner gewesen wäre, hätte Gabriellas Vater die Geschäftsführung von Baresi behalten.

Stephen hatte zugestimmt – allerdings hatte er noch einige absonderliche Bedingungen gestellt.

William schüttelte den Kopf. Sowohl Gabriella als auch Stephen hatten versucht, die Erwartungen ihrer Eltern zu erfüllen und hätten sich dabei fast ins Unglück gestürzt. Doch er verstand sie – schließlich verdankte er Stephen und seinem Vater alles.

Wenn die beiden nicht gewesen wären, dann wäre er eventuell eines Tages abgestürzt. Er war der Albtraum eines jeden Erben, das schwarze Schaf der Familie. Ausgedehnte Partys, riskante Unternehmungen, Liebesabenteuer. Stephen hätte sich von ihm lossagen können, doch stattdessen hatte er sich um seinen Bruder gekümmert und ihn unterstützt, wo immer es ging.

Saint Stephen , der heilige Stephen. So hatten er und seine Freunde ihn früher genannt. Sein Bruder hatte immer alles richtig gemacht, während William immer seine Grenzen ausgetestet hatte.

Energisch schob er die Erinnerungen beiseite und konzentrierte sich wieder auf die schlafende Gabriella ihm gegenüber.

Er kannte ihren Vater, Massimo Baresi, und er bezweifelte, dass der Mann ahnte, welch ein Opfer seine Tochter zu bringen bereit war, um das Familienunternehmen zu retten. Er war ein kluger, stolzer Mann, der harte Zeiten durchmachte. Mit ihren Zweifeln hatte Gabriella ihn mit Sicherheit nicht belastet.

Sie war eine wunderschöne Frau. Um ihr herzförmiges Gesicht ringelte sich eine Strähne ihrer ungezähmten Locken, sie hatte das gleiche glänzende Schwarz wie ihre langen Wimpern, die jetzt im Schlaf über ihren hohen Wangenknochen ruhten. Ihre ungeschminkten Lippen schimmerten rosig.

Wenn sie nervös oder unentschlossen war, kaute sie auf ihrer Unterlippe. Das hatte sie heute mehrfach getan. Ganz offensichtlich war es keine einfache Entscheidung für sie gewesen, die Hochzeit platzen zu lassen. Kein Wunder, dass sie jetzt, nachdem der erste Schritt unweigerlich getan war, erschöpft zusammenbrach.

In einer guten Stunde würden sie die Provence erreichen. Das Château der Familie lag inmitten eines Parks voller Lavendel und üppiger Gartenanlagen. Er liebte es, dort Zeit zu verbringen. Und nun würde er eine Woche lang dort sein. Mit Gabriella.

Er wusste nicht, ob das Fluch oder Segen war.

Kaffee. Der aromatische Duft weckte Gabriella aus einem tiefen, traumlosen Schlaf. Als sie die Augen aufschlug, schnappte sie erschrocken nach Luft, weil jemand direkt neben ihr stand.

„Oh, excusez-moi, mademoiselle “, sagte das Hausmädchen zerknirscht.

„Sie müssen sich nicht dafür entschuldigen, dass Sie mir Kaffee bringen. Im Gegenteil, ich bin Ihnen absolut dankbar.“ Sie setzte sich auf und strich ihr Haar zurück. „Wie heißen Sie?“

„Suzanne.“

Merci , Suzanne. Ihr Kaffee kommt genau zur rechten Zeit.“

Sie tauschten ein Lächeln, dann huschte das Mädchen ebenso leise, wie es gekommen war, wieder hinaus und schloss die Schlafzimmertür hinter sich.

Grundgütiger Himmel. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass es auf dem Anwesen Dienstboten geben würde. Andererseits war das Château riesig, sodass sie darauf hätte kommen können, wenn sie darüber nachgedacht hätte.

An Details ihrer gestrigen Ankunft konnte sie sich kaum noch erinnern. William hatte sie geweckt, als sie zum Landeanflug ansetzten, dann waren sie in ein Taxi gestiegen und gegen zwei Uhr nachts angekommen.

Sie griff nach der Kaffeetasse und sog den köstlichen Duft ein. Nachdem sie den ersten Schluck genommen hatte, lehnte sie sich wohlig seufzend zurück. Dann sah sie sich um. Ihr Gepäck stand vor einem großen antiken Kleiderschrank. Sie würde es auspacken, nachdem …

Nachdem was? Theoretisch war sie noch krank, und ganz sicher hatte William nicht vor, den Tag mit ihr zu verbringen. Sie könnte es ihm nicht verübeln, wenn er wenig Wert auf ihre Gesellschaft legte.

Andererseits würde sie darauf bestehen, dass er sie in seinen geheimnisvollen Plan einweihte. Auch wenn sie vermutlich nur wenig Einfluss darauf haben würde, was als Nächstes passierte, wollte sie sich nicht einfach in ihr Schicksal fügen.

Sie trank den Kaffee aus und füllte sich aus der silbernen Kanne, die auf dem Tablett stand, die Tasse noch einmal nach. Dann kostete sie von dem knusprig-lockeren Croissant und nahm sich ein paar Erdbeeren aus der Schale. Ihr Abendessen im Flieger hatte sie kaum angerührt, und nun spürte sie, wie hungrig sie war. Der Kaffee entfaltete seine Wirkung, und nachdem sie das Frühstück vertilgt hatte, stand sie voller Tatendrang auf und ging duschen, um frisch in den Tag zu starten.

Es war seltsam, daran zu denken, dass sie erst gestern um diese Zeit ihr Hochzeitskleid angezogen hatte.

Während sie sich nach dem Duschen eincremte, fiel ihr ein, dass sie noch gar nicht auf ihr Smartphone gesehen hatte. Sie ging zurück ins Schlafzimmer und durchwühlte ihre Handtasche. Kein Handy. Kurzerhand wuchtete sie ihren Koffer aufs Bett, öffnete ihn und suchte zwischen ihrer Kleidung. Nichts. Keine Spur von dem kleinen Stück Technik, das sie mit der restlichen Welt in Verbindung hielt.

Sie hängte ihr Brautkleid in dem Kleidersack in den Schrank und versuchte, sich zu beruhigen. Hatte sie das Telefon eventuell im Flugzeug vergessen? Oder nachts im Taxi? Fieberhaft versuchte sie, sich zu erinnern, doch ihr fiel nichts ein.

„Um Himmels willen.“

Beim Klang von Williams Stimme wandte sie sich um.

Er stand im Türrahmen und ließ den Blick entgeistert durchs Zimmer schweifen. Sie sah den Raum mit seinen Augen – die Kleidungsstücke, die überall verteilt lagen, die umgestülpte Handtasche, Schuhe durcheinander auf dem Boden. Errötend stellte sie fest, dass auch ihre Unterwäsche verstreut auf dem Bett lag.

„Ich packe aus“, teilte sie ihm mit und schob das Kinn vor.

Ohne ein Wort hob er eine Augenbraue, und sie hätte schwören können, dass sich trotz seiner ernsten Miene ein Schmunzeln in seinen Mundwinkeln versteckte.

„Eine sehr eigenwillige Methode“, stellte er schließlich fest.

Sie verkniff sich ein Lachen, denn sie war viel zu verletzt, um sich mit ihm zu verbrüdern. „Ich muss ein paar Sachen sortieren.“

Nun musste sie doch lachen, doch sobald er sie ansah, wurde sie wieder ernst. „William, hast du mein Handy gesehen? Es ist nicht in meinem Gepäck.“

„Ah, das erklärt die Unordnung. Tatsächlich weiß ich, wo es ist.“

„Gott sei Dank. Könntest du es mir bitte geben?“

„Jetzt noch nicht.“

Fragend sah sie ihn an. „Wie bitte?“

Zumindest hatte er den Anstand, sich offensichtlich unwohl zu fühlen bei diesem Gespräch, stellte sie fest.

„Sieh mal, Gabriella, wir können es uns nicht leisten, dass du in dieser Situation etwas in den sozialen Medien postest. Unsere PR-Abteilung kümmert sich darum. Unser Job ist es, uns ein paar Tage hier zurückzuziehen, während meine PR-Leute die Presse versorgen. Das bedeutet, wir sind nicht online.“

Unwillkürlich ballte Gabriella die Hände zu Fäusten und starrte William wütend an. Wie hatte sie jemals annehmen können, er sei der witzige der beiden Brüder? Stephen hatte vielleicht eine ernste, beinahe melancholische Grundstimmung, aber er war nicht spießig oder herrisch. William dagegen … Es war unfassbar. Was glaubte er eigentlich, wer er war?

„Dann rede mit mir darüber. Du kannst doch nicht einfach mein Telefon konfiszieren, als wäre ich ein kleines Kind. Ich verlange, dass du es mir sofort zurückgibst.“

„Damit du deine Eltern oder deine Schwester benachrichtigst? Weißt du eigentlich, wie Sicherheitslücken entstehen?“ Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Ich mag deine Schwester wirklich sehr. Sie ist ein süßes Mädchen. Aber ich möchte vermeiden, dass sie vielleicht auf die Idee kommt, die Geschichte an die Medien zu verkaufen und dadurch ein bisschen Geld in die Familienkasse zu spülen.“

Fassungslos sah sie ihn an. Als sie wieder sprechen konnte, zitterte ihre Stimme vor Wut. „Ich weiß nicht, wie deine Familie Dinge regelt. Aber meine Familie käme nie auf eine solche Idee. Für Giulia lege ich meine Hand ins Feuer.“

„Und trotzdem hast du sie gestern nicht eingeweiht.“

Schwer ließ sie sich aufs Bett sinken, plötzlich fühlte sie sich erschöpft. Tief in ihrem Innern nahm sie William nicht übel, dass er vorsichtig war. Schließlich hatte sie ihm keinen Grund gegeben, ihr zu vertrauen. Dennoch war das eine unvorstellbare Situation. Warum konnten sie in dieser vertrackten Lage nicht als Team zusammenarbeiten? Es musste doch keine Schlammschlacht werden.

William löste sich vom Türrahmen und kam ins Zimmer. Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich vor sie, die Ellbogen auf die Knie gestützt. „Tut mir leid“, begann er seufzend. „Ich weiß, dass es unfreundlich geklungen haben muss. Aber ich …“

Wieder seufzte er. Und Gabriella hatte das Gefühl, dass er etwas sagen wollte, es dann aber zurückhielt. „Was?“

„Ich würde alles tun, um Stephen zu schützen. Und das bedeutet, dass alles nach Plan laufen muss. Er hat schon genug durchgemacht.“

„Falls du seine Beziehung zu Bridget meinst …“

Seine Lippen wurden schmal. „Du weißt davon.“ Es war keine Frage, sondern eine erstaunte Feststellung.

„Natürlich.“ Ihre Stimme war weich und gleichzeitig fest. „Stephen und ich sind schließlich Freunde. Zumindest waren wir das. Bis ich Panik bekommen habe.“

„Passiert dir das häufiger?“

„Nein, eigentlich nicht. Aber normalerweise lüge ich auch nicht, und gestern hatte ich nur die Wahl zwischen diesen beiden Alternativen. Wenn ich die Hochzeit durchgezogen hätte, dann hätte ich nicht nur die ganze Welt belogen, sondern auch mich selbst. Damit hätte ich nicht leben können. Also geriet ich in Panik und lief weg. Ich bin wahrlich nicht stolz darauf, aber es ist nun mal geschehen.“

„Allerdings.“

„Du bist deinem Bruder ziemlich loyal gegenüber.“

„Ich verdanke ihm viel“, erwiderte er schlicht und lächelte schwach. „Er ist genau in dem Moment aufgetaucht, als ich auf dem besten Wege war, eine große Enttäuschung für meine Familie zu werden. Ich verdanke ihm mein Leben, im wahrsten Sinne. Dass du nun sauer bist, weil ich dir dein Handy weggenommen habe, lässt mich daher relativ kalt.“

Eigentlich hätte sie wütend sein sollen, doch die bewegende Art, wie er über Stephen gesprochen hatte, ließ keinen Raum für ihren Zorn. Auch wenn sie nicht wusste, was Stephen genau für seinen Bruder getan hatte, musste es auf jeden Fall etwas Großes gewesen sein. Vor diesem Hintergrund fühlte sie sich noch schlechter, ihn einfach sitzengelassen zu haben. So etwas hatte er nicht verdient. Sie hätte viel früher offen mit ihm sprechen müssen.

Doch da war dieser Nachmittag gewesen, an dem sie auf dem Anwesen der Baresis spazieren gegangen waren und die Sonne genossen hatten. Damals hatte er ihr von der Liebesgeschichte seiner Eltern erzählt und davon, wie sehr der Tod seines Vaters sie alle getroffen hatte – insbesondere die unerschütterliche Aurora Germain Pemberton. Er war so traurig gewesen, und sie hatte ihn getröstet. Ein paar Wochen später dann hatte er sie erneut in Italien besucht und ihr von seinen Plänen erzählt.

Verstohlen musterte sie William und verglich ihn mit seinem Bruder. Er war keine ganz so imposante Erscheinung wie Stephen, doch er strahlte eine Stärke aus, die gleichzeitig Sicherheit vermittelte und einschüchterte. Auch er hatte seinen Vater verloren, und er musste ebenfalls mit seiner Trauer klarkommen. Dennoch stand er nicht unter demselben immensen Druck wie Stephen als ältester Sohn und Erbe.

„Der Tod deines Vaters tut mir sehr leid“, sagte sie leise. „Auch für dich muss es sehr hart gewesen sein.“

In seinen Augen erkannte sie Schmerz und Trauer. „Er war ein guter Mann. Sein Tod kam für uns alle unerwartet. Wir haben es geschafft, unsere neuen Plätze in der Firma einzunehmen und uns dabei nur ein paar Blessuren zugezogen, aber ohne ihn ist alles anders. Schon oft hätte ich ihn am liebsten angerufen und um Rat gefragt. Das ist nun nie wieder möglich.“

„Stephen war derjenige, um den sich nach dem Tod eures Vaters alles drehte. Er stand im Rampenlicht. Habt ihr, du und deine Schwester, das Gefühl, vergessen worden zu sein?“

Er verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln. „Vergessen von den Medien? Nein, keine Sorge.“

Eine völlig überflüssige Frage, gab sie zu. Wenn irgendjemand herausfand, dass sie zusammen hier waren, würden sofort die Paparazzi hier auftauchen. Das erklärte, warum er hart blieb und ihr das Smartphone nicht zurückgab.

„Schließen wir einen Kompromiss?“, schlug sie vor und bemühte sich um einen leichten Tonfall. „Du lässt mich meine Nachrichten checken und darfst alles lesen, was ich verschicke. Und dann gebe ich dir das Telefon zurück. Ein bisschen Vertrauen von beiden Seiten.“

Während er darüber nachdachte, hielt er ihren Blick, und ihr Magen begann zu kribbeln. Es war, als könnte er ihre Gedanken lesen. Wenn sie ehrlich war, vertraute sie ihm noch immer nicht ganz. Doch ihr Vorschlag könnte ein Anfang sein.

Schließlich griff er in seine Hosentasche und zog ihr Handy heraus.

„Du hast es die ganze Zeit bei dir gehabt?“ Sie konnte nicht verhindern, dass ein leichter Tadel in ihren Worten mitschwang.

Und plötzlich lächelte er. Zum ersten Mal an diesem Morgen. Es war, als fiele ein Sonnenstrahl direkt auf sein Gesicht. Hatte er gestern gelächelt? Sie konnte sich nicht erinnern. Das Kribbeln im Bauch kehrte stärker zurück. Unmöglich! Den Bruder ihres Ex-Verlobten attraktiv zu finden, war nun wirklich das Letzte, was sie gebrauchen konnte.

„Du sollst dich nicht wie eine Gefangene fühlen, Gabriella. Ich möchte nur, dass die ganze Sache vernünftig geregelt wird.“

„Um Stephen zu schützen.“

„Und die Familie. Die Medien werden auf jede winzige Kleinigkeit anspringen. Und auch wenn meine Mutter in dieser Hinsicht ziemlich hart im Nehmen ist, möchte ich keine Zeitschriften voller anzüglicher Schlagzeilen.“

„Du bist sehr fürsorglich“, stellte sie fest.

„Es ist eine ziemlich steile Lernkurve, die ich durchgemacht habe.“

Damit reichte er ihr das Smartphone, und als sie es entgegennahm, spürte sie, wie warm es war. Zu wissen, dass er es dicht an seinem Körper getragen hatte, fühlte sich intimer an als es sollte.

„Wenn du Lust hast, zeige ich dir das Château und die Gärten. Und auch wenn vermutlich niemand weiß, dass wir hier sind, tu mir bitte den Gefallen, das Grundstück nicht zu verlassen.“

Es war nur für ein paar Tage, sagte sie sich. Das hatte William versprochen.

Und William, das wurde ihr immer bewusster, war ein Mann, der sein Wort hielt.

3. KAPITEL

William presste das Telefon dichter ans Ohr und schloss die Augen. „Ja, ich weiß. Niemand hat eine Ahnung, dass wir hier sind, Stephen.“

Geduldig ließ er den Wortschwall seines Bruders über sich ergehen, schließlich konnte er gut nachvollziehen, dass Stephen aufgebracht war. Er war betrogen worden, und wenn die Wahrheit ans Licht käme, wäre er zutiefst gedemütigt. Und das nicht zum ersten Mal. Die Tatsache, dass er reich und adlig war, machte ihn begehrenswert. Aber er war auch nur ein Mensch, und im Moment war sein Stolz extrem verletzt. Er war nie wirklich darüber hinweggekommen, dass Bridget ihn betrogen und es nur auf sein Geld abgesehen hatte. Und nun auch noch die Geschichte mit Gabriella. Also atmete William tief durch und blieb ruhig.

Sobald er dazwischenkam, unterbrach er seinen Bruder. „Du musst wissen, dass sie ziemlich zerknirscht ist. Sie ist einfach in Panik geraten. Ganz sicher hat sie es nicht getan, um dir zu schaden.“

Es war ihm ein Rätsel, weshalb er Gabriella verteidigte. Vielleicht lag es an dem sanften Ausdruck, der heute Morgen in ihren Augen gelegen hatte. Oder daran, dass sie einen Kompromiss vorgeschlagen und dazu gestanden hatte, ohne Ausflüchte oder Schmollen.

„Stephen, es war von Anfang an eine dumme Idee“, wandte er ein und massierte sich den Nasenrücken. „Und wenn du meinst, dass sie dich nur benutzt hat, dann schau in den Spiegel – du hast es doch umgekehrt genauso gemacht.“

Am anderen Ende der Leitung entstand ein unbehagliches Schweigen.

Dann legte Stephen einfach auf.

Hinter seinen Augen kündigte sich eine Migräne an. Großartig. Stephen war sauer, und Will hasste es, sich mit ihm zu streiten. Aber im Moment ließ sich das nicht ändern. Er war in Frankreich, sozusagen als Babysitter der Ex-Verlobten seines Bruders.

Allerdings musste er zugeben, dass er diese Aufgabe nicht besonders schlimm fand. Sie war ziemlich liebenswert.

Nachdenklich schob er das Smartphone in die Hosentasche und starrte aus dem Fenster. Nur wenig hier verriet, dass es sein Schlafzimmer war. Alle Räume des Hauses waren von einer Innenarchitektin gestaltet worden, und der Stil hatte nichts mit der Einrichtung seiner Wohnung in Paris gemeinsam. Dennoch musste er zugeben, dass die hellen Wände und die luftigen Vorhänge die friedliche und ruhige Atmosphäre des gesamten Châteaus widerspiegelten.

Die bodentiefen Fenster gingen zum Garten hinaus, und der Anblick der üppigen, terrassenförmig angelegten Beete erdete ihn jedes Mal.

Er leitete eine wichtige Abteilung von Aurora, und das mit gerade einmal achtundzwanzig. Manchmal fragte er sich, ob es das war, was er wirklich aus seinem Leben machen wollte. Doch es war nie infrage gestellt worden, dass er ins Familienunternehmen eintrat, ebenso wie alle anderen Pemberton-Kinder. Vor sechs Monaten hatte seine Mutter ihm die Verantwortung für den Modebereich übertragen, und als er sie fragte, ob sie Witze mache, hatte sie ihm vollkommen ernst erklärt, er müsse sich nicht mit der neusten Mode auskennen. Es reiche, dass er ein guter Geschäftsmann sei.

Die Firma würde niemals Kompromisse machen, was die Qualität betraf. Seit nahezu zwei Jahrzehnten war die Familie Baresi ihr Hauptlieferant für Kaschmir, und es lag im Interesse von Aurora, diese Verbindung aufrechtzuerhalten.

Wie praktisch, dass ein Mitglied der Baresis gerade unter seinem Dach wohnte.

Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr, und als er genauer hinsah, erkannte er Gabriella, die gerade durch den Garten schlenderte, der weiter unten in einen weitläufigen Park mündete. Seine Kehle wurde eng. Sie trug dasselbe Kleid wie heute Morgen – weiß mit blauen Blüten –, dessen Schnitt ihre sportliche Figur perfekt zur Geltung brachte. Viel mehr aber erweckte ihr Haar seine Aufmerksamkeit. Heute Morgen war sie gerade aus der Dusche gekommen und hatte die Haare lässig zu einer Art Knoten hochgesteckt. Jetzt aber floss es in glänzenden dunkelbraunen Wellen über ihre Schultern. Unwillkürlich wünschte er sich, seine Finger in diese Haarpracht zu vergraben, während sie wohlig aufseufzte …

Doch Gabriella war nichts für ihn. Das konnte er Stephen nicht antun. Und schließlich versuchte er gerade, einen Skandal zu vermeiden.

Jetzt blieb sie an einem Rosenstrauch stehen, und er ertappte sich dabei, dass er lächelte, als sie sich vorbeugte und den Duft der Blüten einsog. Wie lächerlich, dass ihn eine so alltägliche Geste rührte!

Er setzte eine ernste Miene auf und beschloss, sie zu begleiten. Es gab keinen Grund, ihr zu verweigern, was sie sich wünschte. Eine engere Geschäftsbeziehung zu Baresi bot auch für Aurora eine solidere Basis. Stephen hatte Bedingungen an sein Angebot geknüpft, und das würde William auch tun. Niemand musste dafür seine Prinzipien opfern. Er würde es für die Firma tun und für Baresi. Doch es wäre weiterhin an Stephen, für einen Erben zu sorgen und seine Mutter glücklich zu machen.

Der Garten erinnerte Gabriella an zu Hause. Das mediterrane Klima brachte unendlich viele verschiedene Blumen und Sträucher hervor – gar nicht zu vergleichen mit dem Garten in England, der Chatsworth Hall umgab.

Üppige Buchsbäume, Oliven und Zypressen standen am Rande der Staudenbeete und des Kräutergartens, die sich üppig über die Terrassen hinunter bis zum Park erstreckten. Der Duft war unglaublich. Sie erschnupperte das Aroma von Limonen und … waren das Nektarinen? Wie es sich für einen Kräutergarten am Mittelmeer gehörte, wuchsen hier Rosmarin und Thymian, und natürlich auch Lavendel. Der vertraute Duft beruhigte ihre Nerven, während sie zielstrebig auf den Springbrunnen zusteuerte.

Wie eine Oase lag er da, umgeben von einigen Schatten spendenden Pinien. Sonnengebleichte Möbel luden zur Rast ein, und Gabriella ließ sich in einem der Stühle nieder. Er war erstaunlich bequem, und sie stieß einen langen, behaglichen Seufzer aus. Langsam ließ die Anspannung nach, die sie in Atem gehalten hatte. Sie atmete tief durch und spürte, wie sie ruhiger wurde und ihre Umgebung bewusster wahrnahm.

Das harte Holz der Armlehnen war von der Sonne erwärmt, und sie spürte die uralte Maserung. Die Luft war von verschiedenen Düften geschwängert. Das Sonnenlicht brach sich hier und da durch die Äste. Unwillkürlich schloss sie kurz die Augen, und als sie die Lider wieder hob, sah sie William auf sich zukommen.

So viel zum Thema Entspannen. Noch vor zwei Monaten hatte sie Stephens Bruder nicht einmal gekannt, und die Krebsdiagnose ihres Vaters sowie Stephens Heiratsantrag hatten ihre ganze Aufmerksamkeit gefordert, sodass sie sich nicht weiter mit William beschäftigt hatte.

Jetzt kam er her, und sie hatte noch keine Idee, wie sie ihm am besten begegnen sollte.

Zumindest schaffte sie es, ihm äußerlich entspannt entgegenzusehen, sodass sie so wirkte, als würde sie den Ort einfach nur genießen.

„Du bist auf Entdeckungstour durch den Garten, wie ich sehe. Wunderschön, nicht wahr?“

„Er erinnert mich an zu Hause“, erklärte sie lächelnd. „Aber der Lavendel … Er scheint sich hier überall seinen Weg zu suchen.“

„Weiter hinten sind Lavendelfelder, du kannst sie von hier nicht sehen. Und wir haben eigentlich immer ein paar Pflanzen im Garten gehabt.“

„Er ist gut für die Entspannung“, erwiderte sie.

„Ich habe ein bisschen Wein bestellt, vielleicht hilft das auch“, gab er zurück. „Ich würde gern etwas mit dir besprechen.“

Ihr wurde unbehaglich zumute. Nun, zumindest war William aufrichtig und sagte, was er dachte. Damit konnte sie umgehen, und seine Geradlinigkeit gefiel ihr. Ausflüchte und Halbwahrheiten waren ihr zuwider, das hatte sie viel zu oft erlebt.

Bevor sie Stephens Antrag angenommen hatte, war sie zwei Jahre lang von Luca hingehalten worden, ehe er ihre Träume zunichtegemacht hatte. Sie wollte heiraten und eine Familie gründen. Stephen hatte ihr beides geboten. Luca dagegen war bereits verheiratet – wovon sie nichts gewusst hatte, bis sie ihm eröffnet hatte, dass sie befürchtete, schwanger zu sein. Da hatte er ihr die Wahrheit gebeichtet und ihr das Herz gebrochen.

„Gut.“ Mit einer Handbewegung lud sie ihn ein, sich zu setzen, und er zog sich einen Stuhl heran. Zumindest stand er nun nicht mehr vor ihr, sondern sie konnten sich auf Augenhöhe unterhalten. Auch wenn das nichts daran änderte, dass er in der besseren Position war.

In diesem Moment kam eines der Hausmädchen mit einem Tablett, auf dem zwei Gläser und eine gekühlte Flasche Wein standen.

„Danke, Angelina“, wandte sich William lächelnd an sie, nachdem sie das Tablett auf den Tisch gestellt hatte. „Ich schenke selbst ein.“

Gabriella zweifelte nicht daran...

Autor

Donna Alward

Als zweifache Mutter ist Donna Alward davon überzeugt, den besten Job der Welt zu haben: Eine Kombination einer „Stay-at-home-mom“ (einer Vollzeit – Mutter) und einem Romanautor. Als begeisterte Leserin seit ihrer Kindheit, hat Donna Alward schon immer ihre eigenen Geschichten im Kopf gehabt. Sie machte ihren Abschluss in Englischer Literatur...

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