Herz gerettet, Herz verschenkt

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Nur einer kann ihren herzkranken Sohn retten: Rhiann muss ihren einstigen Freund, den Chirurgen Dr. Patrick Scott, um Hilfe bitten. Seit Jahren herrscht eisiges Schweigen zwischen ihnen. Und beim Wiedersehen wirft er Rhiann auch noch etwas Unglaubliches vor!


  • Erscheinungstag 14.11.2024
  • ISBN / Artikelnummer 9783751536158
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Rhiann

Als sich die Tür zum Untersuchungsraum mit einem lang gezogenen Quietschen öffnete, spürte sie die Angst tief im Bauch. Breite Schultern in einem weißen Kittel füllten den Rahmen fast ganz aus, und sie musterte den ihr bekannten Mann und die subtilen Veränderungen an ihm, die die Zeit gebracht hatte.

Vor drei Jahren hatte er diese tiefen Falten noch nicht gehabt. Sein Haar war an den Schläfen silbern geworden, aber er war genauso schlank und attraktiv wie zuvor.

Dr. Patrick Scott betrat den Raum, den Blick auf das graue Tablet in seinen Händen gerichtet. Der Duft seines herben Aftershaves stieg Rhiann in die Nase und verdrängte den scharfen Geruch nach Desinfektionsmittel, der im Krankenhaus herrschte. Etwas regte sich in ihr, das seit ihrer Scheidung im Winterschlaf gelegen hatte.

Doch er brachte nicht nur seinen maskulinen Duft mit, sondern auch eine gewisse Traurigkeit.

„Hallo, Mrs. … Masters.“

Seine tiefe, raue Stimme verstummte, als er den Namen erkannte und mit seinen himmelblauen Augen zu ihr aufblickte. Das leichte, doch sehr formelle Lächeln, mit dem er den Raum betreten hatte, verschwand. Sein Blick wurde eisig. Offenbar hatte er nichts von dem vergessen, was in der Vergangenheit zwischen ihnen vorgefallen war.

Die Tür schloss sich mit einem Klick, und das Tablet klapperte, als er es geradezu auf den Tisch warf.

„Was machst du denn hier?“

Diese ihr unbekannte Kälte in seiner Stimme ließ ihr einen Schauder über den Rücken laufen. Patrick hatte seine Gefühle schon immer ganz offen in seinem Ton und seinen Worten transportiert, aber solche Gefühle kannte sie nicht von ihm. In all den Jahren, die sie gemeinsam verbracht hatten, hatte er nie so distanziert geklungen.

Rhiann drückte das Kind in ihren Armen fest an sich. Tränen traten ihr in die Augen, als sie versuchte, ihre Emotionen zurückzuhalten. Sie hatte gehofft, dass die Zeit Patricks Wut etwas verringert hätte, aber das war wohl nicht der Fall. Es war noch nicht lang genug her. Hoffentlich war er wenigstens professionell genug, um all das zu vergessen und sich auf ihr Kind zu konzentrieren.

Sie wäre nicht hergekommen, wenn sie nicht alle anderen Möglichkeiten bereits in Betracht gezogen und verworfen hätte.

„Ich brauche deine Hilfe. Oder besser – er braucht deine Hilfe. Das ist mein Sohn Levi. Er hat einen Herzfehler, und der Kardiologe im St. Thomas Hospital will ihn operieren. Aber wenn ich mein Baby aufschneiden lassen muss, dann nur vom besten Chirurgen, den ich finden kann.“ Sie schluckte den Kloß im Hals herunter. „Und das bist du.“

„Du willst also, dass ich jemanden rette, den du liebst. Wie ironisch.“

Unter hochgezogenen Augenbrauen schaute er auf sie hinab. Rhiann konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. Kalt wie Marmor wirkte er. Eisig. Schon rechnete sie damit, dass er sie rauswerfen würde. Dass er sie anbrüllen würde wie beim letzten Mal, als sie sich gesehen hatten. Doch dann senkte er den Blick. Und während er das Baby ansah, schien das Eis in seinen Augen ein wenig zu schmelzen.

„Bitte, Dr. Scott.“

Früher hatte sie ihn nur im Scherz so genannt, aber irgendwie schien es ihr in diesem Moment richtig. Früher waren sie richtig enge Freunde gewesen, hatten alle Geheimnisse miteinander geteilt. Sie hatten sogar hin und wieder geflirtet und mehr als einmal daran gedacht, eine Beziehung einzugehen.

Aber diese Freundschaft war hinüber. War durch Vorwürfe und falsche Schuldzuweisungen kaputtgegangen. Das machte es natürlich nicht einfacher, nach Hilfe für ihren Sohn zu bitten.

Als er ihr wieder in die Augen sah, war sein Blick erneut eisig. „Diese Bitte kann ich dir nicht erfüllen.“

Ihr einst so fröhlicher, freundlicher Patrick hatte sich in den letzten Jahren zu einem schweigsamen, verschlossenen Mann verwandelt. Sein großes Talent wurde von eisiger Kälte im Umgang mit seinen Patienten begleitet, und dennoch war er weiterhin der beste Herzchirurg für Kinder im ganzen Südosten des Landes, was die Leute über seine Unhöflichkeit hinwegsehen ließ.

Ob dieser liebevolle Mann, den sie einst gekannt hatte, noch irgendwo in ihm schlummerte? Rhiann hoffte es, denn das Leben ihres Sohnes hing davon ab.

„Vielleicht hätte ich wirklich nicht herkommen sollen, aber ich musste es versuchen. Ich konnte mir die Chance nicht entgehen lassen, dass mein süßer Levi die bestmögliche Behandlung bekommt. Er ist doch noch so klein.“ Sie musste ihn irgendwie erreichen, diesen Mann, der vor ihr stand und ihre Bitte ablehnen wollte. „Schau ihn dir an. Er ist ein unschuldiges Kind, das deine Hilfe braucht. Kannst du es vor dir selbst verantworten, sie ihm zu verweigern?“

„Mein Partner kann …“

„Ich bin nicht für deinen Partner hergekommen. Auch wenn ich weiß, dass Clay ein guter Chirurg ist. Aber eben nicht der beste. Das bist du.“

Er fluchte leise und massierte sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. „Wenn er operiert werden muss, werden wir zwei uns in den kommenden Wochen und Monaten ziemlich oft sehen. Weißt du, was das mit mir machen wird?“

Es hatte sich also wirklich nichts geändert zwischen ihnen. Er hasste sie noch immer. Ihr wurde die Kehle eng, und sie hustete kurz. Dann wischte sie sich eine Träne von der Wange und atmete tief durch. Sie durfte sich nicht von ihren Gefühlen überwältigen lassen.

„Was auch immer du glaubst, was ich getan oder nicht getan habe, das liegt in der Vergangenheit und hat nichts mit meinem Sohn zu tun. Ich habe mir den Tag Tausende Male durch den Kopf gehen lassen, und es gibt nichts, was ich anders hätte machen können. Ich kann die Vergangenheit nicht ändern, aber du kannst Levi eine Zukunft geben.“

Er runzelte die Stirn und presste die Lippen aufeinander. Doch ihre Worte schienen ihre Wirkung nicht verfehlt zu haben. Er nahm das Stethoskop in die Hand, das um seinen Hals hing.

„Ich schaue ihn mir an und nehme ein paar Untersuchungen vor. Danach sehen wir weiter. Außerdem benötige ich noch die Akten von den vorherigen Ärzten, die bisher noch nicht hergeschickt worden sind. Vorher kann ich nichts sagen.“

„Um mehr bitte ich dich auch gar nicht.“

Rhianns Herz klopfte wie wild, als Patrick sich auf einen Hocker setze und zu ihr herüberrollte, um sich Levis Herzschlag anzuhören. Dabei berührte er ihre Hand, die trotz seiner kalten Miene ganz warm war. Er war ihr plötzlich so nah, dass sein Knie ihren Oberschenkel berührte, als er erst Levis Brustkorb und dann seinen Rücken abhörte.

Sie atmete scharf ein, und er sah auf. Ihre Blicke trafen sich. Der Funke in seinen Augen erinnerte sie sofort an früher, als es diese Distanz zwischen ihnen nicht gegeben hatte und ihr Leben viel einfacher gewesen war. Sie wünschte sich die Freundschaft von damals zurück.

Mit einem Mal kam ihr der Untersuchungsraum viel zu klein, zu beengt vor.

Eis und Feuer bekämpften sich in Patricks Augen.

Sie schwiegen beide, und die Spannung zwischen ihnen war fast körperlich zu spüren.

Patrick unterbrach sie mit einer Frage. „Welche Untersuchungen wurden schon gemacht? Und wann?“

„Vor zwei Wochen haben sie seinen Brustkorb geröntgt und ein EKG gemacht.“

Rhiann musste schlucken. Ihre medizinischen Kenntnisse halfen ihr – als Sanitäterin wusste sie genug, um zu verstehen, wie gefährlich Levis Zustand war.

„Sie haben mir schon bei der Geburt gesagt, dass er ein Herzgeräusch hat. Aber das haben viele Babys, wie du natürlich weißt. Also habe ich es beobachtet – und es ist immer schlimmer geworden. Irgendwann ist er blau angelaufen, und mir war klar, dass es mehr ist als nur ein Geräusch. Ich musste eine Weile nach einem Spezialisten suchen, und der hat vor sechs Monaten einen Shunt eingesetzt, aber wie du siehst, reicht das nicht. Vielleicht hat er auch gar nichts gebracht.“

„Da bin ich mir auch nicht sicher.“

Patrick rollte mit seinem Stuhl hinüber zum Computer, und Rhiann atmete zum ersten Mal wieder richtig durch. Die Tasten klapperten unter Patricks schlanken Fingern, während er sich Notizen zu Levi machte.

Er sprach, ohne sie anzusehen. „Bei den Untersuchungen wäre es gut, wenn Pete dir zur Seite steht. Wie kommt er mit all dem zurecht?“

„Keine Ahnung. Er hat mir kurz nach Levis Geburt die Scheidungsunterlagen zugeschickt. Ich habe seit über einem halben Jahr nichts von ihm gehört, er weiß nichts von dem Shunt. Mein letzter Stand ist, dass er nach Kalifornien zurückgegangen ist und in der Nähe seiner Eltern lebt. Er hat Nashville immer gehasst. Nicht nah genug am Meer. Und als er aufgegeben hat, an eine Musikkarriere zu glauben – tja, seitdem müssen Levi und ich allein zurechtkommen.“

Patrick drehte sich auf dem Stuhl um und sah sie eine geschlagene Minute an. „Das wusste ich nicht“, sagte er schließlich.

„Jetzt schon.“

Patrick hatte Pete nie leiden können und sie immer gewarnt, dass es nicht halten würde. Sie meinte, einen winzigen Funken Schadenfreude – oder echte Freude – in seinen Augen zu sehen, bevor er sich wieder hinter seine eisige Maske zurückzog.

Angespannt wartete sie auf ein „Hab ich doch gleich gesagt“ ihres ehemals besten Freundes, doch der fragte stattdessen nur:„Was ist passiert?“

Sie seufzte und erzählte ihm die Geschichte in aller Kürze. „Ich bin einfach nicht schwanger geworden, und wir haben uns schließlich für einen Spender entschieden. Aber Pete ist nie richtig damit klargekommen, dass es nicht sein biologisches Kind sein würde. Tja, und als wir dann erfahren haben, dass Levi einen Herzfehler hat, hat Pete sich sobald wie möglich verabschiedet.“

Sie und Levi, sie waren nun eine ganz kleine Familie. Nur sie zwei. Sie liebte nur ihn. Sie brauchte keinen Mann wie Pete. Und für Levi würde sie kämpfen, würde Flüsse durchschwimmen und Grenzen überqueren, alles, um ihm zu helfen.

Er schnaubte. „Wenn dir nur damals schon jemand gesagt hätte, dass dieser Verlierer deine Zeit nicht wert ist.“

Sie hatte damit gerechnet, aber sein harter Ton schmerzte trotzdem. Noch einmal musste Rhiann die Tränen wegblinzeln. Dieser Mann vor ihr hatte kaum noch Ähnlichkeit mit dem Freund von früher. Damals hätte er nie so gnadenlos geklungen.

Sie drückte Levi an sich. Für ihn war sie hier. Für ihn würde sie Patricks Worte ertragen.

Ihr Leben war noch nie einfach gewesen, und sie wusste, wie man durchhielt und weiterkämpfte. Levi hatte es verdient. Doch jetzt quietschte er protestierend, und sie ließ wieder lockerer. Sie beugte sich über ihn und küsste ihm das blonde Köpfchen, während sie ihm eine Entschuldigung zuflüsterte.

Als sie die Hand ausstreckte und auf Patricks Arm legte, zuckte er überrascht zusammen. „Du kannst ihn gesund machen, oder?“

Patrick

Gefühle überwältigten ihn. Wut wirbelte in ihm herum, Mitgefühl schlängelte sich dazwischen durch, und dann war da noch etwas, das er nicht einmal benennen wollte. Er drückte alles weg. Alles. Er konnte sich nicht von seinen Emotionen leiten lassen.

Keine Gefühle, kein Schmerz. Patrick wusste genau, wie das ging.

Er schob den Stuhl zurück, um Distanz zwischen sich und die blonde Frau mit den Tränen in den Augen zu bringen. Um ihren Duft nach Vanille und Aprikosen nicht mehr in der Nase zu haben. Um nicht gleich etwas Dummes zu tun.

Sie in den Arm zu nehmen, zum Beispiel, und ihr zuzuflüstern, dass alles gut werden würde. Er wusste doch noch gar nicht, ob er ihrem Sohn wirklich helfen konnte. Genauso dumm wäre es wohl, sie zu küssen, um herauszufinden, ob sie immer noch den gleichen Lipgloss benutzte, der nach Erdbeeren schmeckte.

Er räusperte sich und warf den Mantel der kühlen Professionalität über, der ihm in den letzten Jahren so gute Dienste geleistet hatte. Ganz egal, wie gut Rhiann roch, ganz gleich, wie sehr ihre Berührung ihm durch den ganzen Körper schoss – er würde sich nicht erlauben, so über sie zu denken. Nicht nach dem, was sie getan hatte.

„Ich kann dir nichts versprechen, bevor ich ihn mir nicht genauer angesehen habe. Aber was ich höre, gefällt mir ganz und gar nicht. Er ist in keinem guten Zustand.“

Versprechen ließen sich kaum machen, wenn es um so ein winziges Herz ging – klein wie eine Pflaume. Eine Operation würde sich wohl kaum vermeiden lassen.

„Ich darf ihn nicht verlieren“, flüsterte sie. Natürlich wusste sie, wie schlecht es Levi ging, sonst wäre sie nach allem, was in der Vergangenheit zwischen ihnen vorgefallen war, bestimmt nicht zu ihm gekommen. „Er ist alles, was ich habe. Bitte hilf ihm.“

Die Mutterliebe sprach ihr aus allen Poren. Deswegen hatte sie sich zu ihm getraut. Dieser Mut machte etwas in Patricks Brust, riss etwas auf, das sich nicht mit einem einfachen Pflaster wieder heilen lassen würde. Rhiann war zurück in seinem Leben.

Er stand so abrupt auf, dass der Stuhl krachend gegen die Wand fuhr.

„Levi braucht ein Echokardiogramm und eine Herzkatheteruntersuchung. Wenn wir die Ergebnisse haben, sehen wir weiter.“

Er stürmte aus dem Raum, und die Tür fiel laut hinter ihm ins Schloss. Am Empfang schob er der Schwester das Tablet über den Tresen. „Diese Untersuchungen für Raum drei.“ Dann wandte er sich in Richtung seines Büros, hörte aber das gemurmelte Gespräch zwischen den zwei Schwestern hinter ihm nur zu gut.

„Was die Mutter wohl gesagt hat?“

„Vielleicht, dass er nicht immer so eisig sein soll.“

„Tja, man sollte nicht glauben, dass er noch unfreundlicher werden kann.“

Er biss die Zähne zusammen. Zum Glück war Levi der letzte Patient für heute gewesen. Er schloss die Tür seines Büros hinter sich und lehnte sich an das kühle Holz. Er musste diesen Schmerz loswerden – oder wenigstens wieder ganz tief in sich vergraben. Er zerrte an seiner Krawatte, um besser atmen zu können.

Er war einfach nicht darauf vorbereitet gewesen, Rhiann wiederzusehen.

Er holte tief Luft und konzentrierte sich auf das abstrakte Gemälde hinter seinem Schreibtisch. Seine verstorbene Frau hatte es gemalt. Einfache Linien, kräftige Kontrastfarben. Es half ihm immer, wenn die Anforderungen an ihn und der Herzschmerz, den die Arbeit als Herzchirurg oft mit sich brachte, ihn zu überwältigen drohten. Mallory hatte gewusst, wie wichtig es ihm war, außerhalb des Operationssaals Ruhe zu finden. Sie hatte ihn manchmal besser gekannt als er sich selbst.

Er folgte den Linien auf der Leinwand mit dem Blick, von hell zu dunkel, dann wieder zu hell, während er langsam tief in den Bauch atmete.

Er musste sich zusammenreißen.

Seine Nervenenden zuckten bei all den Erinnerungen, die auf ihn einströmten. Die Vergangenheit war plötzlich präsenter als die Gegenwart.

Am liebsten hätte er Rhiann nie wiedergesehen. Er wollte sie anbrüllen und rauswerfen. Er wollte sie an sich ziehen und herausfinden, wie ihre perfekten, rosa Lippen schmeckten.

Sie hatte etwas an sich, das ihn schon immer fasziniert und gleichzeitig wütend gemacht hatte. Rhiann war sein erster Schwarm gewesen, eine unerwiderte Liebe. Schlechtes Timing hatte dazu geführt, dass es nie zu einer Beziehung zwischen ihnen gekommen war, und dann hatte er Mallory getroffen. Rhiann war stattdessen zu seiner besten Freundin geworden.

Bis sie sein Vertrauen missbraucht hatte.

Und nun musste ausgerechnet sie die erste Frau sein, die ihn seit drei Jahren wieder interessierte.

Die dunklen Schatten unter ihren Augen hatten ihm ganz deutlich gezeigt, dass sie nicht genügend Schlaf bekam. Den Grund konnte er sich denken. Sie war auch viel dünner als damals, und die Kleider hingen an ihr herunter. Wenn er nur diesen Schutzinstinkt, den sie in ihm geweckt hatte, gleich wieder unterdrückt könnte.

Allein dafür wollte er sie hassen: Dafür, dass sie Gefühle in ihm auslöste.

Er hatte versucht, nicht darauf zu achten, wie sehr Levis Krankheit sie mitnahm oder sich zu fragen, ob die Scheidung von Pete ihr noch zu schaffen machte. Sie waren schließlich keine Freunde mehr, sodass es ihm egal sein sollte.

Aber es war ihm nicht egal.

Fast hatte er sie rausgeworfen.

Fast.

Doch sie hatte ihren kleinen Jungen im Arm gehalten, der bläulich aussah und ganz offensichtlich zu leiden schien. Deswegen hatte er nicht Nein sagen können, ganz egal, was Rhiann getan hatte. Er konnte nicht ein kleines Kind wegschicken, nur um sich an ihr zu rächen.

Levi war achtzehn Monate alt und hätte das Leben erkunden sollen. Doch er war so winzig wie ein neun Monate alter Säugling. Sein Herz schlug nicht kräftig genug, jeder Atemzug schien für ihn ein Kampf zu sein.

Er war nicht einmal von Rhianns Schoß gerutscht, um im Untersuchungsraum herumzurennen und alles zu erkunden, irgendetwas kaputt zu machen und voller Freude darüber zu lachen. Er hatte kaum reagiert, als Patrick ihn untersucht hatte.

Levi brauchte wirklich seine Hilfe. Und Patrick würde es versuchen. Nicht, weil er Rhianns Sohn war, sondern weil es richtig war. Und dann konnte Rhiann wieder verschwinden, damit er nicht mehr zusehen musste, wie sie ihn im Arm hielt. Die warmen Gefühle, die ihn dabei überkommen hatten, waren sofort wieder verschwunden, als er Levis Geburtsdatum in der Akte gelesen hatte: Genau zwei Jahre nach dem errechneten Geburtsdatum seiner Tochter.

Aber die süße, kleine Everly hatte nie auch nur einen Atemzug getan.

Er würde sie niemals an sich drücken können.

Und die Frau, die ihn gerade darum gebeten hatte, ihren Sohn zu retten, war diejenige gewesen, die ihn um seine kleine Tochter gebracht hatte.

Mit einer wütenden Armbewegung wischte er alles vom Schreibtisch. Dokumente und Akten fielen auf den Boden, Stifte und Büroklammern flogen klappernd durch die Luft.

Zögerlich wurde geklopft. „Ist alles in Ordnung, Dr. Scott?“

„Lassen Sie mich in Ruhe“, knurrte er.

„Blödmann“, flüsterte die Krankenschwester – laut genug, dass er es hörte.

Er rutschte an der Wand entlang auf den Boden und starrte auf den Platinring an seinem Finger. Seine Worte waren so leise, dass ihn niemand draußen hören würde. „Ich vermisse dich so, Mallory. Ich weiß einfach nicht, was ich ohne dich machen soll.“

2. KAPITEL

Rhiann

Patrick war aus dem Raum gestürzt, als ob jemand seinen Arztkittel angezündet hätte. Rhiann war sich nicht sicher, ob sie ihn erreicht hatte. Kurz vorher hatte sie gedacht, einen Riss in seiner eisigen Fassade zu sehen, aber nun waren bereits mehrere Tage vergangen, ohne dass sie von ihm gehört hatte. Ihre Angst wurde immer größer.

Wenn Patrick ihr mit Levi nicht helfen würde, brauchte sie einen neuen Plan.

Denn sie würde ihren Sohn niemals im Stich lassen.

Fünf Tage nach ihrem Termin bei Patrick war ihre Geduld am Ende. In der Mittagspause nahm sie allen Mut zusammen und rief seine Büronummer an. Ihr linkes Augenlid zuckte nervös, und sie legte beruhigend einen Finger darauf. Eine Krankenschwester teilte ihr mit, dass es bereits einen Termin für Levis Echokardiogramm gab – leider genau während einer ihrer Schichten.

Bevor sie um eine Verlegung bitten konnte, rief ihr Partner Charlie, dass es einen Notfall gab, und Rhiann musste auflegen. Sie schob sich den letzten Bissen ihres Sandwichs in den Mund und rannte zu Charlie und ihrem Notarztwagen.

Schon seit Beginn ihrer Zeit am County Hospital war Charlie ihr Partner. Sie war drei Jahre dabei, er ganze siebzehn. Der ältere Mann war ihr Mentor geworden und inzwischen auch ein enger Freund, fast eine Art Vaterfigur und ein Großvater für Levi.

Ihren eigenen Vater hatte sie niemals kennengelernt. Er war verschwunden, bevor sie geboren wurde. Ihre Mutter hatte allen in der neuen Stadt erzählt, dass ihr Mann gestorben sei, auch wenn das vermutlich niemand geglaubt hatte. Ihre ganze Kindheit hatten sie in einer kleinen, aber blitzsauberen Wohnung in einem eher heruntergekommenen Stadtviertel gelebt.

Auch ihre Mutter war bereits ein Einzelkind gewesen, sodass es keine weitere Familie gab. Das hatte sich erst geändert, als sie Patrick kennengelernt hatte.

Anders als sie war Patrick in einem reichen Haushalt und mit Mutter und Vater aufgewachsen. Seine Mutter Marilyn hatte nie gearbeitet, und sein Vater war ein mehrfach ausgezeichneter Podologe. Sie hatten genug Geld für Sport und andere Aktivitäten, private Nachhilfe und alles, was ihr Sohn sonst noch so brauchte. Aber sie waren immer nett zu ihr gewesen, dem armen Mädchen aus einem ganz anderen Teil der Stadt.

Und nun? Sie hatte Levi. Sie hatte Charlie. Das musste reichen. Denn sie würde es nicht ertragen, wenn noch ein Mann sie im Stich lassen würde.

Die Zentrale schickte sie zu einem nicht sehr schweren Autounfall und danach zu einer schlimmen Verbrennung. Dazwischen erzählte Rhiann ihrem Partner von den anstehenden Untersuchungen und der Operation.

„Was kostet das alles?“, fragte Charlie. „Klingt ziemlich teuer.“

Er stöhnte, als Rhiann ihm die geschätzten Zahlen auflistete, die sie auf der Website ihrer Versicherung gefunden hatte. Ihr war es nicht anders ergangen.

„Aber ich muss es irgendwie schaffen.“ Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum. In Wahrheit hatte sie einfach keine Wahl, auch wenn ihr mühsam aufrechterhaltenes finanzielles Gleichgewicht schnell kippen würde. Levi musste operiert werden. Sie würde so viele Überstunden machen wie möglich und mit dem Krankenhaus eine Ratenzahlung vereinbaren. Mit dem Shunt hatte sie es auch schon so gemacht.

Dieser Kredit würde nächsten Monat endgültig abbezahlt sein, und sie hatte sich schon gefreut, wieder mehr Geld für Essen zur Verfügung zu haben, aber das sollte wohl nicht sein.

Charlie sah vom Fahrersitz zu ihr hinüber, mit einem liebevollen Blick in seinem faltigen Gesicht. „Natürlich, du schaffst alles, aber es wäre bestimmt einfacher, wenn du dir helfen lassen würdest.“

Rhiann seufzte und ignorierte diesen Kommentar. Ihr Ex Pete jedenfalls hatte kein Interesse daran, Levi finanziell zu unterstützen. Erst nach ihrer Trennung hatte sie verstanden, wie wenig Charlie und der Rest ihrer Kollegen und Kolleginnen von Pete gehalten hatten. Sie hatten sogar eine Wette laufen gehabt, wie lange die Ehe halten würde.

Charlie hatte zweihundertdreißig Dollar gewonnen. Als sie das erfahren hatte, hatte sie ihn gezwungen, sie von dem Geld zum Essen einzuladen, und erst dann hatte sie ihm verziehen.

„Aber dein alter Freund, dieser Arzt, der wird Levi gesund machen, ja?“

„Wenn das jemand kann, dann Patrick.“

Sie war nicht von viel überzeugt, aber Patricks Fähigkeiten waren einmalig. Es war gut gewesen, ihn wiederzusehen, wenn auch wirklich nicht einfach. Nachdem sie jetzt das erste, unangenehme Treffen ja hinter sich gebracht hatten, würde es in Zukunft einfacher werden, und vielleicht könnten sie sogar ihre Freundschaft wiederbeleben. Er hatte gut ausgesehen. Selbst die grauen Haare hatten ihr gefallen. Nur diese Eiseskälte stand ihm nicht.

„Warum wirst du so rot? Stehst du etwa auf Männer in Kitteln?“

„Überhaupt nicht.“ Rhiann boxte ihm gegen die Schulter. Sie und Charlie konnten gut scherzen und sich necken. Gewissermaßen hatte er die Leere gefüllt, die Patrick in ihrem Leben hinterlassen hatte. Wenn auch nicht vollständig. Niemand konnte ihn ersetzen.

Er lachte. „Dein Gesicht sagt etwas anderes. Erzähl doch mal von deinem Arzt.“

„Er ist nicht mein Arzt.“

Charlie schnaubte. „Aber das hättest du gern, wenn ich mir deine roten Wangen so angucke.“

Sie drehte den Kopf weg und sah aus dem Fenster. Sie hatten die Ambulanzstation erreicht, in der die Kranken- und Feuerwehrwagen für den Landkreis basiert waren. Sie wollte Charlie nicht anlügen und schwieg deshalb. Als sie gerade aussteigen wollten, kam bereits der nächste Auftrag.

„An der Landkreisgrenze haben ein paar Teenager herumgeschossen“, sagte die Mitarbeiterin der Zentrale.

„So etwas hasse ich“, sagte Charlie und fuhr wieder los. Er schaltete Blaulicht und Sirene an und beschleunigte. Als sie ankamen, bereitete Rhiann sich innerlich auf das vor, was sie erwartete. Kinder und Schusswaffen, das war nie eine gute Kombination.

Die Adresse war eine Tankstelle kurz vor der I-24. Es war viel los, teilweise waren es wohl Schaulustige. Charlie musste im Schritttempo fahren, und sie sahen sich nach ihrem Patienten um.

„Da“, sagte Rhiann und zeigte auf eine ältere Limousine, die neben den Luftpumpen am Rande des Parkplatzes stand. Ein Fenster war kaputt.

Neben dem rostigen Wagen auf dem Asphalt lag ein Junge von dreizehn oder vierzehn Jahren. Um sein Bein hatte sich eine hellrote Blutlache gebildet, und ein junges Mädchen drückte eine Art Jacke auf die Wunde.

Rhiann sprang aus dem Wagen und nahm ihre Tasche.

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