Heiß geliebter Highland-Doc

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Groß, breite Schultern, blond und strahlend blaue Augen – wer ist dieser Mann, der ihr Herz zum Rasen bringt? Die Antwort erschüttert die zarte Medizinerin Kali zutiefst: Sie steht vor Doktor Brodie McClellan, ihrem neuen Boss auf der schottischen Insel …


  • Erscheinungstag 02.10.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751512923
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Sintflutartiger Regen peitschte ihm ins Gesicht und konnte sich doch nicht mit dem Sturm messen, der in Brodie McClellan tobte. Heute nicht. Morgen nicht. Bis zum Sankt Nimmerleinstag nicht.

Trotzdem musste Brodie lachen … nicht aus Vergnügen, sondern verzweifelt, um die Trostlosigkeit abzuwehren. In den Monaten, in denen er im Ausland gewesen war, hatte er den Tod fast tagtäglich erlebt. Und dennoch erschütterte ihn dieser Todesfall, an dem Ort, von dem er immer weggewollt hatte, mehr als alles andere. Einen Moment lang fühlte Brodie sich überrumpelt, wie aus der Bahn geworfen, ohne Halt.

„Hey, Dad.“

Er kniete sich auf den Boden, strich unwillkürlich an einer erhabenen Stelle die vollgesogene Erde glatt. Es sah aus, als würde es noch Monate dauern, bis hier endlich Gras wuchs, um das Grab seines Vaters zu bedecken. Brodie wunderte es nicht, dass sein Bruder das Versprechen, Rasen auszusäen, nicht gehalten hatte. Man brauchte sowieso schon viel Überredungskunst, um ihn aus den Bergen hierherzuholen, und dieser Anlass … Lass es gut sein. Callum hat ein weiches Herz, und er trauert genauso.

Brodie grub die Finger wieder in die nasse Erde. Die Zeit deckt alles zu. Eines Tages würde das Grab wie das seiner Mutter links neben ihm aussehen – dessen Anblick er immer noch schwer ertrug. Er tastete danach, spürte Gras unter den Fingern.

Ja, mit der Zeit bekam jede Grabstelle eine dichte Schutzschicht, duckte sich mit all den anderen ins sanfte grüne Gras. Zeit, die er nicht hatte. Zeit, die er Dunregan nicht geben wollte. Nicht nach allem, was die Insel und das Meer ihm genommen hatten.

Der Friedhof mit seinen verwitterten Gedenksteinen wurde allmählich zu einem vertrauten Anblick. In den letzten vierzehn Tagen war Brodie öfter hier gewesen als in der ganzen Zeit seiner Kindheit und Jugend auf Dunregan. Bewegt von Fragen, die er hätte stellen sollen, bevor er die Insel verließ. Jetzt würde er keine Antworten mehr bekommen.

Grau. Alles war grau. Die Grabmäler, der Himmel, die Steine der Mauern. Als hätten sämtliche Farben frustriert die Flucht ergriffen.

Brodie strich über den Grabstein seines Vaters. „Wir machen es dir hier schön, Dad. Pflanzen ein paar Blumen, was meinst du?“

Eine Erinnerung tauchte auf: Callum und er, wie sie als kleine Jungen Schneeglöckchenzwiebeln ausgruben, weil der Vater ihnen für jedes Bündel ein paar Pence spendierte. Brodie wischte sich die Regentropfen vom Gesicht, überrascht, dass er bei dem Gedanken an das armselige Taschengeld lächelte. Was für ein Schatz, was für ein Reichtum waren die Türmchen aus Kupferpennys damals für ihn gewesen!

„Ich besorge dir Schneeglöckchen, okay, Dad? Und später Hasenglöckchen. Für Mum und dich. Sie hat die blauen Blütenteppiche im Frühjahr immer geliebt.“

Er schüttelte den Kopf, als ihm klar wurde, dass er auf eine Antwort wartete.

„Die Praxis ist ein Albtraum, ich musste eine Vertretung besorgen. Das verschafft mir Zeit, bis ich weiß, wie ich den Leuten erkläre, dass alles okay ist. Dass ich okay bin.“

Wieder sah er zum Himmel hinauf. Seine Stimmung passte zum Wetter. Böen zerrten an ihm, bitterkalte Regenschauer entluden sich aus düsteren Wolken. Es war so verdammt kalt hier auf Dunregan!

Die Hände auf die Schenkel gestützt, erhob er sich, sah an sich hinunter und fluchte. Die feuchte Erde hatte auf seiner Hose unübersehbare Spuren hinterlassen.

Auf der kurzen Fahrt nach Hause versuchte Brodie, vom Grund seines Herzens wenigstens ein bisschen gute Laune heraufzubeschwören. Das war nicht er – dieser grüblerische Kerl, dessen mürrische Miene ihm beim gelegentlichen Blick in den Rückspiegel begegnete. Er war liebender Sohn, älterer Bruder eines jungen Mannes, der sich für ein unkonventionelles Leben entschieden hatte. Er war Cousin, Neffe, Freund. Und trotzdem fühlte er sich wie ein Fremder in der vertrauten Umgebung. Beladen mit niederdrückenden emotionalen Lasten.

Er lenkte den Wagen auf die kiesbestreute Zufahrt seines Elternhauses – und trat abrupt auf die Bremse.

„Was zum …?“

Holz. Ein Riesenstapel Bauholz versperrte fast die Zufahrt. Seit er wieder auf Dunregan war, hatte er kaum mit jemandem gesprochen, geschweige denn, einen Haufen Holz bestellt!

Brodie sprang aus seinem Allradjeep und suchte nach einem Lieferschein. Er fand ihn schließlich unter einem Packen Viertelzoll-Sperrholz. Skeptisch überflog er die einzelnen Posten, sah Aufzählungen von Holzarten und Zuschnitten. Wie bei einem Puzzle fielen die einzelnen Teile schließlich an ihren Platz, formten ein Bild.

Das Boot.

Das Boot, das sein Vater und er immer hatten bauen wollen. Das Boot, an das er nicht einmal denken konnte, seit er eines Tages von der Segeltour zurückgekommen war … ohne seine Mutter.

Gefühle schnürten ihm die Kehle zu, scharf und brennend.

Er musste nur diesen Tag überstehen. Und dann den nächsten und den nächsten. Bis der Schmerz nachließ, sich zurückzog wie die Gezeiten an den Ufern dieser Insel, die einmal sein Zuhause gewesen war.

Kali umklammerte die Lenkergriffe fester.

Radfahrer gegen die Elemente. Das Spiel hat begonnen.

Sie hob den Kopf, nur um vom Wind einen heftigen Schlag ins Gesicht zu bekommen. Ihre Augen tränten. Ihr lief die Nase. Und ihr Haar … Vielleicht wäre es doch keine so schlechte Idee gewesen, sich einen Pixie Cut schneiden zu lassen. Modisch, elfenhaft, interessant. Jetzt sah sie wahrscheinlich aus wie eine ertränkte Katze.

Trotzdem konnte sie nicht aufhören zu lächeln!

Ein neuer Anfang – wieder einmal – war nie ein Gipfelsturm, sondern immer ein beschwerlicher Aufstieg. Allerdings hätte sie nicht gedacht, dass ihr der Neubeginn auch körperliche Kräfte abverlangte! Nur noch hundert Meter lagen zwischen den arktischen Windböen von Mutter Natur und einer Tasse Tee. Wer würde gewinnen? Die frisch gebackene Allgemeinärztin oder das stürmische Wetter auf der nördlichsten Insel von Schottland?

Der nächste wütende Windstoß, vermischt mit salzigem Gischtnebel, drückte Kali gefährlich nahe an den Straßengraben. Ein Graben voll mit … Igitt. Ein Blick auf die dunkle, mit schmutziger Eishaut bedeckte Fläche genügte, um vernünftig zu werden. Kali beschloss, zu Fuß weiterzugehen, und glitt von ihrem Vintage-Fahrrad.

Eisiges Wasser schwappte ihr über die Füße und die Beine hoch. Der Kälteschock nahm ihr für einen Moment den Atem. Als sie an sich hinunterblickte, entdeckte sie die riesige Pfütze, in der sie mit ihren Ballerinas gelandet war.

Definitiv das falsche Schuhwerk. Eine Shoppingtour, um sich Stiefel und eine vernünftige Jacke zuzulegen, war angesagt. So viel also zu der romantischen Idee, an Dunregans Küste entlangzuradeln und ihren ersten Arbeitstag mit rosig überhauchten Wangen anzutreten. In London blühten überall Tulpen! Wie lange würde es dauern, bis auf dieser Insel der Frühling einzog?

„Dr. O’Shea?“

Eine Frau in den Fünfzigern tauchte neben ihr auf, dick eingepackt in eine wasserdichte Jacke, Stiefel, Fäustlinge und Wollmütze. Kleidung, die Kali auch gebraucht hätte.

„Ja.“ Sie lächelte und schnitt eine Grimasse, als der Wind ihre Gesichtszüge verzerrte. Wahrscheinlich sah sie aus wie eine wulstlippige Comicfigur!

„Ailsa Dunregan.“ Die Frau sprang von ihrem Rad, um neben ihr herzugehen, und lachte auf, als Kali erstaunt die Augen aufriss. „Ja, ich weiß. Verrückt, was? Ich heiße wie die Insel, auf der ich wohne. Überflüssig zu sagen, dass meine Familie – oder vielmehr die meines Mannes – schon sehr lange hier ist. Meine Familie lebt hier erst seit ein paar Hundert Jahren.“

Ein paar Hundert? „Woher wussten Sie, wer ich bin?“

Ailsa warf den Kopf zurück und lachte herzhaft. Sofort trug der Wind ihr Lachen davon. „Nur jemand, der nicht von hier ist, würde …“

Der Rest ging im Heulen des Sturms unter. „Wie bitte?“ Kali versuchte, ihr Rad näher an die Frau zu schieben, und mit ihrem energischen Schritt mitzuhalten.

„Ich bin die Arzthelferin!“, rief Ailsa. „Wie ein Gastwirt kenne ich alle Neuigkeiten und sämtlichen Klatsch und Tratsch. Und es gibt nicht viele Menschen, die um diese Jahreszeit unsere Insel besuchen.“

Kali nickte nur, weil sie erneut mit dem Wind kämpfte, der ihr das Rad aus den Händen zu reißen drohte. „Sie hat ihre Vorzüge!“, antwortete sie, sobald sie wieder sicher stand.

„Finden Sie?“ Wieder lachte Ailsa auf. „Wenn Sie unwirtliche, trostlose Gegenden mögen, sind Sie bei uns genau richtig.“

Wie in stillschweigender Übereinkunft senkten sie die Köpfe und schoben ihre Räder gefühlt Zentimeter für Zentimeter am Straßenrand entlang. Kali lächelte in die weichen Falten ihres Wollschals, ihr einziges Zugeständnis an die eisigen Temperaturen. Verglichen mit anderen Hindernissen, die sie hatte überwinden müssen, war dieses hier ein Spaziergang. Wenige ungefährliche Meter zwischen ihr und einem neuen Leben.

Sie brauchte sich nicht mehr zu verstecken. Nicht mehr ängstlich über die Schulter zu blicken. Okay, sie hatte einen anderen Namen angenommen und wurde von der Forced Marriage Protection Unit unterstützt, die von Zwangsverheiratung bedrohten Frauen half. Und es gab genug, worum sie sich eines Tages würde kümmern müssen. Aber jetzt, in diesem Moment, während der Wind ihre Sorgen davonpustete wie verstaubte Spinnweben, fühlte sie sich wirklich als Kali O’Shea.

Dr. Kali O’Shea, auf Dunregan hoch im Norden endlich in Sicherheit.

Als wären ihm Finger gewachsen, schnappte sich der kalte Wind plötzlich ihr Fahrrad, Kali stürzte auf den rauen Asphalt, und ihr Drahtesel landete im Straßengraben. Dem tiefen Graben, in den sie gleich klettern musste und sich wahrscheinlich die Beine blutig stoßen würde.

Schon passiert! dachte sie, als sie ihre aufgeschrammten Knie sah, während sie sich mühsam aufrappelte. Glückwunsch, Kali! Hättest dich nicht nach der Göttin der Macht und des Wandels nennen sollen. Die Göttin der Anmut wäre eine bessere Entscheidung gewesen.

„Oh nein! Alles in Ordnung, Liebes?“ Augenblicklich war Ailsa bei ihr.

Kali drängte die Tränen zurück, die hinter ihren Lidern brannten, und presste die Hände auf ihre lädierten Knie. Komm schon, Kali. Du bist eine erwachsene Frau.

Aber wenn …

Nein. Denk positiv. Kein Wenn und Aber mehr.

„Was ist hier los?“ Ein Paar derber Männerstiefel tauchte in ihrem Blickfeld auf, die Stimme hatte einen rauen schottischen Akzent. „Sammelst du jetzt schon Patienten von der Straße auf, Ailsa?“

Kali ließ den Blick höhergleiten, über lange, muskulöse Beine, eine dicke Wachsjacke, bis hin zu … Ooh … Sie hätte nie gedacht, dass sie auf einen bestimmten Typ stand. Aber dieses wandelnde Werbemodel für den nordisch-schottischen Fischertyp mit … oooh … den wundervollsten kornblumenblauen Augen, die sie je gesehen hatte …

Sie schluckte.

Der Mann war atemberaubend. Und nicht nur das, da war etwas an ihm, das sie magisch anzog … Sicherheit, Geborgenheit.

Um die dreißig? Strohblonde Haare, markantes Kinn, unrasiert, wilder als der Designer-Bartschatten, der in der Großstadt als chic galt. Seit wann fand sie bärtige Männer attraktiv? Obwohl, in dieser windumtosten Gegend machte ein Bart durchaus Sinn. Unwillkürlich fragte sich Kali, wie sich die Härchen auf ihrer Haut anfühlen würden … kratzig oder unerwartet weich?

Sie vertrieb den Gedanken, konzentrierte sich.

Er war kein Stadtmensch, ganz bestimmt nicht. Man brauchte nicht viel Fantasie, um ihn sich auf einem schweren Motorrad vorzustellen, wie er allein die menschenleere Küstenstraße entlangbrauste. Und er war groß. Na ja … verglichen mit ihr, war jeder groß, aber er hatte die schlanke, durchtrainierte Statur eines Bergsteigers. Solche Männer liefen einem in London selten über den Weg. Vielleicht versteckten sie sich alle hier, auf Schottlands subarktischen Inseln, um Großstadtmädchen wie sie aus den Klauen der Elemente zu befreien!

„Alles okay, meine Liebe?“ Er legte ihr die Hand auf die Schulter, musterte Kali kurz, nickte dann zufrieden und ging mit langen Schritten zu der steilen Böschung. „Warten Sie, ich hole Ihnen das Rad.“

Auch noch Kavalier!

Merkwürdig, sie kannte ihn überhaupt nicht, und trotzdem vermisste sie seine Berührung. Kalis Hormone übernahmen das Ruder und machten aus ihrem Ritter in Wachsjacke einen Kerl im Wikingerdress. Dann einen im Kilt. Zum Schluss stellte sie sich ihn im Anzug vor. Pure Londoner Eleganz. Ja! Er sah in jedem Outfit umwerfend aus.

Genau wie in der Allwetterkleidung, die er tatsächlich trug. Vielleicht kam er gerade von einem Foto-Shooting für Outdoorklamotten.

„Brodie?“, rief Ailsa ihm zu, während er in Surferhaltung Richtung Graben hinunterrutschte. „Sie ist keine Patientin! Das ist Kali O’Shea. Die neue Ärztin.“

„Aha.“ Brodie bremste ab, wandte sich um, die Hände in die Seiten gestemmt. Leuchtend blaue Augen richteten sich auf Kali, blickten zu Ailsa und wieder zurück zu Kali. Dann machte er einen entschlossenen Schritt böschungaufwärts.

Kali glaubte nicht, was sie sah. Nahm er sein großzügiges Angebot etwa zurück?

Abrupt ging er in die Hocke, griff nach dem Lenker und zog das Rad mühelos aus dem Graben.

„Bitte sehr.“

Mit zwei langen Schritten war er wieder oben auf der Straße, reichte ihr das Fahrrad, war mit zwei weiteren Schritten bei seinem zerbeulten Jeep, den er umstandslos mitten auf der Straße geparkt hatte, riss die Tür auf und schwang sich hinters Steuer.

Bremslichter an. Bremslichter aus. Schottersteinchen knirschten unter den Reifen … und weg war er.

„Oh, also …“ Ailsa warf ihr einen betretenen Blick zu. „Das war un…“ Sie schüttelte den Kopf. „So habe ich ihn noch nie erlebt …“

Vor Verlegenheit brachte die arme Frau keinen zusammenhängenden Satz heraus. Kali schluckte ihr Lachen schnell hinunter. Ihr Wikinger-Fischer-Kalenderboy konnte wirklich Eindruck hinterlassen! Für einen Exzentriker war er ein bisschen jung, aber … nun ja, willkommen auf Dunregan!

Sie lächelte Ailsa an, packte die verdreckten Lenkergriffe und schob das Rad weiter. Schlamm spritzte von den Speichen auf ihre Hose. Das war jetzt auch egal, sie musste sich sowieso umziehen!

„Es tut mir so leid. Sonst ist Brodie nicht so unhöflich.“

„Wer ist er?“

„Wissen Sie das nicht?“ Bestürzt sah Ailsa sie an.

In dem Moment dämmerte es ihr. „Vermute ich richtig, dass wir ihn in der Praxis wiedersehen werden?“ Ein nervöses Flattern taumelte durch ihren Magen.

„Sein Name steht neben dem Praxiseingang, im Wartezimmer und auf der Tür zum Hauptsprechzimmer.“

„Er ist Dr. McClellan?“ Na toll! Kali versuchte, ein unbeteiligtes Gesicht zu machen.

„Die meisten nennen ihn den jungen Dr. McClellan. Sein Vater hat die Praxis geführt, er ist vor Kurzem gestorben.“ Flüchtig presste sie die Lippen zusammen, blickte auf die Straße, als wäre dort zu lesen, was sie noch hinzufügen könnte. Schließlich sah sie mit einem entschuldigenden Lächeln Kali wieder an. „Ich fürchte, Brodie ist nicht der Typ, der den roten Teppich ausrollt.“

Die Untertreibung des Jahrhunderts! „Er ist eher der praktische Typ, was?“, antwortete sie lächelnd. „Was ja nicht schlecht ist.“ Kali war entschlossen, das Gute zu sehen. Genau wie es ihr die Psychologin im Schutzhaus geraten hatte.

Sie hörte die Worte, als würde die Frau wieder neben ihr sitzen. „Es wird schwer werden, ohne jeden Kontakt zu Ihrer Familie weiterzuleben. Das Gute daran ist, dass Sie Ihr Leben leben können, wie Sie wollen!“

Wie eine Leuchtreklame flammten die Worte in ihrem Kopfkino auf. Fast wie ein Nachhall dessen, was ihre Mutter zu ihr gesagt hatte, bevor Kali vor fünf langen Jahren mitten in der Nacht aus ihrem Elternhaus geflohen war. Die Fähigkeit, auf die Sonnenseite zu blicken, hatte sie seitdem durch die dunkelsten Tage getragen. Und heute würde es wieder genauso sein.

„Es ist nicht mehr weit.“ Ailsa deutete mit dem Kopf auf die Dächer, die vor ihnen auftauchten. „Wenn wir erst in der Praxis sind, hole ich Ihnen etwas Trockenes zum Anziehen, und dann gibt’s eine schöne heiße Tasse Tee.“

Tee! Die Sonnenseite lockte.

Brodie war versucht, an der Praxis vorbeizufahren, hinauf in die Berge, um seinen Bruder zu suchen. Oder bei einer Geländetour auf dem Mountainbike Dampf abzulassen wie Callum. Seit Brodie zurück war, hatte er ihn noch nicht gesehen.

Zeit hätte er, zu ihm würden sowieso keine Patienten kommen.

Aber zu ihr. Dem neuen Mädchen.

Mach dir nichts vor.

Der neuen Frau.

Ihrem Äußeren nach zu urteilen, war Dr. O’Shea kein Schottenkind. Ebenholzschwarzes langes Haar. Sehr lang. Brodie zuckten die Finger, als er sich vorstellte, wie er die verlockenden, seidig schimmernden Strähnen berührte. Er ballte die Hand zur Faust, um die Regung abzuschütteln.

Südasien vielleicht, dachte er. Allerdings waren ihre Augen leuchtend grün, und auch der Nachname O’Shea passte nicht zu einer Inderin. Er stieß einen verächtlichen Laut aus. Da war er wütend auf die ganze Welt, weil ihm die Leute hier mit Vorurteilen begegneten, und was machte er? Das Gleiche bei Kali O’Shea.

Als er die E-Mail bekam, die ihm ankündigte, dass Dr. O’Shea auf dem Weg zu ihm sei, hatte er sich einen sommersprossigen Rotschopf vorgestellt. Stattdessen tauchte eine hinreißende Frau auf, zwar ein bisschen windzerzaust, aber schön wie eine kostbare Porzellanpuppe. Und mit einem strahlenden Lächeln, das er nicht so schnell wieder vergessen würde. Einmal abgesehen davon, dass sie sich bei dem Höllenwetter völlig falsch angezogen auf einem albernen Fahrrad abstrampelte, um den Job zu erledigen, den er selbst machen konnte!

Brodie fuhr hinter das Gebäude, ließ seine schlechte Laune am Schalthebel aus, rammte ihn in Parkposition und stieg aus. Als seine Füße festen Boden berührten, hörte er die Stimme seines Vaters.

Du bist einfach weggefahren? Hast das arme Ding sich selbst überlassen, am Straßenrand, schlammbespritzt, ohne ihr zu helfen? Ach, Sohn … So was tun wir hier auf der Insel nicht.

Ha, sein Vater, der Moralapostel von Dunregan! Brodie schlug die Wagentür zu und suchte in seiner Jackentasche nach den Praxisschlüsseln. Es schüttete immer noch vom Himmel. Widerwärtiges Wetter, dem Ailsa und Dr. O’Shea schutzlos ausgesetzt waren.

Okay, Dad, du hast recht. Ich hab mich wie ein Mistkerl benommen.

Er beschloss, Tee zu kochen. Als Friedensangebot an die Ärztin, die ihn ersetzte. Vorübergehend ersetzte … falls er die Inselbewohner davon überzeugen konnte, dass er nicht ansteckend war. Es nie gewesen war!

Die Menschen, die ihn seit seinem ersten Atemzug auf diesem öden Flecken felsbewehrter Erde kannten, glaubten ihm nicht, dass von ihm keine Ansteckungsgefahr ausging. Dabei hatte er das medizinische Okay gerade rechtzeitig bekommen, um ans Sterbebett seines Vaters zu eilen. Wo sie beide ihren Frieden miteinander gemacht hatten.

Aber die anderen hielten Abstand. Brodie fiel es schwer, die Bilder von der Beerdigung vor vierzehn Tagen abzuschütteln.

Sein Bruder, der anders als er auf der Insel geblieben war, wurde innig umarmt. Ihm klopfte man auf die Schulter, mit ihm lachte man und schwelgte in guten Erinnerungen an den Vater. Nur sehr wenige hatten Brodie die Hand geschüttelt. Alle anderen begnügten sich mit einem kurzen Nicken, bevor sie sich rasch abwandten.

Sein Verstand gab der Zeit in Afrika die Schuld, doch sein Herz wusste es besser. Die Zeit heilte nicht alle Wunden. Nichts konnte seine Mutter zurückbringen, von diesem Segeltörn, auf dem er bestanden hatte. Keine noch so harte Strafe würde der Insel ihre schönste Rose wiedergeben.

Brodie hatte überlegt, ob er im Gemeindezentrum einen Vortrag halten sollte – über Afrika, über seine Arbeit bei Ärzte ohne Grenzen, über die Sicherheitsmaßnahmen, die er getroffen hatte. Aber er konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass niemand kommen und er sich wie ein Außenseiter fühlen würde. Er, der hier aufgewachsen war.

Er steckte den altmodischen Schlüssel in die massive Holztür und drückte beim Aufschließen mit dem Fuß gegen die rechte untere Ecke, weil die Tür bei Feuchtigkeit dort immer klemmte.

Die vertraute Geste entlockte ihm ungewollt ein Lächeln. Er kannte dieses Gebäude wie seinen rechten Arm. Hier war er aufgewachsen. Hier hatte er, unter dem aufmerksamen Blick seines Vaters, zum ersten Mal einen Herzschlag abgehorcht.

Und jetzt – wie sein Vater und dessen Vater – übernahm er die Praxis. An einem Ort, den er gut kannte. Zu gut. Brodie zog eine Grimasse, als der Wind der Tür einen letzten Schubs gab, und betrat das Haus.

Ohne sich umzudrehen, wollte er sie wieder ins Schloss drücken, stieß jedoch auf Widerstand. Brodie drückte fester. Die Tür wehrte sich.

„Du hast wirklich eine interessante Art, deine neue Kollegin willkommen zu heißen, Brodie.“

Ailsa stand hinter ihm, versuchte, die Tür offen zu halten, nicht nur für sich, sondern auch für … ja, da war sie, direkt hinter Ailsas Schulter. Dr. O’Shea.

„Hi, ich bin Kali.“ Sie trat vor und streckte ihre zerschrammte Hand aus. Was Brodie daran erinnerte, dass er ihr seine Hilfe hätte anbieten sollen.

Im nächsten Moment zog sie sie wieder zurück und wischte sie an ihrem matschbespritzten Mantel ab. „Entschuldigung. Ich sehe heute Morgen nicht besonders toll aus.“

„Nein. Also …“ Brodie hätte sich treten können. Wo war das Loch im Boden, in dem er versinken konnte?

„Brodie McClellan! Lässt du das arme Mädchen endlich rein, damit sie sich etwas Trockenes anziehen und etwas Heißes trinken kann?“ Ailsa blickte ihn tadelnd an. „Mrs. Glenn hat gestern Nachmittag selbst gebackene Kekse vorbeigebracht. Sieh zu, ob du sie finden kannst, während ich ein Handtuch für Dr. O’Sheas hübsches langes Haar hole. Und sieh mal nach, was wir ihr an Wechselkleidung anbieten können.“

„Kann ich sonst noch etwas für dich tun?“, rief er ihr nach. Dann fiel ihm ein, dass die andere Frau immer noch wartete. Die, die nicht wie Ailsa den Mut gehabt hatte, sich an ihm vorbeizudrängen. „Kommen Sie herein.“

Kali musterte Brodie wachsam, als er tatsächlich lächelte und sie wie ein freundlicher Butler mit einer einladenden Armbewegung ins Haus bat. Die blauen Augen waren jedoch auf den Parkplatz hinter ihr gerichtet. Bedauerte er, dass der Trick, Kali verschwinden zu lassen, nicht funktioniert hatte?

Während sie an ihm vorbeiging, blickte sie ihn fragend an. Nicht gerade Prince Charming, wie? Aber, oh, er duftet zum Anbeißen! Nach Meer, dunklem Torf und frisch gebackenem Brot. Mit Butter.

Sie unterdrückte ein Lächeln, als ihre Fantasie wieder mit ihr durchging. Kali sah sich an Bord eines Wikingerschiffs, mit Pelzstola auf den Schultern, eine rabenschwarzhaarige Freibeuterin, die ihrer Mannschaft die nahende Insel zeigte. Selbstvergessen formte sie mit den Lippen die Worte Land in Sicht!

Ups. Ihr Blick glitt zu Brodie. Der sah sie immer noch nicht an. Auch gut!

Kali schaute auf die vielen verschlossenen Türen rechts und links des langen Flurs. Sie hatte keine Ahnung, was sich dahinter verbarg. „Wo geht’s hin?“

„Den Flur hinunter und dann links und erste Tür rechts. Da müsste Ailsa sein, im Lagerraum.“

Brodie schloss die Haustür. Er hatte eine angenehme Stimme, tief, mit rollendem R und starkem schottischen Akzent. Sehr männlich. Wenn er nur nicht so mürrisch wäre … Kali betrachtete ihn genauer. Kantige Kinnpartie, ausdrucksstarke blaue Augen, dichtes Haar, in das jede Frau gern ihre Finger schieben würde.

Oh ja, Brodie McClellan hatte etwas. Er mochte ein knurriger Kerl sein, aber er kam ihr nicht vor wie jemand, der Spaß daran hatte, andere zu ärgern. Auf gewisse Weise war er mit seiner rauen Art ehrlich.

Etwas, worum sie ihn beneidete. Er war ein Mann, der aufrichtig rüberkam, ohne Fassade. Selbst wenn diese Ehrlichkeit ihn kratzig wie Sandpapier machte. Kali ließ den Blick über seine Arme zu den Händen gleiten. Schlanke Finger, kein Ring. Ein einsamer Wolf, der nicht die Absicht hatte, sich einem Rudel anzuschließen.

Kali tauchte aus ihren Gedanken auf, als sie feststellte, dass der Wolf mit ihr sprach. Ohne sie anzusehen, den Blick auf seine Armbanduhr gerichtet.

„So … Sie wollen bestimmt loslegen. Ich setze kurz Wasser auf, und wir sehen uns in zwei Minuten, damit wir alles Notwendige besprechen können. Die Praxis macht bald auf.“

Er verschwand in einem Durchgang, und gleich darauf hörte Kali, dass ein Wasserhahn aufgedreht und ein Teekessel gefüllt wurde.

Merk’s dir, dachte sie und verzog die Lippen zu einem ironischen Lächeln. Hier oben herrscht ein anderer Umgangston. Kein Hallo, wie geht es Ihnen? Ich bin Dr. Sowieso, willkommen in unserer Praxis. Hier steht der Tee, dort der Wasserkessel, schreiben Sie Ihren Namen auf Ihr Lunchpaket, wenn Sie mutig genug sind, den Personalkühlschrank zu benutzen, und wir hoffen, dass es Ihnen bei uns gefällt, bla, bla, bla.

Dr. Brodie McClellans rüdes Benehmen hätte sie in einem Großstadtkrankenhaus mit seinem chronisch überarbeiteten Personal erwartet, aber hier im beschaulichen Dunregan, eine komfortable halbe Stunde vor Praxisöffnung?

Geschirrklappern brach die Stille, gefolgt von einem unwirschen Bariton, der etwas vor sich hin murmelte, das Kali nicht verstand.

Na schön, freundliche Begrüßungen schienen nicht Sache ihres neuen Kollegen zu sein. Sie hatte schon höhere Hürden genommen, als sich über jemanden aufzuregen, der den Charme-Kurs geschwänzt hatte!

Kali lehnte sich gegen die Wand, einen Moment nur, um richtig durchzuatmen. Sie schloss die Augen und rief sich den Brief mit der Einladung nach Dunregan in Erinnerung. Wie glücklich sie darüber gewesen war! Weil das Bild nicht auftauchen wollte, zog sie ihr Handy aus der Tasche, um in ihren Mails danach zu suchen.

Das Display war zerschmettert, wie ein Spinnennetz breiteten sich die Risse darauf aus.

Geschieht dir nur recht! fauchte die Stimme in ihrem Kopf. Das ist das Mindeste, was du verdienst nach allem, was du getan hast. Dem Kummer, den du deiner Mutter bereitest! Deiner kleinen Schwester!

Sie presste kurz die Hände auf die Ohren, als könnte sie damit die schrillen Töne zum Verstummen bringen. Seufzend blickte Kali zur Decke. Hinter den Balken, den Dachziegeln und den Sturmwolken wartete ein herrlich blauer Himmel. Und dies, der holprige Start in ein neues Leben, war auch wieder einer der Momente, in denen sie sich sagte, dass es nur besser werden konnte. Sie musste einfach fest daran glauben. Dunregan war ihre Chance auf einen Neuanfang, weit, weit weg vom mörderischen Zorn ihres Vaters.

„Kali, sind Sie …“ Ailsa kam in den Flur gerauscht, blieb abrupt stehen. „Liebes, hat Brodie Sie in dem nassen Zeug einfach hier stehen lassen? Du meine Güte! Man könnte meinen, dass der Mann von Wölfen großgezogen wurde!“

Derbe Kraftausdrücke drangen aus der Küche, während Kali das langärmelige T-Shirt betrachtete, das aus einer Altkleidersammlung zu stammen schien. Das und eine verwaschene Trainingshose waren wohl alles, was Ailsa hatte auftreiben können.

„Die gehört Brodie“, sagte sie.

Spontan hätte Kali beinahe dankend abgelehnt. Aber wenn sie sich keine Lungenentzündung holen wollte …

Kurz darauf stand sie im Bad und streifte die Hose über. Sie hielt inne und atmete unwillkürlich tiefer ein, als ihr aus dem weichen Baumwollstoff ein schwacher Duft nach Waschpulver und Hochmoortorf in die Nase stieg. Rasch schlüpfte sie in das T-Shirt. Beim Blick in den treibholzgerahmten Spiegel erfüllten sie gemischte Gefühle. Übergroß, sah es an ihr sexy und selbstbewusst zugleich aus.

Es ist nur ein T-Shirt! Sie schüttelte den Kopf und stopfte es vorn in den Hosenbund.

„Wann ersetzen wir endlich diesen verdammten Kessel!“

Autor

Annie Oneil
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