Historical Exklusiv Band 17

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GEFALLENER ENGEL von LANE, ELIZABETH
Nordstaaten, 1868: Für die dankbaren Frauen, denen die junge Hebamme Sarah in ihrer schwersten Stunde beisteht, ist sie ein Engel. Nur Donovan Cole weiß es besser: Im Bürgerkrieg war Sarah eine Spionin! Donovan müsste sie hassen. Stattdessen brennt er vor Begehren nach dem schönen Engel mit den zwei Gesichtern …

RETTE MEIN PARADIES von LUELLEN, VALENTINA
Südstaaten, 1863: Ein Feuer der Yankees verwüstet Shannas Baumwollplantage! Allein die zärtliche Liebe des Südstaaten-Offiziers Rafe Amberville vermag ihre bitteren Tränen jetzt zu trocknen. Doch dessen grausamer Stiefbruder schmiedet einen Plan. Er will Rafe nicht nur das Familienanwesen entreißen, sondern auch Shanna …


  • Erscheinungstag 08.09.2008
  • Bandnummer 17
  • ISBN / Artikelnummer 9783863495923
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

VALENTINA LUELLEN

Rette mein Paradies

Als Shannas Plantage von plündernden Yankee-Truppen in Brand gesetzt wird, kann sie sich in letzter Sekunde auf das Anwesen der Ambervilles retten. Doch zwischen Tränen und Verzweiflung kommt das Glück zu ihr: Sie verliebt sich in den tapferen Offizier Rafe Amberville – was dessen intriganten Stiefbruder einen grausamen Plan schmieden lässt …

ELIZABETH LANE

Gefallener Engel

Donovan Cole ist in der Stadt, und mit ihm gerät Sarahs dunkelstes Geheimnis in Gefahr! Denn nur dieser Mann weiß, was sie im Bürgerkrieg, der bis vor kurzem das Land entzweite, getan hat: Sie war in ein gefährliches Spionagespiel verwickelt. Wird Donovan sie jetzt verraten? Oder Stillschweigen bewahren – und sie wie damals heiß küssen?

1. KAPITEL

In weniger als einer Stunde wird es ein Gewitter geben, dachte Shanna, als sie aus dem Fenster blickte. In der Ferne zuckte bereits ein greller Blitz über den schwarzen Himmel. Sie hasste diese Gewitter im Frühsommer … wenn das Grollen des Donners durchs Haus hallte, die Kristallprismen der Lüster klirrten und die Fensterläden klapperten. Sie zuckte jedes Mal zusammen, wenn ein Blitzstrahl bis in den letzten Winkel der Zimmer vordrang, als wolle er nach ihr greifen.

Heute war es den ganzen Tag über schon schwül gewesen. Von den Reisfeldern und den dahinter liegenden Sümpfen, wohin sich Shanna noch nicht vorgewagt hatte, war die feuchtwarme Luft herübergezogen und hatte ihre ganze Energie aufgezehrt.

Allerdings besaß sie davon zurzeit sehr wenig. Kurz nachdem sie vom Tod des geliebten Vaters erfahren hatte, war sie völlig zusammengebrochen. Erschreckend langsam war sie wieder zu Kräften gekommen. Erst jetzt, nach mehreren Woche Ruhe, wich die Schwäche aus den Gliedmaßen. Sie hatte keine Ahnung, was aus ihr geworden wäre, wenn Alexander Amberville, ein enger Freund der Familie, sie nicht in die Ruhe seines friedlichen Heims gebracht hätte.

Shanna hatte erfahren, was es hieß, allein und schutzlos feindlichen Soldaten im Haus preisgegeben zu sein, als die Nordstaatler wie die Vandalen eingefallen waren und alles zerstörten und niedermachten. Keine Frau war vor ihnen sicher gewesen, die das Unglück gehabt hatte, in ihre Nähe zu geraten. Niemals wollte Shanna wieder einen derartigen Albtraum erleben.

Hier in South Carolina schienen die Schrecken des Krieges so unwirklich zu sein. Das Land war friedlich, da die Truppen der Konföderierten alles unter Kontrolle hatten. Ja, hier würde sie im Lauf der Zeit gesunden und wieder zu Kräften kommen. Da war sie ganz sicher. Aber was würde sein, wenn der Krieg vorüber war? Shanna wollte darüber nicht nachdenken. Sie hatte kein Heim mehr, in welches sie zurückkehren konnte, keine Familie. Außer Tante Lea, der treu ergebenen Mulattin, welche seit ihrer Kindheit zu ihrem Leben gehörte, hatte sie niemanden mehr … und besaß nichts mehr außer einem tiefen, brennenden Hass auf die Soldaten in den blauen Uniformen, welche ihr alles und alle, die sie je geliebt hatte, genommen hatten.

Shanna zog die Vorhänge vor die Fenster, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass diese fest geschlossen waren. Dann drehte sie sich um und betrachtete sich in dem hohen Pilasterspiegel neben der Frisierkommode. Bei dem Anblick verzog sie schmerzlich das Gesicht. Mit fast durchsichtiger Hand strich sie sich prüfend durch das lange Haar, welches über das Morgenkleid bis zur Taille herabfiel. Früher war ihr die schwarze Haarpracht, glänzend wie Rabenschwingen, wie eine seidige Kaskade über den Rücken gefallen, doch jetzt war alles glanzlos und strähnig. Auch die Haut war während der langen Krankheit matt und bleich geworden. Sie sah schrecklich aus! Wie ein Gespenst!

Die großen grauen Augen, welche Shanna von ihrer Mutter geerbt hatte, verdunkelten sich vor Verzweiflung, als sie ihr Spiegelbild betrachtete. Wie sehr hatte sie sich verändert!

Shanna verließ selten ihr Zimmer. Doch als es wärmer geworden war, hatte sie öfters auf dem Balkon gesessen. Dann brachte ihr Tante Lea auf einem Tablett etwas zu essen. Allerdings ließ sie meist alles fast unberührt stehen. Es gab jedoch auch Tage, an denen die Sonnenwärme ihr Gesicht aufleben ließ. Dann versprach sie sich, am nächsten Tag einen Ausritt zu wagen. Shanna war eine hervorragende Reiterin, und Alexander Amberville hatte ihr angeboten, sich von seinen prächtigen Pferden, meist Arabern, ein Tier auszuwählen.

Doch es gab auch immer wieder Tage, an denen sie die Augen geschlossen hielt und das Buch auf ihrem Schoß ungeöffnet blieb. Dann wanderten ihre Gedanken zurück zum Herrenhaus der Plantage in Baton Rouge. Der Ansturm der Erinnerung brachte eine Tränenflut und Wut auf diesen sinnlosen, blutigen Krieg, welcher Familien zerriss und Bruder gegen Bruder kämpfen ließ. Danach fühlte sie sich nur noch einsamer und verlassener.

Shanna war keineswegs arm. Tatsächlich hatte sie nach dem Tod ihres geliebten Vaters den gesamten Familienbesitz geerbt, welcher beträchtlich sein musste. Aber bis jetzt hatte sie es noch nicht über sich gebracht, nach Savannah zu fahren und herauszufinden, wie reich sie wirklich war. Spielte es denn noch eine Rolle? Was nützte ihr Geld? Sie konnte damit ihr Heim wieder aufbauen, falls die Yankees etwas stehen gelassen hatten, jedoch wozu? Um dort allein mit Tante Lea zu leben? Allein mit nichts als Erinnerungen? Nein, eine derartige Existenz fasste sie nicht ins Auge.

Shanna würde niemals heiraten; denn sie hatte keine Liebe mehr, welche sie hätte verschenken können. Der junge Mann, mit dem sie verlobt gewesen war, wurde in den Krieg geschickt. Er ging mit tapferem Lächeln und einer Umarmung. Er war ein Teil ihres bisherigen, unbeschwerten Lebens gewesen. Wie bei den guten Familien in New Orleans üblich, hatte man die Heirat arrangiert, als sie erst zwölf gewesen war. All die Jahre, in denen sie sich auf ein Leben als Ehefrau und Mutter vorbereitet hatte, waren binnen zweier Monate zunichte gemacht worden. Der erste Schmerz über diesen Verlust war kaum gelindert, als ihr Bruder im folgenden Jahr ebenfalls sein Leben für den Süden gab.

Der Tod hatte alle Mitglieder der Familie der de Lancel nacheinander ereilt! Diesen Furcht einflößenden Gedanken konnte Shanna nicht aus dem Kopf vertreiben. Er peinigte sie Tag für Tag, Nacht für Nacht. Jetzt hatte er auch ihren Vater geholt. Wann war sie an der Reihe?

„Es ist vorbei, Kind. Glaubst du etwa, Tante Lea lässt zu, dass dir irgendetwas Böses geschieht? Habe ich nicht für dich in Baton Rouge gesorgt? Und in New Orleans?“

Ein leises Lächeln huschte über Shannas blasse Wangen, als sie sich zu der Frau umdrehte, welche leise das Zimmer betreten hatte. Wie lange hatte Tante Lea schon da gestanden und sie beobachtet? Shanna wusste nur selten, was hinter diesen tiefschwarzen Augen vorging, welche ihr bis in die Seele schauen konnten.

„Ich bin nicht allein, nicht wahr, Lea? Nie werde ich allein sein, solange du bei mir bist“, sagte sie. Ihre Lippen bebten, wenn sie daran dachte, was sie seit ihrer Flucht aus New Orleans alles durchgemacht hatten. Tante Lea hatte sie dort vor den Yankee-Soldaten gerettet und später noch einmal auf der Plantage außerhalb von Baton Rouge, als der Trupp über den Rasen und durch die Gärten geritten war und sich Eingang ins Herrenhaus verschafft hatte. Wie hatten die Yankees gelacht, als sie feststellten, dass die Plantage nur von zwei Frauen und einer Handvoll Neger verteidigt wurde. Die Hälfte der Dienerschaft war beim Anblick der blauen Uniformen sofort weggelaufen. Tante Lea hatte für Shanna getötet. Wenn nicht, hätte sie diesen grauenvollen Tag wohl kaum überlebt.

Die Mulattin nahm Shanna liebevoll in die Arme. Man hatte sie ins Heim der de Lancels gebracht, als sie zwanzig war. Das zitternde Mädchen in ihren Armen war damals zehn Jahre alt gewesen. Zwei Jahre später war Shannas Mutter gestorben. Danach war Lea Shannas ständige Begleiterin, Ratgeberin und Vertraute geworden.

In den zehn Jahren ist Tante Lea überhaupt nicht gealtert, dachte Shanna, als sie jetzt ins Gesicht der Farbigen blickte. Keine Falte, kein Fleck verunstaltete die honigfarbene glatte Haut in dem lieben Gesicht. Lea trug eine leuchtend rote Bluse und einen ebensolchen eng anliegenden langen Rock, dazu Sandalen an den nackten Füßen. Das glänzende mahagonifarbene Haar steckte unter einem weißen Tuch, das vorn über der Stirn zu einem Knoten geschlungen war.

Vielleicht stimmte es sogar, obwohl die Diener darüber nur zu flüstern wagten: Lea sei die Tochter einer Voodoo-Priesterin und habe das Geheimnis ewiger Jugend von ihrer Mutter erlernt. Lea verstand so viel von Heilkunst und war so weise, dass Shanna dieses Gerücht immer für wahr gehalten hatte.

„Die Dunkelheit weicht dem hellen Tag.“ Lange, schlanke Finger strichen über Shannas Wange. Wie immer tröstete sie diese Berührung. „Es ist an der Zeit, dass du ein neues Leben beginnst. Du kannst die Vergangenheit nicht ungeschehen machen; aber jetzt musst du wieder anfangen zu leben – für dich!“

„Ja.“ Shanna akzeptierte die Weisheit dieser Worte, welche die Mulattin ihr während der vergangenen Woche jeden Tag gesagt hatte. „Ich war wirklich ein schlechter Gast. Was müssen die Ambervilles nur von mir denken?“

„Ab morgen wird alles anders, ma petite. Jetzt hole ich dir einen guten Kräutertrank, damit du schläfst. Morgen früh fangen wir ein neues Leben an, n’est-ce pas?“

„Ja, Tante Lea. Morgen“, versprach Shanna.

Shanna wurde von einem Donnerschlag aus tiefem Schlaf gerissen. Trotz der geschlossenen Vorhänge konnte sie den darauf folgenden grellen Blitz sehen, der den Raum sekundenlang in ein fahlgelbes Licht tauchte. Das Gewitter tobte mit voller Macht. Sie zitterte und setzte sich auf. Dann schlang sie die Arme um die Knie. Solange das Unwetter nicht vorbei war, würde sie nicht mehr einschlafen können. Sie versuchte sich zu entspannen; aber es war unmöglich. Irgendwo unten schlug ein Fensterladen gegen die Wand. Das alte Haus stöhnte und ächzte unter dem Ansturm des Windes.

Trotz des Unwetters draußen war es im Zimmer erstickend heiß. Shanna schlug die Decke zurück und überlegte, ob ein Glas warme Milch ihr wohl helfen würde. Vielleicht waren Hannah oder Abraham noch wach? Die beiden Schwarzen waren für den Haushalt zuständig. Aber als sie in die Pantöffelchen neben dem Bett schlüpfte, schüttelte sie den Kopf. Nein, wäre einer der beiden wach, hätte er längst den klappernden Fensterladen festgemacht.

Shanna griff nach dem Morgenmantel am Fußende des Betts. Da hörte sie noch ein Geräusch. Es war ganz in der Nähe und nicht durch das Gewitter verursacht. Jemand hatte etwas im Nebenzimmer umgestoßen. Tante Lea! Natürlich war die Gute in der Nähe geblieben, da sie Shannas Angst vor Gewittern kannte. Sie brauchte also nicht zur Küche hinunterzugehen. Wie gut!

Vorsichtig drehte Shanna die Lampe höher, die während der wenigen Stunden, in denen sie Schlaf fand, ständig brannte. Dann ging sie über den dicken Teppich und öffnete die Tür, welche in einen großen und gemütlich ausgestatteten Salon führte.

Als man ihr bei ihrem Eintreffen in Wildwood diese Zimmer gab, hatte in diesem Raum ein schwerer Schreibtisch aus Mahagoni gestanden, dessen Platte mit rotem Leder bezogen war, außerdem standen damals noch zwei Ledersessel und reich geschnitzte Bücherschränke an zwei Wänden. Alles war durchaus geschmackvoll, aber nicht für den Komfort eingerichtet, den eine Frau nun einmal brauchte. Keine hübschen Vorhänge an den Fenstern, keine Sessel mit bunten, hellen Bezügen, kein Teppich auf dem Parkettboden. Shannas Gedanke beim ersten Blick war: Dies ist ein typisch männlicher Raum!

Alexander Amberville hatte das Problem in einem einzigen Tag gelöst, indem er eine mit burgunderfarbenem Brokat bezogene Chaiselongue und zwei dazu passende Fauteuils hineinstellen ließ. Die ursprünglichen Möbel wurden auf den Speicher verbannt. Neue Vorhänge wurden an den Fenstern aufgehängt, und auf dem Boden lag nun ein dicker rosa-beiger Teppich.

Shanna hatte eigentlich erst heute – nachdem der Schmerz über die Verluste etwas abebbte und sie akzeptiert hatte, dass sie weiterleben musste – bemerkt, wie viel Entgegenkommen man ihr im Hause des Freundes ihres Vaters und dessen Sohn erwiesen hatte. Beide besuchten sie täglich und hatten unzählige Male versucht, sie zu überreden, doch nach unten zu kommen oder eine Kutschfahrt zu machen, damit die Sonne ein bisschen Farbe auf die blassen Wangen malen könne. Niemals hatten sie jedoch versucht, Shanna ihren Willen aufzuzwingen, wenn sie stur alles ablehnte.

Morgen wollte sie den beiden zeigen, wie dankbar sie ihnen war. Nicht nur, weil sie ihr ein Heim boten, sondern vor allem für die Fürsorge, welche sie ihr hatten angedeihen lassen. Sie hatte nicht nur sich selbst sträflich vernachlässigt, sondern auch die Menschen, die so freundlich zu ihr waren. Nein, das war wirklich ganz gegen die Erziehung, welche sie genossen hatte!

Die Lampe im Salon warf einen unheimlichen Schein über den Boden. Als Erstes sah Shanna den kleinen Tisch, wo die unfertige Stickerei ordentlich zusammengefaltet in einem Körbchen lag, welche sie vor einer Woche angefangen hatte. Sie ging vorsichtig weiter und suchte nach dem Gegenstand, der umgefallen war.

„Tante Lea? Bist du da? Ich habe ein Geräusch gehört und …“

Ihr stockte die Stimme. Von hinten links, wo die Chaiselongue stand, hörte sie das unmissverständliche, grässliche Knacken, das entstand, wenn der Hahn einer Pistole gespannt wurde. Panik erfasste sie. Yankees! Nein, das war unmöglich. Sie waren Hunderte von Meilen entfernt. Ein Deserteur …

„Umdrehen und die Lampe hochhalten, damit ich Ihr Gesicht sehen kann!“, befahl eine Stimme. Shanna schlug das Herz in der Kehle, als sie gehorchte und sich langsam umdrehte. Der schwache Lichtschein fiel auf ihr blasses Gesicht. Das schwarze offene Haar glich den Schwingen eines Raben. Ihre Lippen zitterten, die Augen waren vor Angst geweitet.

Der Mann, der sich vom Sofa erhob, war groß, mehr als einen Meter achtzig, und kraftvoll gebaut. Trotzdem bewegte er sich mit der Geschmeidigkeit einer Wildkatze. Blitzschnell stand er vor ihr. Die Augen waren verengt, sodass sie die Farbe zuerst nicht erkennen konnte. Er musterte sie von Kopf bis Fuß. Shanna spürte, wie ihre Wangen zu brennen begannen. Kein Mann hatte sie je so unverschämt angestarrt! Das hätte sie nie gestattet!

Er trug die Uniform eines Offiziers der konföderierten Armee. Allerdings war die Uniform sehr schmutzig und stellenweise zerrissen. Die Jacke stand offen, und das halb geöffnete Hemd darunter ließ die Brust frei, auf der blondes Haar zu sehen war, welches die gleiche Farbe hatte wie das auf seinem Kopf. Das sonnengebräunte Gesicht wirkte abweisend durch den kalten Ausdruck der blauen Augen. Die staubigen Stiefel lagen auf dem Teppich vor dem Sofa, daneben war achtlos ein ebenso schmutziger Hut geworfen worden.

„Wer sind Sie?“ Shannas Stimme klang weniger fest, als es ihr lieb war.

„Wer zum Teufel sind Sie?“, stieß der Fremde hervor. Er starrte sie an, bis sie unter dem durchdringenden Blick die Augen niederschlug. Erst dann steckte er die Pistole zurück ins Holster. „Und was zum Teufel machen Sie in meinen Zimmern? Mit einem Willkommenskomitee hatte ich nun wirklich nicht gerechnet.“

„Ich bin Shanna de Lancel, Mr. Ambervilles Gast.“

Shanna war erleichtert, dass er die Waffe weggesteckt hatte. Seit Baton Rouge hatte sie schreckliche Angst vor Fremden – vor jedem Schatten, vor jedem unbekannten Geräusch …

„Ich hatte keine Ahnung, dass er wieder auf Freiersfüßen wandelt. Ich gehe davon aus, dass Sie Alexander Amberville meinen und nicht Wayne … nein, mein Bruder versteckt seine Frauen lieber vor meinem Vater“, fuhr er bitter fort.

„Ihr Bruder … Vater …“, stammelte Shanna. Jemand hatte ihr erzählt, dass Alexander Amberville zwei Söhne habe; aber da sie den anderen Sohn nie gesehen hatte und die beiden Männer ihn niemals erwähnt hatten, wenn sie zu Besuch kamen, hatte sie ihn ganz vergessen.

Wäre Shanna vorher nicht so furchtbar erschrocken, hätte sie jetzt sicher gelacht, als der Mann einen Schritt zurücktrat und eine tiefe Verbeugung machte, wobei er in der einen Hand eine halb gegessene Hühnerkeule hielt. Dann schlug ihr der Whiskeygeruch ins Gesicht! Er hatte sich nicht nur über die Reste des Abendessens hergemacht, sondern auch noch über Alexanders Whiskey!

„Ja, der Krieg hat mich nicht meiner guten Manieren beraubt. Das kann ich Ihnen versichern; aber das gute Essen und eine halbe Flasche haben meine Sinne leicht getrübt. Gestatten Sie mir, dass ich mich Ihnen vorstelle: Ich bin Rafe Amberville. Mit Sicherheit haben Sie schon von mir gehört, oder?“

„Nein, Mr. Amberville, habe ich nicht.“ Shanna machte einen Schritt rückwärts.

Rafe Amberville ging zur Chaiselongue, ließ sich darauf fallen und legte die langen Beine über die Seitenlehne.

„Aus den Augen, aus dem Sinn! Mein lieber Vater und mein lieber Bruder haben mich offenbar sehr vermisst!“

Hörte sie eine Spur von Lachen in seiner Stimme? Aber kein Lächeln lag auf diesem Gesicht. War es Traurigkeit? Ja, es war eine Bitterkeit, welche ihr zuvor bereits aufgefallen war und die sie nicht verstehen konnte. Rafe Amberville war aus dem Krieg zurückgekehrt, und sie hatte seine Räume belegt! Wie konnte sein Vater so gedankenlos sein?

„Ich werde Hannah wecken und mir ein Bett in einem anderen Zimmer machen lassen. Morgen werden Sie Ihre Suite zurückhaben, das versichere ich Ihnen. Ich hatte ja keine Idee …“

Aus der Richtung des Sofas kam keine Antwort. Shanna blieb einen Augenblick stehen und überlegte, warum er plötzlich so still war. Dann ging sie zögernd ein paar Schritte näher. Er hatte die Augen geschlossen! Rafe Amberville schlief! Wie albern von ihr, dass sie nicht daran gedacht hatte, wie erschöpft er war!

Shanna ging zur Tür. Plötzlich wurde ihr klar, dass sie noch nie unten gewesen war und nicht wusste, in welchem Raum Hannah schlief. Aber sie wusste, dass ein großer Wäscheschrank auf dem Korridor in der Nähe ihres Zimmers war. Tante Lea hatte ihn erst neulich inspiziert und ihr erzählt, wie viel Bettwäsche, Gardinen und andere Dinge darin ordentlich zusammengefaltet und aufgestapelt seien. Offenbar benutzte man ihn selten.

Dort fand sie bestimmt etwas Passendes. Aber sie konnte Rafe nicht umbetten! Er musste hierbleiben bis zum Morgen. Der Gedanke gefiel ihr gar nicht; aber was konnte sie tun? Vorsichtig schlich sie den dunklen Korridor hinunter. Drei Türen öffnete sie, bis sie fand, was sie suchte. Hinter jeder Tür war ein leerer unbenutzter Raum gewesen. Wildwood war viel größer, als sie gedacht hatte. Endlich fand sie eine dicke Steppdecke und ging zurück in den Salon.

Rafe Amberville lag in voller Länge sehr unbequem auf dem Sofa, wie sie feststellte, als sie versuchte, ihn in die Steppdecke zu wickeln. Doch schließlich hatte sie Erfolg. Voller Mitleid betrachtete sie das unrasierte Gesicht. Sie hatte einiges vom Krieg gesehen, und das hatte genügt, um ihr tiefes Grauen einzuflößen. Was für schreckliche Gedanken gingen wohl jetzt durch den Kopf dieses Mannes, der soeben aus blutigen Schlachten zurückgekehrt war, wo er täglich dem Tod hatte ins Auge sehen müssen? Er war offenbar einige Jahre älter als Wayne, allerdings nicht so alt, wie die Bartstoppeln ihn aussehen ließen. Rasiert sah er bestimmt sehr gut aus.

Rafe murmelte etwas im Schlaf. Dann stieß er mit geballten Fäusten die Steppdecke weg. Der Krieg hinterlässt bei allen seine Spur, dachte Shanna verbittert, als sie die Decke wieder hochzog. Auch ihre Träume waren nicht mehr friedlich. Anstatt ihrer Familie, ihres Verlobten, sah sie jetzt blaue Uniformen, hörte Gewehrfeuer und Kanonendonner. Wie viel schlimmer musste es ihm ergehen, der an Schlachten teilgenommen und die Schmerzensschreie der verwundeten Kameraden vernommen hatte.

Plötzlich schlossen sich seine schmalen gebräunten Finger wie Stahlfesseln um ihr Handgelenk und hielten es fest.

„Bleib!“ Nur dieses einzige Wort kam ihm über die Lippen.

„Bitte, lassen Sie mich los. Es ist unmöglich …“, sagte Shanna, ehe ihr klar wurde, dass er sie nicht hörte.

An wen klammerte er sich wie ein kleines Kind, das mitten in der Nacht aus einem Albtraum erwacht und nach etwas oder jemandem sucht, wo es Trost und einen ungestörten Schlaf findet? Behutsam wollte sie die Finger vom Handgelenk lösen. Doch im selben Augenblick, da sie sie berührte, verkrampften sie sich. Erst als sie locker ließ, entspannten sie sich wieder.

„Ich bleibe“, flüsterte sie und betrachtete das hagere unrasierte Gesicht. „Schlaf! Ich verspreche dir, dass dich nichts mehr stören wird.“

Shanna machte es sich auf der schmalen Chaiselongue neben Rafe so bequem wie möglich. Sie legte einen Arm auf die Sofalehne. Während der Wochen, in denen sie Verwundete in New Orleans gepflegt hatte, ehe die Stadt an die Yankees fiel, hatte sie oft die Nächte bei kritischen Fällen verbracht. Damals hatte der Tag nicht genug Stunden gehabt, um die vielen Soldaten zu pflegen. Sie hatte die Ohren verschlossen, um die grauenvollen Schreie und das Stöhnen der Verwundeten nicht mehr zu hören, wenn die Ärzte kein Morphium mehr hatten, selbst bei Amputationen.

Jedes Mal, wenn sie das überfüllte Krankenhaus verließ, kehrte sie in das bis auf Tante Lea und drei Sklaven leere Haus zurück. Sie hatte die gehen lassen, die es wollten, da sie sowieso weggelaufen wären, um die goldene Zukunft zu suchen, welche man ihnen versprochen hatte. Auch wenn sie traurig war, hatte Shanna es nicht übers Herz gebracht, diese Menschen zurückzuhalten, von denen die meisten ihr noch aus ihrer Kindheit vertraut waren.

Immer, wenn sie aus dem Hospital zurückkam, ließ ihr Tante Lea ein heißes Bad ein und nahm ihr sogleich die blutbefleckte Schürze oder das Kleid ab, um jede Spur des Grauens im Krankenhaus zu tilgen. Aber so leicht konnte Shanna nicht vergessen. Es war leicht, die Flecken aus der Kleidung zu waschen; jedoch so lange sie auch Hände und Arme schrubbte, immer glaubte sie, das klebrige Blut der armen Soldaten zu spüren. Dieses Gefühl verließ sie nie.

An einem dieser endlos langen Tage hatte Shanna die Nachricht über den Tod ihres Bruders zu Hause vorgefunden. Ein einfacher Umschlag, darin der unpersönliche, wenn auch höfliche Brief, in dem man ihr mitteilte, dass Captain James de Lancel auf dem Schlachtfeld gefallen war. Er hatte sich durch große Tapferkeit ausgezeichnet und war als aufrechter Soldat gestorben.

Tapfer – aber tot! Shanna wollte einen lebendigen Bruder, keinen toten Helden. Keine Erinnerungen! Zwei Männer waren in einem einzigen Jahr aus ihrem Leben geschieden.

Beide tapferen Helden waren an Orten mit fremd klingenden Namen beerdigt worden. In Bull Run lag der Mann, den sie hätte heiraten sollen. In Shiloh hatte ihr Bruder die letzte Ruhestätte gefunden. Und vor einem Monat war ihr Vater in Resaca beerdigt worden, wohin Joseph Johnston, der General der Konföderierten, mit seiner Armee zurückweichen musste, als die Blauen auf Atlanta marschierten.

Shanna hatte auch an jenem Tag Verwundete gepflegt, als man ihr die traurige Nachricht überbrachte. Doch konnte sie nicht mehr weinen. Als sie den Brief las, war sie wie erstarrt, ohne Gefühle. Niemals wieder würde sie jemanden lieben! Das hatte sie sich damals geschworen. Der Verlust eines geliebten Menschen tat zu weh! Nein, niemals, niemals wieder!

Shannas Lider wurden schwer. Sie döste ein, ohne es zu merken. Als sie aufwachte, war das Gewitter vorüber. Draußen wurde es bereits hell. Der Mann auf dem Sofa schlief immer noch fest. Im Schlaf hatte er ihr Handgelenk losgelassen. Vorsichtig stand sie auf und breitete wieder die Decke über ihn. Plötzlich umschlangen zwei starke Arme sie und zogen sie an die Brust. Ehe sie richtig verstand, was geschah, presste der Mann gierig seine Lippen auf ihren Mund. Dann erforschte er mit der Zunge mit viel Erfahrung ihren Mund. Shanna wehrte sich in Panik. Und dann stieß er sie abrupt von sich. War er aus einem Traum erwacht, in dem er sie für eine andere gehalten hatte, oder waren es noch immer die Folgen der halben Flasche Whiskey? Er betrachtete sie mit durchdringenden blauen Augen so merkwürdig, als könne er bis ins Innerste ihrer Seele schauen.

„Wie können Sie es wagen, Sir!“, sagte Shanna leise. Sie wünschte, ihre Stimme zitterte weniger stark. Angst beherrschte sie mehr als Empörung. Ohne es zu wissen, hatte Rafe die Erinnerung an das letzte Mal wachgerufen, bei dem Shanna ein derartig brutales Benehmen hatte erleiden mussen. Dafür hasste sie ihn. „Mir scheint, der Krieg hat Sie tatsächlich dazu gebracht, Ihre guten Manieren zu vergessen.“

Dann wurde sie sich bewusst, dass ihr dünnes Nachtgewand keinen Schutz vor seinen bohrenden Blicken bot. Erschreckt wandte sie sich ab und floh in ihr Zimmer und drehte nicht nur den Schlüssel um, sondern stellte noch einen Stuhl unter den gläsernen Türknopf. Rafe Amberville war überhaupt nicht wie sein stiller, freundlicher Bruder. Vielleicht gab es einen guten Grund, warum niemand im Haus seinen Namen erwähnte.

2. KAPITEL

Shanna drehte sich vom Fenster weg, als jemand an der Tür rüttelte. Mehrere Stunden waren vergangen, seit sie sich eingeschlossen hatte. Sie hatte sich angekleidet und auf die Chaiselongue am Fenster gelegt. Von dort aus hatte sie durchs offene Fenster den Sonnenaufgang betrachtet. Als sich im Zimmer nebenan vor Kurzem etwas gerührt hatte, war sie zusammengezuckt; aber niemand hatte den Türknopf bewegt. Sie hoffte, dass Rafe sich seines empörenden Benehmens wegen schämte. Jetzt hörte sie Tante Leas Stimme durch die Tür. Erleichtert stellte sie schnell den Stuhl weg und schloss auf.

Über Tante Leas Schulter hinweg sah Shanna, dass das Nebenzimmer leer war. Die Vorhänge waren zurückgezogen. Die Morgensonne flutete herein. Weder Stiefel noch Hut lagen auf dem Teppich. Von dem Mann, der mitten in einer stürmischen Nacht in ihr Leben getreten war, war keine Spur mehr zu sehen. Hätte nicht die Steppdecke zusammengefaltet über der Sofalehne gelegen, hätte sie glauben können, alles nur geträumt zu haben. Aber da waren auch noch ihre wunden Lippen. Nein, es war kein behutsamer, scheuer Kuss gewesen.

Tante Lea sagte nichts, sondern blickte nur mit schief gelegtem Kopf auf das Sofa. Dann holte sie eine halb abgenagte Hühnerkeule hinter dem Rücken vor.

„Seit wann plünderst du Hannahs Vorratskammer, Kind? Vor zehn Minuten hat sie den armen Benjamin furchtbar beschimpft und ihm vorgeworfen, er habe die Reste vom Abendessen gestohlen. Und Abraham musste feststellen, dass eine Flasche Whiskey fehlte. Ich wusste nicht, dass du jetzt eine Vorliebe für starke Getränke entwickelt hast.“

„Sei nicht albern, Lea.“ Shanna nahm sie am Arm und zog sie zurück ins Schlafzimmer. „Hast du ihn denn nicht gesehen? Habe ich ihn etwa als Einzige gesehen? Rafe, Mr. Ambervilles zweiter Sohn, war gestern Nacht hier. Dies waren seine Zimmer, und er hatte wirklich nicht erwartet, mich darin vorzufinden.“

„Rafe Amberville ist zurück?“ Überrascht hob die Mulattin die Brauen. „Na, das wird einen Riesenwirbel geben, wenn es stimmt, was ich gehört habe. Sein Vater und er schaffen es nicht mehr, zivilisiert miteinander umzugehen, und für seinen Bruder hat er auch nichts übrig.“

„Das erklärt, warum keiner der beiden ihn je erwähnt hat“, meinte Shanna und runzelte die Stirn. „Doch ich verstehe es nicht. Sie tun so, als hätten sie ihn im selben Augenblick vergessen, als er in den Krieg zog.“

„Aus den Augen, aus dem Sinn“, hatte der bittere Kommentar gelautet. Aber warum? Was um alles auf der Welt hatte Rafe getan, um derartig behandelt zu werden?

„Was hast du über ihn gehört, Lea?“, fragte Shanna.

„Nichts, was dich interessieren könnte, Kind. Darf ich jetzt dein Haar frisieren? Du hast es versprochen.“

„Nur, wenn du mir etwas über Rafe Amberville erzählst.“

„Na schön.“ Tante Lea nahm mit einem tiefen Seufzer die silberne Bürste von der Frisierkommode und strich damit durch Shannas langes Haar.

„Es gibt nicht viel zu erzählen. Ich weiß nur, dass Rafe Amberville den Teufel im Leib hat. Er geht seinen eigenen Weg und ist sein eigener Herr. Niemand wird den je bändigen oder sein Herz stehlen. Es gehört dieser Plantage: Wildwood.“

„Das finde ich gar nicht so schlecht. Wildwood ist wirklich wunderschön.“

„Und vernachlässigt, seit er in den Krieg gezogen ist. Als er hier alles beaufsichtigte, war das anders. Jetzt haben sie diesen Jack Hanson als Aufseher, weil der jüngere Sohn andere Dinge im Kopf hat und sich nicht ums Geschäft kümmert. Dieser Hanson ist ein schlechter Mensch – und grausam. Viel zu schnell peitscht er die aus, die sich nicht verteidigen können.“

Tante Lea stammte aus der Verbindung zwischen einer Farbigen und dem Sohn eines reichen Plantagenbesitzers in New Orleans. Der junge Gentleman hatte trotz des Widerstands seiner Familie die Frau, die er liebte, in einem hübschen kleinen Haus untergebracht und für ausreichend Geld und Personal gesorgt, sodass sie keine Not leiden musste. Lea hatte als Kind nichts entbehren müssen. Doch nach dem Tod des Vaters hatte es kein Geld mehr gegeben. Sie mussten das Haus und die gesamte Einrichtung verkaufen. Trotzdem war es Lea und ihrer Mutter immer schlechter ergangen. Hätte nicht Therese de Lancel sie zu sich genommen, hätte ihre Zukunft trostlos ausgesehen. Doch so hatte sie es gut getroffen. Ihre neue Herrin nahm auch die Mutter in ihre Dienste, sodass diese bis zum Tod ein relativ sorgenfreies Leben führen konnte.

Lea hatte nie erfahren, wie es ist, geschlagen zu werden, dass die Haut in Fetzen vom Rücken hing, wie es einigen armen Teufeln auf Wildwood erging. Hier mussten die Sklaven arbeiten, bis sie zusammenbrachen, und dann wurden sie ausgepeitscht, weil sie nicht schnell genug wieder aufstanden.

„Lea, träumst du?“ Shanna versuchte schon seit einer Minute ihre Aufmerksamkeit zu erregen. „Mr. Amberville muss aber doch wissen, was vor sich geht. Warum tut er nichts, wenn alles so schlimm ist, wie du sagst? Er ist doch ein so freundlicher, hilfsbereiter Mann.“

„Er ist blind, wenn du mich fragst. Den einen Sohn schickt er in den Krieg, weil er seinen Anblick nicht ertragen kann, und beim anderen sieht er keine Fehler, weil er diesen vom Tag der Geburt an hoffnungslos verwöhnt hat. Wayne Amberville kann nichts falsch machen. Er trinkt zu viel; aber das wird seinem Temperament zugute gehalten. Er spielt mit dem Geld seines Vaters – wie er daran kommt, weiß niemand. Und die Plantage ist ihm vollkommen gleichgültig. Wenn sein Bruder sieht, wie alles während seiner Abwesenheit heruntergewirtschaftet wurde, gibt es Ärger.“

„Der Arme! Niemand hat ihn im eigenen Heim willkommen geheißen“, sagte Shanna. Dann merkte sie, dass Tante Lea sie scharf musterte.

„Und wieso bist gerade du ihm begegnet?“, fragte die Mulattin.

„Ich dachte, dass du dich im Salon aufhältst. Ich hörte ein Geräusch und wollte dich bitten, mir ein Glas warme Milch heraufzuholen. Stattdessen …“ Shanna lief es kalt über den Rücken, als sie daran dachte, wie hinter ihrem Rücken der Hahn der Pistole gespannt wurde.

„Stattdessen war er da … furchtbar müde und ziemlich betrunken. Er hat mich nicht angerührt“, fügte sie schnell hinzu, als sie sah, wie sich Tante Leas Augen verengten. Was die Mulattin tun würde, wenn sie herausfand, dass Rafe Amberville gewagt hatte, ihren Schützling durchaus anzufassen, wollte Shanna sich lieber nicht ausmalen. Niemals wieder wollte sie diese Frau wütend sehen! „Er schlief auf dem Sofa ein, und ich habe ihm eine Steppdecke geholt. Ich wusste nicht, was ich sonst tun könnte. Offenbar ist er sehr früh aufgewacht.“

Und muss nach den Mengen Whiskey einen grauenvollen Kater haben, fügte sie in Gedanken hinzu.

„Es sieht nach einem schönen Tag aus, Lea. Ich werde heute unten frühstücken. Gibt es einen Platz, wo ich im Freien sitzen kann?“

„Auf der Veranda kannst du die Morgensonne genießen. Ich bringe dich hin, und dann lasse ich dir von Hannah etwas besonders Leckeres zubereiten. Es wird Zeit, dass wir etwas Fleisch auf deine Rippen bekommen und du wieder wie eine Frau und nicht wie ein mageres Mädchen von siebzehn aussiehst.“

„Ich werde nächste Woche einundzwanzig!“, protestierte Shanna. Tante Lea war der einzige Mensch, dem sie gestattete, so mit ihr zu sprechen; aber die Gute hatte recht. Obwohl ihr Haar jetzt einigermaßen ordentlich aussah und das hellblaue Kleid ihre zarten Rundungen betonte, war sie zu dünn und sah in der Tat viel jünger aus, als sie war.

Einundzwanzig. Eine erwachsene Frau – und doch keine Frau. Niemand füllte die Leere in ihr aus, nichts ließ die grauen Augen strahlen oder brachte einen Hauch Rot auf die blassen Wangen.

Shanna war von der langen Reise aus Atlanta zu müde und zu gramgebeugt gewesen, um das Haus der Ambervilles bei ihrer Ankunft genau zu betrachten. Sie erinnerte sich vage an eine lange, von Bäumen gesäumte Auffahrt, von denen Flechten herabhingen, an weiße Säulen, die im grellen Sonnenlicht leuchteten, großzügig breite Veranden und schmiedeeiserne Balkone an den oberen Stockwerken, zu denen sich ein dichtes Gewirr von Geißblatt und purpurroten Bougainvilleen emporrankte.

Vom Innern des Hauses wusste sie nur noch, dass sie über eine breite Treppe nach oben in ihre Zimmer gegangen war, sonst nichts. Am meisten beeindruckt hatte sie der Friede, welcher hier herrschte. Nach dem Lärm in den Zügen war die Stille wohltuend gewesen. Im Abteil hatte sie während der Reise zwischen Alexander Amberville und einer schrecklich dicken Frau eingezwängt gesessen, die unentwegt über den Krieg und ihr persönliches schweres Schicksal sprach, als hätten nicht alle anderen ebenfalls Leid zu ertragen. Beinahe hätte Shanna die Nerven verloren. Alle sprachen immer nur über den Krieg!

Als General Sherman die Konföderierte Armee zurück nach Atlanta trieb, waren alle Abteile überfüllt mit Flüchtlingen, welche woanders Sicherheit suchten. Einige waren in Macon ausgestiegen; doch sogleich hatten andere deren Plätze eingenommen, weil sie hofften, dass Savannah, Charleston oder Augusta weit genug vom Kriegsschauplatz und den feindlichen Soldaten entfernt seien, um Zuflucht zu bieten.

Wenn Alexander Amberville Shanna nicht den letzten Brief ihres Vaters gezeigt hätte, in welchem er den Freund bat, sie in sein Heim aufzunehmen, hätte sie nie Atlanta verlassen. Es war ihr gleichgültig, was mit ihr geschehen würde. Doch der Anblick der letzten Zeilen des geliebten Vaters hatte ihr den letzten Rest an Mut geraubt. Sie war in Tränen ausgebrochen und willenlos mitgegangen. Jetzt war sie froh, dass sie es getan hatte.

Sie hatte auf der Veranda Platz genommen. Tante Lea war zurück ins Haus gegangen. Die Sonne streichelte Shanna das Gesicht, von den Dächern gurrten Tauben, der Duft frisch gemähten Grases vermischte sich mit dem der Magnolien, welche dicht neben ihr blühten. Ja, es war ein gutes Gefühl zu leben! Shanna genoss den Augenblick, denn er erinnerte sie an ihr Zuhause. Zum ersten Mal konnte sie ohne tiefen Schmerz wieder an das zerstörte Herrenhaus der Plantage denken, in welchem sie geboren worden war.

„Guten Morgen, Miss Shanna! Welch schöner Anblick für diese alten Augen!“ Abraham tauchte mit einem Tablett neben ihr auf und stellte dieses auf den langen Tisch aus Pinienholz. Dann reichte er ihr ein Glas frisch gepressten Orangensaft und einen Teller mit gebratenem Schinken und Eiern. „Hannah hat mir gesagt, dass sie keinen Krümel davon wiedersehen will und dass sie jederzeit noch mehr machen kann. Frisch gebackenes Brot und Kaffee bringe ich auch gleich.“

Shanna wusste aus Erfahrung, dass sie bei ihrem geringen Appetit niemals alles aufessen konnte; aber sie wollte die Gefühle des alten Dieners nicht verletzen. Tante Lea hatte ihn und seine Frau Hannah, beide Ende fünfzig, auf Anhieb in ihr Herz geschlossen, und das reichte ihr. Sie sah ihm lächelnd in das faltige Gesicht und fragte sich, ob Abraham wohl Tante Lea von Rafe Ambervilles Verhältnis zu seiner Familie erzählt hatte.

„Ich werde mein Bestes tun. Es duftet köstlich. Danke, Abraham.“

Der alte Mann schien überrascht zu sein, als sei er nicht an eine derartige Höflichkeit gewöhnt. Shanna war in einem Haus groß geworden, wo die farbige Dienerschaft eher wie Familienmitglieder als wie Sklaven behandelt wurde. Darauf hatte ihre Mutter bestanden. Ihr Vater war zwar mit dieser Behandlung nicht ganz einverstanden gewesen, hatte sich aber den Wünschen seiner Frau gebeugt, die den Haushalt fest, indes ohne Peitsche oder harte Worte, gelenkt hatte.

Shanna dachte zurück, wie ihre Mutter trotz ihrer stillen Art über eine Stärke verfügt hatte, welche sie alle Situationen hatte ertragen lassen, selbst, als sie das letzte Lebensjahr krank im Bett verbringen musste. Niemals hatte sie geklagt. Niemals hatten die Diener ihre Schwäche ausgenützt. Als Shanna später die Pflichten der Hausfrau übernommen hatte, erwiesen ihr alle ebenso großen Respekt und die gleiche Rücksicht wie der alten Herrin.

Plötzlich donnerten Hufe auf der Koppel rechts von ihr. Sie sah gerade noch einen prächtigen schwarzen Hengst über den Zaun setzen und am Haus vorbeipreschen. Ein Mann mit einem harten gebräunten Gesicht hatte kurz zu ihr herübergeschaut. Dann waren Ross und Reiter unter den Bäumen verschwunden.

Erst nach mehreren Minuten wurde ihr klar, dass sie dieses Gesicht kannte. Allerdings waren Kinn und Wangen bei ihrer letzten Begegnung von Bartstoppeln bedeckt gewesen.

Das Frühstück erwies sich als zu reichlich, wie sie gleich gewusst hatte. Mit Bedauern betrachtete sie die beiden Scheiben Schinken und das frische Butterhörnchen, die sie nicht angerührt hatte. Dann schob sie die Teller beiseite. Vielleicht würde sie nachher zu den Stallungen hinübergehen und die Pferde inspizieren. Wenn Rafe Ambervilles Pferd ein gutes Beispiel war, gab es herrliche Tiere.

Morgen werde ich ausreiten, dachte sie. Schritt für Schritt würde sie wieder zu Kräften kommen und dann mit Tante Lea nach Savannah fahren, um den Rechtsanwalt aufzusuchen, den Alexander Amberville damit betraut hatte, sich um alle bürokratischen Angelegenheiten nach dem Tod ihres Vaters zu kümmern. Nach dem Tod der Mutter hatte sie eine stolze Summe Geld und kostbaren Schmuck geerbt. Jetzt war ihr Erbe noch gewachsen – da war das Haus in New Orleans, welches im Augenblick die Yankees besetzt hatten, und die Plantage in Baton Rouge, welche verlassen den Unbillen der Witterung ausgesetzt war.

„Wenn Sie den Teller so in die Küche zurückschicken, wird Hannah tödlich beleidigt sein“, sagte eine Stimme so nah, dass sie zusammenzuckte. Dann ließ sich der Hüne mit den durchdringenden blauen Augen ihr gegenüber in einen Sessel fallen. „Ich wollte Sie nicht in Panik versetzen. Wenn Sie keinen Hunger haben, helfe ich Ihnen.“

Dann legte Rafe Amberville den Schinken auf zwei Scheiben Weißbrot und biss herzhaft hinein. Shanna erkannte in ihm den ungepflegten Soldaten kaum wieder, dem sie vor wenigen Stunden begegnet war. Obwohl er jetzt glatt rasiert war, konnte sie sein Alter schlecht schätzen. Er mochte achtundzwanzig oder dreißig sein. Das blonde Haar war von der Sonne ausgebleicht. Es war dicht und kräuselte sich leicht im Nacken. Rafe trug ein frisches weißes Hemd, das am Hals offen stand. Die Ärmel waren über die dunkelbraunen Arme hochgerollt. Die Hosenbeine steckten in offenbar neuen, glänzend polierten Stiefeln. Er sah jeder Zoll wie ein Gentleman aus. Trotzdem spürte Shanna bei seinem Anblick eine Unruhe, die sie sich nicht erklären konnte.

Sie wünschte sich sehnlichst, seine Fähigkeit zu haben, so schnell wieder zu Kräften zu kommen. Jetzt sah er so gesund aus, nicht wie in der Nacht …

„Ich hoffe, Sie haben mir vergeben, dass ich vorige Nacht bei Ihnen eingedrungen bin.“ Er nahm sich noch eine Scheibe Brot und streckte die langen Beine aus.

„Sie konnten ja nicht wissen, dass man mir Ihre Suite gegeben hatte. Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen“, erwiderte Shanna höflich. „Ich lasse meine Sachen von Hannah in einer Stunde wegbringen.“

„Das werden Sie auf keinen Fall tun! Wir haben so viele Zimmer. Da kann ich mir ein anderes aussuchen. Außerdem bleibe ich nicht lange, vielleicht ein paar Tage. Dann bekomme ich neue Befehle. Aber Sie bleiben doch viel länger hier, nicht wahr, Miss de Lancel?“

„Ich bin erstaunt, dass Sie sich an meinen Namen erinnern können.“ Die Worte waren ihr herausgeschlüpft.

Ein Lächeln umspielte seine Lippen. „Der Whiskey dämpft den Schmerz meiner Gedanken, nicht aber meinen Verstand. Es ist auch nicht das Einzige, woran ich mich erinnere …“, fügte er hinzu. Shannas Wangen färbten sich rot. „Es ist lange her, seit ich eine Frau so entzückend rot werden sah. Und noch viel länger, seit ich etwas – oder jemanden – in den Armen gehalten habe, der so reizend und weich war. Eine wunderschöne Erinnerung für einsame Nächte. Aber keine Angst“, sagte er schnell, als er die Furcht in Shannas Augen erkannte. „Es ist unser Geheimnis. Es wäre Ihrem guten Ruf nicht dienlich, wenn das Gerücht sich verbreitete, dass Sie die ganze Nacht über meine Hand gehalten hätten. Allerdings bezweifle ich, dass jemand glauben würde, dass alles so harmlos war, wenn ich daran beteiligt war.“

Abraham kam auf die Veranda und stellte einen Teller vor Rafe, auf dem alles in großen Portionen vorhanden war: Eier, Schinken, Tomaten und dicke Scheiben frisch gebackenes Brot.

„Hannah hat gesagt, dass Sie im Morgengrauen schon hinausgeritten sind, Master Rafe. Ich schätze, Sie wollten sich alles ansehen. So wie Sie auf Balthazar zurückgekommen sind, kann ich mir denken, wo Sie waren.“

„Zum Glück bin ich meinem Bruder nicht begegnet. Ich hätte ihm das Genick gebrochen“, erklärte Rafe grimmig und stach mit der Gabel wütend in den Schinken. „Was zum Teufel ist hier passiert, seit ich weg bin? Das Dach der Scheune für die Baumwolle bricht bald ein. Die Sklavenquartiere haben in zwei Jahren keine Spur Farbe bekommen, und irgendjemand hat den Menschen, die früher Wildwood als Heimat ansahen, entsetzliche Angst eingejagt. Und man hat die Peitsche benutzt, Abraham. Das werde ich nicht dulden. Früher hat man sie auch nie gebraucht.“

Die blauen Augen funkelten wütend. Wieder war Shanna sich bewusst, dass er Mühe hatte, einen Kampf im Innern niederzuringen.

„Aber Sie sind nicht da, Master Rafe, und Master Wayne hat einen Aufseher eingestellt, der Mann heißt Jack Hanson.“ Abraham sprach den Namen nur zögernd aus.

„Hanson! Diesen Abschaum! Ist mein Bruder nicht fähig, die Plantage mit meinem Vater allein zu leiten? Was ich bis jetzt gesehen habe, beweist mir, dass keiner der beiden einen Finger krumm gemacht hat, seit ich weg bin. Sie haben alles verlottern lassen.“

„Es ist der Krieg. So ein Elend. Kaum Geld für Reparaturen. Unsere Baumwolle lagert noch in Savannah. Wegen der Blockade kann sie nicht verschifft werden.“

„Zwei erwachsene Männer sind unfähig zu arbeiten. Nicht der Krieg zerstört die Plantage, sondern meine Familie. Aber nur über meine Leiche, Abraham. Wenn ich weiß, wo ich stationiert bin, schreibe ich dir. Ich will wissen, was hier vor sich geht, hast du verstanden?“

„Ja, Sie werden wissen, wenn auch nur ein Blatt vom Baum fällt“, versprach der alte Mann feierlich. „Ich bringe Ihnen jetzt Kaffee. Ganz so, wie Sie ihn mögen: heiß, schwarz und so stark, dass der Löffel stehen bleibt.“

Shanna hatte das Gespräch stumm mitangehört, da sie wusste, dass es für sie nicht angebracht war, sich einzumischen. Sie war ein Gast, kein Familienmitglied. Offenbar hatte Tante Lea ihr die Wahrheit erzählt: Rafe Amberville ging seinen eigenen Weg, und sein Herz gehörte Wildwood. Diese innere Unruhe, die sie bei ihm spürte, war Jähzorn, welchen er wohl nicht immer kontrollieren konnte. Wenn er seinen Bruder nach dem Inspektionsritt getroffen hätte, wäre er mit Fäusten oder Worten oder beidem über den Jüngeren hergefallen.

Rafe Amberville aß das letzte Brot auf, lehnte sich dann im Sessel zurück und genoss den starken Kaffee, den Abraham ihm gebracht hatte. Shanna hatte gesehen, wie der alte Mann lächelte, als er die leeren Teller abräumte.

„Das war seit Monaten die beste Mahlzeit, Abraham“, erklärte Rafe. „Meine Männer und ich haben ewig kein Fleisch gesehen und auch nicht viel anderes. Wir mussten gerade erst das Shenandoah Valley räumen.“

Shanna nickte. Sie wusste, wie hart die Männer dort gekämpft hatten, um den Zugang zu Richmond zu verteidigen.

„Wie ich höre, behandeln die Yankees schutzlose Farmer immer noch so reizend wie früher“, sagte sie verbittert. „Ist es wirklich wahr, dass General Sherman befohlen hat, alle Scheunen und Ställe niederzubrennen und das Vieh zu beschlagnahmen? Wie können diese armen Menschen weiterleben? Und unsere Soldaten – wie können sie kämpfen, wenn sie nichts zu essen haben? Oh, ich hasse diesen schrecklichen Krieg!“

„Sheridan will das Herz des Südens zerstören. Wenn es ihm glückt, ist Richmond isoliert. Jetzt bedarf es eines Wunders, ihm Einhalt zu gebieten. Er steht bereits knapp vor Atlanta. Wenn diese Stadt fällt, weiß nur Gott, was er sich als nächstes Ziel vornimmt. Aber Sherman und Sheridan sind vom gleichen Schlag. Beide leben vom Land und zum Teufel mit den armen Leuten, die versuchen zu überleben.“ Jetzt blickte er Shanna an, und seine Züge wurden weicher. „Sie hatten mehr als genug Leid und Schmerz. Abraham hat mir von Ihrem Vater erzählt – und den anderen Verlusten. Hier sind Sie sicher … für den Augenblick.“

Am liebsten hätte er sich wegen der letzten Worte die Zunge abgebissen; denn Shanna war blass geworden. Die kleine Hand mit dem Ring griff nervös ans Herz. Rafe fragte sich, wie der Mann gewesen war, den sie hatte heiraten sollen. Sie sah so jung und zerbrechlich aus; aber nach allem, was er über sie gehört hatte, mussten in dieser zarten Gestalt großer Mut und Zähigkeit wohnen. Jetzt lächelte sie. Was für ein Unterschied! Mit etwas Farbe in den Wangen würde sie ausgesprochen hübsch aussehen.

Finster furchte Rafe die Stirn. Ob sein Bruder bereits versuchte hatte, sie mit seinem Charme in sein Bett zu locken? Shanna war gerade so unschuldig und jung, dass Wayne bestimmt Appetit verspürte. Außerdem vermutete er, dass Shanna dringend eine Schulter zum Anlehnen brauchte, und das war Waynes Spezialität. Irgendwie verärgerte ihn der Gedanke, dass sein Bruder dieses Wesen berührte.

„Reiten Sie, Miss de Lancel?“ Warum machte er sich die Mühe, sich mit ihr zu beschäftigen? Er hatte mehr als genug auf der Plantage zu tun, ehe ihn die Pflicht wieder fortrief. Als Erstes musste er diesen Jack Hanson rauswerfen. Allerdings wusste er nicht, wo er in diesen schwierigen Zeiten einen Ersatz bekommen würde. Es waren nur noch Alte und Krüppel da, die niemals einen so großen Besitz wie Wildwood leiten konnten. Aber er wollte unter keinen Umständen alles, was er in vielen Jahren aufgebaut hatte, von dem sturen Vater, dem Schürzenjäger Wayne und einem Aufseher ruinieren lassen, der nicht ohne Peitsche auskam.

„Bitte nennen Sie mich Shanna. Ja, ich reite gern und habe mir schon überlegt, ob ich es morgen wagen soll. Der Hengst, den Sie geritten haben, ist ein herrliches Tier. Sind alle Pferde Ihres Vaters so prächtig?“

„Die Pferde gehören mir. Also, wenn Sie wollen, suche ich Ihnen ein verlässliches Tier heraus. Balthazar lässt sich von niemandem als von mir reiten. Ich zeige Ihnen auch gerne die Plantage, oder belastet Sie das seelisch zu sehr?“

Shanna fragte sich, ob er wegen der Vorfälle in Baton Rouge oder wegen des Aufsehers so rücksichtsvoll war.

„Ich würde mich freuen. Vielen Dank, Mr. Amberville.“

„Ich heiße Rafe.“ Dabei lächelte er so, dass Shannas Herz zu flattern begann. Zum ersten Mal war sie sich bewusst, wie gut dieser Mann aussah. Es lag ein Hauch von Spott um seine Mundwinkel. Offenbar wusste er alles über sie vom Quell sämtlicher Informationen im Haus: von Abraham. Überlegte er, was sie über ihn gehört hatte?

„Ich hoffe, dass Sie am ersten Tag nichts zu Anstrengendes planen“, erklang eine Stimme vom Eingang her. Rafe stand langsam auf, als Alexander Amberville die Veranda betrat. Einen Augenblick lang starrten sich Vater und Sohn stumm in die Augen. Keiner traf Anstalten, den anderen zu umarmen oder ihm die Hand zu geben. Sie benahmen sich wie Fremde. „Man hat mir gesagt, dass du gestern Nacht zurückgekommen bist. Hast du die Absicht, länger zu bleiben?“

Keine Wärme in der Stimme, kein Anzeichen, dass der Vater froh war, den Sohn gesund vor sich zu sehen. Shanna war schockiert. Mit ihr war Alexander immer so freundlich umgegangen. Als Gast war sie besser als sein eigenes Fleisch und Blut behandelt worden.

„Ich warte auf den nächsten Marschbefehl. Keine Sorge, Vater, ich werde dir nicht sehr lange zur Last fallen. Ein paar Tage vielleicht.“

„Ich möchte keinen Streit zwischen dir und deinem Bruder, solange du hier bist. Ich hoffe, wir verstehen uns“, erklärte Alexander Amberville harsch.

„Vielleicht hat er ein paar blaue Flecken, wenn ich wegreite; aber ansonsten wird er heil bleiben“, antwortete Rafe. „Das trifft allerdings nicht auf Jack Hanson zu. Wenn nötig, werde ich ihn mit der Peitsche von der Plantage jagen.“

„Ich habe Hanson selbst eingestellt“, fuhr sein Vater empört auf. Sein Gesicht war rot. „Und wenn ich es für angebracht sehe, ihn zu feuern, werde ich dieses tun. Aber ich denke nicht daran. Er sorgt dafür, dass gearbeitet wird, und Wayne vertraut ihm.“

„Und du vertraust Wayne.“ Rafes Stimme klang hart und verbittert. „Du hast dich nicht verändert, immer noch derselbe blinde Narr!“

Shanna stand so schnell auf, dass ihr Stuhl umkippte. Sie war nicht an Streit in der Familie gewöhnt und wollte nichts mehr hören.

„Ich mache einen Spaziergang und genieße die frische Luft, Mr. Amberville. Bitte …“ Mit stummem Flehen blickte sie die beiden Männer an. „Verschwenden Sie nicht mehr kostbare Zeit mit alten Querelen. Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit mit meinem geliebten Vater verbringen können.“

Dann versagte ihr die Stimme. Sie raffte die Röcke und eilte die Stufen hinab. Hastig lief sie über den Rasen zu den Stallungen. Keine Minute später tauchte Tante Lea hinter dem Haus auf und eilte ihr hinterher.

Rafe betrachtete die beiden Frauen mit gerunzelter Stirn. Wenigstens hatte Shanna jemanden, der auf sie aufpasste. Allerdings bezweifelte er, dass die Mulattin Wayne von der Tür ihrer Herrin fernhalten konnte, wenn dieser hartnäckig wurde.

„Eine sehr intelligente Dame – obwohl sie noch so jung ist“, meinte er und setzte sich wieder. Dann holte er aus der Tasche eine Zigarre. Sein Vater blickte missbilligend, als er sie anzündete. Alexander Amberville rauchte nicht und trank sehr mäßig. Es hatte Zeiten gegeben, in denen Rafe beides bis zum Exzess getan hatte. Ihn hatte man bestraft, während die gleichen Laster beim jüngeren Bruder jugendlichem Überschwang zugeschrieben wurden. Wayne „musste sich die Hörner abstoßen“, hieß es.

Rafe war immer der ungeliebte Sohn, der Unruhestifter, der Tunichtgut gewesen. Seit seine Mutter gestorben war, hatte er keine Liebe mehr kennengelernt. Ihr Herz war an der Gleichgültigkeit ihres Gatten zerbrochen, der sie verachtete. Ja, seit dem Tod der Mutter hatte Rafe kein gutes Wort mehr vom Vater empfangen. Er hatte ihn sogar bei allen anderen schlechtgemacht.

„Sie ist nichts für dich“, erklärte Alexander kalt. „Solange du hier bist, wünsche ich nicht, dass du irgendetwas mit ihr zu tun hast.“

„Ich finde, dass sie das selbst entscheiden sollte. Sie besitzt einen eigenen Verstand und hätte bestimmt nicht bis jetzt überlebt, wenn sie ihn nicht gebrauchen könnte.“ Rafe stieß eine Rauchwolke in die Luft. Dann legte er den Kopf auf die Seite und fuhr fort: „Oder hast du schon Pläne mit ihr?“

„Sie ist ganz allein auf der Welt. Ich werde ihr hier ein Heim geben und alles in meiner Macht Stehende tun, um für sie einen passenden Gatten zu finden. Sie ist eine reiche Frau und muss beschützt werden.“

„Von dir oder Wayne etwa! Mein Gott, du hast doch nicht etwa vor, dieses unschuldige Ding mit ihm zu verheiraten!“

„Sie sind das ideale Paar.“ Alexanders Lippen wurden schmal. Er ärgerte sich über Rafes Bemerkung und noch mehr, als sein Sohn den Kopf in den Nacken warf und schallend loslachte.

„Wayne und ihr Geld sind das ideale Paar, meinst du wohl!“ Die blauen Augen seines Sohnes blickten Alexander so durchdringend an, dass ihm unbehaglich wurde. In den letzten drei Jahren ist Vater sehr gealtert, dachte Rafe. Die Falten um die kalten, gleichgültigen Augen waren tiefer, das Haar war fast weiß geworden. Aber bestimmt nicht aus Sorge um ihn! Vielleicht um Wayne. Dämmerte ihm jetzt doch, dass er die Fähigkeiten seines älteren Sohnes sträflich übersehen hatte, dass er der Liebe dieses Sohnes stets den Rücken zugewandt hatte? Nein, Rafe bezweifelte das. Wenn der Vater Wayne für einen passenden Gatten für Shanna de Lancel hielt, war der jüngere Bruder immer noch der Goldjunge auf Wildwood.

„Ist der Besitz so weit heruntergewirtschaftet, dass du dich nicht schämst, durch eine Heirat an Geld zu kommen?“, schleuderte er dem Vater ins Gesicht. Als Rafe ihn zusammenzucken sah, wusste er, dass er ins Schwarze getroffen hatte. Was war aus seinem geliebten Heim geworden? Schockiert hatte er von Hannah und Abraham gehört, dass Sklaven weggelaufen und von Jack Hanson in Ketten und blutig geschlagen zurückgeschleift worden waren. Niemals war früher jemand von Wildwood fortgelaufen! Er konnte sich nur an eine einzige Gelegenheit erinnern, bei der ein Sklave ausgepeitscht worden war: Damals hatte seine Stiefmutter behauptet, der junge Mulatte Samuel, einer von Abrahams Söhnen, habe sich ihr unziemlich genähert.

Alexander Amberville hatte die lange Rindlederpeitsche von der Wand im Arbeitszimmer geholt und den Übeltäter an einen Baum vor den Stallungen binden lassen. Vor aller Augen, auch vor dem zehnjährigen Rafe, hatte er den Mann ausgepeitscht, bis dieser die Besinnung verlor. Sobald der Sklave einigermaßen hergestellt war, wurde er verkauft. Dieser Vorfall stand Rafe immer noch so klar vor Augen, als sei es gestern gewesen. Er war mit den Negern aufgewachsen und oft in ihrer Gesellschaft glücklicher gewesen als in der Nähe seines Vaters. Seit dem blutigen Ereignis hatte Rafe diese Unruhe in sich gespürt. Und eine Frage beschäftigte ihn: War er dem Mann gegenüber, der ihn so ignorierte, Loyalität schuldig?

Einen Monat später war Julianna Amberville, die zweite Frau Alexanders, bei einem Reitunfall ums Leben gekommen, als sie Freunden aus Savannah ihre neue Stute vorführte. Für Rafe war es wie ein Gottesurteil gewesen, da er nie zweifelte, dass sie gelogen hatte. Die Stiefmutter war viel jünger als sein Vater und benutzte oft Lügen, um seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu behalten. Wegen ihrer leichtfertigen Lüge war ein Unschuldiger ausgepeitscht und aus dem Haus gejagt worden, das für ihn sein Heim bedeutete, fort von seiner Familie und dem Jungen, für den er ein Freund war. Als Rafe an jenem Tag das Blut hatte fließen sehen, war Wildwood zu einer Plantage geworden, auf der man Sklaven quälte. Rafe schwor insgeheim, das dies niemals wieder geschehen würde.

„Ich werde alles tun, was nötig ist, um meiner Familie diesen Besitz zu erhalten“, erklärte Alexander kalt.

„Du meinst für Wayne, nicht wahr?“ Rafe stand auf und zertrat die halb gerauchte Zigarre unter dem Stiefel. „Ich werde mir aber nicht den Kopf runterschießen lassen, um dir einen Gefallen zu tun, Vater. Wenn dieser verdammte Krieg aus ist, komme ich zurück – für immer. Wildwood gehört mir, da es der Besitz meiner Mutter war. Sie gab dir die Plantage als Beweis ihrer Liebe. Allerdings wusste sie nicht, dass du nicht einmal die Bedeutung des Wortes kennst. Wildwood wird nie jemand anderem außer mir gehören! Vergiss das nicht. Und wenn mein teurer Bruder weiterhin seinen Kopf behalten will, dann mache ihm das klar!“

Wayne Amberville hatte bei der Tür hinter seinem Vater gewartet, bis er den älteren Bruder über den Rasen zu den Stallungen gehen sah. Erst dann betrat er die Veranda. Er war fünf Jahre jünger als Rafe und ähnelte weder ihm noch dem Vater. Er kam ganz nach seiner Mutter, welche das Herz des verwitweten Alexander mit blitzenden Augen und einladendem Lächeln eingefangen hatte. Viele Leute zerrissen sich das Maul, weil sie mit ihm bereits sechs Monate nach dem Tod der ersten Frau vor den Altar trat.

Wayne war groß, aber schmalgliedrig und schlank. Das hellbraune Haar reichte beinahe bis auf die Schultern seines makellosen blauen Rocks. Die Augen waren tiefbraun. Diese Augen hatten immer alles im Blick; ihnen entging nichts. Jetzt verrieten sie den blanken Hass auf den Mann, der unerwartet zurückgekehrt war und seine sorgfältig eingefädelten Pläne durchkreuzen wollte. Waynes Haut war blass, da er die Sonne wie die Pest mied. Er wurde sofort krebsrot. Die Hände um das Glas mit Minztee wiesen keine Anzeichen körperlicher Arbeit auf.

„Der Teufel soll ihn holen!“ Bei diesem hasserfüllten Fluch drehte sich Alexander um und runzelte die Stirn. „Warum musste er ausgerechnet zurückkommen? So viele Männer sind gefallen; aber nein, er reitet strotzend vor Gesundheit auf seinem Hengst.“

„So spricht man nicht über seinen Bruder.“ Manchmal wunderte sogar Alexander sich über den Hass Waynes auf Rafe. Der jüngere Sohn war egoistisch und leichtsinnig wie seine Mutter; aber der Vater hatte ihn seit der Geburt vergöttert. Nach dem tragischen Tod Juliannas hatte er alles, wozu er an Liebe fähig war, auf diesen einen Sohn konzentriert.

Rafe war stark und besaß die Kraft seiner Mutter. Manchmal war Alexander auf ihn stolz gewesen; aber er hatte es nie gezeigt oder gesagt. Im Laufe der Jahre hatten sie sich so entfremdet, dass selbst ein einfaches Gespräch unmöglich geworden war. Und jetzt hatte der Krieg das verbitterte Herz noch mehr verhärtet. Nichts verband sie mehr außer Wildwood. Doch die Plantage konnte sie auch für immer entzweien.

„Bitte, Vater, mir brauchst du kein Theater vorzuspielen.“ Waynes Zynismus versetzte ihm einen Stich; aber er sagte nichts. Immer noch dachte er über Rafes flammende Rede nach. „Du bist doch genauso wenig froh, ihn zu sehen, wie ich. Er wird alles zunichte machen, was ich versucht habe aufzubauen, wenn wir es zulassen. Ich …“ Wayne verbesserte sich schnell. „Wir waren uns doch einig, dass Hanson Generalvollmacht erhält und nur bei einem Notfall uns zu Rate zieht.“ Er durfte den Vater nicht verärgern, solange Rafe da war und womöglich aus einem Streit Vorteile zog. „Bis jetzt ist doch alles prima gelaufen. Wir haben wieder eine gute Baumwollernte in diesem Jahr. Wie viele Plantagen können mit unserem Ertrag mithalten? Baumwolle hat uns immer Geld eingebracht, und das wird auch so bleiben.“

„Und in der Zwischenzeit bezahlen wir exorbitante Preise in Savannah für Dinge, welche wir selbst anbauen könnten. Ich stimme dir zu, dass Baumwolle unser Hauptanliegen ist; aber wir müssen die Möglichkeit ins Auge fassen, dass Blauröcke auf dieser Plantage erscheinen – und vielleicht ist dieser Tag nicht allzu fern.“

„Hat Rafe dir das gesagt?“ Wayne war überrascht. Diese Möglichkeit hatte er nie ernst genommen. Die Truppen der Yankees waren doch viel zu beschäftigt, Richmond einzunehmen, als dass sie sich für den tiefen Süden interessierten.

„Nein, ich erinnere mich an die Panik auf den Gesichtern der Menschen, die aus Atlanta flohen. Der Zug war voll mit Frauen und Männern, die alle geglaubt hatten, unser Johnson könnte Shermans Truppen aufhalten. Aber es ist ihm nicht gelungen, und ich fürchte, dass Atlanta an die Yankees fallen wird, wenn kein Wunder geschieht. Und bei den begrenzten Hilfsmitteln, die wir jetzt noch im Süden haben, können die einzigen Wunder nur noch von Gott dem Allmächtigen persönlich kommen.“

„Na schön, ich werde heute Nachmittag mit Hanson reden und dafür sorgen, dass Abraham noch mehr Schinken und Speck räuchert und weitere Vorräte anlegt.“

„Ich überlege gerade, ob nicht Shanna die Leitung des Haushaltes übernehmen könnte“, sagte Alexander.

Waynes Augen funkelten neugierig. „Dann hat sie eingewilligt zu bleiben? Wann hast du sie gefragt? Hast du ihr von der Geburtstagsparty erzählt?“ Shanna de Lancel, die reiche Erbin, war das Beste, was Wayne seit vielen Jahren über den Weg gelaufen war. Jetzt milderte die Aussicht auf ihr Bleiben in Wildwood etwas von dem Ärger über Rafes Rückkehr.

„Ich habe noch nicht mit ihr gesprochen, aber ich werde es bald tun.“ Ehe sie sich zu sehr mit Rafe anfreundete! „Ich möchte sie fragen, ob sie nicht die Haushaltsführung übernehmen will. Wir brauchen die Hand einer Frau, die Erfahrung hat mit solchen Dingen – einer Dame –, und außerdem lenkt es sie ab. Wir müssen alles tun, damit sie nicht ständig über den Tod des Vaters nachgrübelt. Ich bin sicher, dass dir etwas einfallen wird, was ihr Spaß macht. Reite mit ihr aus und unternimm mit ihr eine Kutschfahrt zu den Nachbarn. Führe sie bei unseren Freunden ein. Du musst ihr das Gefühl geben, dass sie zur Familie gehört.“

„Es gibt Zeiten, da versetzt du mich in Erstaunen, Vater.“ Wayne lachte. „Gehe ich recht in der Annahme, dass du hoffst, aus dem Mädchen und mir wird ein Paar?“ Ein Vermögen zum Greifen nah! Da spielte es keine Rolle, dass sie ihm völlig gleichgültig war. Er hatte früher schon Frauen bezaubert, wenn er wollte, auch ohne eine derartig verlockende Belohnung für seine Bemühungen in Aussicht zu haben.

„Ich bin ein alter Mann, Wayne. Ich möchte einen Enkel, ehe ich sterbe. Gib ihn mir, und du bekommst noch mehr als das Erbe deiner Frau – du bekommst Wildwood.“

„Und Rafe? Er wird nie einverstanden sein.“

„Ich kann mit Wildwood machen, was ich will. Wenn du verheiratet bist und mir einen Erben geschenkt hast, wird die Plantage dir gehören. Darauf gebe ich dir mein Wort.“

„Du sollst deinen Enkel bekommen, Vater.“ Ja, und er würde Herr auf Wildwood sein, sein Bruder enterbt. Dieses Wissen stieg ihm mehr in den Kopf als süffiger Wein. Die Plantage, eine reiche Frau, die es ihm ermöglichte, weiterhin das Leben so zu führen, wie er es sich angewöhnt hatte, aber im Augenblick nicht konnte, ohne weiterhin auf Geldanweisungen die Unterschrift des Vaters zu fälschen, um an Extra-Geld zu kommen. „Darauf gebe ich dir mein Wort.“

3. KAPITEL

Shanna ließ zum dritten Mal den Blick langsam über die Pferde in den Boxen schweifen. Die Tiere, die Rafe Amberville so stolz sein Eigentum genannt hatte, waren gepflegt und wunderschön.

„Diese kastanienbraune Stute mit drei weißen Fesseln würde ich gern reiten“, sagte sie schließlich.

Der große Neger neben ihr nickte anerkennend. „Die ist eine von Master Rafes allerfeinsten Stuten, so sanft wie ein Kätzchen, nicht wie der alte Balthazar da drüben. Der hat den Teufel im Leib. Vielleicht mag Master Rafe ihn deshalb so. Außer mir darf keiner für ihn sorgen.“

„He, Boy, habe ich dir nicht befohlen, mein Pferd zu satteln?“, ertönte eine wütende Stimme hinter ihnen. „Beeile dich, sonst gerbe ich dir mit der Peitsche die faule Haut.“

Shanna empfand sofort Abscheu gegen den Mann, der breitbeinig, die zusammengerollte Peitsche in der Hand, im Eingang stand. Ihr missfiel sein Ton und sein Aussehen. Er musterte sie von Kopf bis Fuß mit so unverschämten Blicken, dass es sie empörte. Er schaute sie nicht bewundernd wie Rafe Amberville an, sondern mit kalten, abschätzenden Blicken, welche sie auszuziehen schienen.

„Das ist der Aufseher Jack Hanson“, flüsterte Tante Lea verächtlich. „Ohne die Peitsche ist er ein Nichts.“

„Hüte deine Zunge, Weib, oder du bekommst sie gleich zu spüren!“ Der Mann trat auf die beiden Frauen zu.

„Wagen Sie es ja nicht, Hand an sie zu legen!“ Shannas graue Augen verdunkelten sich wie Gewitterwolken. „Tante Lea ist keine Sklavin.“

„Sie ist schwarz und befindet sich auf dieser Plantage. Das heißt für mich, dass sie wie alle anderen behandelt wird.“ Jack Hansons Blick klebte förmlich auf der Rundung von Shannas festen Brüsten unter dem blauen Seidenkleid, dass ihr die Röte in die Wangen schoss. „Und Sie sind keine Amberville. Sie haben mir überhaupt nichts zu befehlen. Wir sind hier nicht im Norden. Behalten Sie Ihre wirklichkeitsfremde Meinung über Sklavenbefreiung gefälligst für sich. In dieser Gegend hört man solche Reden nicht gern.“ Er drehte sich zu dem großen Neger und hob drohend die Peitsche. „Mein Pferd, und zwar jetzt sofort!“

„Ja, Leon, sattle sein Pferd und begleite ihn bis an die Grenzen des Amberville-Besitzes“, rief Rafe.

Niemand hatte ihn eintreten sehen. Shanna war nicht sicher, ob er die Beleidigungen gehört hatte, die der Aufseher ihr entgegengeschleudert hatte. Doch dann sah sie an den zusammengepressten Lippen und den funkelnden Augen, dass er alles gehört hatte.

„Wenn du je wieder Fuß hierher setzt, Hanson, werde ich deine eigene Peitsche an dir ausprobieren, damit du dich lange an die Schmerzen erinnerst, die du anderen zugefügt hast.“

„Sie können mich nicht feuern! Das kann nur Mr. Amberville“, erwiderte der Aufseher höhnisch. Die Knöchel der Hand, mit der er die scheußliche Peitsche festhielt, waren weiß. Er hatte Angst. Das war Shanna klar. Aufmüpfig und angeberisch benahm er sich, aber er hatte Angst vor dem blonden Riesen, der auf ihn zuging. Sie hielt vor Schreck die Luft an, als er warnend die Hand gegen Rafe erhob. „Bleiben Sie mir vom Leib, oder ich mache Sie kalt! Ihr Bruder wird es mir danken.“

„Da bin ich auch sicher“, pflichtete ihm Rafe ruhig bei. „Du hast eine Minute Zeit, um auf dein Pferd zu steigen und wegzureiten, ehe ich dich deine eigene Medizin kosten lasse.“

Er brachte das Ultimatum so ruhig vor, als spräche er übers Wetter; aber Jack Hanson wusste von früheren Begegnungen mit Rafe Amberville, dass er der äußeren Ruhe nicht trauen konnte. Er hatte die Kraft schon verspürt, welche in den Fäusten steckte. Dieser Mann hatte einen Körper, der durch viele Jahre harte Arbeit und jetzt durch das Soldatenleben gestählt war.

Doch dann siegte beim Aufseher die Geldgier über die Angst. Er und Wayne Amberville waren die wirklich Mächtigen in Wildwood, nicht dieser Mann, der bald wieder in den Krieg ziehen würde, auch nicht sein Vater, der gern alles, was mit der Bewirtschaftung der Plantage zusammenhing, in ihre Hände gegeben hatte. Für jeden entlaufenen Sklaven, den Hanson zurückbrachte, wurde ein anderer an Plantagenbesitzer verkauft, die keine Fragen stellten. So machten er und Wayne einen ganz hübschen Profit. Wildwood litt nicht unter dem Verlust von ein paar Negern, wenn er den Rest noch härter mit der Peitsche antrieb.

Jack Hanson hob die Peitsche. Gleichzeitig glitt die andere Hand zu dem Messer im Gürtel. Ehe er beides benutzen konnte, traf ihn Rafes Faust am Kinn. Es war ein fürchterlicher Schlag, bei dem sich der ganze Ärger entlud, der sich bei der Begegnung mit dem Vater aufgestaut hatte. Hanson verdrehte die Augen und fiel wie ein Stein auf den Boden.

Leon, der schwarze Pferdepfleger, kicherte und nahm den Bewusstlosen hoch. Dann warf er ihn wie einen Sack Kartoffeln über den Sattel des Pferdes.

„Immer noch ein Mann mit wenig Worten, wie ich sehe. Aber Sie erledigen Sachen prompt“, sagte er mit einem Lächeln, das von einem Ohr zum anderen ging. „Master Wayne wird darüber gar nicht glücklich sein. Die beiden haben dauernd die Köpfe zusammengesteckt, als wenn sie was Schlimmes aushecken.“

„Mein Bruder hat immer nur eine einzige Sache im Kopf“, erwiderte Rafe und rieb sich die schmerzenden Knöchel. „Und das ist Geld! Ihn interessiert nur, wie man es möglichst leicht in die Finger bekommt und wie man es möglichst schnell ausgibt. Leon, schaff Hanson zum Haupttor, und pass auf, dass er sich nicht wieder nachts zurückschleicht. Du hast meine Erlaubnis, ihn aufzuhalten – mit allen Mitteln, außer, dass du ihn umbringst.“

„Sind Sie nicht ein bisschen unfair Ihrem Bruder gegenüber?“, fragte Shanna, nachdem Leon mit dem bewusstlosen Aufseher weggeritten war. „Schließlich hat er sich um die Plantage gekümmert, seit Sie in den Krieg mussten. Heutzutage, wo Geld so knapp ist, ist das keine leichte Aufgabe.“

„Das Geld ist nicht so knapp, dass er Wildwood derartig verkommen lassen muss.“ Rafe führte Balthazar aus der Box und musterte ihn kritisch. Wie immer hatte Leon den Hengst nach einem Ritt sofort abgerieben. Er war zuverlässig und pflichtbewusst. Weder das ganze wilde Gerede über die Abschaffung der Sklaverei noch der Krieg hatten es geschafft, die Freundschaft zwischen ihm und Leon zu zerstören. Rafe wusste, dass weder sein Vater noch Wayne einverstanden sein würden, wenn er einem Schwarzen eine Machtstellung gab; aber seiner Meinung nach war Leon den Aufgaben eines Aufsehers durchaus gewachsen. Er würde bei seinen eigenen Leuten niemals die brutalen Methoden Hansons anwenden, um sie zur Arbeit anzuhalten und sie zu überzeugen, dass der Weg in den Norden nicht mit Gold gepflastert war und dass sie dort oben von den Leuten, welche ihnen jetzt Freiheit und Gleichheit predigten, auch nicht besser als auf Wildwood behandelt werden würden.

Der Hengst scheute nervös, als er Fremde spürte. Shanna wich schnell vor dem riesigen Tier zurück.

„Streicheln Sie ihn“, sagte Rafe leise. „Er tut Ihnen nichts. Bei Menschen, die er mag, ist er lammfromm.“

„Auch Lämmer können stoßen“, meinte Tante Lea und blieb ein Stück hinter Shanna zurück, als diese näher trat und zaghaft den Kopf des Pferds berührte. „Sei vorsichtig, Kind.“

Balthazar schnupperte an Shannas Fingern. Augenblicklich war ihre Angst verschwunden. Dann blickte sie auf und sah direkt in Rafes Augen. Sofort war wieder eine seltsame Intimität zwischen ihnen da.

Auch Tante Lea spürte das, denn sie runzelte ein wenig die Stirn. Ein gewalttätiger Mann und ein unschuldiges Kind! Niemals konnte daraus ein Paar werden.

„Haben Sie Lust, mit mir auszureiten?“ Die Frage kam so unerwartet, dass Shanna beinahe das Herz stockte. „Mein Zorn hat sich gelegt. Jetzt will ich versuchen, etwas von dem Schaden, den Hanson und mein Bruder angerichtet haben, zu beseitigen. Und wenn Sie den Besitz sehen, werden Sie merken, dass ich keinen Unsinn geredet habe.“

„Es ist schon so lange her, seit ich zum letzten Mal geritten bin“, sagte Shanna. Sie spürte, dass Tante Lea von der Idee keineswegs begeistert war; aber nach einem weiteren Blick auf die hübsche Stute schob sie die Bedenken beiseite. Was konnte schon passieren, wenn sie die Einladung annahm? Es würde gut sein, mit jemandem zu sprechen, der ihr Grauen vor dem Krieg verstand, und eine Zeitlang in Gesellschaft eines Menschen zu verbringen, den sie mochte – ebenso wie Tante Lea. Die Gute hatte ohne Murren ihr grüblerisches Schweigen während der langen Depressionen ertragen. „Ja, ich komme gern mit.“

Ja, Shanna mochte Rafe Amberville. Er weckte zwar in ihr verwirrende Gefühle, doch schließlich war er nur für kurze Zeit auf Wildwood. Wenn er wieder ins Feld ritt, würde er sie bald vergessen haben. Sie konnte ihn für einen Augenblick das Grauen, dem er entronnen war, vergessen lassen – so wie er sie. Beide wollten sie ausspannen und vergessen.

„Geben Sie mir ein paar Minuten, damit ich etwas Passenderes anziehen kann.“

Warum war sie so aufgeregt? Die Antwort wusste Shanna, als sie die Freude in seinen Augen las, dass sie seine Einladung annahm.

„Der ist ebenso schlimm wie sein Bruder“, sagte Tante Lea, als sie ins Haus gingen. „Kaum ein paar Stunden zu Hause und schon denkt er, er hätte eine Eroberung gemacht. Du machst eine Dummheit, Kind. Glaube mir.“

Weil Rafe Amberville sie angesehen hatte und ihr mit seinen Blicken vermittelt hatte, dass sie eine begehrenswerte Frau war? Bisher war das keinem Mann gelungen, auch nicht ihrem Verlobten. Nie hatte der junge Robert Dalton derartige Gefühle bei ihr erweckt. Sie waren miteinander aufgewachsen, Spielkameraden, und hatten, ohne Fragen zu stellen, hingenommen, dass beide Familien sie eines Tages verheiratet sehen wollten. Sie hatten diese Tatsache akzeptiert und Freundschaft für Liebe gehalten. Shanna hatte das tiefe Feuer, das wahre Liebe entfachen kann, niemals kennengelernt.

„Nun, was halten Sie jetzt von Wildwood?“, fragte Rafe und zügelte Balthazar am Rand eines Baumwollfeldes. Erwartungsvoll blickte er Shanna an.

Die Sonne hatte ein wenig Farbe auf die Wangen gemalt, die beim Frühstück noch so blass gewesen waren. Shanna sah aus wie kaum achtzehn und nicht wie beinahe einundzwanzig. Allerdings musste er zugeben, dass das eng anliegende Reitkostüm nicht die Formen eines blutjungen Mädchens, sondern die einer überaus reizvollen Frau umschloss. Es war schon Jahre her, seit ihn eine Frau erregt hatte. Niemals hatte es eine Dame seines Herzens gegeben, daher hatte er bisher auch allen Überredungskünsten widerstehen können, vor den Altar zu treten.

Rafe hatte einige kurze Affären gehabt, welche ihn für den Augenblick befriedigten, aber nie banden. Nichts und niemand hatten die Stelle von Wildwood in seinem Herzen einnehmen können. Nur dem Krieg war es gelungen, ihn von dem Einzigen, das ihm im Leben wichtig war, wegzubringen.

Für einen Augenblick erinnerte er sich an die Frau, mit der er die letzte Nacht verbracht hatte, ehe er Wildwood verließ. Jung, schön, erfahren – und verheiratet. Der Gedanke an den Abschied von der Heimat hatte ihn so bedrückt, dass er seine eigene Goldene Regel brach und mit einer verheirateten Frau schlief. Im Vergleich war Shanna de Lancel ein unschuldiger Engel! Und wenn es nach seinem Vater ging, würde sie seinen Bruder ehelichen und die nächste Herrin auf Wildwood sein.

„Ich finde, dass Sie sehr viel Glück haben, Ihr Heim noch zu besitzen“, sagte Shanna und überlegte, warum seine Augen plötzlich so kalt blickten. Obwohl er sie direkt ansah, hatte sie das Gefühl, dass er sie nicht wahrnahm. Er war so in Gedanken verloren, dass sie ihn nicht nach dem Grund fragen wollte. Offenbar schmerzliche Erinnerungen. In ihm steckte nicht nur Jähzorn, sondern eine tiefe schmerzliche Verwundung, die nicht heilte. Wer auch immer ihn verletzt hatte, er sorgte dafür, dass diese Wunde sich nicht schloss.

„Ich vermisse mein Heim sehr, die Plantage, welche wir außerhalb von Baton Rouge hatten“, fuhr sie fort. „Tante Lea und ich flohen dorthin, als der Yankee-General diese hasserfüllte Anordnung erließ. Danach konnte man nicht mehr in New Orleans bleiben. Keine Frau war mehr sicher!“

Auch Rafe war schockiert gewesen über den rohen Befehl an die Truppen der Union, welche New Orleans besetzten. Gegeben hatte ihn Generalmajor Benjamin F. Butler, Militärgouverneur der Stadt.

Der Generalbefehl Nummer Achtundzwanzig, ausgegeben am 15. Mai 1862, besagte, dass jedes weibliche Wesen in der Stadt, welches einen Offizier oder Soldaten der Armee der Vereinigten Staaten durch Worte, Gesten oder Bewegungen beleidigte oder ihm Verachtung bewies, als Prostituierte anzusehen sei, die ihrem Gewerbe nachging, und dementsprechend zu bestrafen sei.

Die Frauen in New Orleans hatten auf die Feinde in ihrer Mitte nicht anders reagiert als alle andere Frauen in der Welt: Sie hatten sie abgewiesen und wie die Pest gemieden. Dafür hatten sie teuer bezahlen müssen.

„Aber die Yankees haben uns dort auch gefunden“, fuhr Shanna schließlich fort. Sie fühlte, dass Rafe wartete, dass sie ihm ihr Herz ausschüttete und dadurch die Bürde, die sie trug, erleichterte. Er drängte sie aber keineswegs. Ruhig holte er eine Zigarre aus der Jackentasche und fragte, ob sie es störe, wenn er rauche. Shanna schüttelte den Kopf. Ihr Vater hatte Pfeife geraucht. Als sie den würzigen Tabakgeruch wahrnahm, wurde ihr schmerzlich bewusst, dass sie nie wieder zu seinen Füßen sitzen und ihm die Pfeife wie früher stopfen würde.

„Doch es ist Ihnen gelungen zu fliehen“, sagte Rafe ruhig. Auch er wünschte sich sehnlichst, jemandem sein Herz ausschütten zu können; aber niemand konnte seine Probleme lösen, und sie konnten auch nicht beiseitegeschoben werden. Nur inmitten des Schlachtengetümmels, wenn Soldaten verwundet wurden und fielen, inmitten des Schreiens und Stöhnens und des Kanonendonners, war Wildwood aus seinen Gedanken verdrängt. Doch nachts stieg das Bild der Plantage wieder vor ihm auf, ganz gleich, wie erschöpft er auch war, gleichsam wie eine Oase der Stille, sodass er die grauenvollen Ereignisse des Tages vergaß, ehe er in den Schlaf versank.

„Sie kamen in der Nacht wie Diebe.“ Shanna schloss die Augen, als der Albtraum nochmals vor ihr auftauchte. Doch gleich darauf öffnete sie sie wieder, denn sie wusste, dass sie hier in Sicherheit war und der Schrecken hinter ihr lag. „Die meisten Sklaven waren fortgelaufen. Nur sechs waren geblieben. Aber als sie die Soldaten sahen, liefen sie auch fort und versteckten sich. Als alles vorbei war, kamen sie wieder und wollten bleiben; doch es war nichts mehr da, wo sie hätten bleiben können. Die Yankees brannten das Haus nieder, nachdem sie es geplündert hatten, dann die Scheunen und die Stallungen, alles. Sie wüteten wie die Vandalen …“ Shanna erschauderte bei der Erinnerung.

„Tante Lea hat mir das Leben gerettet, als sie mich holen wollten. Sie hat in jener Nacht für mich getötet. Seit ich zehn bin, sorgt sie für mich, und bis zu jenen grauenvollen Ereignissen dachte ich, dass ich sie genau kannte. Ich bin über Nacht erwachsen geworden. Das kleine Mädchen wurde konfrontiert mit der Realität des Krieges. Es war entsetzlich. Ohne Tante Lea hätte ich nie überlebt. Irgendwie sind wir nach Atlanta gekommen. Ich nahm Zimmer in einer Pension, um in der Nähe meines Vaters zu sein … nach allem, was geschehen war, wollte ich niemals mehr fern von ihm sein …“

Shannas Augen füllten sich mit Tränen. Sie versuchte, sie zu unterdrücken, aber die Flut der Erinnerungen war stärker. Sie hatte nicht geweint, als sie vom Tod des geliebten Vaters gehört hatte, doch jetzt konnte sie die Tränen nicht aufhalten.

Sie bemerkte nicht, dass Rafe abstieg. Plötzlich spürte sie seine Arme um ihre Taille. Sanft hob er sie aus dem Sattel. Dann trug er sie in den Schatten der Bäume am Flussufer. Sie spürte seine Stärke, als er sie an die Brust zog. Ihre Tränen durchweichten sein Hemd. Wortlos setzte er sich mit ihr unter einen Baum und hielt sie fest an sich gepresst, bis nach einer Weile der Aufruhr der Gefühle abebbte.

Danach lag Shanna erschöpft, mit geschlossenen Augen, an seiner Brust. Wie lange sie so blieb, wusste sie nicht. Irgendwann wurde sie sich bewusst, wie besitzergreifend er sie in den Armen hielt, und machte sich frei. Flammende Röte stieg in ihre Wangen. Schnell wischte Shanna die Spuren der Tränen fort.

„Was müssen Sie nur von mir denken! Ich habe nicht so geweint, seit mein Bruder gefallen ist.“

„Es ist nicht gut, wenn man die Gefühle zurückdrängt“, sagte Rafe leise.

Shanna strich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Sie haben leicht reden! Wenn ich ein Mann wäre, könnte ich auch die Menschen, die ich nicht mag, niederschlagen, so wie Sie vorhin Jack Hanson; aber bei einer Frau ist das anders. Man erwartet von ihr, dass sie nie die Beherrschung verliert. Meine Mutter hat mir einmal gesagt: Obwohl man uns wie Porzellanpuppen behandelt, sind wir doch die stärkeren.“

„Ihre Mutter war eine sehr kluge Frau. Meine Mutter war eine Kämpferin. Ihr ganzes Leben hat sie darum gekämpft, einen Mann zu halten, der kaum wusste, dass sie existierte – so wie er auch mich ignoriert. Sie hat gekämpft, hier Frieden zu bewahren, wenn seine rauen Methoden die Nachbarn abstieß, sodass sie uns nicht mehr besuchen wollten. Sie hat darum gekämpft, die beiden Familien zusammenzuhalten – ihre und die meines Vaters –, und am Ende haben sie diese Kämpfe umgebracht. Sie starb ungeliebt in dem Zimmer neben meinem. Meine Stiefmutter wollte das Zimmer, aber ich habe gedroht, es in Brand zu stecken, wenn sie auch nur einen Fuß dort hineinsetzte. Ich glaube, an jenem Tag wurde meinem Vater und mir klar, dass wir uns immer hassen würden. Immer würde sie zwischen uns stehen.“

Rafe brach ab. Ein Lächeln maskierte den Schmerz in den Augen, den die Erinnerungen heraufbeschworen hatten. „Ich dachte eigentlich, dass ich Sie trösten wollte. Aber Sie haben etwas an sich, Shanna de Lancel, so eine ruhige Art, dass ein Mann sich in Ihrer Gesellschaft einfach wohlfühlen muss. Seit Langem war ich nicht mehr so entspannt.“

„Tante Lea hat gesagt, dass ich unter einem Glückszeichen geboren wurde“, meinte Shanna, wegen des Kompliments verlegen. Früher hätte sie kokett den Fächer geschwenkt und es ohne Zögern angenommen. In New Orleans war sie nie ohne Anstandsdame ausgegangen. Sie war schön, die Tochter eines prominenten Mannes und einer Mutter aus ersten Kreisen, außerdem Erbin eines beträchtlichen Vermögens. Sie hatte Zugang zu allen Häusern der vornehmsten Familien und wurde von allen Männern, die sie kennenlernte, als mögliche Heiratskandidatin umschwärmt. Schnell hatte sie gelernt, dass ein gestohlener Kuss oder eine schnelle Zärtlichkeit – wenn die wachsame Tante Lea es nicht sah – keineswegs bedeutete, dass der betreffende Mann sie aufrichtig liebte. Nein, er begehrte sie nur – und ihr beträchtliches Erbe. Manchmal gab sie die Hoffnung auf, jemals eine so tiefe Beziehung zu finden wie die, die sie mit Vater und Bruder teilte. Die meisten Freundinnen waren mit achtzehn schon verheiratet. Auch Robert Dalton, ihr Verlobter; wollte, dass sie heirateten, ehe er in den Krieg zog; aber sie hatte abgelehnt und ihn damit vertröstet, dass der Krieg bald vorbei sei und sie dann ihr Eheleben ohne die dunkle Wolke der Trennung beginnen könnten.

Nach seinem Tod hatte sie sich bittere Vorwürfe deswegen gemacht. Im Lauf der Zeit akzeptierte sie jedoch den wahren Grund ihrer Entscheidung: Sie hatte ihn nicht geliebt. Nicht so, wie sich ihre Eltern liebten. Nicht einmal so, wie sie ihren Bruder James liebte. Shanna suchte nach einer Liebe, welche alle Schwierigkeiten und Stürme des Lebens überdauerte. Eine Liebe auf ewig! Gab es überhaupt eine Erfüllung dieses unmöglichen Traums?

Shanna war ziemlich sicher, dass Rafe Amberville sich bei Frauen nicht mit belanglosen Reden aufhielt. Er sah gut aus und war selbstsicher. Bestimmt holte er sich vom Leben, was er wollte. Er wirkte keinesfalls unentschlossen. Sein Leben war hier auf Wildwood. Nein, die Plantage war sein Leben! Eine verzehrende Leidenschaft, welche kaum Raum für andere Dinge – oder einen anderen Menschen – ließ. Die Frau, die ihn liebte, musste dieses akzeptieren oder riskieren, ihn auf immer zu verlieren.

„Dann gefällt Ihnen also mein Reich?“, fragte Rafe und ließ die Blicke langsam umherschweifen. Entlang des Flusses erstreckten sich die Reisfelder, dahinter meilenweit Baumwolle, welche in der Junisonne aufblühen würde. Es sah nach einer guten Ernte aus, die nach dem Krieg einen großen Wert darstellte – falls die Plantage ihn überlebte.

„Ihr Reich“, wiederholte Shanna leise. „Wo Sie König und oberster Herrscher sind?“

„Ja, wie meine Mutter, ehe sie den Verstand verlor und meinen Vater heiratete.“ Seine Augen folgten dem klaren Wasser, welches den Weg zurückfloss, auf dem sie gekommen waren: vorbei an den Koppeln und Stallungen, den Sklavenquartieren und Baumwolllagerhallen. Auf dem Rückweg wollte er Shanna noch das Räucherhaus, die Getreidescheunen, die Pferde auf den üppig grünen Weiden und die Viehställe zeigen. Und dann zurück zum Haus, wo Erinnerungen und Hass auf ihn warteten.

„Aber warum hat sie ihn denn geheiratet?“, fragte Shanna, obwohl sie Bedenken hatte, in seine schmerzliche Vergangenheit zu dringen. Aber offenbar machte ihm die Frage nichts aus. Sie spürte beinahe Erleichterung, dass er über diese frühen Jahre sprechen konnte – die gleiche Erleichterung, welche sie vor Kurzem in seinen Armen erlebt hatte.

„Nun, ich möchte Ihre zarten Ohren nicht beleidigen.“ Er lächelte ihr beinahe spitzbübisch zu. „Daher sage ich nur so viel: Meine Mutter und mein Vater waren vor der Eheschließung etwas mehr als nur Freunde. Sie war im zweiten Monat schwanger, als er ‚überredet‘ wurde, sie zu heiraten. Das war allerdings nicht allzu schwer, da ihr Vater ein sehr reicher Mann war. Die Heirat wurde kein Erfolg. Mit jedem Tag verschlechterte sich die Situation. Getrennte Zimmer, getrennte Leben. Ich bedeutete für meine Mutter die ganze Welt, und sie für mich ebenso. Aber nun habe ich meine Seele für heute genug erleichtert. Ich habe sie herausgelockt, damit Sie Ihre Sorgen vergessen.“

„Das haben Sie auch erreicht. Sie haben mir klargemacht, dass es noch mehr Leute auf der Welt gibt, die einen geliebten Menschen verloren haben. Ich bin nicht allein“, antwortete sie. Dann spürte sie seinen Atem an ihrem Hals, als er sich vorbeugte, um ihr mit dem durchdringenden Blick in die Augen zu sehen, welcher ihr Herz in Aufruhr versetzte. Das ist doch albern, schalt sie sich. Wir sind eigentlich Fremde. Wie kann er diese Wirkung auf mich haben? Noch kein Mann hatte sie so beeindruckt. Wahrscheinlich dämpften die sentimentalen Augenblicke, welche sie zusammen erlebt hatten, ihr Urteilsvermögen. Rafe Amberville war Soldat und ging schon bald zurück in den Krieg. Und niemand wusste, ob er heil wiederkommen würde. Nein, sie wollte kein weiteres Herzeleid.

Shanna wusste, dass sie hätte aufstehen sollen, als er ihre Hand in seine nahm und langsam die langen, schlanken Finger betrachtete. Die Berührung war unpersönlich, nicht jedoch der Blick der blauen Augen. Das plötzliche Aufleuchten hätte sie warnen müssen, aber sie war wie hypnotisiert. Willenlos ließ sie sich an seine Brust ziehen. Dann beugte er sich über sie, sodass sein sonnengebräuntes Gesicht ganz nah war.

„Gestern Nacht waren Sie zu einem müden Krieger sehr freundlich, kleine Shanna. Ich habe es Ihnen schlecht gedankt“, sagte er leise.

„Ich … ich – das hätte ich für jeden in der gleichen Situation getan“, erklärte sie verwirrt.

„Aber Sie haben diese Freundlichkeit mir erwiesen. Daher finde ich es nur recht und billig, wenn ich Ihnen dafür danke. Gestern Nacht war ich nicht in der Stimmung dazu. Verzeihen Sie mir bitte.“

„Ich dachte, wir hätten diese Angelegenheit abgeschlossen. Es gibt nichts zu verzeihen. Sie waren müde und wurden nicht so willkommen geheißen, wie Sie es erwartet hatten“, stieß Shanna hervor.

„Willkommen geheißen!“, rief Rafe. „Weder Vater noch Bruder heißen mich willkommen. Vielleicht freuen sich Abraham und Hannah. Ja, die beiden bestimmt. Und auch Leon und sein jüngerer Bruder. Wir vier haben gemeinsam viel durchgemacht. Aber sonst freut sich niemand, mich wiederzusehen.“

Das klang, als sei er ganz allein auf der Welt. Dabei hatte er eine Familie, sie nicht! Ganz gleich, wie verfahren die Situation war, in ihren Adern floss das gleiche Blut. Es war unglaublich, dass er sich von ihnen abkehren konnte, als würden sie nicht existieren. Aber hatten sie mit ihm nicht das Gleiche gemacht? Würde es ihm wehtun, wenn er Vater oder Bruder verlor? Wenn er der Kugel eines Yankees zum Opfer fiel – Gott möge verhüten, dass dies geschah –, würde sein Vater doch um ihn trauern, oder etwa nicht?

Was war los mit ihr? Rafe Amberville bedeutete ihr doch gar nichts! Er kam näher. Sein Atem auf ihrer Wange war wie eine warme Brise. Dann löste er die Kämme, mit denen Tante Lea ihr Haar so kunstvoll aufgesteckt hatte. Ehe sie es verhindern konnte, fielen die dunklen Locken über die Schultern. Rafe wickelte eine Locke um den Finger und zog sie damit langsam näher heran, sodass ihre Lippen sich beinahe berührten.

Er will mich küssen!, dachte Shanna in Panik. Das durfte sie auf keinen Fall zulassen.

„Wir sollten jetzt zurück zum Haus reiten“, schlug sie vor und wollte zurückweichen. Doch das war unmöglich.

„Was, ehe ich Ihnen meine Dankbarkeit gezeigt habe?“, scherzte Rafe.

Shanna war schon früher geküsst worden, aber sie war überhaupt nicht auf das Feuer vorbereitet, das durch sie hindurchströmte, als sein Mund ihre Lippen berührte. Er war nicht so dominierend wie in der vergangenen Nacht, sondern behutsam, jede Sekunde auskostend. Bei diesem langen Kuss zeigte sich, dass Rafe Erfahrung besaß, eine Frau zu betören, denn Shannas Sinne riefen nach mehr. Sie wusste, dass es unmöglich war, trotzdem hatte sie das Gefühl, dass die Erde unter ihr bebte.

Nur einen Augenblick spürte Rafe ihren Widerstand, dann sank sie in stummer Hingabe an seine Brust. Er legte sie auf die Erde. Der Zauber des Augenblicks – oder war es Wahnsinn? – raubte ihm fast die Sinne. Der Duft der Haarflut, die seine Wange umwehte, der schwache Hauch von Orangenblüte ihres Parfüms, das wilde Pochen ihres Herzens unter dem dünnen Stoff der Bluse, der Druck der festen Brüste gegen ihn – alles das erinnerte ihn daran, wie lange es her war, seit er eine Frau in den Armen gehalten und geliebt hatte.

Doch ernüchterte ihn dieser Gedanke mit einem Schlag, sodass er zurückwich. Shanna war nicht wie die anderen Frauen, mit denen er im Lauf der Jahre Beziehungen eingegangen war. Das hatte ihm die kindlich unerfahrene Begierde ihrer Lippen enthüllt. Sie war in der Tat noch unschuldig und verdiente nicht, ein Opfer seiner Lust zu werden – oder seines Wunsches, die Pläne seines Vaters zu durchkreuzen. Nein, Shanna war nicht für ihn bestimmt!

Der Ansturm der Gefühle, welcher Shanna überwältigt und jede natürliche Vorsicht beiseitegefegt hatte, begann langsam abzuebben. Sie fühlte sich wie ausgelaugt und verwirrt durch Rafes plötzliche Veränderung.

„Ich … ich verstehe nicht …“, sagte sie stockend, als er ihre Hand nahm und ihr beim Aufstehen half. Was hatte sie falsch gemacht? Bei ihren Worten hatte es in Rafes blauen Augen aufgeblitzt, doch dann lächelte er und schüttelte den Kopf.

„Nein, Shanna, das können Sie auch nicht. Genau deshalb bringe ich Sie jetzt sofort zurück zum Haus.“ Er wischte Erde von ihrem Rock und musterte sie kritisch. Die geröteten Wangen konnte man der Einwirkung der Sonne zuschreiben. Tante Lea würde nicht misstrauisch werden. Rafe war ziemlich sicher, dass sie beim Haus auf die Rückkehr der beiden wartete – und auch sein Vater.

Als er Shanna in den Sattel geholfen hatte, ließ er die Hand auf ihrer liegen. Keine Spur von Spott lag in der Stimme oder im Gesicht. „Ich möchte, dass wir Freunde sind, Shanna.“

„Das sind wir“, antwortete sie und nahm schnell die Zügel auf. Freunde – nicht mehr! Das hatte sie klar herausgehört. Wie konnte auch irgendjemand oder irgendetwas für ihn wichtig sein, wo doch Wildwood sein Leben ganz ausfüllte?

Sie hatten schon beinahe die Stallungen erreicht, als Rafe Balthazar bei einer Gruppe Schwarzer anhielt, die sorgfältig die Blumenbeete neben dem Gartenweg jäteten. Shanna zügelte ihre Stute ebenfalls. Erstaunt sah sie, wie Rafe sich tief aus dem Sattel beugte und einer alten Negerin einen Klaps auf den Hintern versetzte. Die alte Frau richtete sich empört auf. Doch dann leuchtete ihr Gesicht vor Freude, als sie Rafe erkannte.

„Master Rafe, Sie wieder zu Hause! Jetzt wird alles gut!“

„Ich wünschte, ich könnte bleiben. Aber in ein paar Tagen …“ Rafe zog resigniert die Schultern hoch.

Wie ruhig er die Tatsache hinnimmt, dass er wieder in den Krieg reiten muss, dachte Shanna. Denkt er denn nicht daran, was ihm dort bevorsteht? Er kann verwundet oder gefangen werden und in ein Gefängnis im Norden gebracht werden. Man sagte, dass diese mehr als jede Schlacht oder der Tod gefürchtet wurden wegen der grauenhaften Zustände, die dort herrschten!

„Du siehst gut aus, Mammy. Wie geht’s Jacob und Lisette?“

Bei der Frage füllten sich die Augen der alten Negerin mit Tränen. Mehrere der anderen Arbeiter hatten aufgehört zu jäten und hörten zu, obwohl sie wussten, dass sie die Peitsche zu spüren bekämen, wenn der verhasste Aufseher Hanson sie beim Nichtstun erwischte. Er verschonte niemanden, ganz gleich, ob Mann, Frau oder Kind. Und sollte eine der jüngeren Frauen seine Aufmerksamkeit erregen, drohte ihr ein noch schlimmeres Schicksal.

„Jacob ist letzten Herbst gestorben, Master Rafe. Das Fieber hat ihn weggeholt. Mr. Hanson hat gesagt, dass es nichts ist und dass er weiterarbeiten muss. Das hat mein Mann gemacht, und das hat ihn umgebracht. Seitdem bete ich jeden Abend, dass Gott den Aufseher tot umfallen lassen soll.“

„Hanson wird niemandem auf Wildwood mehr etwas tun“, sagte Rafe. Wie viele sinnlose Tote hatte es noch gegeben, nur weil die Gesichter der Menschen schwarz waren und man sie für unwichtig hielt? „Ich habe ihn von Leon heute aus der Plantage wegschaffen lassen. Er kommt nicht zurück.“

„Gott segne Sie, Master Rafe! Wir wussten, dass alles gut wird, wenn Sie zurückkommen.“ Ihre Worte wurden von den Umstehenden wiederholt. Shanna fühlte die Erleichterung und sah, wie die Anspannung aus den Gesichtern wich.

„Und Lisette?“, wiederholte Rafe. Er erinnerte sich an das Mädchen. Fünfzehn war es gewesen, als er fortritt. Hübsch, mit glänzenden Augen. Schon damals hatte sie das Interesse seines Bruders erweckt. Er hatte Wayne mit so flammenden Worten geschildert, was passieren würde, wenn er die Kleine nicht in Ruhe ließ, dass sein Bruder weiß wie die Wand geworden war.

Autor

Elizabeth Lane
Immer auf der Suche nach neuen Abenteuern und guten Stories, hat Elizabeth Lane schon die ganze Welt bereist: Sie war in Mexiko, Guatemala, Panama, China, Nepal und auch in Deutschland, aber am wohlsten fühlt sie sich im heimatlichen Utah, im Westen der USA. Zurzeit lebt sie mit ihrer 18jährigen Katze...
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Valentina Luellen
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