Herz oder Pflicht?

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Getarnt als Hauslehrer soll Major Richard Chancellor den skrupellosen William Compton des Schmuggels überführen. Doch als er dessen hinreißende Halbschwester Pandora kennenlernt, gerät seine geheime Mission in Gefahr. Er entbrennt in heißer Liebe zu der zauberhaften jungen Frau, die ganz offensichtlich seine tiefen Gefühle erwidert. Aber als Bediensteter darf er niemals um sie werben! Richard steht vor einer schweren Entscheidung: Herz oder Pflicht? Denn nur wenn er seine Tarnung aufgibt, kann er an der Seite Pandoras das Glück seines Lebens finden ...


  • Erscheinungstag 11.05.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733767099
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG
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Frühlingsbeginn 1813

Wer um alles in der Welt hat mir bloß diesen albernen Namen gegeben?“ Pandora stürmte in den Salon, ohne sich dafür zu entschuldigen, dass sie ihre Tante Em bei ihrer Handarbeit störte. „Ich muss dich das fragen.“

Die Tante, die an die direkte Art ihrer Nichte gewöhnt war, antwortete gleichmütig: „Ich denke, es war deine liebe Mama. Als sie dich erwartete, las sie einen Roman, in dem die Heldin Pandora hieß. Sie fand den Namen romantisch und nicht so langweilig wie Charlotte oder Amelia, die ihrer Meinung nach besser zu den Nachkommen deutscher Königsfamilien passten.“

„Ach, Tante.“ Pandora seufzte und nahm auf dem Sessel gegenüber ihrer Tante Platz. „Wenn ich doch nur einen richtig langweiligen Namen hätte! Bevor die Leute mich kennenlernen, glauben sie, einem liebreizenden Geschöpf zu begegnen – und keiner Amazone aus einer griechischen Legende, die in der Größe an die meisten Männer heranreicht. Und dann gibt man mir den Spitznamen Dora, der auch nicht schön ist …“

„Ich finde Dora sehr hübsch“, wandte die Tante ein, während sie einer großen Rose ein paar Stiche hinzufügte.

„Darum geht es nicht“, rief Pandora heftig. „Als ich neulich bei Lady Larkin einem Gentleman vorgestellt wurde, wirkte er ziemlich verstört. Anscheinend hatte man ihm gesagt, dass ich eine beträchtliche Summe von Julian, meinem Großvater mütterlicherseits, erben würde und dass es sich dabei um ein Treuhandvermögen handelt, in dessen Genuss ich erst komme, wenn ich siebenundzwanzig bin, damit William das Geld inzwischen nicht anrühren kann – aber nicht einmal das milderte die Tatsache, dass ich ein gutes Stück größer war als dieser junge Mann.“

„Hätte ein langweiliger Name etwas an den Dingen geändert?“, erkundigte sich die Tante ungerührt.

„Dass ich Pandora heiße, hatte offensichtlich bestimmte Erwartungen in ihm geweckt. Ich hörte, wie er Roger Waters erzählte, er sei davon ausgegangen, eine zarte und zierliche junge Dame kennenzulernen und keine Bohnenstange, die einem Mann das Gefühl gibt, kleiner zu sein, als er tatsächlich ist. Und was viel schlimmer war, man hatte ihm offenbar auch berichtet, dass ich Großvaters Güter für ihn leite, weil sich mein Halbbruder lediglich für sein Vergnügen interessiert. Unter diesen Umständen werde ich wohl niemals einen Gatten finden. Nun ja, im Augenblick könnte ich mir das ohnehin nicht leisten. Es ist nur so, dass ein gewisser Makel an einer Frau haftet, die mit dreiundzwanzig Jahren noch nicht verheiratet ist.“

Tante Em, die ihren verstorbenen Gemahl sehr geliebt hatte, erwiderte ruhig: „Das verstehe ich, indes hättest du doch die Frau deines Cousins Charles Temple werden können. Schließlich hat er drei Mal um dich angehalten.“

„Aber die Vorstellung, den Rest meiner Tage mit ihm zu verbringen, hat nichts Anziehendes für mich. Außerdem war er nur hinter meinem Geld her. Seine Schwester hat es mir verraten.“

„Nicht sehr nett von ihr.“

„Nur leider wahr, wie du weißt. Ich wünschte, das Leben wäre nicht so kompliziert. Zuerst müssen wir jetzt für Jack einen neuen Hauslehrer suchen, da der letzte sich als völlig unpassend erwiesen hat. Ein Dienstmädchen, das von einem Hauslehrer ein Kind erwartet, ist schon schlimm genug. Zwei kann man nicht mehr tolerieren. Ein schlechtes Beispiel für den Jungen.“

Ihre Tante seufzte. „Pandora, du solltest von solchen Dingen gar nichts wissen, geschweige denn so offen darüber reden.“

„Da es mir überlassen blieb, mich um die Hinterlassenschaft des Mannes zu kümmern, nachdem er mit einem dritten Mädchen weglief, konnte ich mich wohl kaum ahnungslos stellen. Großvater Compton ist ein Invalide, der seine Ruhe braucht, und du bist unfähig, zu irgendjemand unfreundlich zu sein. Mein Halbbruder William ist selten hier und wenn, treibt er sich in der halben Grafschaft herum. Mein Bruder Jack ist erst dreizehn. Außer mir gibt es niemand, der dafür sorgt, dass in Compton Place alles einigermaßen ordnungsgemäß verläuft.“

„Der Gutsverwalter könnte dir helfen.“

„Rice? Der ist doch völlig unfähig. Da er bereits seit einer Ewigkeit hier ist, lehnt Großvater es ab, ihn in Pension zu schicken. Also bleibe nur ich übrig. Ich wünschte, mein Vater hätte nach dem Tod von Williams Mutter nicht noch einmal geheiratet. Jack und ich wären gar nicht geboren, ich müsste mich nicht um ein bankrottes Gut kümmern, und Jack würde nicht verwildern.“

„Wie kannst du so etwas sagen?“, fragte die Tante entsetzt. „Wenn du dich auch in Gesellschaft in solch undamenhafter Weise äußerst, wundert es mich nicht, dass du keine Anträge erhältst.“

Pandora stand auf und ging im Zimmer auf und ab. „Würdest du es vorziehen, zusammen mit Jack und Großvater zu verhungern? Angesichts von Großvaters Krankheit, der Misswirtschaft meines Vaters sowie der Verschwendungssucht meines Halbbruders müssten wir alle in der Queen Street um ein Stück Brot betteln, wenn ich mit meinen einundzwanzig Jahren nicht die Verantwortung übernommen hätte.“

„Übertreibe nicht, Liebes.“

„Alle weigern sich, sich unserer tatsächlichen Lage zu stellen“, rief Pandora. „Im Augenblick halten wir uns gerade eben über Wasser. Wenn wir das schaffen, bis ich siebenundzwanzig bin, können wir einen Teil von Großvater Julians Erbe benutzen, um sicherzustellen, dass wir bei der Bank wieder angesehen sind.“

„Was würde deine liebe Mutter sagen, wenn sie dich so reden hörte?“

„Da sie nicht mehr lebt, stellt sich diese Frage nicht. Außer der Aufgabe, für Jack einen neuen Hauslehrer zu suchen und das Geld für dessen Lohn aufzutreiben, plagt mich eine weitere Sorge. Woher nimmt William die Mittel für sein aufwändiges Leben? Wenn er alle paar Monate nach Hause kommt, dann jedes Mal mit einer neuen Garderobe. Außerdem hat er sich einen kostspieligen Curricle zugelegt, dazu ein Gespann erstklassiger Pferde. Nur der Himmel weiß, welche Summen das alles verschlungen haben mag.“

„Falls er sich in die Klauen von Londoner Geldverleihern begeben hat, wird mit Sicherheit ein Tag der Abrechnung kommen. Sie werden vermutlich versuchen, seine angebliche Erbschaft zu pfänden. Doch da es, wie es aussieht, für ihn nichts zu erben gibt, dürfte er dann den Rest seines Lebens im Schuldgefängnis verbringen.“

Pandora setzte sich wieder. „Wenn ich an all das auch nur denke, wird mir elend.“

Ihre Tante legte die Handarbeit weg. Ihr war nur allzu bewusst, dass jedes Wort, das ihre Nichte äußerte, der Wahrheit entsprach. Eine ihrer größten Sorgen war, dass Pandora niemals heiraten konnte, weil sie möglicherweise so töricht sein würde, ihr ganzes Erbe dazu zu verwenden, den Familienbesitz der Comptons auf Vordermann zu bringen. Und wer würde eine Frau haben wollen, die über ihre Jugendblüte hinaus war?

Dabei wäre das Mädchen, wenn es seiner äußeren Erscheinung mehr Sorgfalt widmen würde, eine strahlende Schönheit, mit üppigen kastanienbraunen Haaren, leuchtend grünen Augen und einem wunderbar zarten Teint, den Pandora allerdings zielsicher ruinierte, indem sie sich der prallen Mittagssonne aussetzte, so dass sie gebräunt war wie eine Milchmagd. Ihre Körpergröße war ein Nachteil, doch ihr Aussehen und ihr Erbe würde das mehr als wettmachen.

„Du brauchst Ferien“, sagte die Tante unvermittelt, obwohl sie genau wusste, dass das Pflichtgefühl ihrer Nichte eine solche Möglichkeit nicht zuließ.

„Außerdem eine Saison in London“, setzte Pandora sarkastisch hinzu und lehnte sich mit geschlossenen Augen in ihrem Sessel zurück. „Ich weiß jetzt, weshalb sich Männer in einer schlimmen Lage wie der meinen betrinken, aber als Dame ist mir sogar das verwehrt.“

Tante Em dachte einen Augenblick nach. „Ich werde an meine Cousine Lady Leominster schreiben und sie bitten, sich in ihrem Londoner Bekanntenkreis nach einem vertrauenswürdigen Hauslehrer für Jack umzuhören. Damit wärst du wenigstens eine Sorge los“, verkündete sie.

Pandora stand auf und reckte sich höchst undamenhaft. „Ich kann nur hoffen, dass sie bald antwortet. Jack wird immer unbändiger. Und die Vorstellung, er könnte in Williams und Papas Fußstapfen treten, macht mich fast krank. Er braucht einen Lehrer mit starkem Pflichtbewusstsein und guten Kenntnissen in Latein und Altgriechisch. Es wäre vorteilhaft, wenn der Mann mit Zahlen umgehen könnte. Ich brauche dringend Hilfe beim Führen der Bücher für das Gut.“

Nachdem Pandora den Raum verlassen hatte, lehnte sich ihre Tante bekümmert in die Polster. Pandora ist ein gutes Mädchen und würde eine großartige Ehefrau abgeben, dachte sie. Doch wer sollte den Wunsch haben, eine willensstarke Frau zu heiraten, die sich wie ein Mann benimmt und auch so redet? Außer es gibt irgendwo einen Gentleman, der einen ebenso starken Willen besitzt und dem es gelingt, sie zu zähmen.

1. KAPITEL
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Du vermisst das Soldatenleben, nicht wahr?“, fragte Russell Chancellor seinen jüngeren Zwillingsbruder Richard, der die Morning Post studierte.

Richard Chancellor, Major beim Vierzehnten Leichten Kavallerieregiment, von seinen Freunden und der Familie Ritchie genannt, blickte hoch. Russell lehnte lässig in einem bequemen Armsessel, in der Hand ein Glas mit einem Getränk. Er war wie ein vollendeter Dandy gekleidet und nach der neuesten Mode windstoßartig frisiert. Mit seinem guten Aussehen und seiner athletischen Statur hatte er in London die Herzen etlicher Frauen gebrochen und sich dadurch den Neid vieler junger Männer zugezogen.

Da sie keine eineiigen Zwillinge waren, ähnelten sich die Brüder kaum. Im Gegensatz zu dem blonden, heiteren Russell war Richard ernsthaft und dunkelhaarig. Es fehlte ihm das Strahlende, das für den älteren Bruder ganz natürlich war. Richards Kleidung wie auch sein Benehmen waren unauffällig. Er hatte graue, scharf blickende Augen, war so athletisch wie sein Bruder und ein besserer Reiter – zumindest bis er verwundet worden war. Als Stabsoffizier hatte er in Wellingtons Armee am Feldzug in Spanien teilgenommen.

Als Folge seiner nicht ganz leichten Verwundung war er ins Kriegsministerium versetzt worden, wo er, wie Russell respektlos bemerkte, als Kanzleivorsteher arbeitete.

Richard, von jeher ziemlich schweigsam, hatte nie darüber gesprochen, wie es zu seiner Verwundung gekommen war. Sein Zwillingsbruder war zu dem Schluss gelangt, dass er sich vielleicht auf seinem Regierungsposten wohler fühlte als während seiner Dienstzeit als Stabsoffizier in Spanien. Schließlich war es ursprünglich sein Wunsch gewesen, eine Laufbahn als Wissenschaftler einzuschlagen. Nur dass ihr Vater, der Earl of Bretford, darauf bestanden hatte, dass Richard Soldat wurde.

Daher hatte Richard seine Pflicht getan, seine wissenschaftlichen Interessen jedoch ruhig und in aller Stille weiter verfolgt.

„Ja, ich vermisse es“, bestätigte er. „Indes kann man nicht alles haben, was man sich wünscht. Diese Lektion habe ich früh gelernt. Das einzige Problem besteht darin, dass mich nach dem Leben bei der Armee die Ruhe in meinem Amtszimmer langweilt.“

„Ich hätte nie gedacht, dass es dir gefallen würde, Soldat zu sein“, stellte Russell fest. „Andererseits weiß ich, dass du alles, was du tust, gut machst. Ich nehme daher an, dass du am Ende auch in Whitehall Erfolg haben wirst.“

Richard legte seine Zeitung beiseite und lächelte. „Ein solches Kompliment hätte ich nicht von dir erwartet. Leider fehlt mir die Zeit, es zu genießen. Ich habe eine Verabredung im Innenministerium. Weiß der Himmel warum, aber Lord Sidmouth wünscht mich dringend zu sprechen. Ich vermute, dass er immer jeden dringend zu sprechen wünscht. Vielleicht ist er deshalb ein so guter Innenminister.“

„Möglich“, stimmte Russell zu, „andererseits macht es ihn nicht gerade populär. Kann ich dich überreden, heute Abend Lady Leominsters Empfang zu besuchen?“

„Nein“, lehnte Richard ab. „Ich habe nicht vor, an der Saison teilzunehmen. Wir sehen uns dann morgen beim Frühstück.“

„Das bezweifle ich“, erwiderte sein Bruder. „Ich beabsichtige, anschließend mit ein paar Freunden in den Club zu gehen, und der Himmel weiß, wann ich nach Hause komme. Es nützt wohl nichts, dich zu fragen, ob du uns später dort treffen willst?“

Richard, bereits auf halbem Wege zur Tür, schüttelte den Kopf. Sosehr er seinen Bruder liebte, wünschte er sich manchmal, Russell wäre nicht so entschlossen, sein Leben dem Vergnügen zu weihen.

Indes war dies nicht seine Sorge, und es berührte Richard im Grunde auch nicht. Es galt, sich zu beeilen, um herauszufinden, was Lord Sidmouth von ihm wollte. Vor einigen Jahren, als er noch ein Junge gewesen war, hatte er ihn schon einmal getroffen. Doch daran würde sich der Minister sicherlich kaum erinnern.

Das Büro war groß und so prächtig eingerichtet, wie es einem Mann zustand, der während eines tobenden Krieges für Englands Sicherheit verantwortlich war. Lord Sidmouth kam hinter seinem Schreibtisch hervor und begrüßte Richard herzlich.

„Sie wissen vermutlich nicht mehr, dass wir uns vor einigen Jahren bereits begegnet sind“, sagte er. „Damals waren Sie noch ein Junge und haben mir eine Frage gestellt, die die Rolle von Hannibals Elefanten im Krieg mit Rom betraf. Später erfuhr ich, dass Sie Kavallerieoffizier geworden sind. Sie haben also die Elefanten gegen Pferde eingetauscht.“

„Elefanten waren in Spanien rar, Sir“, erwiderte Richard, der sich fragte, wohin dieses Gerede führen sollte. Er bezweifelte, dass er nach Whitehall gerufen worden war, um über den Krieg zwischen Karthago und Rom zu sprechen.

Nachdem Richard ein Glas Portwein akzeptiert und in einem Sessel Platz genommen hatte, kam Sidmouth schnell zur Sache.

„Ich habe nach Ihnen geschickt, Chancellor, um Sie zu fragen, ob Sie gewillt sind, Ihrem Land hier in der Heimat einen Dienst von der gleichen Art zu erweisen, wie Sie es in Portugal und Spanien für Wellington taten. Ich weiß, dass Sie sich als Kavallerieoffizier auf dem Schlachtfeld tapfer geschlagen haben. Ich weiß aber auch, dass Sie bei Wellingtons Nachrichtendienst waren, und wenn es die Gelegenheit erforderte, als Verbindungsoffizier zu Gruppen von spanischen Partisanen eingesetzt wurden. Dabei gerieten Sie in französische Gefangenschaft und konnten den Feind dank Ihrer spanischen Sprachkenntnisse und Ihres Mutes über Ihre wahre Nationalität täuschen. Allerdings wurden Sie bei den wiederholten Verhören ernsthaft verletzt, und Wellington schickte Sie nach Ihrer geglückten Flucht zur Erholung nach Hause.“

Richards Erstaunen war unverkennbar. „Ich frage Sie nicht, wie Sie an diese Informationen gelangt sind, Mylord“, sagte er schließlich. „Allerdings wüsste ich gern, von welcher Bedeutung sie für meine Arbeit hier in London sind.“

„Man hat mich davon unterrichtet, dass ich, falls ich je einen findigen, mutigen Mann für eine schwierige Aufgabe benötige, einen solchen bei der Leibgarde fände“, erwiderte Sidmouth, „und wir haben seit einiger Zeit das Problem, dass Waren in großen Mengen ins Land geschmuggelt werden. Der Verlust an Zöllen und Verbrauchssteuern ist enorm. Außerdem haben wir jeden Grund zu der Annahme, dass französische Agenten von Schiffen, die heimlich vor der Küste von Sussex ankern, an Land gehen.“

Er wiegte bedenklich den Kopf hin und her und erklärte dann: „Leider finden es einige unserer guten Bürger sehr einträglich, sich an diesem illegalen Handel zu beteiligen, so dass es fast unmöglich ist, die Namen der Schmuggler herauszufinden oder Informationen über die Art und Weise, wie sie die Waren vertreiben, zu erhalten. Wir brauchen daher unbedingt einen Mann vor Ort, der es gewöhnt ist, verdeckt zu arbeiten und nicht nur der Organisation, sondern auch den Zollbeamten unbekannt ist. Von den Letzteren sind einige, wie ich fürchte, bestochen und helfen den Verbrechern. Jemand muss versuchen, herauszufinden, wo die Waren ins Land kommen und wer hinter dem Handel steckt. Sie, Major Chancellor, könnten unter einem unverfänglichen Vorwand dort hinfahren und Augen und Ohren aufhalten.“

Sidmouth stellte sein Weinglas beiseite. „Und ich habe bereits eine ausgezeichnete Tarnung für Sie“, fuhr er fort. „Gestern Abend hörte ich zufällig, wie Lady Leominster einen Bekannten fragte, ob er ihr einen vertrauenswürdigen Hauslehrer für Sir John Comptons dreizehnjährigen Enkelsohn Jack empfehlen könne. Sir Johns Anwesen liegt in Sussex zwischen Lewes und der Küste. Da mir bekannt ist, dass Sie abgesehen von Ihren sonstigen Fähigkeiten auch ein hervorragender Wissenschaftler sind, könnte ich mit Lady Leominster sprechen und Sie für den Posten vorschlagen.“ Er blickte Richard durchdringend an und fragte: „Wie also lautet Ihre Antwort, Major Chancellor?“

„Ich bin bereit, Mylord. Obwohl ich natürlich keinen Erfolg versprechen kann, werde ich mich nach Kräften bemühen. Darf ich vorschlagen, als Tarnnamen meinen Rufnamen ‚Ritchie’ zu verwenden? Dann hätte ich keine Schwierigkeiten, darauf zu reagieren. Wenn Sie zustimmen, werde ich Edward Ritchie sein, ein unauffälliger, harmloser Schreiberling. Edward ist mein zweiter Taufname.“

„Hervorragend“, bestätigte Lord Sidmouth zufrieden. „Wir werden sofort eine Wohnadresse für Sie einrichten. Ich bezweifle zwar, dass Sie wirklich in Gefahr sind, rate Ihnen aber trotzdem, vorsichtig zu sein.“

Richard lächelte. „Das bin ich immer. Was man Ihnen auch erzählt haben mag – Waghalsigkeit gehört nicht zu meinen Eigenschaften.“

Lord Sidmouth stand auf und reichte Richard, der sich ebenfalls erhoben hatte, die Hand. „Sie erhalten Nachricht, sobald ich erfahre, dass Sir John Sie sprechen möchte. Ich darf doch annehmen, dass Sie in Griechisch und Latein noch firm sind?“

„Genug, um jeden zu überzeugen, dass ich das bin, was ich zu sein vorgebe.“

„Dann viel Glück!“

Richard verließ das Gebäude durch den Dienstboteneingang, um im Ministerium nicht gesehen zu werden. Da er als bescheidener, schüchterner Mann aufzutreten gedachte, nahm er sich vor, sich eine einfache Brille zu kaufen. Jeder würde erwarten, dass ein Hauslehrer kurzsichtig war.

„Ach, Tante Em, es wäre mir lieber gewesen, heute Nachmittag nicht die halbe Grafschaft bewirten zu müssen. Jacks neuer Hauslehrer, Mr. Ritchie, soll in den nächsten Stunden eintreffen, und Rice hat mich gebeten, die Kontobücher zu prüfen. Williams Gesellschaft hätte zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt stattfinden können – und dann auch noch mit Leuten, mit denen ich nichts gemein habe. Ganz zu schweigen von den Ausgaben, die wir uns nicht leisten können.“

„Eine Gesellschaft kann dir nur guttun, Pandora. Es ist an der Zeit, dass du wieder einmal ein hübsches Kleid anziehst und dich damenhaft frisieren lässt.“

„Mir steht nicht der Sinn nach solchem Firlefanz“, rief ihre Nichte. „Und daher werde ich nicht dabei sein. Du musst die Gastgeberin spielen und dir eine Ausrede für meine Abwesenheit einfallen lassen.“

„Das kommt überhaupt nicht infrage“, begann die Tante, als Galpin hereinkam. „Ein Mr. Ritchie ist da und möchte Sie sprechen“, murmelte er. „Er sagt, er sei Master Jacks neuer Hauslehrer. Ich habe ihn in die Bibliothek geführt.“

„In die Bibliothek!“, wiederholten die beiden Frauen im Chor. Das war der Raum, den Pandoras Vater Simon fast aller wertvollen Gegenstände beraubt hatte, um sich Geld für sein liederliches Leben zu beschaffen.

„Habe ich etwas falsch gemacht, Miss Pandora?“, fragte der alte Butler.

„Nein, ein Raum ist so gut wie der andere“, erwiderte Pandora. „Du kannst sicher sein, dass ich heute Nachmittag nicht da bin“, rief sie ihrer Tante noch zu, während sie ging, um mit dem Bewerber zu sprechen, den Lady Leominster für sie gefunden hatte.

Der Hauslehrer bereitete ihr ebenfalls Sorgen. Sie hoffte, dass der Mann erfahren genug war, um Jack zu zähmen. Zurzeit war der Junge ins Schulzimmer verbannt, weil er trotz absoluten Verbots im völlig zugewachsenen See des einst schönen Parks gebadet hatte.

Interessiert betrachtete Richard seine neue Umgebung. Hinter ihm lag eine unbequeme Reise auf dem Dach einer billigen Kutsche, da sich ein angeblich mittelloser junger Hauslehrer einen Innenplatz natürlich nicht leisten konnte.

Als man ihn dann in einer uralten Chaise abgeholt und hierher gebracht hatte, war ihm die Ungepflegtheit des gesamten Anwesens aufgefallen. Auch im Haus deutete alles auf Armut hin. Der Raum, in den man ihn geführt hatte – die sogenannte Bibliothek – zeigte genau wie die Halle Spuren von Vernachlässigung. Es gab zwar noch ein paar Bücher, aber die meisten Regale waren leer. Einzig der Schreibtisch erweckte den Eindruck, benutzt zu werden.

Der alte Butler, der Richard die Tür zur Eingangshalle geöffnet hatte, hatte gemurmelt: „Sir John? Wollen Sie wirklich Sir John sprechen?“ Er überlegte offenbar, ob er den Neuankömmling in den Salon oder nach oben führen sollte, und entschied sich dann für die Bibliothek. „Miss Pandora arbeitet dort“, erklärte er.

Wer mochte Miss Pandora sein? Vor der Abfahrt nach Sussex hatte Lord Sidmouth ihn über Sir John und dessen Enkelsohn William, der angeblich ein Taugenichts war, informiert.

Für Richard war William Compton kein gänzlich Unbekannter. Russell hatte seinen Namen einige Male in einem Ton erwähnt, der auf wenig Sympathie schließen ließ. „Ein Spieler, und noch dazu kein erfolgreicher“, hatte er erklärt. Ob Comptons glücklose Spielleidenschaft für die hier offenkundig herrschende Armut verantwortlich war? Allerdings wirkten Ländereien und Haus, als ob sie bereits seit Jahren vernachlässigt würden.

Richard machte sich bereit, seine Rolle als bescheidener Hauslehrer zu spielen, als am anderen Ende des Raumes die schwere Eichentür geöffnet wurde und eine junge Frau hereinkam. Sie war größer als die meisten ihrer Geschlechtsgenossinnen, also nur wenig kleiner als er. Ihr altmodisches grünes Kleid war so fadenscheinig, als sei es schon von mehreren Generationen getragen worden.

Ihre Haare leuchteten wie rotes Gold, ihre Augen waren grün und ihre Lippen wohlgeformt. Doch der strenge Gesichtsausdruck schwächte die Schönheit ab, die sie möglicherweise besaß. An ihren Händen zeigten sich Schwielen, als ob sie es gewöhnt sei, harte Arbeit zu leisten. War das Miss Pandora und wenn ja, war sie die Haushälterin? Um ein Mitglied der Familie konnte es sich kaum handeln.

„Madam“, sagte er und verbeugte sich.

„Mr. Ritchie, wie ich annehme“, erwiderte Pandora.

Ihre Überraschung war nicht weniger groß als seine. Was immer sie erwartet hatte – dieser junge Mann mit dem schmalen, intelligenten Gesicht war es nicht gewesen. Sie hätte eher gedacht, es würde sich bei dem neuen Hauslehrer um einen schüchternen Menschen in mittleren Jahren handeln. Nun, ein bisschen schüchtern sah er tatsächlich aus, besonders als er sich bückte und in einer Reisetasche kramte, die neben einem zerbeulten kleinen Koffer zu seinen Füßen stand.

Pandora rief sich zur Ordnung. Ich muss etwas Vernünftiges äußern, dachte sie. Er kann nichts dafür, dass er mich aus der Fassung gebracht hat.

„Zuerst sollte ich mich wohl vorstellen“, begann sie. „Ich bin Miss Pandora Compton, Sir Johns Enkelin. Sobald ich Ihre Empfehlungsschreiben gelesen habe, die erstklassig sind, wie man mir versicherte, werde ich Sie ins Schulzimmer bringen, damit Sie Ihren neuen Schützling, meinen Bruder Jack, kennenlernen.“

Richard wunderte sich, weshalb er nicht sofort seinem Arbeitgeber vorgestellt wurde. Er befingerte seine neue nickelgefasste Brille. „Ich hatte das so verstanden, dass Sir John Compton derjenige ist, der mich einstellt. Entschuldigen Sie, wenn ich mich irre.“

„In der Tat“, bestätigte Pandora, „aber Sir John ist gebrechlich und verlässt sein Zimmer im obersten Stockwerk nicht. Ich werde Sie zu ihm führen, nachdem Sie Jack getroffen haben. Übrigens werden Sie alle Instruktionen von mir erhalten. Sie müssen mich konsultieren, wenn es um Jacks Unterricht geht. In gewisser Weise handle ich in allen Angelegenheiten, die die Verwaltung des Gutes und die Führung des Haushaltes betreffen, als Vertreter meines Großvaters.“

Und was ist William Comptons Stellung in diesem seltsamen Haushalt, schließlich ist er der Erbe?, fragte Richard sich. Und woher zum Teufel hat er genügend Geld für das Leben, das er in London führt, nachdem es offenbar mit seinem Erbe nicht weit her ist?

„Ich habe verstanden, Miss Compton“, erwiderte er ruhig. „Hier sind die Papiere, die Sie sehen wollten.“

Pandora nahm ihm die von Sidmouth und Richard sorgfältig verfassten Schreiben ab. Dabei berührten sich ihre Hände, was nicht nur auf sie selber, sondern auch auf den jungen Lehrer eine erstaunliche Wirkung ausübte. Es kostete Pandora einige Mühe, sich wieder zu fassen. Richard, der im Heucheln geübter war, gelang es als Erstem.

Was war an dieser rechthaberischen jungen Dame, dass sie eine solche Gefühlsverwirrung bei ihm bewirkte? Sie war anders als die Frauen, die ihm normalerweise gefielen.

Pandora, die noch nie so stark auf die Berührung eines Mannes reagiert hatte, setzte sich schnell an den Schreibtisch, um ihn nicht sehen zu lassen, wie betroffen sie war.

„Ich werde Sie nicht lange aufhalten. Bitte nehmen Sie Platz, Mr. Ritchie.“

Nach ein paar Augenblicken schaute Pandora hoch. „Sehr zufriedenstellend“, bemerkte sie. „Es überrascht mich allerdings ein wenig, dass Sie keine Stellung gefunden haben, die Ihren zweifellos vorhandenen Fähigkeiten besser entspricht.“

Richard senkte den Kopf. „Gewisse Familienverhältnisse verhinderten das. Da sie sich zum Glück geändert haben, werde ich mein Leben neu ordnen können. Inzwischen muss ich mir eine, wenn auch bescheidene, Beschäftigung suchen.“

„Ich hoffe, dass Sie in Zukunft etwas mehr Glück haben, Mr. Ritchie“, sagte Pandora und erhob sich.

Er verbeugte sich und folgte ihr nach oben ins Schulzimmer, wo Jack, der mit besorgter Miene auf einem hohen Stuhl vor seinem Pult saß, auf sie wartete.

„Das ist dein neuer Hauslehrer, Mr. Ritchie“, stellte Pandora vor. „Er ist ein gebildeter Gentleman, und ich bin sicher, dass du dich sehr bemühen wirst, ihn zufriedenzustellen.“

Jack rutschte von seinem Stuhl herunter, verbeugte sich und murmelte ein paar Worte, die man als Zustimmung deuten konnte. Er war groß für sein Alter, was zusammen mit seinen grünen Augen und den goldroten Haaren bewirkte, dass er seiner Schwester sehr ähnlich sah.

„Ich vertraue darauf, dass wir gut miteinander auskommen werden, junger Mann“, sagte Richard.

Er schaute sich im Schulzimmer um, das nicht ganz so schäbig war wie der Rest des Hauses. An den getünchten Wänden hingen Zeichnungen, die zwar unausgearbeitet waren, indes von einer gewissen Kraft zeugten. Bei den meisten Motiven handelte es sich um Soldaten quer durch alle Zeiten, hauptsächlich aber stammten sie aus dem alten Rom.

„Von dir?“, erkundigte er sich bei Jack, der lediglich nickte.

„Üblicherweise gibt man auf eine normale Frage eine richtige Antwort.“ Richard schlug einen etwas strengen Ton an. „Ein Kopfnicken ist nicht die korrekte Art.“ Er hielt es für das Beste, gleich so zu beginnen, wie er fortzufahren gedachte.

Pandora lächelte zustimmend, weil er so frühzeitig Autorität an den Tag legte.

Jack errötete und erwiderte, diesmal höflich: „Ja, die Skizzen habe ich gezeichnet. Ich bewundere Soldaten, vor allem die römischen, weil sie Eroberer waren. So wie wir“, setzte er hinzu.

„Exzellent“, lobte Richard. „Wenn du bei der Arbeit genauso viel Fleiß und Talent aufwendest, bin ich zufrieden.“

„So etwas habe ich von dem alten Sutton oft gehört, als er noch mein Hauslehrer war“, entgegnete Jack.

„Für dich Mr. Sutton“, wies Pandora ihn in scharfem Ton zurecht. „Ältere Leute verdienen immer Respekt.“

Richard beobachtete, dass sich der Ausdruck in Jacks Gesicht veränderte. „Oh nein, aber nicht Mr. Sutton. Mr. Ritchie sollte wissen, was er getan hat. Sei es auch nur, damit er selbst etwas Derartiges vermeidet“, fügte er hinzu.

„Jack!“ Pandoras scharfe Stimme amüsierte Richard, der daraufhin sofort beschloss, herauszufinden, was der „alte Sutton“ getan hatte. Im Augenblick hielt er es für das Beste, seine neue Arbeitgeberin zu unterstützen. „Die erste Regel der Etikette besteht darin, niemals persönliche Bemerkungen zu machen, Master Jack. Diesen Satz wirst du für mich in deiner besten Handschrift zehn Mal aufschreiben, während deine Schwester mich zu Sir John bringt.“

„Sie treffen meinen Großvater? Ich dachte, er will zurzeit niemand sehen.“

„Jack, du weißt, dass ich ihm jedes neue Mitglied des Haushaltes vorstellen muss. Er möchte wissen, was unter seinem eigenen Dach vor sich geht“, erklärte Pandora.

Jack öffnete schon den Mund, um etwas Unverzeihliches über seinen Großvater und dessen Gewohnheiten zu äußern, schloss ihn indes sofort wieder, als ihn ein mahnender Blick seines neuen Hauslehrers traf. Er hatte bereits den Eindruck gewonnen, dass es sich nicht auszahlte, sich mit ihm anzulegen.

Gescheit, aber verwöhnt, außerdem scheint der letzte Hauslehrer keinen guten Einfluss auf Jack ausgeübt zu haben, war Richards Urteil, während er Miss Compton zu Sir Johns Räumen folgte. Dem Jungen musste noch einiges beigebracht werden. Doch das war für einen Mann, der es bestens verstanden hatte, seine Untergebenen zu führen, eine unwiderstehliche Herausforderung.

Vor Sir Johns Suite angelangt, riss ein Diener die Doppeltüren auf und meldete: „Miss Compton und Mr. Ritchie, Sir.“

Richard betrat das einzige Zimmer im Haus, das sich in tadellosem Zustand befand. Sir John saß mit einer Decke über den Knien in einem Sessel vor dem Fenster. Auf einem niedrigen Tisch neben ihm stand ein Glas Portwein.

Sir John bedeutete Pandora mit einer Handbewegung, sich zu setzen, Richard blieb stehen. „Du hast mir den neuen Hauslehrer gebracht, nicht wahr?“, wandte er sich abrupt an seine Enkelin.

„Ja, Großvater, Jack hat er bereits kennengelernt.“

Der alte Mann richtete seinen verschwommenen Blick verdrießlich auf Richard. „Wie heißen Sie, junger Mann?“

„Edward Ritchie, Sir John.“

„Ein Oxford-Absolvent! Pandora hat es mir erzählt, nachdem Sie ihr von dieser albernen Frau empfohlen wurden. Ich ziehe Cambridge vor, aber Sie werden schon genügen.“

Da sich darauf wenig antworten ließ, hielt Richard den Mund.

„Haben Sie Ihre Zunge verschluckt?“, fuhr der alte Mann ihn an.

Richard senkte den Kopf und erwiderte so bescheiden wie möglich: „Zum Glück nicht, Sir John. Andernfalls wäre es mir nicht möglich, Ihren Enkel zu unterrichten.“

Der alte Mann schaute aus dem Fenster und murmelte: „Es regnet, Pandora. Ein schrecklicher Sommer!“ Er drehte den Kopf und starrte Richard an. „Was zum Teufel hat dieser Fremde in meinem Zimmer zu suchen, Miss Compton? Gibt es eine Erklärung für seine Anwesenheit?“

Pandora seufzte. Sir John hatte wieder einen seiner Anfälle von geistiger Verwirrung, die sich in letzter Zeit häuften. „Es ist Mr. Ritchie, Jacks neuer Hauslehrer, Großvater.“

„Schwindle mich nicht an, Mädchen. Das ist ein Soldat. Einen Soldaten erkenne ich immer, ob mit oder ohne Uniform.“

Richard hoffte, dass der alte Herr ihn nicht bereits durchschaut hatte, bevor er seine Mission auch nur beginnen konnte. Daher tat er das Einzige, was ihm einfiel, um seinen Arbeitgeber eines Besseren zu belehren, zog seine Brille aus der Tasche, setzte sie auf und blinzelte.

Pandora seufzte erneut. Es war schlimm mit dem alten Mann. Wie um alles in der Welt war er auf den Gedanken verfallen, dass ausgerechnet dieser brave Lehrer ein Soldat sein sollte?

„Großvater, Mr. Ritchie ist Jacks neuer Hauslehrer.“

Sir Johns Blick flog zwischen Richard und Pandora hin und her. „Wie du meinst, meine Liebe.“

Als sie den Raum verließen, hörte Richard ihn als Letztes murmeln: „Trotzdem weiß ich, dass er ein Soldat ist.“

Da Pandoras Gehör zum Glück nicht so gut war wie das seine, bekam sie davon nichts mit. Richard fragte sich, wie der alte Mann ihn hatte durchschauen können.

Es war ein Glück, dass alle, besonders Pandora Compton, Sir John als senil einschätzten, andernfalls würde seine Anstellung als Jacks Hauslehrer nur kurz dauern.

2. KAPITEL
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Verstehen Sie etwas von Soldaten, Sir?“, fragte Jack. „Mr. Sutton wusste nur über römische Legionäre Bescheid, jedoch nichts über die aus der heutigen Zeit.“

Sie nahmen gemeinsam den Lunch im Schulzimmer ein. Richard blickte von seinem Teller mit kaltem Fleisch hoch.

„Ein bisschen“, erwiderte er vorsichtig. „Warum?“

„Ich möchte zur Armee gehen, wenn ich erwachsen bin. Jüngere Söhne tun das häufig, und ich bin ein jüngerer Sohn. William interessiert sich nicht für das Militär.“

„William?“ Richard hielt es für ratsam, sich unwissend zu stellen.

„Mein Halbbruder, der Erbe. Allerdings ist er nicht oft hier, so dass ich nicht mit ihm darüber reden kann. Im Augenblick wohnt er bei den Waters, kommt aber heute Nachmittag her, weil er hier im Haus eine Gesellschaft veranstaltet, zu der er die halbe Grafschaft eingeladen hat – mich natürlich nicht. Doch das stört mich nicht. Beginnen wir gleich mit dem Unterricht, Sir?“

„Nein“, erwiderte Richard, der nicht die Absicht hatte, den Jungen zu allen Stunden des Tages mit Lernstoff zu quälen. „Du kannst mich auf einer Tour durch das Haus und den Garten begleiten, damit ich mich nicht verirre und in zwanzig Jahren als Haufen bleicher Knochen in irgendeiner Ecke wieder zum Vorschein komme.“

Jack erstickte fast vor Lachen bei dieser Vorstellung. „Großartig, Sir, ich führe Sie gern herum. Pandora dürfte ohnehin keine Zeit dafür finden. Sie nimmt auch nicht an der heutigen Gesellschaft teil, da sie mit dem alten Rice die Buchführung durchgehen muss.“

Richard schob seinen Teller zurück. „Weißt du eigentlich etwas über Fossilien? In diesem Landstrich dürfte es viele davon geben.“

Eigentlich interessierte Richard sich nur mäßig für Versteinerungen, hielt es aber für eine plausible Ausrede für seine beabsichtigten Wanderungen durch die Gegend, wenn er vorgab, dieses Steckenpferd zu haben. Und Wanderungen waren notwendig, um die Nachforschungen anzustellen, die Lord Sidmouth ihm aufgetragen hatte.

„Ein bisschen. Der alte Sutton hat mir einmal etwas darüber erzählt. Warum?“

„Fossilien sind eine Art Passion von mir. Wir könnten nach ihnen suchen. Reste davon finden sich oft in den Mauersteinen von alten Kirchen.“

„Alte Kirchen!“ Jacks Interesse schwand sichtlich. „Wann wollen wir losgehen?“

Richard zog eine zerbeulte Uhr aus der Tasche, ein Überbleibsel aus seiner eigenen Kinderzeit. Er hatte sie gegen seine goldene Taschenuhr ausgetauscht, die zu wertvoll für einen armen Hauslehrer gewesen wäre.

„Sobald ich ausgepackt habe.“

Am späten Nachmittag spazierten sie einen Weg entlang, der zum Meer führte.

„Eigentlich ist es mir nicht erlaubt, den Park zu verlassen“, gestand Jack. „Doch da Sie bei mir sind, nehme ich an, dass es in Ordnung geht.“

„Aber ja“, beruhigte Richard ihn, der damit beschäftigt war, seine neue Umgebung im Kopf zu kartografieren. Er wollte vermeiden, sich auf einem seiner Streifzüge zu verirren.

Nachdem sie sich durch dichtes Strauchwerk gekämpft hatten, erreichten sie eine Lichtung und fanden dort Pandora, die angeblich mit dem alten Rice die Buchführung prüfte. Gegen einen Baum gelehnt saß sie, die Röcke um sich ausgebreitet, auf dem Boden und las in einem Buch. Beim Klang ihrer Stimmen blickte sie hoch und entdeckte, dass Jack seinen neuen Hauslehrer bereits mit seinem Lieblingsweg vertraut machte, den zu benutzen ihm eigentlich verboten war.

„Ich dachte, du wärest bei Rice, Pandora“, sagte der Junge.

„Das war ich bis vorhin“, log sie und klappte seufzend das Buch zu. „Guten Tag, Mr. Ritchie.“

„Guten Tag, Miss Compton“, erwiderte er. „Es tut mir leid, dass wir Ihre siesta gestört haben.“

„Das ist ein spanischer Ausdruck“, stellte sie fest. „Ich dachte, es würde Mittagsschlaf heißen.“

Richard bedauerte bereits, das Wort benutzt zu haben, da es einen Hinweis auf seine Soldatenzeit enthielt. „Obwohl das stimmt, könnte man die Bedeutung vielleicht folgendermaßen erweitern: in einer Pause zwischen übernommenen Pflichten“, erwiderte er vorsichtig.

„Mag sein“, gab sie zu, um sofort hinzuzufügen: „Ich denke, dass ich genügend geruht habe. Wenn Sie mir Ihre Hand reichen, könnte ich leichter aufstehen. Würde es Ihren Stundenplan mit Jack sehr durcheinanderbringen, wenn ich Sie bäte, dass wir uns gemeinsam zum Haus zurückbegeben und dabei Williams Gesellschaft aus dem Weg gehen?“

„Selbstverständlich, Madam.“ Er beugte sich zu ihr herunter und zog sie mit einer geschmeidigen Bewegung in die Höhe, ohne dass ihre Röcke einen unschicklichen Blick auf ihre Beine freigegeben hätten, wie sie dankbar feststellte.

„Was meine Zeit mit Jack betrifft, so haben wir einen freien Nachmittag eingelegt, bevor wir mit der ernsthaften Arbeit beginnen. Es ist notwendig, dass wir einander so schnell wie möglich kennenlernen“, fuhr er fort. „Das ist ein wichtiger Teil einer erfolgreichen Lehrtätigkeit, wie ich herausgefunden habe.“

Ob er wohl jemals vergisst, dass er Lehrer ist, und lockerer wird?, fragte Pandora sich. Mr. Sutton war allerdings zu locker geworden und hatte die Dienstmädchen verführt. Dieser Mann war offenbar aus anderem Holz geschnitzt.

Richard war sich nicht sicher, ob er ihr den Arm reichen sollte, doch Pandora löste das Problem für ihn, indem sie sich an Jacks andere Seite begab.

„Ist dies Ihr erster Besuch in Sussex, Mr. Ritchie?“, erkundigte sie sich.

„Ja. Schon von der Kutsche aus konnte ich sehen, dass diese Gegend hier schöner ist, als ich erwartet hatte – fast so wie Kent, der Garten Englands.“

„Diesen Titel beanspruchen viele Grafschaften für sich, und natürlich denken wir, dass er uns gebührt.“

Richard gab zu, den Norden Englands besser zu kennen als den Süden. „Ich habe dort ein paar Jahre gelebt und gearbeitet“, erklärte er.

„Das stand in Ihren Papieren“, bestätigte Pandora.

Sobald sie wieder im Park waren, bewies fröhlicher Lärm ihnen, dass Williams Gesellschaft in vollem Gange war. Pandoras Hoffnung, ihm und seinen Gästen aus dem Weg gehen zu können, wurde umgehend zerstört. Sie folgten einem Pfad, der zu beiden Seiten von Buschwerk fast zugewachsen war und neben dem Rasen entlangführte, auf dem die Tische mit Speisen und Getränken aufgestellt waren.

Gelächter und schnelle Schritte kündigten die Ankunft einer hübschen jungen Dame an. Sie warf ihnen einen erschrockenen Blick zu, schlug errötend beide Hände vor den Mund und rief: „Oje!“, bevor sie schnell zur Linken im Gebüsch verschwand.

Autor

Paula Marshall
Als Bibliothekarin hatte Paula Marshall ihr Leben lang mit Büchern zu tun. Doch sie kam erst relativ spät dazu, ihren ersten eigenen Roman zu verfassen, bei dem ihre ausgezeichneten Geschichtskenntnisse ihr sehr hilfreich waren. Gemeinsam mit ihrem Mann hat sie fast die ganze Welt bereist. Ihr großes Hobby ist das...
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