Heißer Sex und kalte Lügen

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Was für eine Frau! Jeder Blick aus Lucys Augen lässt Alex nur noch an das eine denken … Doch er darf ihr nicht verfallen! Sie begehrt etwas, das ihm gehört: Den Ring seiner Ahnen, der seinem Träger Glück verspricht. Um den zu bekommen, ist sie zu allem bereit …


  • Erscheinungstag 03.10.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733728007
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

„Lucienne, haben Sie einen Moment Zeit?“

Alejandro Aguilar, der von seinen Freunden auch Alex genannt wurde, stand an der Tür, die von seinem Büro zur Galerie führte, und verschränkte die Arme vor der Brust, als könnte er damit die für ihn ganz untypische Nervosität abwehren. Er war schließlich kein kleiner Junge mehr. Er war ein gestandener Mann, ein Titan in der Welt der Kunst. Er schätzte den Wert kostbarer Kunstgegenstände und enttarnte Fälschungen in Museen und privaten Kunstsammlungen weltweit. Sein Name stand für absolute Integrität. Er war ein Mann, der sich stets unter Kontrolle hatte.

Doch diese Frau, die da am Schreibtisch in der Galerie konzentriert an ihrem Computer arbeitete, machte ihn so sehr an, dass er um diese Selbstkontrolle fürchtete. Er war verloren. Ein einziger Blickkontakt könnte genügen, nur noch eine zufällige Berührung, und er würde in Flammen aufgehen.

Seit sechs Wochen arbeiteten er und Lucienne Bonet gemeinsam an der Inventur des Auktionshauses El Dorado, das aufgelöst werden sollte. Er war extra von Spanien nach San Francisco gekommen, um diese Auktion durchzuführen, denn der Verstorbene, der all diese wertvollen Stücke gesammelt hatte, war sein Vater.

Sein Tod hatte für Alejandro keine Bedeutung. Er hatte Ramon Murrieta nicht mehr gesehen, seit dieser seine Mutter verlassen hatte. Er selbst war damals drei Jahre alt gewesen. Allerdings verdankte er Ramons Tod etwas, das er bis dahin nie gehabt hatte – einen Bruder. Einen Bruder, der für das FBI arbeitete und keine Ahnung hatte, was er mit den Reichtümern seines verstorbenen Vaters anfangen sollte. Auf seine Einladung hin war Alejandro um die halbe Welt gereist. Er hatte damit gerechnet, dass er zwei Monate brauchen würde, um die Sammlung seines ehrlosen Vaters aufzulösen und seinen Bruder näher kennenzulernen.

Womit er nicht gerechnet hatte, das war die Begegnung mit dieser Frau. Er konnte ihren Reizen nicht länger widerstehen.

„Lucienne?“

Ihre Finger flogen über die Tastatur. Genauso flüchtig hatte sie ihn heute Morgen berührt, als sie beide gleichzeitig nach einem Diamantarmband griffen.

Die Berührung hatte nur einen Sekundenbruchteil gedauert, doch die Wirkung war mit der eines Stromschlags vergleichbar.

So etwas hatte Alejandro in seinen heißesten Affären nicht erlebt.

Allerdings hatte er mit Lucienne bis jetzt auch noch nicht geschlafen. Sie war, zumindest im Moment, seine Angestellte. Und er hielt Geschäftliches und Privates immer strikt getrennt. Er würde also weiter leiden müssen.

Es sei denn, er änderte etwas an den Umständen.

Alejandro öffnete den Mund, um Lucienne noch einmal zu rufen, überlegte es sich dann aber anders. Er hatte keine Ahnung, wie sie auf den unanständigen Vorschlag reagieren würde, den er ihr machen wollte – gut möglich, dass sie ihn ohrfeigen und den Raum verlassen würde. Da er dieses Risiko scheute, beschloss er, sie lieber noch ein wenig zu beobachten.

Lautlos formte sie mit den Lippen die Worte, die sie eintippte. Wie gebannt blickte Alejandro auf ihren Mund. Sie hatte einen roten Lippenstift aufgetragen, samtig und dunkel, wie ein Cabernet Sauvignon oder ein guter spanischer Rioja. Würde ihr Körper sich ebenso samtig anfühlen?

Zum ersten Mal in seinem Leben beschloss er, seine professionellen Grundsätze zu vergessen.

Wieder rief er Luciennes Namen, lauter diesmal. Sie blickte von ihrer Arbeit auf. Einen Moment lang schaute sie sich verwirrt um, bis sie ihn entdeckte.

„Entschuldigung, Señor Aguilar, brauchen Sie etwas?“

„Sí“, erwiderte er, selbst schockiert darüber, wie heiser seine Stimme klang.

Und ob er etwas brauchte …

Er räusperte sich. „Könnten Sie einen Moment in mein Büro kommen?“

„Natürlich“, erwiderte sie. „Tut mir leid, ich habe Sie nicht gehört. Ich war so darauf konzentriert, das letzte Interview für den Katalog zu übertragen. Es war eine brillante Idee von Ihnen, bei der Hollywoodsammlung Berichte aus erster Hand einzufügen. Diese Geschichten sind faszinierend. Die Leute werden aufgrund dieser Texte von Anfang an mehr, vielleicht sogar das Doppelte, bieten.“

Ihr strahlendes Lächeln bezauberte ihn. Sie reagierte auf die Aussicht eines besonders hohen Gebots für ein Auktionsstück wie andere Frauen auf Diamanten, Pralinen oder Rosen.

Ein anderer Mann würde vielleicht glauben, er sei verliebt. Er jedoch kannte sich selbst gut genug, um zu wissen, dass es nur ein körperliches Verlangen war, das er empfand.

„Eigentlich war das doch Ihre Idee.“

Ihr strahlendes Lächeln haute ihn fast um.

Es hatte ihn wirklich erwischt.

„Das war Teamarbeit.“ Sie hatte einen sehr charmanten Akzent, den sie zweifellos ihren zahllosen Reisen nach Europa verdankte. Wenn sie aufstand und durch den Raum ging, dann bewegte sie sich mit fast tänzerischer Grazie. Kaum zu glauben, dass sie ihr Leben in den muffigen Räumen von Museen und privaten Kunstsammlern verbrachte. Leider wusste er bis jetzt so gut wie nichts über sie, obwohl sie zahllose Stunden gemeinsam verbracht hatten.

Aber das würde er ändern.

„Sie sind sehr großzügig“, sagte er.

Sie senkte die Lider mit übertriebener Bescheidenheit. „Wie auch immer, die Auktion wird bestimmt ein großer Erfolg.“

Sie war aufgestanden und zu ihm gekommen. Jetzt stand sie auf der Schwelle zu seinem Büro, nur wenige Zentimeter von ihm entfernt. Sein Puls raste.

Verlangen. Dieses Wort war einfach nicht ausreichend.

Es wurde nicht annähernd dem gerecht, was er empfand.

Ein sehr langer Augenblick verstrich, bis er endlich merkte, dass er Lucienne den Weg versperrte. Sie befeuchtete sich die Lippen.

Eine ganz unschuldige Geste – nur das kurze Aufblitzen einer rosigen Zungenspitze.

Allerdings waren ihre Lippen überhaupt nicht trocken, sondern voll und glänzend und sehr verlockend.

Alejandro schluckte und machte einen Schritt zur Seite.

Bis auf das Geräusch von Luciennes Absätzen auf dem Holzparkett war es vollkommen still im Raum. In der Ferne summte die Klimaanlage, die all die wertvollen Antiquitäten und Kunstgegenstände des Auktionshauses schützte, indem sie für beständige Trockenheit und Kühle sorgte.

Aber warum war ihm dann so heiß wie im Dschungel?

„Bitte, setzen Sie sich“, forderte er sie auf.

Die Art, wie sie ihren wundervollen Po – heute umhüllt von einem karamellfarbenen Bleistiftrock – anmutig in dem Sessel platzierte, wirkte wie eine laszive Inszenierung. Ob sie sich ihrer erotischen Ausstrahlung im Entferntesten bewusst war? Oder folgte ihr Körper einfach nur einem von Instinkten vorgegebenen Muster?

Das werde ich bald herausfinden.

„Haben Sie Fragen zu meinen Bewertungen?“ Lucienne deutete auf einen Spiralhefter, den sie ihm einige Tage zuvor gegeben hatte.

„Nicht direkt“, erwiderte er und ging um den Schreibtisch herum zu seinem Drehsessel, wobei er wie immer das Porträt seines Vaters ignorierte, das an der Wand dahinter hing.

Ohne dieses Porträtgemälde hätte Alejandro nicht einmal gewusst, wie Ramon Murrieta ausgesehen hatte. Trotzdem würdigte er es im Allgemeinen keines Blickes. Leider sagte ihm jeder, der den Raum betrat, wie sehr er seinem Vater ähnelte: die durchdringenden braunen Augen, der dunkle Teint, das gewellte Haar …

Selbst Lucienne hatte ihn mit Ramon verglichen, allerdings nur einmal. Danach hatte sie den Namen seines Vaters nicht mehr erwähnt. Was nicht ganz einfach für sie gewesen sein konnte, wenn man bedachte, dass sein Tod der Grund für ihre Zusammenarbeit war. Vielleicht hatte sie gespürt, dass er diesem Mann keine positiven Gefühle entgegenbrachte?

Sechs Wochen lang hatten sie täglich viele Stunden allein miteinander verbracht, als der Kunstexperte und seine Assistentin. Sie hatten Gegenstände geschätzt und bewertet, von denen jeder einzelne eine bewegte Geschichte hatte. Zum Beispiel die vierzehn Pelzmäntel einer Hollywooddiva, die es dank ihrer diversen Liebhaber bis zu einer Oscar-Nominierung gebracht hatte. Oder das Bett eines berühmten Großindustriellen, der Männer und Frauen reihenweise verführt hatte und eines Tages bei einer ausgefallenen sexuellen Praktik erstickt war. Oder auch die Sammlung goldener und kristallener Phallusse, erschaffen von einer New Yorker Künstlerin. Man sagte ihr nach, sie habe sowohl ihre sämtlichen Werke als auch die Modelle persönlich getestet.

Im Gegensatz zum Auktionshaus Aguilar in Madrid hatte man sich im El Dorado auf die Welt der Schönen und Berühmten und deren Skandale spezialisiert. Anfangs war Alejandro schockiert gewesen, doch während der Arbeit mit Lucienne hatte er von Tag zu Tag weniger daran gedacht, ob das unter seiner Würde war oder nicht. Das Verlangen nach dieser Frau war so stark geworden, dass er kaum noch an etwas anderes denken konnte.

„Ihr Bericht ist nicht zu beanstanden“, sagte er.

„Danke“, erwiderte sie, „aber dafür bezahlen Sie mich ja auch.“

„Wie auch immer, ich kann mich nicht über Ihre Arbeit unter diesen erschwerten Umständen beklagen.“

„Ich muss gestehen …“, sie senkte die Stimme, obwohl sich doch außer ihnen niemand im Haus befand, „… es hat mich überrascht, dass Sie das gesamte Personal von Ramon Murrieta entlassen haben. Deren Kenntnisse hätten uns von Nutzen sein können.“

„Oder sie hätten uns nach Strich und Faden betrogen und bestohlen. Ihre Loyalität galt nur Ramon. Außerdem arbeitet man besser zu zweit, ich meine, wenn nur wir beide …“

Sie hob eine Braue und öffnete die Lippen ein klein wenig, doch er stellte sich unwillkürlich vor, wie es wäre, ihren Mund auf seinem zu spüren …

Plötzlich hatte er vergessen, was er sagen wollte.

Zum Glück sprang sie für ihn ein. „Es war eine einzigartige Erfahrung“, sagte sie. Ihre Stimme klang ein wenig heiser. „Ich habe noch nie in einer so … intimen Umgebung gearbeitet.“

Sie verlagerte das Gewicht und beugte sich vor, sodass sein Blick auf ihre Brüste gelenkt wurde. Allerdings nur für den Bruchteil einer Sekunde.

Noch war sie seine Angestellte, er würde also seine Blicke – und seine Hände – unter Kontrolle halten.

Er schlug mit der flachen Hand auf das Deckblatt des Spiralhefters. „Dank der Ruhe, die wir hatten, sind wir in Rekordzeit fertig geworden. Wir haben alle Zahlen, die wir für die Auktion nächste Woche brauchen. Ich denke, jetzt sollten wir …“

Als er gerade die Hand in die Tasche seines Jacketts schob, um die vorbereiteten Papiere herauszuholen, schrillte die Türglocke.

Sie zuckten beide zusammen. Lucienne streckte die Hand aus, um auf den Knopf der Gegensprechanlage zu drücken, doch Alejandro war schneller.

Es verschlug ihm fast die Sprache, als ihre Hände sich berührten. Verwirrt meldete er sich zuerst auf Spanisch.

Está cerrado … äh … Das Auktionshaus ist zurzeit geschlossen.“

„Was du nicht sagst.“ Alejandro erkannte die Stimme am anderen Ende der Leitung sofort, es war Michael. „Lass mich rein.“

Lucienne hatte ihre Hand immer noch nicht weggezogen. Die Berührung war wie ein Hauch. Für einen Sekundenbruchteil trafen sich ihre Blicke, und endlich glaubte er in ihren Augen etwas zu entdecken, worauf er seit Wochen hoffte: sexuelles Begehren.

„Ich bin gerade sehr beschäftigt“, sagte er. Hoffentlich zog Lucienne jetzt nicht ihre Hand weg!

„Es ist wichtig“, beharrte Michael.

Bevor Alejandro etwas erwidern konnte, eilte Lucienne hinaus.

Er fluchte. Dann gab er den Code ein, der die Haustür entriegelte.

„Er kennt den Weg“, rief er Lucienne nach, doch sie war bereits verschwunden. Offenbar wollte sie seinen Bruder nicht begrüßen.

Vielleicht hatte er ihren Blick ja auch falsch gedeutet?

Er war immer noch wütend über die Unterbrechung, als Michael hereinstürmte.

„Vielleicht herrschen hier andere Sitten als in Madrid, aber es wäre nett gewesen, vorher anzurufen“, sagte Alejandro eisig.

Wie immer reagierte sein Halbbruder mit cooler Gelassenheit auf seinen Zorn.

„War das ein Rock, der da gerade um die Ecke verschwunden ist, als wir reinkamen?“

„Wir?“

Michael trat einen Schritt zur Seite. Seine Kollegin, Special Agent Ruby Dawson, ging hinter ihm in der Galerie auf und ab.

Lucienne war nirgends zu sehen.

„Das war meine Assistentin“, erklärte Alejandro.

„Ah, die mysteriöse Lucienne Bonet.“

„Was soll das heißen, mysteriös?“

Michael zuckte mit den Schultern. „Du hast sie schon mehrmals erwähnt, aber ich habe sie noch nie richtig gesehen.“

Alejandro blickte noch einmal durch die Tür. Warum hatte es Lucienne so eilig gehabt, wenn sie seinem Bruder gar nicht den Weg zum Büro zeigen wollte? Außerdem war Michael quasi im Auktionshaus aufgewachsen und kannte sich aus.

„Sie hat viel zu tun“, gab er zurück. „Wir sind sehr beschäftigt.“

Michael grinste. „Tut mir leid, dass ich eure wichtige Arbeit unterbreche, aber es gibt eine Wende in dem Fall, an dem ich arbeite. Es kann sein, dass ich noch vor der Auktion die Stadt verlasse, und wenn ich wiederkomme, musst du zurück nach Madrid. Es wird also Zeit, dass wir beide etwas sehr Wichtiges erledigen.“

Alejandro straffte die Schultern. Ihm war plötzlich flau im Magen. Er hatte sich noch nicht daran gewöhnt, dass sein eigener Bruder um die Welt jettete, um gefährliche Kriminelle einzufangen.

„Um was für einen Fall geht es?“

Michael lächelte geheimnisvoll. „Du weißt, dass ich darüber nicht reden kann. Und ich möchte auch gar nicht. Hier geht es um etwas viel Wichtigeres.“

Michael schloss die Tür. Doch anstatt sich hinzusetzen, ging er um den Schreibtisch herum und kniete nieder.

Alejandro musste lachen. „Willst du mir einen Antrag machen?“

Sein Bruder gab Alejandros Stuhl einen Stoß, sodass er gegen das Bücherregal hinter ihm prallte. Dann strich Michael mit der Hand über eine Einkerbung, die sich im Boden befand. Er drückte in die Vertiefung, woraufhin sich die Diele am anderen Ende anhob.

„Was ist das?“

Michael wurde ernst. Jetzt sah er seinem Vater plötzlich ziemlich ähnlich. Im Gegensatz zu Alejandro, der den dunklen Teint und die braunen Augen von Ramon geerbt hatte, ähnelte Michael mit den stahlblauen Augen und dem hellbraunen Haar auf den ersten Blick eher seiner Mutter.

Unter der Diele kam ein Safe zum Vorschein. Er war alt und staubig, doch der Deckel ließ sich fast geräuschlos öffnen, nachdem Michael die Kombination eingegeben hatte. Er holte eine verkratzte Holzschatulle und eine Dokumentenmappe aus Leder heraus. Der modrige Geruch sehr alter Gegenstände erfüllte den Raum.

Michael legte die Dokumente auf den Tisch und reichte Alejandro die Schatulle, der sie sofort einschätzte: achtzehntes Jahrhundert, eindeutig spanisches Muster, aber wahrscheinlich in der Neuen Welt hergestellt. Das war unschwer an der Art der Hölzer zu erkennen, die verwendet worden waren. Möglicherweise war sie für die Juwelen einer Adligen angefertigt worden.

Das Schloss war aus gehärtetem Stahl und mit achtzehn Karat vergoldet.

Alejandro schaute seinen Bruder fragend an. Er und Lucienne hatten das gesamte Gebäude sorgfältig durchsucht, aber den Safe nicht entdeckt.

„Ich frage dich noch einmal. Was ist das?“

„Mach es auf“, befahl Michael.

Alejandro beugte sich vor und schaltete die schwenkbare, elektrisch beleuchtete Lupe an der Seite des Schreibtischs ein. Als er die Schatulle öffnete, stellte er erstaunt fest, dass das Innere in schlechterem Zustand war als das Äußere.

Das Seidenfutter, das wohl mal leuchtend rot gewesen sein musste, war ausgebleicht, und der Ring, der auf dem Sockel in der Mitte steckte, hatte auch ganz offensichtlich schon bessere Zeiten gesehen. Die Opale, die den großen Stein in der Mitte umgaben, schimmerten zwar, aber das Gold war matt, und der große funkelnde Stein in der Mitte hatte einen deutlich sichtbaren Kratzer in der Form einer 2.

Oder war es ein Z?

„Das hier entspricht ja wohl kaum dem Standard unseres Vaters“, stellte er fest. Selbst er musste zugeben, dass Ramons Sammlung, trotz ihrer fragwürdigen Herkunft, hervorragend war.

„Es gehört auch nicht zum Auktionsbestand.“

Michael blickte über Alejandros Schulter. Beide betrachteten das Porträt an der Wand. Ramon trug darauf einen schwarzen Anzug mit weißem Hemd. Die rote Krawatte und der funkelnde grüne Stein an seinem Fingerring bildeten die einzigen Farbakzente.

Diesen Ring hielt Alejandro jetzt in der Hand. „Er hat ihn nicht mit ins Grab genommen?“Sein Bruder schüttelte den Kopf. „Dieses Schmuckstück ist seit vier Jahrhunderten im Besitz der Familie. Es wird immer vom Vater an den ältesten Sohn weitergegeben. Jetzt bist du dran.“

Alejandro ließ die Schatulle fallen. Der Ring löste sich aus der Halterung. Jetzt konnte man sehen, dass er auf der Rückseite sehr dünn und mehrmals repariert worden war.

Der schlechte Zustand überraschte Alejandro nicht, schließlich war das Erbstück unglaublich alt und offenbar ständig getragen worden. Was ihn jedoch wirklich schockierte, war Michaels Forderung, er solle diesen Ring tragen.

„Ich kann doch nicht den Ring deines Vaters nehmen!“

„Er war auch dein Vater.“

„Nur genetisch.“

„Er wollte, dass du ihn bekommst.“

„Das ist absurd!“

Weshalb sollte Ramon dem Sohn, den er vor über dreißig Jahren verlassen hatte, ein Familienerbstück vermachen?

„Es ist die Wahrheit.“ Michael ging mit ernster Miene vor dem Schreibtisch auf und ab. „Er hat zu mir gesagt, dass du ihn bekommen sollst. Gleich, nachdem er mir zum ersten Mal von dir erzählt hat.“

Alejandro schüttelte den Kopf. Auch wenn es ihnen nicht leichtgefallen war, hatten er und Michael es bis jetzt vermieden, über Ramon zu reden. Er konnte seinem Bruder dessen glückliche Kindheit nicht verübeln, aber er legte keinen Wert darauf, alle Details darüber zu erfahren.

„Wir müssen das nicht diskutieren.“ Er schob Michael die Schatulle zu.

„Doch, müssen wir. Vor ein paar Jahren, als ich neu beim FBI war, gab es einen Fall, in den Dad verwickelt war. Es ging um Kunstraub. Der Dieb schnitt sich an einem Metallrahmen und hinterließ DNA-Spuren. Das Labor gab die Daten im Computer ein und fand … mich.“

Alex hob eine Braue. „Du hast ein Gemälde gestohlen?“

Sein Bruder verdrehte die Augen. „Natürlich nicht, aber als FBI-Agent hatte ich bei der Einstellung eine DNA-Probe abgeben müssen. Es war keine hundertprozentige Übereinstimmung, aber zumindest ein starkes Indiz dafür, dass ich mit dem Einbrecher irgendwie verwandt sein musste. Das führte uns zu Dad.“

Alejandro fühlte sich immer unbehaglicher. Er blickte sich um. Seine Mutter hatte seinen Vater immer wegen seines unmoralischen Verhaltens kritisiert, aber dass er seine Sammlung sogar mithilfe von Kunstraub aufgebaut haben sollte …

„Ich weiß nicht, was ich …“

„Aber auch er hatte das Gemälde nicht gestohlen“, beeilte Michael sich zu sagen.

„Wie kannst du da so sicher sein?“

„Er hat auch eine DNA-Probe abgegeben, und wieder war die Übereinstimmung nicht hundertprozentig, die Wahrscheinlichkeit jedoch noch höher, dass er mit dem Dieb verwandt sein musste. Es hieß, es müsste ein Sohn von ihm sein. Da hat er mir von dir erzählt.“

Wütend sprang Alejandro auf. „Ich wurde verdächtigt? In einem Fall von Kunstraub?“

„Nein, nicht wirklich. Dein Ruf ist zu makellos. Außerdem haben wir Ermittlungen angestellt.“

Alejandro starrte Michael erbost an. Sein ganzes Leben arbeitete er daran, dass der schlechte Ruf seines Vaters nicht auf ihn abfärbte. Jetzt musste er erfahren, dass man ihn in den Vereinigten Staaten eines Verbrechens verdächtigt hatte?

Michael hob abwehrend die Hände und bedeutete ihm, sich wieder zu setzen. „Dank Dad sind wir sehr schnell von dem Verdacht abgekommen. Er legte zum Beweis ein Foto aus einer spanischen Illustrierten vor. Darauf warst du abgebildet, als Gast einer Benefizveranstaltung in Barcelona, die in der Nacht des Diebstahls stattgefunden hatte.“

Alejandro wusste nicht, was ihn mehr erstaunte – die Tatsache, dass er, wenn auch nur kurz, für einen Kunsträuber gehalten worden war, oder dass sein Vater, der sich nie gemeldet oder auch nur einen Geburtstagsgruß geschickt hatte, so um den Beweis seiner Unschuld bemüht gewesen war.

Als er sich entschieden hatte, der Einladung seines Bruders in die USA zu folgen, war ihm klar, dass er damit alte Wunden aufreißen würde. Aber er hatte geglaubt, damit zurechtzukommen, nun, wo Ramon tot war. Immerhin hatte er ja bis jetzt ein sehr gutes Leben gehabt. Eine Mutter, die ihn über alles liebte. Einen Großvater, der ihm trotz Krankheit und Altersschwäche ein guter Ersatzvater gewesen war. Er hatte seine Kindheit im Kreis einer großen Familie und in den besten Schulen verbracht.

Das Einzige, was sein Vater ihm gegeben hatte, war seine DNA, die ihn fast vor Gericht gebracht hätte – und diesen alten, unansehnlichen Ring.

„Er war nicht stolz darauf, dich so verlassen zu haben, Alejandro“, sagte Michael. „Ich meine, er hat mir nicht viel erzählt, aber er sagte, er sei damals ein anderer Mensch gewesen. Ich glaube ihm. Diesen Ring hatte er erst, nachdem er zurück in die Staaten gekommen war.“

„Was hat dieser lächerliche Ring denn damit zu tun?“, fragte Alejandro verblüfft.

Seit seiner Ankunft in San Francisco erfuhr er von Tag zu Tag mehr über seinen Vater: Nachdem er Michael als aufrichtigen und sympathischen Menschen kennengelernt hatte, hatte er begonnen, sich zu fragen, wie dieser wohl aufgewachsen war. Wie konnte ein Mann, der seinen ersten Sohn aufgegeben hatte, seinen anderen Sohn zu so einem starken, moralischen und selbstbewussten Menschen erziehen?

„Probier ihn an.“ Michael schob ihm die Schatulle zu.

„Was? Nein.“

Sein Bruder öffnete die Schatulle, nahm den Ring heraus und drückte ihn Alejandro in die Hand.

„Steck ihn dir an, Alejandro. Wenn du ihn trägst, wirst du verstehen.“

2. KAPITEL

„Die Leute zahlen also viel Geld für dieses Zeug?“

Lucy fühlte sich ertappt. Sie fluchte lautlos und verließ den Lagerraum, in dem sie sich versteckt hatte. Michael hatte sie offenbar nicht erkannt, sonst würde er nicht zulassen, dass sie mit seiner Kollegin vom FBI plauderte.

„Manche schon“, erwiderte sie.

Vorsichtig nahm die Agentin einen mit Diamanten verzierten Dolch, der wahrscheinlich in der Renaissancezeit als Mordwerkzeug gedient hatte.

„Wie viel würde zum Beispiel der hier kosten?“

Lucy wandte Alejandros offener Bürotür den Rücken zu. Trotzdem spürte sie seine Blicke und bekam eine Gänsehaut. Dieses Gefühl war ihr mittlerweile sehr vertraut, denn immer wieder verweilte sein Blick auf ihrem Po. Warum auch nicht? Was für einen Sinn hatte ein knackiger Hintern, wenn er nicht von einem heißblütigen Mann bewundert wurde?

Und dass Alejandro sich für ihre körperlichen Vorzüge interessierte, hatte seine Vorteile: Er ließ sich dadurch so sehr ablenken, dass er selbst nach sechs Wochen noch nicht gemerkt hatte, dass sie nicht die Frau war, für die sie sich ausgab. Außerdem tat es ihrem Ego sehr gut. Dieser Mann hatte eine unglaublich erotische Ausstrahlung, und sie hätte nichts dagegen, sich an ihm ein wenig die Finger zu verbrennen …

Im Hinblick auf Michael Murrieta und dessen Partnerin war Lucy allerdings nicht halb so entspannt. Ein falsches Wort und sie würde im Gefängnis landen. Doch wenn Michael ihre Tarnung nicht durchschaut hatte – und weshalb sollte er, er war ihr ja nur ein einziges Mal ganz kurz begegnet –, dann hielt auch er, genau wie Alejandro, sie für eine seriöse Kunstexpertin und hatte keine Ahnung, wie viel Angst sie davor hatte, entlarvt zu werden.

Lucy zog sich Baumwollhandschuhe über und wandte sich Michaels Partnerin zu. „Wir gehen davon aus, dass dieser Dolch fünfzigtausend einbringen wird.“

„Fünfzigtausend Dollar? Für einen Brieföffner?“, rief die Frau ungläubig.

Autor

Julie Leto
Auch als Julie Elizabeth Leto bekannt.
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