Historical Exklusiv Band 21

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DER MEISTERDIEB von SIMMONS, DEBORAH
Kostbare Juwelen sind verschwunden! Aufgeregt verfolgt die schöne Georgiana die Spur des Täters - Seite an Seite mit dem faszinierenden Jonathan, Marquis of Ashdowne. Doch während er ihr junges Herz mit heißen Küssen erobert, drängt sich ihr bald ein erschreckender Verdacht auf: Jonathan selbst ist der Dieb!

AUF VERBOTENEN WEGEN von HENDERSON, BETH
Lillith schwebt in Lebensgefahr, seit sie einen Mord beobachtete. Nur in den Armen von Deegan Galloway - ein Mann, der in der Unterwelt so zu Hause ist wie auf den Bällen der feinen Gesellschaft - scheint sie sicher. Doch wie lange noch? Können sie gemeinsam dem Täter das Handwerk legen, ehe Lillith sein nächstes Opfer wird?


  • Erscheinungstag 13.09.2009
  • Bandnummer 21
  • ISBN / Artikelnummer 9783862956395
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Gewagt wie die Liebe

DEBORAH SIMMONS

Der Meisterdieb

Wer hat Lady Culpeppers Juwelen gestohlen? Die bezaubernde Amateurdetektivin Georgiana ermittelt – aber nicht allein! Unterstützt wird sie von dem geheimnisvollen Jonathon, Marquis of Ashdowne. Er ist der erste Mann, der ihre Sinne berührt. Doch leider bald auch der Hauptverdächtige. Hat Georgiana sich womöglich in einen berüchtigten Juwelendieb verliebt?

BETH HENDERSON

Auf verbotenen Wegen

Ihre Vorliebe für gewagte Motive wird der Fotografin Lillith zum Verhängnis, als sie Zeugin des Mordes an einer Dirne wird. Vom Täter entdeckt, flieht sie in die Nacht. Geradewegs in zwei starke Arme, die sie hinter einer Hausecke in Sicherheit bringen. Deegan Galloway heißt ihr Retter, bei dessen Berührung sie jähes Verlangen verspürt …

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1. KAPITEL

Keiner nahm Georgiana Bellewether wirklich ernst.

Sie empfand es als eine ausgesprochene Bürde, dass sie mit den verführerischen Kurven einer Venus, einer Fülle blonder Locken und großen blauen Augen, die man wiederholt mit klaren Seen verglichen hatte, geschlagen war. Die meisten Menschen, denen sie begegnete, waren nach einem einzigen Blick auf sie überzeugt, dass sie nichts im Kopf haben konnte. Männer hielten Frauen sowieso nicht für intelligent, doch in ihrem Fall gingen sie davon aus, dass sie eine einfältige Gans sein musste.

Es war einfach trostlos.

Ihre Mutter war eine gute Seele, wenn auch ein wenig fahrig, ihr Vater ein beleibter, liebenswürdiger Landjunker, und Georgiana glaubte, dass sie zweifelsohne glücklicher geworden wäre, wenn sie ein wenig mehr ihren Eltern geähnelt hätte. Bedauerlicherweise war sie jedoch die Einzige der vier Bellewether-Sprösslinge, die nach ihrem Großonkel Morcombe schlug, der ein bekannter Gelehrter mit einem scharfen Verstand war. Seit ihren ersten Gehversuchen hatte Georgiana alles verschlungen, was sich ihr an Wissen bot. Sie übertraf in wenigen Jahren ebenso die Fähigkeiten ihrer Gouvernante wie die des Hauslehrers ihres Bruders und die der Lehrerinnen an der Schule für höhere Töchter.

Ihre besondere Begabung bestand in ihrer Fähigkeit, knifflige Denkaufgaben zu lösen, und oft verwünschte sie die Tatsache, dass sie als Frau auf diese Welt gekommen war und somit ihr Talent niemals nutzen und etwa ein Londoner Detektiv werden konnte. Statt mit souveränen Kombinationen Beweisketten zu schließen und tollkühn ruchlose Schurken zur Strecke zu bringen, wie sie es so gern getan hätte, musste sie sich damit begnügen, ihre Geistesgaben anzuwenden, indem sie sämtliche Kriminalfälle in den Zeitungen verfolgte und an der Aufklärung alltäglicher Rätsel arbeitete, wie sie sich ihr in Chatham’s Corner boten, jenem kleinen Dorf, in dem ihr Vater gemütlich als Gutsherr und Vertreter der Krone residierte.

Doch in diesem Jahr, das schwor sie sich, würde es anders werden. Ihre Familie hatte sich für den Sommer nach Bath begeben, und Georgiana hatte die Absicht, ihre neue Umgebung bestmöglich im Sinne ihres Talentes zu nutzen. In diesem berühmten Kurort musste sich ihr ja wohl zumindest ein verzwicktes kriminelles Vorkommnis bieten, an dem sie ihre Fähigkeiten messen konnte. Unter den vielen unterschiedlichen Menschen hier in Bath befanden sich doch wohl sicher auch weniger harmlose Zeitgenossen, als es die ländlichen Bewohner in ihrer vertrauten Umgebung waren.

Nach einer Woche, die Georgiana vornehmlich mit Besuchen in der Trinkhalle, dem „Pump Room“, und mit Spaziergängen auf den Straßen während der dafür genehmen Stunden zugebracht hatte, musste sie zu ihrem Leidwesen zugeben, dass sie enttäuscht war. Auch wenn es ihr Freude machte, alles zu erkunden, so hatte sie bisher doch nur denselben ähnlich langweiligen Menschenschlag kennengelernt, der ihr bereits zur Genüge bekannt war. Noch schlimmer fand sie allerdings, dass es weit und breit nicht den Hauch eines Falles zu entdecken gab.

Mit einem Seufzen schaute sich Georgiana in den Empfangsräumen des reich ausgestatteten Stadthauses von Lady Culpepper um. Sie sehnte sich nach einer Ablenkung, die sie sich nun hier, auf dem ersten richtigen Ball, den sie in Bath besuchte, erhoffte. Doch wieder einmal erblickte sie nur die stets anwesenden Witwen vornehmen Standes und gichtkranke Gentlemen, wie sie ganz Bath bevölkerten. Ein paar Mädchen, die jünger als Georgiana zu sein schienen, waren mit ihren in sie vernarrten Müttern gekommen, wohl in der Hoffnung, unter den männlichen Kurgästen einen Ehemann zu ergattern. Bedauerlicherweise hatte Georgiana bisher noch keine Altersgenossin getroffen, die an etwas anderes als an die Ehe dachte.

Sie wandte sich ab, und ihr Blick blieb an der eleganten Gestalt eines Mannes haften, der ganz in Schwarz gekleidet war. Endlich einmal etwas Mysteriöses, dachte Georgiana und kniff die Augen zusammen. Man musste bei Weitem nicht so aufmerksam sein wie sie, um zu dem Schluss zu gelangen, dass das Auftauchen des Marquess of Ashdowne in Bath höchst ungewöhnlich war. Schließlich stand der Badeort bei der modebewussten feinen Gesellschaft schon seit fünfzig Jahren nicht mehr so hoch im Kurs. Gut aussehende und charmante Aristokraten, wie Ashdowne einer war, blieben in London oder folgten dem Prinzregenten nach Brighton. Oder sie verbrachten ihre Zeit, wie Georgiana vermutete, mit dem Feiern skandalträchtiger Feste auf ihren riesigen, eleganten Landsitzen.

Nicht zum ersten Mal, seitdem sie von Ashdownes Aufenthalt erfahren hatte, fand Georgiana sein plötzliches Interesse an Bath recht merkwürdig. Sie hätte gern gewusst, warum er hier war. Dazu musste sie es jedoch zuerst einmal schaffen, ihm vorgestellt zu werden. Er war vor ein paar Tagen angekommen und hatte bereits alle jungen, unverheirateten Damen, einschließlich ihrer Schwestern, in kopflose Aufregung versetzt. Dementsprechend schwierig machte es die große Menge der Frauen, die ihn umgab, einen Blick auf ihn zu erhaschen.

Er hatte eines der begehrten Häuser am Camden Place gemietet, und dies war nun das erste Mal, dass ihn die Allgemeinheit zu Gesicht bekam. Es hieß, er sei hier, um die Wirkung des Heilwassers zu erproben, doch Georgiana fand die Erklärung abstrus, da Ashdowne noch nicht einmal dreißig war und nicht den Eindruck machte, als litte er unter einer kränklichen Konstitution. Er konnte nicht indisponiert sein, dessen war sie sich sicher, als die Menge sich endlich teilte und sie den Mann besser betrachten konnte.

Er sah aus wie das Wohlbefinden in Person. Der Marquess of Ashdowne war wahrscheinlich der am gesündesten aussehende Mann, den Georgiana jemals zu Gesicht bekommen hatte. Ihr stockte bei seinem Anblick beinahe der Atem. Er war groß, etwa einen Meter fünfundachtzig, und schlank, ohne mager zu sein – dabei breitschultrig und kraftvoll. Der Marquess besaß einen Charme und eine Haltung, wie sie Georgiana bei einem Vertreter des übersättigten, dekadenten Modegeschmacks nie erwartet hätte.

Geschmeidig – dieses Wort kam ihr in den Sinn, als sie seine elegante Gestalt in der teuren Kleidung betrachtete und ihre Blicke langsam zu seinem Gesicht hochwandern ließ. Seine Haare waren dunkel und glänzten, seine Augen von einem verführerischen Blau, und sein Mund war … Georgiana fand keine treffenden Worte, um ihn zu beschreiben. Die Lippen hatten einen sinnlichen Schwung und eine kleine Einbuchtung über der Oberlippe. Sie schluckte und musste zugeben, dass Ashdowne über die Maßen gut aussah.

Und dazu hellwach.

Diese Erkenntnis traf sie wie ein Schlag, denn obwohl Georgiana sich der falschen Beurteilungen, die aufgrund der äußeren Erscheinung gefällt wurden, sehr bewusst war, so hatte sie doch angenommen, dass jemand, der so wohlhabend, einflussreich und gut aussehend war, nicht auch noch mit Verstand gesegnet sein konnte. Doch sie hatte sich getäuscht, denn während sie ihn noch voller Verwunderung betrachtete, traf sie der Blick des Marquess of Ashdowne, dessen Augen vor Intelligenz funkelten. Wäre sie ein wenig eitler gewesen, hätte sie seine Aufmerksamkeit ihrem Interesse an ihm zugeschrieben, denn es schien, als hebe er sie aus der Menge heraus.

Georgiana trat einen Schritt zurück. Sie schämte sich, ihn so angestarrt zu haben. Als daraufhin eine von Ashdownes dunklen Augenbrauen fragend zuckte, errötete sie. Sie fächelte sich Luft zu und schaute bewusst woandershin. Schließlich hatte sie den Mann nur genau betrachtet, so wie sie es auch mit anderen Menschen tat, und es gefiel ihr nicht, dass er sie so vertraulich angeschaut hatte. Ashdowne hielt sie vermutlich für eines dieser hingebungsvollen Geschöpfe, die angesichts seines Charmes reihenweise in Ohnmacht fielen.

Sie drehte sich rasch um und durchquerte fast den gesamten hellen Empfangsraum, ehe ihr klar wurde, dass sie gerade die ideale Gelegenheit verpasst hatte, um mit ihm bekannt zu werden. So etwas Dummes! Ärgerlich klappte sie ihren Fächer zusammen, da sie es eigentlich besser hätte wissen müssen, als ihre persönlichen Gefühle einer Untersuchung in die Quere kommen zu lassen. Sie konnte sich kaum einen Detektiv vorstellen, der einen Fall nicht weiterverfolgte, weil einer seiner Verdächtigen ihn allzu vertraulich angeschaut hatte.

Mit einem unwilligen Laut drehte sie sich um und wollte an ihren vorherigen Platz zurückkehren, musste jedoch feststellen, dass er bereits durch andere Frauen, junge und ältere, besetzt war. Dann erschien auch schon ihre Mutter und drängte sie, mit einem jungen Mann zu tanzen. Georgiana fügte sich ihrem Wunsch, da lange Erfahrung sie gelehrt hatte, dass es besser war, sich auf kein Streitgespräch einzulassen.

Schon bald stellte sie fest, dass Mr. Nichols ein netter Mann aus Kent war, der mit seiner Familie in Bath weilte. Als er jedoch stockend über solch langweilige Themen wie das Wetter und die hiesige Gesellschaft reden wollte, verlor sie bald das Interesse. Obwohl sie immer wieder versuchte, einen Blick auf Ashdowne zu werfen, entdeckte sie ihn erst in dem Moment, in dem der Marquess mit einer jungen Witwe, die ihre Trauer leichtfertig vergessen zu haben schien, dem Garten zustrebte.

Georgiana runzelte die Stirn, als sie während des Gesellschaftstanzes erneut mit Mr. Nichols zusammentraf. Geistesabwesend nickte sie nur, wenn er ihr Fragen stellte. Sie brachte wirklich keine Geduld für eine solche Zeitvergeudung auf. Leider kannte sie den verklärten Blick ihres Tanzpartners nur allzu gut. Sobald sich seine Augen auf sie richteten, würden sie bestimmt auf ihren Locken oder ihrem schmalen Hals verweilen, oder – was noch schlimmer wäre – an ihrem üppigen Dekolleté, das sie, der Mode entsprechend, großzügig zur Schau stellte. Darauf hatte ihre Mutter bestanden.

Natürlich achtete er in keiner Weise darauf, was sie zu sagen hatte, sodass Georgiana öfters das Bedürfnis verspürte, ihm etwas Ungehöriges zuzuflüstern oder einen Mord zu gestehen, um somit zumindest seine Aufmerksamkeit zu erregen. Gewöhnlich konnte man ihre Bewunderer in zwei Gruppen teilen: Jene, die sich überhaupt nicht darum kümmerten, was sie sagte, und jene, die sehnsüchtig an jedem ihrer Worte hingen.

Unglücklicherweise konnte sie mit den Letzteren genauso wenig anfangen wie mit den Ersteren, denn sie hatte es noch nie geschafft, ein sinnvolles Gespräch mit ihnen zu führen. Mit anbetungsvollem Hundeblick stimmten sie allem zu, was sie sagte. Eigentlich hätte sie sich inzwischen daran gewöhnen sollen, aber sie empfand dennoch stets einen leichten Stich der Enttäuschung.

Ihre Mama pries gern die Vorzüge der Ehe und des Daseins als Mutter, doch wie sollte Georgiana sich auch nur vorstellen können, mit einem solchen Mann wie Mr. Nichols den Rest ihres Lebens zu verbringen? Wie viel schwieriger war es allerdings, in ihrem kleinen Bekanntenkreis jemand anderen kennenzulernen! Bildung war in Adelskreisen meist nicht sehr hoch angeschrieben, und selbst diejenigen, die eine gewisse Erziehung genossen hatten, schienen durch Georgianas Äußeres nicht gerade daran erinnert zu werden.

Wie ein Fluch lastete ihr Aussehen auf ihr. Deshalb entmutigte sie auch all ihre Bewunderer, was ihrer Mutter gar nicht gefiel. Doch sie hatte sich bereits mit der Vorstellung abgefunden, ihr Leben als alte Jungfer zu verbringen, wobei sie zumindest die Freiheit besitzen würde, sich so zu geben und so zu handeln, wie es ihr gefiel – vorausgesetzt, dass ihr Großonkel Morcombe ihr das versprochene kleine Einkommen tatsächlich hinterlassen würde. Sie wünschte sich aber keineswegs, dass er schon bald das Zeitliche segnen würde.

Zu ihrer großen Erleichterung endete schließlich der Tanz. Georgiana beauftragte Mr. Nichols, ihr einen Eisbecher zu holen. Das verschaffte ihr die dringend notwendige, wenn auch nur kurze Erholung von seiner Gegenwart.

„Ist er nicht wunderbar?“, flüsterte ihre Mutter ihr zu. „Ich habe aus zuverlässiger Quelle erfahren, dass sein Großvater ihm einen ansehnlichen Landbesitz in Yorkshire vererbt, der ihm gut tausend Pfund im Jahr einbringen wird.“

Die Ernsthaftigkeit im Gesicht ihrer lieben Mama hielt Georgiana davon ab, ihre Hoffnungen mit einer heftigen Bemerkung zunichtezumachen. Wenn es nicht Mr. Nichols war, dann würde ihr ein anderer Gentleman aufgedrängt werden; deshalb nickte sie nur geistesabwesend, während sie den Saal nach Ashdowne absuchte. Zu ihrer Überraschung befand er sich nun auf der Tanzfläche und bewegte sich dabei mit einer solchen Eleganz, dass sie auf einmal ein Kribbeln im Magen verspürte.

„Entschuldige mich bitte“, sagte sie geistesabwesend und entfernte sich von ihrer Mutter.

„Aber Mr. Nichols …“

Georgiana hörte nicht auf den Einwand ihrer Mutter und mischte sich unter die Menge. Obwohl sie Ashdowne inzwischen wieder aus den Augen verloren hatte, war sie doch froh, ihre liebe Mama und Mr. Nichols hinter sich lassen zu können. Langsam bahnte sie sich ihren Weg durch die Schar der Ballbesucher, schnappte hier und da ein paar Worte auf und beobachtete das Geschehen. Diese Art der Beschäftigung war ihr eine der liebsten, da es immer die Möglichkeit gab, dass sie zufällig etwas vernahm, das zu einem späteren Zeitpunkt wichtig werden konnte. Natürlich kein Klatsch, sondern etwas, das für eine Untersuchung lohnend sein mochte.

In diesem Fall das, was man sich über Ashdowne erzählte.

Leider hörte sie nicht viel Nützliches, nur dass er äußerst wagemutig und sehr charmant sei und so weiter und so fort. Er war der jüngere Sohn, der den Titel erst geerbt hatte, nachdem sein älterer Bruder vor einem Jahr plötzlich gestorben war. Es machte den Anschein, als ob er sich in seiner neuen Rolle recht wohlfühlte, so jedenfalls glaubte eine gut informierte Dame mittleren Alters zu wissen, obwohl er nicht überheblich war, wie man an seiner besonnenen Haltung deutlich erkennen konnte und so weiter und so fort. Überall wurde sie Zeuge ähnlicher Lobreden. Die Bewunderung, die Ashdowne so bereitwillig gezollt wurde, ging Georgiana immer mehr auf die Nerven, und sie verspürte den abstrusen Wunsch, den Mann irgendeiner Schuld überführen zu können.

„Ah, Georgie!“ Georgiana verkniff sich ein Stöhnen und drehte sich zu ihrem Vater um, der neben einem vertrocknet aussehenden Gentleman stand. Sie nahm an, dass es sich um einen weiteren potenziellen Ehekandidaten handelte, und unterdrückte das Verlangen, laut schreiend aus dem Saal zu rennen.

„Mr. Hawkins, darf ich Ihnen meine älteste Tochter vorstellen? Ein hübsches Mädchen, wie ich ja schon sagte, und dabei nicht auf den Kopf gefallen. Ich bin überzeugt, dass sie sich sehr für Ihre Studien interessieren dürfte.“

Georgiana, die ihren Vater nur zu gut kannte, nahm an, dass er sich ganz und gar nicht dafür erwärmen konnte und deshalb seinen neuen Bekannten so schnell wie möglich auf sie abwälzen wollte.

„Georgie, meine Liebe, das ist Mr. Hawkins. Er ist gerade in Bath eingetroffen und hofft, hier eine Anstellung zu finden. Er ist Vikar und obendrein ausgesprochen gebildet.“

Georgiana lächelte gequält und schaffte es, Mr. Hawkins mit der angemessenen Höflichkeit zu begrüßen. Er besaß eine gewisse streng wirkende Anziehungskraft, doch etwas in seinen grauen Augen gab ihr zu verstehen, dass er nicht die sanfte, arglose Seele war wie ihr eigener Dorfvikar Marshfield.

„Es ist mir ein Vergnügen, Miss Bellewether“, sagte der Mann. „Doch von einer Dame wie Ihnen kann man nicht erwarten, dass sie in die Feinheiten der Philosophie eingeweiht ist. Ich vermute, dass sogar die meisten Männer es schwierig finden würden, mit meinen Kenntnissen mitzuhalten, denn ich habe mein Leben dem Studium der Philosophie gewidmet.“

Bevor Georgiana noch einwerfen konnte, dass sie Platon, der ja schließlich die Wissenschaft der Logik begründet hatte, aufs Höchste verehrte, fuhr Mr. Hawkins fort: „Rousseau findet ja nun, nach all den Unannehmlichkeiten, die sich in jüngster Zeit in Frankreich abgespielt haben, nicht mehr viel Wertschätzung. Ich für meinen Teil kann allerdings nicht einsehen, warum er dafür verantwortlich gemacht werden soll, was mit den Unglücklichen dort drüben geschehen ist.“

„Dann glauben Sie also, dass …“, setzte Georgiana an, doch Mr. Hawkins schnitt ihr das Wort ab.

„Aber die aufgeklärtesten Männer müssen ja oft wegen ihres Genies leiden“, erklärte er hoheitsvoll.

Man musste nicht besonders klug sein, um zu erkennen, dass der eingebildete Vikar sich selbst zu den verfolgten Geistern zählte. Georgianas kurzzeitig aufgeflammtes Interesse wurde augenblicklich im Keim erstickt. Auch bei diesem Mann würde sie keine geistigen Anreize finden, da Mr. Hawkins offensichtlich auf Erklärungen seiner selbst spezialisiert war und niemand anderen zu Wort kommen ließ.

Sie unterdrückte ein Gähnen, während er sie mit langatmigen Ausführungen überschüttete, die ihr den Eindruck vermittelten, dass er recht wenig von dem verstand, was er von sich gab. Kein Wunder, dass ihr Vater ihn so schnell wie möglich loswerden wollte! Auch Georgiana erreichte rasch die Grenzen ihrer Geduld.

„Ach, da ist ja unsere Gastgeberin“, sagte sie mit der Absicht, Mr. Hawkins sich selbst zu überlassen, doch er ließ sie nicht so leicht gehen.

„Ich bin wahrhaftig überrascht, dass sie ihr Haus auch für diejenigen geöffnet hat, die gesellschaftlich unter ihr stehen. Nach meiner Erfahrung sind die Angehörigen ihres Standes den weniger Glücklichen dieser Welt gegenüber selten zuvorkommend.“

Obwohl Lady Culpepper durchaus die herablassende Art einer Adeligen an den Tag zu legen vermochte, so empfand Georgiana sie doch nicht schlimmer als die meisten anderen. „Ich gebe zu, dass sie sich vielleicht etwas wohlwollender verhalten könnte, aber …“

„Wohlwollender?“ Mr. Hawkins schnitt Georgiana mit einem nicht gerade höflichen Schnauben das Wort ab, wobei eine seltsame Heftigkeit aus seiner Stimme klang. „Die Dame und ihre Standesgenossen sind nicht gerade dafür bekannt, anderen gegenüber wohlwollend zu sein, sondern vielmehr dafür, andere mit ihrer Macht und ihrem Geld zu beherrschen. Sie sind schlichtweg oberflächlich und kümmern sich um nichts anderes als um ihre eigensüchtigen Belange.“

Mr. Hawkins’ plötzlicher giftiger Ausbruch überraschte Georgiana, doch so schnell wie er kam, war er auch wieder verschwunden. Stattdessen zeigte sich ein recht teilnahmsloser Ausdruck auf seinem Gesicht. „Nun ja, ein Mann in meiner Position muss in allen Teilen der Gesellschaft zu Hause sein“, fügte er hinzu, was sich fast so anhörte, als ob er mit der von ihm gewählten Laufbahn unzufrieden sei.

„Ihre Berufung verlangt es wohl, die Leute dazu zu bringen, barmherziger zu sein“, bemerkte Georgiana leichthin.

Mr. Hawkins schenkte ihr ein so herablassendes Lächeln, dass sich ihr die Haare vor Wut sträubten. „Es spricht für Sie, dass Sie an so etwas denken, doch kann ich kaum von einer so bezaubernden Dame erwarten, dass sie die Schwierigkeiten meiner Position versteht“, sagte er. Georgiana verspürte das dringende Bedürfnis, ihn mit einem Tritt in eine neue Position zu befördern. „Tatsächlich glaube ich, dass Sie, Miss Bellewether, diesen öden Ball mit Ihrer Schönheit überstrahlen und das Einzige sind, das den Abend erträglich macht.“

Die Annahme Georgianas, dass der Mann zu sehr von sich selbst beeindruckt war, um sie überhaupt wahrzunehmen, erwies sich leider als falsch, denn sein Blick wanderte auffallend häufig zu ihrem Dekolleté, während er sich so angetan über sie äußerte. Für ihren Geschmack begutachtete er sie ein wenig zu aufmerksam, vor allem, da es sich bei ihm ja schließlich um einen Geistlichen handelte. „Entschuldigen Sie mich bitte“, sagte sie plötzlich und stürzte sich in die Menge, bevor er erneut zu einem langatmigen Vortrag ansetzen konnte.

Sie mischte sich unter die Gäste und hielt Augen und Ohren offen, um irgendetwas Interessantes aufzuschnappen, und blieb dann hinter einer prächtigen Topfpflanze von ausladenden Ausmaßen stehen, von wo aus sie unbeobachtet mehreren Unterhaltungen gleichzeitig lauschen konnte. Alle waren unglaublich langweilig. Als sie schließlich mit wachsender Unzufriedenheit weitergehen wollte, hörte sie dicht neben sich Geraschel und ein Flüstern, das etwas Interessantes zu versprechen schien.

Unauffällig ging sie noch näher heran und lugte durch das Blattwerk hindurch, um einen Blick auf die Sprechenden zu erhaschen. Sie sah einen recht bullig wirkenden Mann, dessen Haare sich bereits erheblich gelichtet hatten, und erkannte in ihm Viscount Whalsey. Er war ein Mann in mittleren Jahren, von dem es hieß, dass er unter den Besucherinnen von Bath nach einer reichen Frau Ausschau hielt. Lord Whalsey war bei den Damen auch recht beliebt, selbst wenn er ein bisschen zu sehr von sich eingenommen zu sein schien. Als sie hinter einem besonders großen Blatt hervorspähte, konnte sie sehen, wie er sich gespannt zu einem spitzgesichtigen jüngeren Mann hinüberbeugte. Die beiden schienen in eine ernste Unterhaltung vertieft zu sein. Georgiana lehnte sich noch ein wenig weiter nach vorn.

„Also? Hast du es?“, erkundigte sich Whalsey, in dessen Stimme eine Anspannung zu hören war, die Georgiana sogleich noch mehr die Ohren spitzen ließ.

„Nun … noch nicht“, erwiderte der andere Mann ausweichend.

„Was zum Teufel soll denn das heißen? Ich dachte, du wolltest es heute Abend holen! Verdammt, Cheever, du hast mir doch versichert, dass es kein Problem für dich wäre, du …“

„Warten Sie doch“, sagte der Mann namens Cheever in einem beschwichtigenden Tonfall. „Sie kriegen es. Aber es gab eine kleine Komplikation.“

„Was meinst du denn?“, zischte Whalsey. „Und untersteh dich, mehr Geld zu verlangen!“

„Nein, ich konnte nicht herausfinden, wo es ist.“

„Was?“, rief Whalsey. „Du weißt doch genau, wo es sich befindet! Nur darum sind wir doch in dieses schrecklich langweilige Provinznest gekommen.“

„Natürlich ist es hier, aber es liegt ja nicht offen herum. Ich muss es erst einmal suchen, und bisher hatte ich dazu keine Gelegenheit, da sich immer irgendein Idiot in der Nähe aufhält.“

Georgiana, die für den Moment Ashdowne ganz vergessen hatte, hielt den Atem an und streckte ihren Kopf noch weiter in die Blätter.

„Wer denn?“, erkundigte sich Whalsey.

„Das Dienstpersonal.“

„Heute Nacht ist die letzte Chance, du Hohlkopf! Was stehst du hier noch herum?“

„Nun, wenn ich schon hier bin, kann ich mich ruhig auch ein bisschen amüsieren, oder etwa nicht?“, meinte Cheever aufsässig. „Es ist nicht gerecht, wenn Sie tanzen und sich unterhalten, während ich die ganze Drecksarbeit mache!“

Whalseys Gesicht lief rot an, und er öffnete den Mund, so als ob er laut werden wollte. Doch zu Georgianas Enttäuschung schien er sich in den Griff zu bekommen und senkte seine Stimme so weit, dass sie sich anstrengen musste, ihn zu verstehen. „Wenn du hinter mehr Geld her bist – du weißt, dass ich keinen Penny habe, um …“

Georgiana, die nun fast nichts mehr hören konnte, lehnte sich zwischen dem üppigen Blätterwerk so weit vor wie nur möglich, als die Pflanze in ihrem chinesischen Übertopf auch schon bedenklich zu schwanken begann. Das brachte auch sie ins Wanken. Sie stieß einen unterdrückten Schreckenslaut aus und griff nach einem der armdicken Stiele, in der Hoffnung, so noch die Pflanze und sich selbst halten zu können. Einen Augenblick lang schien Georgiana in der Luft zu hängen, während sie in die entsetzten Gesichter von Lord Whalsey und Cheever starrte.

Sie war so sehr auf das eilig flüchtende Paar konzentriert, dass sie den anderen Mann erst sah, als es bereits zu spät war, und sie mitsamt der Topfpflanze vornüberkippte und auf ihn niederkrachte, sodass er und sie mitsamt den misshandelten Überresten der riesigen Staude zwischen ihnen und um sie herum auf dem Boden lagen.

Wie von fern hörte Georgiana überraschte Rufe, als sie versuchte, wieder auf die Füße zu kommen. Ihre Beine jedoch schienen mit denen des Mannes, der unter ihr lag, verknotet, und ihr Ballkleid hatte sich skandalös weit nach oben geschoben und ihre Fesseln enthüllt. Am schlimmsten jedoch war, dass ihr nun alle weiteren Einzelheiten des hinterlistigen Plans entgangen waren, den die zwei Männer offenbar ausheckten. So etwas Dummes!

Sie blies sich eine Locke, die nach vorn gefallen war, aus dem Gesicht und machte Anstalten, sich aufzusetzen. Da hörte sie einen Schmerzenslaut, als ihr Knie mit einem bestimmten Teil der männlichen Anatomie in Berührung kam. Georgiana stieß einen entsetzten Schrei aus und versuchte aufzuspringen, doch ihre ineinander verwickelten Unterröcke hielten sie zurück und ließen sie noch einmal vornüberfallen.

Wieder konnte Georgiana Ausrufe hören, und dann spürte sie, wie eine Hand sie fest um die Taille fasste. Als sie den Kopf hob, zuckte sie erschreckt vor dem Gesicht zurück, das auf einmal vor ihr auftauchte. Die dunklen Augenbrauen hoben sich nicht mehr ironisch nach oben, sondern waren zusammengezogen, sodass die ebenmäßigen Züge darunter unheilverkündend verzerrt erschienen. Statt des anziehenden Mundes erblickte sie etwas, das einem Zähnefletschen sehr nahe kam. „Hören Sie um Himmels willen endlich zu zappeln auf!“, knurrte der Mann.

„Lord Ashdowne!“, keuchte Georgiana. Sie wurde starr vor Entsetzen, dann hoben seine Hände sie bereits mühelos an und stellten sie auf die Füße. Verlegen trat sie einen Schritt zurück, doch er hielt sie noch immer, und Georgiana wurde sich auf einmal der Hitze bewusst, die von seiner Berührung ausging. Wie Feuer brannte seine Haut durch den dünnen Seidenstoff, den sie trug, und entflammte die ihre, wobei eine angenehme Wärme durch ihren Körper zu strömen schien.

Merkwürdig! Georgiana starrte ihr Gegenüber gebannt an. Er war noch wesentlich schöner, wenn man ihm nahe war; seine Augen leuchteten so blau, dass die ihren im Vergleich dazu bestimmt trüb anstatt klar erschienen. Georgiana fühlte ein seltsames Kribbeln in der Magengegend. Noch während sie ihn so anschaute, ließ er sie los und trat zurück, wobei sein markantes Gesicht einen höchst verärgerten Ausdruck zeigte. Er hob eine schlanke Hand, um den Schmutz von seiner eleganten Seidenweste abzuklopfen. Zu ihrer Empörung sah der Marquess sie an, als wäre sie ein unangenehmes Ungeziefer, das er am liebsten zerdrücken oder zumindest so schnell wie möglich loswerden würde.

Georgiana riss sich aus ihrer Benommenheit und murmelte so leise eine Entschuldigung, dass es wie der atemlose Unsinn einer entzückten Verehrerin klang. Und dann spürte sie auch noch, wie ihre Wangen vor Scham feuerrot anliefen – dabei hatte sie geglaubt, über dieses Alter hinaus zu sein! Sie war doch keine von diesen heiratswütigen Mädchen! Verzweifelt suchte sie nach den richtigen Worten, um dies Seiner Lordschaft irgendwie zu vermitteln. Doch ihre stotternde Entschuldigung wurde durch das Eintreffen ihrer Mutter unterbrochen, die gemeinsam mit zwei Dienern herbeieilte. Die beiden Hausangestellten machten sich sogleich daran, die Erde, die über den ganzen Teppich verteilt war, zusammenzukehren.

„Georgie!“ Sie zuckte entsetzt zusammen, als sie ihren Kosenamen so laut vernahm. Dabei überhörte sie Ashdownes gemurmelte Gemeinplätze. Noch bevor sie mit ihm sprechen konnte, empfahl er sich und ging fort, ganz so, als ob er erleichtert wäre, ihrer Gesellschaft ledig zu sein. Georgiana gefiel es ganz und gar nicht, von ihrer Mutter und ihren Schwestern umringt zu werden, während er in der Menge verschwand.

„Georgie! Was um Himmels willen hast du denn gemacht? Blattläuse gesucht?“, fragte ihre Mutter und betrachtete die Pflanze, wohl in der Hoffnung, dass sie eine Erklärung liefern würde. Als diese jedoch nichts von sich gab, wandte sie sich wieder an ihre Tochter.

„Hübsches Mädchen, aber leider nicht allzu graziös.“ Die durchdringende Stimme ihres Vaters veranlasste Georgiana genauso zu einer Grimasse, wie es das Geplapper ihrer Schwestern tat. Warum musste ihre ganze Familie denn ein solches Aufheben machen?

„Sind Sie in Ordnung, Miss Bellewether?“ Als ob ihre Lage nicht bereits schlimm genug war, hatte Mr. Nichols sich nun auch noch eingefunden. Das war allerdings kaum zu vermeiden gewesen, wenn man bedachte, was für ein Theater sie veranstaltet hatte. „Es ist ja auch nicht verwunderlich, dass so etwas passiert, wenn derart viele Gäste anwesend sind und der ganze Boden mit Hindernissen vollgestellt ist.“ Er schüttelte den Kopf, und sein Blick wanderte über Georgianas zerknittertes Ballkleid zu ihrer Fessel hinab. Georgiana strich sich eilig den Rock zurecht und seufzte, als ihre Mutter sie zu einem in der Nähe befindlichen Stuhl drängte, wo Mr. Nichols ihr das Eis unter die Nase hielt, das bereits zu schmelzen begonnen hatte.

Während alle sich um sie kümmerten, verspürte Georgiana das Bedürfnis, aufzuspringen und so weit wie möglich zu entfliehen. Es war ihr besonders unangenehm, dass alle Augen im Saal auf sie gerichtet zu sein schienen, vor allem wenn man bedachte, dass sie ja versucht hatte, unauffällige Beobachtungen anzustellen. Sie hatte wirklich grandios versagt – und ausgerechnet in dem Augenblick, in dem ihr endlich einmal etwas Interessantes zu Ohren gekommen war.

Georgiana gab ihrer Mutter ungeduldig zu verstehen, endlich von ihr zu lassen, und suchte dann die Menge nach Lord Whalsey und seinem Begleiter ab. Sie entdeckte nur Ashdowne. Obgleich er mit der Gastgeberin zu sprechen schien, ruhte sein Blick doch auf ihr, und sein Mund verzog sich vor Empörung, als ob er sie für das vorangegangene Missgeschick allein verantwortlich machen würde.

So etwas Dummes! Schließlich hatte sie ihn nicht gerufen, ja, ihr war es nicht einmal aufgefallen, dass er ihr zu Hilfe eilte. Demnach konnte er es ihr kaum vorwerfen, wenn sein Versuch, sie zu retten, fehlgeschlagen war. Ohne ihn wäre es besser gelaufen, dachte sie und errötete wieder. Am liebsten hätte sie ihm das gesagt, aber die Möglichkeit, mit ihm zu sprechen, war wieder vorübergegangen und sie trug selbst die Schuld daran.

Ein richtiger Detektiv hätte beim Anblick eines attraktiven Gesichts sicherlich nicht gestarrt wie ein einfältiges Schulmädchen, sondern vielmehr das Beste aus diesem zufälligen Zusammentreffen gemacht. Er hätte Ashdowne gefragt, aus welchem Grund er sich denn in Bath aufhalte, und dessen Antworten geschickt dazu genutzt, ihn zu überführen. Welchen Vergehens, war Georgiana nicht ganz klar, aber sie war fest entschlossen, es zu finden.

Sie wollte erneut einen Blick auf das Objekt ihrer Überlegungen werfen und stellte überrascht fest, dass Ashdowne bereits wieder verschwunden war. Lady Culpepper sprach mit einer Dame, die einen Turban trug. Erstaunt stieß Georgiana die Luft aus, sodass eine ihrer Locken hin und her wippte, und schüttelte den Kopf. Dieser Mann war einmal hier und einmal da, um dann plötzlich ganz zu verschwinden. Sie war froh, dass sie nicht zu Aberglauben neigte, denn sonst hätte sie ihm leicht übernatürliche Fähigkeiten zugesprochen.

„… wie klare Seen.“ Mr. Nichols’ Stimme brachte sie in die Wirklichkeit zurück. Sie setzte ein gequältes Lächeln auf und versuchte mehr Geduld aufzubringen, als sie das gewöhnlich tat. Es gelang ihr auch für ein paar Minuten, doch dann gab sie auf und entschuldigte sich.

Ihrer Mutter gegenüber behauptete sie, dass sie sich nach dem Missgeschick etwas frisch machen müsse, und eilte durch den Saal, wobei sie sich nach Whalsey und Cheever umsah, jedoch ohne Erfolg. Als sie Mr. Hawkins erblickte, der sich gerade auf sie zu bewegte, floh sie entsetzt in den Garten, wo sie erst einmal erleichtert aufatmete.

In der nächtlichen Luft lag der Duft der Sommerblumen, die versteckte Gartenwege säumten und nur durch das Funkeln der Sterne erhellt wurden. Eine andere junge Dame hätte sich vielleicht an dem Zauber des Abends erfreut, doch Georgiana fühlte sich in keiner Weise danach. Sie fragte sich vielmehr, wer sich wohl dort draußen in der Dunkelheit herumtrieb. Hatten sich Whalsey und sein Kumpan an einen abgeschiedeneren Ort zurückgezogen, um ihre verdächtigen Geschäfte dort weiter zu besprechen? Nur Georgianas angeborene Vernunft hielt sie davon ab, ihrer Neugierde freien Lauf zu lassen und die nächtlichen Wege zu betreten.

Mit einem Seufzer verfluchte sie ihr Geschlecht, das sie männlichen Vorstellungen und Plänen unterwarf und ihr innerhalb der Gesellschaft Beschränkungen auferlegte. Ein Londoner Detektiv konnte gehen, wohin er wollte, ob dies nun ein nächtlicher Garten war oder eine heruntergekommene Gegend in der Hauptstadt. Ach, was muss das doch für ein herrliches Leben sein; sie überlegte keinen Moment, wie ein solcher Mann überhaupt auf ein solches Fest gelangen würde. Minutenlang stellte sie sich entzückt die großartige Karriere vor, die sie hätte haben können, wenn sie nur als Mann geboren worden wäre.

Georgiana hätte sicherlich noch länger dort gestanden und sich ihren angenehmen Gedankenspielen überlassen, wenn nicht auf einmal ein lautes Kichern hinter einem der nahe gelegenen Büsche zu vernehmen gewesen wäre. Seufzend entschloss sie sich, zu dem Fest zurückzukehren, bevor sie Zeugin eines heimlichen Rendezvous wurde, das sie überhaupt nicht interessierte. Zweifelsohne suchte ihre Mutter auch bereits nach ihr, da es allmählich spät wurde und die achtbare Familie Bellewether sicherlich bald aufbrechen wollte.

Nachdem sie einen letzten Blick auf den dunklen Rasen geworfen hatte, drehte sich Georgiana um und huschte durch die Glastüren in den Empfangssaal zurück. Sie wollte gerade ihre Familie suchen, als ein Schrei ertönte, der ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Verblüfft drehte sie sich in die Richtung um, aus der er gekommen war, und sah ihre Gastgeberin, Lady Culpepper, gemeinsam mit der turbantragenden Dame, die Georgiana bereits vorhin beobachtet hatte, die Treppe heruntereilen.

Die beiden Frauen wirkten völlig aufgelöst, und Georgiana lief auf sie zu. Sie erreichte den Fuß der Treppe gerade rechtzeitig, um zu hören, wie die Turbanträgerin etwas über eine Halskette flüsterte. Dann ertönte bereits eine Stimme, die über das aufgeregte Gemurmel der Menge hinweg rief: „Lady Culpeppers berühmte Smaragde sind gestohlen worden!“

Während sich noch die Nachricht über den Diebstahl wie ein Lauffeuer im Empfangssalon, im restlichen Haus und sicherlich auch in ganz Bath verbreitete, erhielt Georgiana, die sich weigerte, nach Hause zu gehen, bevor sie nicht die ganze Geschichte erfahren hatte, den ersten atemlosen Bericht der Geschehnisse. Mrs. Higgott, die Frau mit dem Turban, erzählte ihr, was sich abgespielt hatte.

Nachdem Georgiana das aufgeregte Gestammel und Geplapper auf die nackten Tatsachen reduziert hatte, ergab sich Folgendes: Die zwei Frauen hatten über Lady Culpeppers Juwelen gesprochen, und Mrs. Higgott hatte sich bewundernd über das Smaragdcollier geäußert, das in der feinen Gesellschaft als der Stolz der Kollektion Ihrer Ladyschaft angesehen wurde. Lady Culpepper hatte daraufhin – entweder aus Eitelkeit oder aus Freundlichkeit – angeboten, ihr das teure Stück zu zeigen. Die beiden waren nach oben in die Gemächer der Gastgeberin gegangen, wo sie den geöffneten Schmuckkasten vorfanden. Das besagte Collier war verschwunden, und das Fenster stand offen.

Da den ganzen Abend über ein Diener in der Halle vor der Tür gestanden hatte, wurde angenommen, dass der Dieb es irgendwie geschafft hatte, am Gebäude außen hochzuklettern – ein Kunststück, das beinahe genauso ausführlich besprochen wurde wie der Diebstahl selbst. Obgleich Georgiana ihren Bruder Bertrand später dazu brachte, sie bei einem Rundgang des Anwesens zu begleiten, konnte sie in der Dunkelheit nichts erkennen. Auch ihre Bemühungen, die zwei Frauen eingehender zu befragen, schlugen fehl. Aus Rücksichtnahme auf Lady Culpepper brachen die Besucher recht rasch auf, und alle äußerten sich schockiert darüber, dass ein solches Verbrechen im ruhigen Bath geschehen konnte.

Alle außer Georgiana.

2. KAPITEL

Am Morgen nach dem Diebstahl stand Georgiana schon früh auf, da diese erste echte Herausforderung an ihre Fähigkeiten sie in große Aufregung versetzte. Sie nahm im Salon an ihrem Schreibtisch aus Rosenholz Platz und schrieb alles auf, was ihr noch über den Abend und die Gesellschaft im Gedächtnis geblieben war. Leider hatte sie weder den Tatort selbst begutachten noch die Betroffenen verhören können, sodass sie froh war, zumindest während des Vorfalls anwesend gewesen zu sein.

Das Rätsel, das es zu lösen galt, war wahrhaftig eine harte Nuss und nicht mit einem gewöhnlichen Verbrechen zu vergleichen. Jemand hatte das Ganze gut durchdacht und viel gewagt. Georgiana lächelte geistesabwesend, während sie alles niederschrieb, was ihr wichtig erschien. Als Erstes war natürlich der Zeitpunkt interessant. Wann hatte Lady Culpepper das Zimmer das letzte Mal betreten, bevor sie mit Mrs. Higgott dorthin zurückkehrte? Und was war mit dem Diener, der vor dem Zimmer Wache stand? Hatte er nichts gehört? War er wirklich den ganzen Abend über dort gewesen oder hatte er seinen Posten einmal verlassen?

Welches Zimmer war es? Konnte man durch einen anderen Raum dort hineingelangen? Georgiana wäre überglücklich gewesen, wenn sie nach irgendwelchen Indizien hätte forschen können, die der Dieb zurückgelassen hatte – einschließlich des Schmuckkästchens. Soweit sie das wirre Gerede der beiden Frauen verstanden hatte, war die Schatulle mit den restlichen Juwelen noch da.

Georgiana runzelte die Stirn. Warum stahl jemand nur die Halskette? War es dem Dieb nicht möglich gewesen, mehr mitzunehmen? Gewiss, ein Mann, der an der Hauswand hoch- und vielleicht auch wieder hinuntergeklettert war, konnte nicht besonders viel transportieren, aber ein paar kleinere Schmuckstücke hätten sich in den Taschen seiner Kleidung sicher unterbringen lassen. Oder war er in Eile gewesen, weil er fürchten musste, jeden Moment überrascht zu werden? Wie auch immer – Georgiana konnte sich keinen Reim darauf machen, warum jemand einen solch umständlichen Plan verfolgt hatte, um ins Haus einzubrechen. Vielleicht hat der Dieb ja auch ein Seil nach oben geworfen, dachte sie. Da sie nicht recht wusste, wie so etwas funktionierte, nahm sie sich vor, Bertrand zu fragen. Außerdem wollte sie sich unbedingt das Haus bei Tageslicht ansehen.

Wenn sie doch nur das Zimmer begutachten könnte! Die offene Schmuckschatulle erinnerte sie an irgendetwas, doch da es ihr im Augenblick nicht einfiel, kritzelte sie schnell eine Notiz auf das Papier und nahm sich dann ein weiteres Blatt, um ihre Verdächtigen aufzuschreiben. Ihre Hand zitterte vor Aufregung, denn der Diebstahl war nicht nur eine Herausforderung an ihren Verstand, sondern auch eine Chance für sie. Wenn sie dieses Rätsel lösen und den Namen des Schuldigen der Polizei nennen konnte, dann würde sie endlich die Anerkennung bekommen, nach der sie sich so sehnte.

Sie stützte ihren Kopf in die Hand und lächelte träumerisch, während sie sich vorstellte, wie sie öffentlich gelobt werden würde, vor allem, wenn sie es schaffte, den gestohlenen Schmuck wiederzubeschaffen. Noch wichtiger als die Bewunderung war ihr jedoch die Möglichkeit, sich einen Namen zu machen. Sie malte sich begeistert eine Zukunft aus, in der Menschen aus dem ganzen Land zu ihr, Georgiana Bellewether, kamen, um sie bei mysteriösen Vorfällen zurate zu ziehen.

In Gedanken an solch glorreiche Aussichten seufzte sie entzückt und wandte sich wieder dem vor ihr liegenden Problem zu. Als Erstes war es schließlich notwendig, herauszufinden, wer nun Lady Culpeppers Halskette gestohlen hatte. Natürlich konnte es sich bei dem Dieb um jemand handeln, den sie, Georgiana, nicht kannte, der sich in kriminellen Kreisen bewegte und nur auf seine Chance gewartet hatte. Doch ihr Ahnungsvermögen sprach dagegen. Kein gewöhnlicher Gauner würde ausgerechnet an einem Abend, an dem es in dem betreffenden Haus vor Gästen und Dienern nur so wimmelte, einen Einbruch wagen.

Wer auch immer für die Tat verantwortlich war, hatte keine Zeit damit verloren, andere Zimmer zu durchsuchen, sondern genau gewusst, wo er seine Beute finden würde. Plötzlich ließ Georgiana die Hand sinken und hob den Kopf, während ihr wieder die Unterhaltung, die sie heimlich mit angehört hatte, in den Sinn kam. Bereits das Geflüster war ein Hinweis darauf gewesen, dass Lord Whalsey und Mr. Cheever etwas Schändliches planten. Doch hätte sie nie geglaubt, dass die beiden ein derart gewagtes Verbrechen zu bewerkstelligen vermochten.

Mit grimmigem Gesicht schrieb Georgiana alles auf, was die beiden gesagt hatten, einschließlich Mr. Cheevers Bemerkung, dass ihn die Anwesenheit der Diener bis dahin abgehalten hatte, „es“ zu holen. Ach, das ist ja alles wirklich einfach, dachte Georgiana, und während sie Mr. Cheever und den Mann, für den er arbeitete, als Erste auf ihre Liste setzte, stellte sie sich wieder vor, wie sie berühmt wurde.

So vielversprechend ihr die beiden Verdächtigen auch zu sein schienen, wollte Georgiana doch alle Möglichkeiten durchgehen. Deshalb überlegte sie sich, wer sonst noch an jenem Abend da gewesen war, der für das Verbrechen verantwortlich sein könnte. Bei dem Schuldigen könnte es sich um einen Diener handeln, dachte sie, auch wenn solche Fälle selten waren. Wer von den Bediensteten hätte außerdem Zeit gehabt, während des Fests am Haus hochzuklettern? Sie hoffte, dass sich die Gelegenheit ergeben würde, Lady Culpeppers Dienstboten zu befragen, um möglicherweise wichtige Informationen aus ihnen herauszubringen.

Was die Gäste betraf, fiel es Georgiana nicht leicht, allzu viele Verbrechenskandidaten aus der gehobenen Gesellschaft von Bath auf ihre Liste zu setzen. Die meisten hielt sie für zu dumm, um ein so raffiniertes Verbrechen zu begehen, und wieder andere erschienen ihr zu ehrlich und einfallslos, als dass sie auf einmal eine kriminelle Laufbahn eingeschlagen hätten. Als sie sich jedoch all diese braven Gesichter vor Augen führte, erinnerte sie sich plötzlich wieder an den Vikar und seinen offen bekannten Widerwillen den Reichen gegenüber. Stirnrunzelnd überlegte sie, ob dem eifernden Kirchenmann ein solcher Diebstahl zuzutrauen wäre. Seine hasserfüllten Worte hatten sie verstört, und sie schrieb ihn, ohne weiter zu zögern, an die zweite Stelle ihrer Verdächtigenliste.

Noch einmal ging sie in Gedanken alle durch, die sie auf der Gesellschaft gesehen hatte. Die wohlhabenden Witwen, die gichtkranken Greise und die jungen Mädchen schloss sie von vornherein aus, da sie nicht glaubte, dass sie es zuwege bringen würden, durch ein Fenster im oberen Stockwerk zu steigen. Nein, der Täter musste jemand sein, der beweglich und schlank war, der die Kraft besaß, eine Hauswand hochzuklettern. Jemand, der sicherlich Gelenkigkeit besaß und der … der ganz in Schwarz gekleidet war?

Georgiana kniff die Augen zusammen, als sie sich die elegante dunkle Gestalt Ashdownes vorstellte. Ashdowne, der anscheinend nach Belieben auftauchte und wieder verschwand, wirkte auf sie wie ein Mann, der zu allem fähig war – auch dazu, an einer Mauer emporzuklimmen. Seine Kraft hatte er ja bewiesen, als er sie so mühelos von seinem unter ihr liegenden Körper hochgehoben hatte. Bei der Erinnerung an diese Szene errötete Georgiana erneut, vor allem wenn sie daran dachte, dass dieser gut aussehende Gentleman sie vor den Augen aller zu einer stotternden Närrin hatte werden lassen.

Georgiana schnaubte vor Wut über sich selbst und den Mann, dem es so leicht gelungen war, ihr die Sprache zu rauben. Er führte etwas im Schilde, dessen war sie sich sicher! Er war einfach zu – zu gesund, als dass er ein Heilwasser gebraucht hätte. Natürlich kann seine Anwesenheit in Bath auch etwas mit einer Frau zu tun haben, fiel Georgiana auf einmal ein – ein Gedanke, der seltsamerweise ein Gefühl der Enttäuschung nach sich zog. Es geschah schließlich recht häufig, dass Männer der besseren Gesellschaft ein Techtelmechtel mit Ehefrauen, Witwen oder anderen bereitwilligen Damen anfingen. Doch irgendwie hatte Georgiana von dem Besitzer dieser auffallend klugen Augen mehr erwartet.

Als sie sich die Frauen vorstellte, die am Abend zuvor bei der Gesellschaft gewesen waren, fiel es ihr schwer, eine passende Kandidatin zu finden. Ihrer Meinung nach hatte keine der Damen so ausgesehen, dass es die Mühe gelohnt hätte, aber sie war kein Mann. Und sicher war es ein Gemeinplatz, aber man wusste einfach wirklich nie, was die Männer insgeheim bewegte. Georgiana hatte Ashdowne mit einer Witwe gesehen, doch diese hatte mit anderen weitergetanzt, als er nicht da gewesen war. Es war sein unerklärliches Verschwinden, das Georgiana dazu veranlasst hatte, seinen Namen auf ihre Liste zu setzen.

Auch wenn sie weder Mr. Nichols noch irgendeinen anderen ihrer Verehrer mochte, so konnte sie diese Männer beim besten Willen nicht aufschreiben. Keiner von ihnen schien das nötige Zeug zu einem so wagemutigen Verbrechen zu besitzen. Selbst wenn sie ihre Verehrer falsch einschätzte, so hatte Bertrand ihr doch berichtet, dass die jungen Leute während des Diebstahls im Spielzimmer zusammengesessen hatten und mit irgendeiner Wette beschäftigt gewesen waren. Sie hatte ihren Bruder genau befragt und sich dabei vor allem nach jenen jungen Männern erkundigt, die vielleicht die erforderliche Beweglichkeit besaßen.

Somit blieben ihr nur wenige Verdächtige. Natürlich bestand noch immer die Möglichkeit, dass der Einbrecher jemand war, der sich gar nicht auf dem Fest befunden, aber die diesbezüglichen Informationen von einem der Anwesenden erhalten hatte. Diese Vorstellung gefiel ihr am allerwenigsten. Sie musste unbedingt die Namen aller Gäste bekommen und sich mit den Bediensteten und mit Lady Culpepper selbst unterhalten.

Georgiana legte ihre Liste beiseite und schrieb eilig ein paar Zeilen an die Dame, in denen sie sie bat, sie so bald als möglich aufsuchen zu dürfen, da sie eine höchst wichtige Angelegenheit mit ihr zu besprechen hätte. Noch am selben Vormittag wollte sie einen Diener mit der Nachricht zu ihr schicken; denn je schneller sie mit ihrer Untersuchung begann, desto rascher konnte sie die Juwelen wieder auffinden.

Der Diebstahl war zwar ein brillanter Schachzug gewesen, doch Georgiana bezweifelte nicht, dass ihre eigenen geistigen Fähigkeiten es ihr ermöglichen würden, das Rätsel bald zu lösen. Mr. Cheevers spitze Gesichtszüge tauchten vor ihr auf, und sie fragte sich, ob er überhaupt klug genug für diesen Diebstahl war. Sie kämpfte zwar dagegen an, doch sie konnte nicht anders – sie bewunderte den Täter insgeheim. Hier war endlich einmal ein Mann, der sich mit ihren eigenen Fähigkeiten messen konnte. Sie seufzte und stützte gedankenverloren den Kopf auf die Hände.

Ihr Pech, dass er ein Verbrecher war.

Nachdem Georgiana den ganzen Vormittag über ungeduldig auf Antwort gewartet hatte, erhielt sie schließlich die erhoffte Einladung. Sie eilte davon, um ihren Schwestern zu entgehen, und traf kurz nach Mittag in Lady Culpeppers elegantem Heim ein. Sie wurde zu einem Salon geführt, in dem die Gastgeberin in einem zierlichen Sessel saß und neben sich ein Tablett hatte, auf dem ihr Lunch stand.

„Kommen Sie herein, junge Dame!“, rief die ältere Frau mit schriller Stimme. Georgiana trat in den verschwenderisch ausgestatteten Raum mit seinem weißen Marmorkamin und dem glitzernden Kronleuchter. Das Mobiliar sah genauso aus wie am Abend zuvor, doch Lady Culpepper schien in dem Tageslicht, das durch die hohen Fenster fiel, wesentlich älter geworden zu sein.

Georgiana bemerkte, wie die Dame sie prüfend musterte, während sie sich auf einem Stuhl in ihrer Nähe niederließ. „Danke, dass Sie mich empfangen, Mylady“, begann sie höflich, bevor sie den säuerlichen Ausdruck auf Lady Culpeppers Gesicht sah.

„Sie sollten auch dankbar sein“, erwiderte die Hausherrin ungnädig. „Ich habe heute niemanden empfangen, denn ich bin äußerst niedergeschlagen. Sagen Sie mir also, was ist so wichtig, dass Sie mich aufsuchen? Wissen Sie etwas über mein Collier?“ Georgiana nickte, und ihr Gegenüber lehnte sich weiter vor, wobei ihre knochige Hand sich an die Mahagonilehne des Sessels klammerte. Ihre Augen verrieten eine Schläue, die Georgiana verriet, dass Lady Culpepper keine Närrin war.

„Also?“, fragte sie ungeduldig.

„Ich habe mir den Vorfall durch den Kopf gehen lassen und aufgrund der Informationen, die ich hatte, die Verdächtigen auf einige wenige reduziert“, antwortete Georgiana. Da Lady Culpepper verwirrt dreinschaute, fügte sie hinzu: „Ich halte mich für fähig, diesen Fall zu lösen und hoffe, schon bald zu einem schlüssigen Ergebnis zu gelangen. Dafür müsste ich jedoch zuerst mit Ihren Bediensteten sprechen und Ihnen selbst ein paar Fragen stellen.“

„Wer sind Sie?“, wollte Lady Culpepper wissen.

„Georgiana Bellewether, Mylady“, erwiderte sie, wobei sie sich fragte, ob die Frau vergesslich war.

„Ein Niemand also!“, sagte Lady Culpepper in einem erhabenen Ton. „Sie glauben wohl, dass Sie hier so einfach hereinplatzen können …“

„Aber Sie haben mich doch eingeladen, Mylady“, protestierte Georgiana und erhielt für diese Unterbrechung einen weiteren vernichtenden Blick.

„Junge Dame, Sie sind sehr impertinent. Ich willigte ein, Sie zu sehen, weil ich glaubte, dass Sie etwas über das gestohlene Schmuckstück wüssten.“

„Aber das tue ich doch auch“, meinte Georgiana. „Ich kann Ihnen helfen, wenn …“

„Bah, die Hilfe eines dummen Mädchens, das glaubt, mehr als die Höhergestellten zu wissen!“

„Ich kann Ihnen versichern, dass meine Fähigkeiten zu Hause bekannt sind, auch wenn hier in Bath …“

„Zu Hause! Das ist doch zweifellos ein unwichtiges, ein winziges Dorf!“, schnaubte Lady Culpepper.

Georgiana verstand, dass sie nun eine andere Taktik anwenden musste. „Was können Sie denn schon verlieren, Mylady?“, fragte sie. „Ich will keine Belohnung für meine Dienste, sondern Ihnen nur so gut, wie es mir möglich ist, behilflich sein.“

Bei dem Wort „Belohnung“ leuchtete in Lady Culpeppers Augen die Geldgier auf. „Die werden Sie auch sicherlich nicht bekommen“, schnappte sie. Für einen Moment schaute Georgiana sie nur gleichmütig an. Schließlich schnaubte ihre Ladyschaft noch einmal und hob stolz den Kopf. „Also gut. Stellen Sie Ihre Fragen, aber rasch, denn ich habe Wichtigeres zu tun, als den Marotten jedes dummen Mädchens in Bath nachzukommen.“

Während der wenigen Minuten, die Lady Culpepper ihr gnädig gewährte, fand Georgiana heraus, dass die Schmuckschatulle tatsächlich offen vorgefunden und ihr restlicher Inhalt unberührt zurückgelassen worden war. Die Tür war verschlossen gewesen, und der Diener, der davorgestanden hatte, schwor, niemand sei ins Zimmer gelangt.

„Warum haben Sie einen Diener damit beauftragt, vor der Tür Wache zu stehen? Ist das immer seine Aufgabe oder nur dann, wenn im Haus eine Geselligkeit stattfindet?“, erkundigte sich Georgiana.

Lady Culpepper schien durch die Frage ein wenig aus der Fassung gebracht, doch dann hob sie wieder den Kopf und schaute Georgiana hochnäsig an. „Das, junge Dame, geht Sie gar nichts an. Genug der Fragen!“

„Aber, Mylady!“, protestierte Georgiana. Leider wurde ihre Bitte, den Tatort und sein Umfeld zu begutachten, mit einer überheblichen Geste zurückgewiesen. Die gleiche Abfuhr erlebte sie, als sie bat, mit den Bediensteten sprechen zu dürfen. Lady Culpepper wurde immer gereizter.

Sie ließ sich durch das Verhalten der feinen Dame keineswegs einschüchtern. Je mehr Ihre Ladyschaft sprach, desto mehr erinnerte sie Georgiana an ein Fischweib, sodass sie sich fragte, wer wohl ihre Vorfahren gewesen waren. Sie unterdrückte ein Seufzen und versuchte, so weit es ging, doch noch ein wenig mit ihrer Untersuchung voranzukommen. „Können Sie sich einen Ihrer Diener oder Gäste vorstellen, der so etwas tun würde, Madam?“, fragte sie.

„Natürlich nicht!“, erwiderte Lady Culpepper hitzig. „Man hofft doch, dass niemand aus dem näheren Bekanntenkreis ein verabscheuungswürdiger Verbrecher ist! Das hier ist natürlich Bath und nicht London, und ich verdiene es wohl nicht anders, wenn ich mein Haus jedem Hinz und Kunz öffne, der sich hier aufhält. Ich werde sofort nach London zurückkehren, sobald ich mein Collier wiederhabe. Und dort werde ich nicht mehr so leichtfertig Einladungen aussprechen.“

Georgiana machte sich nicht die Mühe, sie darauf hinzuweisen, dass Diebstähle in der verrufenen Großstadt London wesentlich öfter vorkamen, sondern nickte stattdessen zustimmend und fuhr dann fort: „Sie haben keine Feinde oder jemanden, der die Absicht haben könnte, Ihnen zu schaden?“

Ihr fiel auf, dass die ältere Frau auf einmal blass wurde. Ob Lady Culpepper bei der bloßen Erwähnung einer solchen Boshaftigkeit wütend wurde oder ob es der Wahrheit entsprach, konnte Georgiana nicht sagen.

„Gehen Sie, mein Kind! Ich habe bereits genug Zeit mit diesem Unsinn verschwendet“, sagte Ihre Ladyschaft, und ihre Stimme ließ keinen Widerspruch zu.

Gleich darauf rief Lady Culpepper Jenkins, den Butler, damit er Georgiana hinausbegleitete. Sie konnte also nichts anderes tun, als der unfreundlichen Dame für ihre Zeit zu danken. Als sie ging, vermochte sie ein unbefriedigtes Gefühl nicht zu unterdrücken. Sie ertappte sich bei dem unfrommen Gedanken, dass eine derart unangenehme Frau es verdiente, wenn ihre Juwelen gestohlen wurden. Doch sogleich rief sie sich zur Ordnung, da sie es vermeiden wollte, dass ihre Gefühle ihren Untersuchungen in die Quere kamen.

Als sie vor der Tür stand, verkündete Georgiana dem überraschten Butler, dass sie einen Blick in den Garten werfen wolle. Ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, ging sie um das Haus herum und ließ den Mann stammelnd auf der Türschwelle stehen. Gemächlich schritt sie hinter das Gebäude und starrte dort zu den Fenstern im ersten Stock hinauf. Im Tageslicht war alles viel besser zu erkennen, und Georgiana bemerkte geschwungene Mauervorsprünge, die sich sowohl unter als auch über den Fenstern befanden.

Sie blinzelte und fragte sich, ob der Täter nicht einfach in ein anderes Zimmer geschlüpft war, um von dort über den Mauervorsprung in Lady Culpeppers Schlafzimmer zu gelangen. Ein solches Unternehmen sah allerdings recht gefährlich aus, und Georgianas Herz begann schon bei dieser Vorstellung schneller zu klopfen, da sie Höhen überhaupt nicht mochte. Ein gewandter Mann jedoch, der keine Angst hatte und in solchen waghalsigen Angelegenheiten geübt war, konnte sehr wohl …

„Haben Sie es mal wieder auf die Pflanzen abgesehen?“

Georgiana war so sehr in Gedanken versunken, dass der Klang der sarkastischen Stimme hinter ihr sie fast zu Tode erschrak. Sie griff sich ans Herz und wirbelte so schnell herum, dass ihr Ridikül heftig in Schwung geriet und den Mann, der unbemerkt an sie herangetreten war, unsanft traf.

„Au!“, rief er und legte eine Hand auf seine gemusterte Seidenweste. „Was haben Sie da drin? Steine?“

Georgianas Blick wanderte von den behandschuhten Fingern zu dem markanten Gesicht, dessen dunkle Augenbrauen spöttisch nach oben gezogen waren. Sie blinzelte entsetzt. „Ashdowne! Ich meine, Mylord! Entschuldigen Sie vielmals!“

Der schöne Mund des Marquess verzog sich ein wenig nach unten, während er den Stoff der eleganten Weste glättete. Georgianas Aufmerksamkeit wurde dabei auf seine breiten Schultern, seinen kräftigen Brustkorb und seinen flachen Bauch gelenkt. Dieser Anblick löste ein Kribbeln in ihr aus, und sie musste sich anstrengen, ihre Augen von seinem Körper zu lösen und wieder in sein Gesicht zu schauen. „Was machen Sie denn hier?“, fragte sie misstrauisch.

Die dunklen Brauen wurden erneut gehoben, und die Augen spiegelten seinen Widerwillen. Diesen Blick kannte Georgiana schon vom Abend zuvor. Sie hatte erneut das Gefühl, ein Insekt zu sein, das der Marquess besonders unangenehm fand. Während sie ihn so anstarrte, legte er den Kopf auf die Seite, ganz so, als ob er die seltsame Spezies, die sie darstellte, auf diese Weise besser begutachten könne.

„Ich bin selbstverständlich gekommen, um Lady Culpepper mein Bedauern auszudrücken“, sagte er, wobei sein Tonfall ihr zu verstehen gab, dass seine Angelegenheiten Georgiana überhaupt nichts angingen. „Und Sie?“, erkundigte er sich und sah bedeutsam auf die Hausseite, die sie so interessiert hatte.

„Ich habe gerade dasselbe getan“, murmelte sie und versuchte sich zu fassen. Ashdowne war bereits abends sehr anziehend gewesen, als er sich, ganz in Schwarz gekleidet, geschmeidig durch den Salon bewegt hatte. Im hellen Tageslicht jedoch sah er noch bemerkenswerter aus. Die Sonne hob die ebenmäßigen Linien seines Gesichts hervor und ließ seine goldfarbene Haut warm leuchten. Seine dunklen Wimpern waren dicht und lang, und seine blauen Augen so voll Leben, dass sie Georgiana den Atem nahmen. Und dann dieser Mund …

Mit einem Mal fiel ihr auf, dass sie ihn anstarrte. Rasch senkte sie den Blick. Wenn ein Mann ihr so sehr die Sinne verwirrte, war es wohl besser, stattdessen den Boden zu betrachten.

„Aha“, sagte Ashdowne in einem Tonfall, der Georgiana zu verstehen gab, dass er ihr nicht ganz glaubte. „Wir sind einander noch nicht vorgestellt worden, Miss …“

„Bellewether“, erwiderte Georgiana. „Ich muss mich bei Ihnen wegen gestern Abend entschuldigen.“

„Eine Topfpflanze scheint nicht gerade der geeignete Ort für ein Rendezvous zu sein“, meinte Ashdowne. Georgiana warf ihm einen Blick zu.

„Ich hatte gar kein …“ Sie biss sich auf die Lippen, da ihr klar wurde, dass er sie aushorchen wollte. Sie unterdrückte ein empörtes Schnauben und hob stolz ihr Kinn.

„Ich hatte kein Rendezvous“, erklärte sie. Als Ashdowne schwieg, fuhr sie stirnrunzelnd fort: „Ich hörte vielmehr einem Gespräch zu. Eine Gewohnheit von mir, könnte man sagen, denn man weiß nie, was man Interessantes dabei erfahren kann.“

„Aha, also Klatsch“, sagte Ashdowne herablassend.

Georgiana starrte sein Krawattentuch an, denn sie wollte mit ihm sprechen, ohne gleich weiche Knie zu bekommen. „Gerüchte interessieren mich nicht, sondern nur Tatsachen – in diesem Fall Tatsachen, die mit dem gestrigen Abend zu tun haben. Ich habe nämlich eine gewisse Begabung im Aufklären mysteriöser Vorkommnisse, und deshalb habe ich auch vor, dieses Talent zur Aufdeckung des gestrigen Diebstahls einzusetzen.“

Sie hob herausfordernd den Blick, konnte jedoch in Ashdownes Gesicht keine Reaktion erkennen. Er lächelte nicht über sie, schien sich aber auch keineswegs durch ihre direkten Worte beunruhigt zu fühlen, was eine gewisse Enttäuschung bei ihr hervorrief. Etwas in ihr hatte gehofft, dass er sich sogleich zu einem Bekenntnis bemüßigt fühlen würde. Doch er hob nur den Kopf noch höher und betrachtete sie auf eine Weise, die sie als beleidigend empfand.

„Und was haben Sie in dieser Hinsicht vor?“, erkundigte er sich. Seine sinnlichen Lippen verzogen sich geringschätzig, sodass Georgiana annahm, dass er im Stillen über sie lachte. Leider zeigte er damit eine Haltung, die ihr ziemlich bekannt war.

Es war wieder einmal der Fluch ihres Aussehens. Wenn sie doch nur wie Hortense Bingley ausschauen würde, jene alte Jungfer, die in der Bücherei von Upwick spukte; oder wie Miss Mucklebone, ein Blaustrumpf mit dicken Brillengläsern, die dafür bekannt war, ihren Stock gegen freche Bengel zu erheben! Einmal hatte Georgiana sich eine Brille von einer Klassenkameradin geliehen, nur um ernster genommen zu werden, doch ihre Eltern hatten ihr sogleich verboten, sie aufzusetzen. Deshalb musste sie die falsche Einschätzung, die ihr wegen ihres Gesichts zuteilwurde, ertragen – und beim Marquess schien das nicht anders zu sein.

„Ich habe vor, den Schuldigen nur mithilfe meines Kombinationsvermögens zu entlarven, Mylord“, sagte Georgiana und warf ihre Locken nach hinten. Sie war so empört, dass sie es schaffte, ihn anzuschauen, ohne etwas anderes als Wut zu empfinden. „Indem ich die reinen Tatsachen betrachte und alle Alternativen ausscheide, bis die einzig infrage kommende Antwort übrig bleibt.“ Sie nickte ihm kurz zu und wollte sich auf den Weg machen. „Entschuldigen Sie mich nun bitte. Einen schönen Tag noch, Mylord.“

„Laufen Sie nicht fort“, sagte Ashdowne und begann, neben ihr herzugehen. „Mich interessieren Ihre Pläne sehr. Erzählen Sie mir doch bitte mehr darüber.“

Georgiana warf einen skeptischen Blick auf sein Gesicht und war überzeugt, dass er sie nicht für fähig hielt, das auszuführen, was sie vorhatte. Es gab kaum Männer, die das taten, aber seine Zweifel spornten sie noch mehr als sonst an. Wenn er nicht an ihre Fähigkeiten glaubte, warum gab er dann vor, mehr wissen zu wollen? „Nein, danke“, erwiderte sie misstrauisch.

„Aber Ihre Methode klingt außerordentlich spannend“, meinte er. Mit seinen blauen Augen schaute er sie eindringlich an, dass Georgiana froh war, als sie die Vorderseite des Hauses erreichten. Spätestens dort musste sich Ashdowne verabschieden, um seinen Besuch abzustatten, und sie konnte seinen forschenden Blicken entkommen.

„Es tut mir leid, aber ich muss nun wirklich gehen. Vielleicht ein andermal“, murmelte sie. Ihre Hand zitterte, als sie das Gartentor öffnete. Ihr war zwar klar, dass sie sich ziemlich unhöflich benahm, aber da sie noch immer wütend auf ihn war, trat sie auf die Straße, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Als sie dann den Gehsteig entlangeilte, vernahm sie keinerlei Schritte, die ihr anzeigten, dass der Marquess ins Haus trat. Doch sie zwang sich dazu, sich nicht umzudrehen, um festzustellen, ob er ihr nachsah.

Erst als sie an der Straßenecke angelangt war, wurde Georgiana klar, dass sie es wieder versäumt hatte, den Marquess zu befragen. Noch nie hatte sie sich einem Mann gegenüber so oft wie eine dumme Gans benommen. Ashdowne übte eine höchst gefährliche Wirkung auf sie aus.

Die Erkenntnis beunruhigte sie.

Georgiana stand im „Pump Room“ und verlagerte ihr Gewicht abwechselnd von einem auf das andere müde Bein. Sie beobachtete die Menge wie es ihr schien schon eine halbe Ewigkeit, in der Hoffnung, einen Blick auf Lord Whalsey werfen zu können. Der Viscount stattete der Trinkhalle gewöhnlich am Nachmittag einen Besuch ab, wie es die Gepflogenheit der gesamten gehobenen Gesellschaft war.

Damit rechnete Georgiana jedenfalls, auch wenn sie natürlich die Möglichkeit in Betracht ziehen musste, dass Whalsey und sein Komplize Hals über Kopf nach London geflohen waren. Ein entmutigender Gedanke, denn sie wusste nicht, wie sie ihm dorthin folgen sollte.

Der „Pump Room“ war ihre einzige Möglichkeit, ihm auf der Spur zu bleiben, obwohl sie des Herumstehens allmählich überdrüssig wurde; ihre Schwestern machten einen Spaziergang im Crescent, während ihre anderen Bekannten unterwegs waren, um in den Hügeln in der Nähe von Bath ein wenig zu wandern oder eine Kutschfahrt zu unternehmen. Nur Bertrand genoss das Nichtstun und lungerte mit ein paar jungen Männern, die sie zuvor abgewimmelt hatte, in einer Ecke herum und plauderte.

Diesmal war es Georgiana gar nicht so schwergefallen, ihre Bewunderer loszuwerden, da alle über den Diebstahl sprachen. Wo sie sich auch hinwandte, vernahm sie wilde Spekulationen, wer wohl der Schuldige sein könnte. Sie hatte ungeduldig zugehört, wie die Gerüchte immer wilder wurden. Die wohlhabenden Witwen waren sich einig, dass eine Gruppe von Schurken die Stadt unsicher machte – eine Theorie, die Georgiana schlichtweg lächerlich fand.

Der Diebstahl ist nicht von mehreren, sondern von einem einzigen Mann ausgeführt worden, dachte Georgiana, während sie von einem Fuß auf den anderen trat. Sie sah Ashdowne vor ihrem geistigen Auge, wie er am gestrigen Abend, ganz in Schwarz gekleidet, ausgesehen hatte. Aber sie wischte das Bild beiseite. Obwohl er sich verdächtig benahm, wollte sie sich erst einmal auf Whalsey und seinen Handlanger konzentrieren.

Sie schaute sich erneut im Saal um. Endlich wurde sie für ihre Geduld belohnt. Da war der Viscount und ging durch die Menge der Anwesenden, unter denen er seine Lieblingswitwen grüßte, um sich dann schließlich mit einem Glas des berühmten Heilwassers niederzulassen.

„Guten Tag, Lord Whalsey“, sagte Georgiana und trat entschlossen auf den Mann zu. Sie waren sich vor einigen Tagen kurz vorgestellt worden, doch in seinen Augen war keine Reaktion, die auf ein Wiedererkennen schließen ließ. Sie richteten sich nur interessiert auf ihr Dekolleté. Georgiana zeigte nicht, wie verärgert sie war, sondern zwang sich vielmehr zu einem Lächeln. „Ich habe gar nicht bemerkt, wann Sie gestern Abend den Ball verlassen haben. Gingen Sie schon früh?“

Ihre unschuldige Nachfrage ließ Whalsey nervös aufhorchen, und sein Blick wanderte angespannt zu ihrem Gesicht. Georgiana spürte, wie ein Gefühl des Triumphs in ihr aufwallte, doch sie ließ sich nichts anmerken. „Und was war mit dem Mann, der bei Ihnen war? Mr. Cheever, so war doch sein Name?“

Whalsey sah zutiefst schuldbewusst aus, und Georgiana fragte sich bereits, wie schnell sie ihn überführen konnte. „Hören Sie, Miss … Miss …“

„Bellewether“, erwiderte Georgiana mit einem selbstbewussten Lächeln. „Sie beide waren in ein anscheinend sehr wichtiges Gespräch vertieft, und da habe ich mich gefragt …“

Er unterbrach sie, indem er einen komischen Laut von sich gab; sein Gesicht wies auf einmal hektische rote Flecken auf. „Ich glaube nicht …“

„Ist Ihnen gelungen, was Sie geplant hatten?“

Whalsey erhob sich mit einem entsetzten Gesichtsausdruck. In der Eile, Georgiana zu entkommen, schwappte sein Glas über, und ein Teil des Wassers ergoss sich auf Georgianas Kleid. Erschreckt trat sie einen Schritt zurück und stieß gegen das Podest, auf dem sich das Orchester befand.

Einen Augenblick lang konnte sie noch das Gleichgewicht halten, dann kippte sie nach hinten. Der Geiger, auf den sie stürzte, fiel ebenfalls um und riss einen seiner Kollegen mit sich. Innerhalb kürzester Zeit purzelten sämtliche Musiker wie Dominosteine übereinander; manche versuchten noch, weiterzuspielen, doch konnte man nur noch ein lautes Kreischen der Streichinstrumente vernehmen. Dann herrschte Stille, und alle Köpfe im „Pump Room“ wandten sich Georgiana zu.

Ihre Röcke hatten sich um ihre Beine gewickelt, und einer ihrer Arme war durch den Bogen des Geigers geschoben. Verzweifelt schaute sie Lord Whalsey hinterher, der sich eilig aus dem Staub machte. Georgiana blies sich eine Locke aus dem Gesicht und blinzelte verdutzt, als sich ihr eine behandschuhte Hand anbot. Sie schaute hoch und erblickte wieder einmal Ashdowne, der sich groß, elegant und gelassen über sie beugte.

„Sie sind gefährlich, Miss Bellewether“, sagte er bedächtig. Er half ihr mit der gleichen Leichtigkeit auf die Beine, die er schon am gestrigen Abend an den Tag gelegt hatte. Ein Nicken von ihm, und die Musiker standen ohne Murren auf und spielten weiter. Auch die Besucher der Trinkhalle fuhren mit ihren Gesprächen fort, sodass Georgiana sich nur wundern konnte, welchen Einfluss Ashdowne besaß.

„Ich muss mich wieder einmal bei Ihnen bedanken“, murmelte sie, als er sie von dem Orchester wegführte. „Sie haben mich erneut gerettet.“

„Ich habe fast den Eindruck, dass Sie Missgeschicke anziehen, Miss Bellewether, und es scheint mein Unglück zu sein, dass ich mich stets in der Nähe befinde“, erwiderte er mit einem grimmigen Gesichtsausdruck.

Soll das eine Beleidigung sein?, fragte sich Georgiana, während sie unauffällig an dem nassen Stoff ihres Oberteils zupfte. Auch wenn angefeuchteter Musselin der letzte Schrei unter den waghalsigeren Damen der Londoner Gesellschaft war, so hatte sie doch nicht das Bedürfnis, ihren Körper so deutlich zur Schau zu stellen.

Von irgendwoher zauberte Ashdowne auf einmal einen Schal hervor und legte ihn ihr um die Schultern. Dabei ließ er seine blauen Augen jedoch auf eine Weise über ihre Vorderansicht wandern, dass sich ihre Brustspitzen vor Erregung zusammenzogen. Höchst eigenartig, dachte sie. Oft schon hatten ihr Männer auf den Busen gestarrt, ohne eine solche Reaktion bei ihr hervorzurufen. Georgiana wickelte sich fester in die Stola ein.

Sie war so verwirrt, dass sie sich weder fragte, woher Ashdowne den Schal hatte noch sich über seinen dreisten Blick zu ärgern vermochte. Sie empfand vielmehr eine merkwürdige Erregung, weil sie seine Aufmerksamkeit auf sich zog, vor allem, als ihr zu Bewusstsein kam, wie sehr sie sich ihm gegenüber schon wieder zur Närrin gemacht hatte.

Ashdowne trug inzwischen jedoch seinen ihr bekannten Gesichtsausdruck zur Schau, der ihr erneut das Gefühl gab, dass sie eine Art unangenehmes Insekt für ihn darstellte. Wenn sie doch nur tatsächlich Flügel hätte und einfach davonfliegen könnte …

„Ich nehme an, dass diese Katastrophen alle nur Teil Ihrer ungewöhnlichen … äh, Beschäftigung sind, wenn ich auch allmählich den Eindruck gewinne, dass Sie unbedingt jemanden an Ihrer Seite brauchen, der Sie vor derartigen Vorfällen schützt“, sagte er.

Georgiana blinzelte. Der Marquess würde sich doch nicht die Mühe machen, sich bei ihrem Vater über sie zu beschweren? Es gab ja wohl auch keine Gesetze, die solche Unfälle wie den eben überstandenen verboten.

Was hat der Mann mit mir vor?, fragte sie sich. Doch in diesem Moment sah er sie an, und seine aufregend geschwungenen Lippen, die sich zu einem süffisanten Lächeln verzogen, waren ihr Antwort genug. Was immer es war – ihr war es recht.

„Und nachdem ich derjenige zu sein scheine, der durch Ihre Mätzchen am meisten in Mitleidenschaft gezogen worden ist“, fuhr er fort, „muss ich wohl die Rolle des Beschützers übernehmen.“

Georgiana war sprachlos.

3. KAPITEL

Jonathon Everett Saxton, der fünfte Marquess of Ashdowne, zog überrascht eine seiner dunklen Augenbrauen in die Höhe, als er den Ausdruck auf dem Gesicht seiner Begleiterin sah. Ihm waren von den Damen schon viele, sehr verschiedene Blicke zugeworfen worden, doch noch nie hatte ihn eine derart entsetzt angeschaut. Wie immer war die Reaktion von Miss Georgiana Bellewether alles andere als üblich.

Vielleicht war sein Angebot, ihr Aufpasser zu sein, für die abenteuerlustige Dame nicht gerade schmeichelhaft gewesen, aber er hatte nicht gedacht, dass es sie derart verärgern könnte. Das markante Aussehen der Saxtons und ein gewisser dekadenter Charme hatten Ashdowne bisher alle Frauenherzen zufliegen lassen. Seitdem er jedoch Marquess geworden war, galt ihm – für seinen Geschmack – viel zu viel Aufmerksamkeit. Der Gedanke, dass er seines Titels wegen so umschwärmt war, schwächte seinen anfänglichen Enthusiasmus merklich ab.

Aber Miss Bellewether kann man kaum nachsagen, meinem Namen hinterherzujagen, überlegte Ashdowne. Obwohl die junge Dame für sein Interesse eigentlich hätte dankbar sein sollen, zeigte sie sich verwirrt, ja beinahe panisch, so als ob sie ihn irgendwie abstoßend fände. Anscheinend war es sein Unglück, dass die einzige Frau, die nicht seine Marchioness werden wollte, irgendwie verrückt war. Eine gefährliche Verrückte, dachte er grimmig.

Zuerst hatte sie nicht diesen Eindruck gemacht. Als er sie auf Lady Culpeppers Ball erspäht hatte, war er für einen Augenblick höchst angetan gewesen, so wie wohl jeder Mann. Denn Georgiana Bellewether hatte einen Körper, der einen Mann mit weniger Beherrschung dazu gebracht hätte, dass ihm schon bei ihrem bloßen Anblick der Mund wässerte. Mit ihren verführerischen Kurven, der blonden Lockenpracht und dem feinen ovalen Gesicht eines Engels wäre sie in der eleganten Londoner Gesellschaft gefeiert worden und hätte trotz ihres einfachen Familienhintergrundes zahllose Angebote erhalten. Oder sie hätte die Halbwelt als die begehrteste aller Lebedamen beherrscht.

Ihr Erfolg hinge freilich von ihrer Fähigkeit ab, den Mund zu halten und – still zu sitzen. Denn sobald Miss Bellewether sich einmal in Bewegung setzte, brach ein völliges Chaos aus, da sie die wohl tölpelhafteste Kreatur auf Gottes Erde war. Am Abend zuvor hatte sie es geschafft, ihn zu Boden zu reißen – ein entwürdigendes Erlebnis, das ihn noch immer wurmte. Glücklicherweise hatte der Sturz nichts weiter als seinen Stolz verletzt, denn sonst wäre der Abend in mehr als einer Hinsicht schiefgelaufen.

Seitdem hatte sie ihm einen Schlag mit ihrem Ridikül versetzt und es geschafft, ein ganzes Orchester zum Umstürzen zu bringen. Ashdowne würde Ansammlungen von Musikern sicher nie wieder vorbehaltlos betrachten können.

Diese junge Dame war nicht nur ein Magnet für Katastrophen, sondern verstand sich auch noch als eine Art Detektivin. Obwohl inzwischen beinahe jedermann eine Theorie über den Culpepper-Diebstahl vertrat, hätten sicher nur wenige zu behaupten gewagt, sie könnten den Dieb stellen. Eine Dame würde schon gar nicht zugeben, dass sie sich für dergleichen interessierte. Ashdowne war sich nicht sicher, ob es besser war, darüber zu lachen oder Georgina Bellewether für unzurechnungsfähig erklären zu lassen.

Er entschied sich, weder das eine noch das andere zu tun, und beobachtete sie stattdessen genau. Er hatte gelernt, auf seine innere Stimme zu hören, die im Hinblick auf die besagte junge Dame Beunruhigung äußerte. Vielleicht war es eine Warnung vor der sinnlichen Gefahr, die diese Sirene für jeden Mann darstellte, sobald er nur nahe genug an sie herankam; vielleicht war es aber auch etwas anderes. Ashdowne wusste es nicht.

Er musste zugeben, dass er schon neugierig auf das nächste Missgeschick wartete, das sie verursachen würde. Demnach war sein Interesse an ihr möglicherweise nichts anderes als die Sensationslust, die Menschen dazu brachte, sich öffentliche Hinrichtungen anzuschauen. Es war wohl menschlich, Katastrophen aus der Nähe betrachten zu wollen. Was auch immer der Grund war – er vermochte Miss Bellewether offenbar nicht zu ignorieren, sondern zog es vor, mit seinem eigenen Untergang zu spielen.

Sie war auf jeden Fall sehr unterhaltsam. Wenn man einmal von dem kürzlich aufgetauchten Problem mit seiner Schwägerin absah, konnte sich Ashdowne nicht erinnern, wann ihm das letzte Mal eine solche Zerstreuung geboten worden war. Er hatte gar nicht gemerkt, wie banal sein Leben verlief, seitdem er den Titel angenommen hatte. Dieses solide Dasein war nie sein Ziel gewesen. Er hatte vielmehr seinen traditionsbewussten Bruder immer ein wenig verachtet.

Dann hatte auf einmal das Herz dieses Herrn nicht mehr mitgemacht. Als Ashdowne den Titel erbte, wurde ihm deutlich, was für eine ermüdende Angelegenheit so etwas doch war. Natürlich hätte er die Verantwortung, die er plötzlich übertragen bekam, ausschlagen können, doch es hingen zu viele Leute von ihm ab – die Bauern auf seinem Land wie auch die Dienerschaft auf dem Familiensitz. So hatte er sich notgedrungen in die neue Rolle gestürzt, was er auch nicht bereute. Dennoch kam es ihm nun, da er gerade ein wenig Abwechslung fand, so vor, als wäre er schon seit einiger Zeit ziemlich gelangweilt gewesen. Jetzt allerdings hatte er diese junge Dame am Hals.

„Das ist wirklich nicht nötig“, sagte Miss Bellewether. Ihre Stimme klang atemlos, so als ob sie sich noch nicht von ihrem Abenteuer im „Pump Room“ erholt hätte. Ashdowne wusste, dass auch er seit gestern Abend etwas außer Atem geraten war, vor allem als der nasse Musselin sich so wunderbar an ihre vorwitzigen Brustknospen geschmiegt hatte.

Er bemühte sich darum, an etwas anderes zu denken. Er musste wohl zu lange ohne eine Frau gewesen sein, wenn ihn dieses verflixte Weib so aus der Fassung zu bringen vermochte! „Erlauben Sie mir zumindest, Sie nach Hause zu begleiten“, sagte er und unterdrückte seine aufsteigende Lust. „Wo residieren Sie?“

Ashdowne tat so, als lausche er aufmerksam ihrer gemurmelten Antwort, obwohl er in Wahrheit ihre Adresse bereits kannte. Er hatte es sich angewöhnt, alles, das ihn irgendwie betraf oder betreffen könnte, in Erfahrung zu bringen, und im Fall der anstrengenden Miss Bellewether war Lady Culpepper eine sehr auskunftsfreudige Quelle gewesen.

Die empörte Matrone hatte sich ausführlich über die aufdringliche junge Dame beschwert, die behauptet hatte, sie könne das Rätsel des Diebstahls lösen. Auch Ashdowne konnte es kaum glauben, dass ein Mädchen aus gutem Hause Derartiges überhaupt in Erwägung zog. Was war nur mit dem Naseweis los?

Ashdowne schaute sich die fragliche Dame noch einmal genau an und fand es schwierig, die Detektivin und die wippenden blonden Locken unter einen Hut zu bringen. Miss Bellewether hatte sich inzwischen offensichtlich wieder erholt, da sie sich nicht mehr krampfhaft an den Schal klammerte, den er sich von einer in der Nähe stehenden Matrone geliehen hatte; aber entspannt wirkte sie trotzdem nicht. Sie starrte angestrengt vor sich hin und hielt dabei ihr Kinn erhoben, ganz so, als ob sie gleich etwas verkünden wollte. Ashdowne beugte sich näher zu ihr, um ihrer nächsten Albernheit folgen zu können.

„Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Mylord, aber ich kann Ihnen schwören, dass ich Sie nicht verfolge, um Sie …“

„Zu quälen?“, schlug Ashdowne trocken vor.

Er hätte es ihr nicht zugetraut, aber der Gesichtsausdruck der jungen Dame zeigte einen eisernen Willen, den er hinter dem schleifenverzierten Äußeren nicht vermutet hatte. Miss Bellewether schleuderte entschlossen ihre herrlichen Locken nach hinten und warf ihm einen aufrührerischen Blick zu, den Ashdowne seltsam anmutig fand. Es musste wirklich schlimm um ihn stehen. „Erzählen Sie mir, wie geht es mit der Ermittlung voran?“, erkundigte er sich, um sie von ihrem Zorn abzulenken.

Miss Bellewether schaute jedoch keineswegs besänftigt aus. „Ganz gut“, erwiderte sie herausfordernd. „Ich bin mir ziemlich sicher, die Identität der Einbrecher zu kennen.“

Der Einbrecher?“, fragte Ashdowne. „Dann gibt es also mehr als einen?“

Zu seiner Überraschung warf sie ihm einen misstrauischen Blick zu, sodass Ashdowne sich wunderte, was sie wohl sah, wenn sie ihn betrachtete. Es musste etwas sein, das sonst niemand erkannte. Dieser Gedanke ließ ihn erschaudern. Ungeduldig wartete er auf ihre Antwort.

Doch diese erstaunte ihn von Neuem. „Ich kann den Fall nicht öffentlich besprechen“, murmelte sie, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.

Ihre Worte, die ganz ernsthaft gemeint zu sein schienen, verblüfften ihn so sehr, dass er seinen geübten Charme für einen Moment vergaß und sie anstarrte. Wer glaubte dieses kleine Ungeheuer eigentlich zu sein?

Ashdowne zwang sich, die scharfe Erwiderung, die ihm bereits auf der Zunge lag, hinunterzuschlucken und stattdessen zurückhaltend zu wirken. Aber da er dergleichen gewöhnlich nicht vorgeben musste, gelang es ihm nicht besonders gut. „Ich möchte mich natürlich nicht in Ihre Ermittlungen einmischen“, sagte er. „Aber wenn ich Sie irgendwie unterstützen kann, vielleicht als Ihr Assistent, dann könnten Sie möglicherweise auch offener mit mir reden.“

Seine Begleiterin warf ihm einen scharfen Blick zu, der ihm zu verstehen gab, dass sie glaubte, er wollte sie zum Narren halten. Ashdowne wartete also geduldig.

„Oh, ich habe bisher nicht in Betracht gezogen …“, fing sie an, brach dann aber ab.

Ashdowne verhielt sich ruhig, während sie ihn mit ihren blauen Augen betrachtete. Das fiel ihm recht schwer, denn obwohl er ihr einesteils am liebsten an die Gurgel gegangen wäre, schien ihr reizvolles Dekolleté seine Hände dazu verlocken zu wollen, ganz andere Dinge mit ihr zu tun.

„Bisher habe ich immer allein gearbeitet“, murmelte sie und schaute auf ihre Fußspitzen.

Es war eine Angewohnheit, die ihm bereits an ihr aufgefallen war. Auch wenn er annahm, dass es etwas bedeutete, so glaubte er nicht, dass darin Bescheidenheit oder Ehrerbietung zum Ausdruck kamen. „Vielleicht könnte ich Ihnen als Mann hilfreich zur Seite stehen“, schlug er vor.

Sie warf ihm einen überraschten Blick zu und errötete. Ashdowne spürte, wie er körperlich darauf reagierte; zugleich fühlte er sich auf eine nahezu lächerliche Weise siegreich. Wenigstens war die junge Dame nicht ganz gleichgültig ihm gegenüber.

„Ich könnte mich leichter unter den männlichen Mitgliedern der Gesellschaft bewegen als Sie und auch dort sein, wo Sie bei aller Beherztheit sicher nicht gern gesehen würden“, erklärte Ashdowne. Sie schaute zu ihm auf, und für einen Moment konnte er seinen Blick nicht von ihren blauen Augen lösen. Sie waren inzwischen vor ihrem Haus angelangt, und er trat mit einem seltsamen Gefühl prickelnder Erwartung einen Schritt näher.

Seine letzte intime Begegnung lag schon lange zurück. Zu lange. Die junge Frau vor ihm wirkte auf seine Sinne sehr verführerisch, wie sie mit geröteten Wangen, dem hellen Haar und einem Mund, der wie zum Küssen geschaffen aussah, vor ihm stand.

„Georgie!“, ertönte ein Ruf aus dem Haus. Die Spannung zwischen ihnen zerstob, was Miss Bellewether aufstöhnen ließ. War es der Kosename, der sie bekümmerte, oder die lange Minute, die sie in Gedanken daran verbracht hatten, was zwischen ihnen sein könnte? Ashdowne musste zugeben, dass auch ihn etwas bekümmerte, und zwar die Tatsache, dass er sich von der verrückten Miss Bellewether so angezogen fühlte.

„Ich werde mir Ihr freundliches Angebot überlegen“, sagte sie in einem Ton, der nur bedeuten konnte, dass er entlassen war. Dann drehte sie sich um und entfloh und ließ ihn wie einen fliegenden Händler vor dem Haus stehen.

Als die Tür ins Schloss fiel, schüttelte Ashdowne ratlos den Kopf. Er war sich sicher, dass es mehr als bloße Schüchternheit war, die sie so ins Haus eilen ließ, und diese Erkenntnis verwirrte ihn. Sicher war er kein Engel, aber doch auch kein rücksichtsloser Draufgänger, der junge Mädchen verängstigen wollte. Was ließ sie also vor ihm davonlaufen?

Ashdowne konnte es sich eigentlich denken, wollte aber erst sichergehen. Diesmal vernahm er die Warnung seiner inneren Stimme mehr als deutlich, und er fasste den Entschluss, sein Leben nicht noch mehr von Miss Georgiana Bellewether in Unruhe stürzen zu lassen, als es bereits geschehen war.

Lord Whalsey war nirgendwo zu entdecken. Georgiana konnte ein enttäuschtes Seufzen nicht unterdrücken. Sie hatte sich ihrer Familie angeschlossen, die eine Abendgesellschaft besuchte, da sie hoffte, ihn dort abpassen zu können, doch er und Mr. Cheever zeichneten sich durch Abwesenheit aus. Was sollte sie nun tun? Vielleicht war Whalsey im „Pump Room“ oder in einem Konzert, oder – was noch schlimmer wäre – bereits auf dem Weg nach London, um das Collier zu verkaufen.

Georgiana überlegte verzweifelt, was sie nun machen sollte. Sie konnte ihre Beobachtungen dem Richter vorlegen, aber die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass Männer ihren Talenten höchst misstrauisch gegenüberstanden. Ihre Beweise, die auf einem belauschten Gespräch und einem schuldbewusstem Verhalten fußten, würden sicher niemanden überzeugen, und Lord Whalsey würde mit seinem Diebesgut entkommen.

Sie blies eine Locke, die ihr in die Stirn gefallen war, fort und lehnte sich an die Balustrade, die den Balkon an der Rückseite des eleganten Stadthauses der Gastgeber einfasste. Als sie zum Tanzen aufgefordert worden war, hatte sie Kopfschmerzen vorgeschützt und sich dann hier hinausgeflüchtet. In der Stille des kleinen Gartens, in den sie nun hinabblickte, suchte sie ihre Gedanken auf ihren nächsten Schritt zu konzentrieren, als der Klang einer Stimme sie plötzlich aus ihren Überlegungen aufschreckte.

„Ah, Miss Bellewether. Planen Sie wieder eine Katastrophe?“ Georgiana drehte sich überrascht um.

Sie unterdrückte einen Schrei, als sie Ashdownes große Gestalt nahe der Tür erblickte. Wie lange hatte er dort schon gestanden? Es erschreckte sie ein wenig, dass sie trotz ihrer detektivischen Fähigkeiten seine Anwesenheit nicht bemerkt hatte. Georgiana zitterte, denn der Marquess war sicher kein typischer Gentleman. Er war überhaupt nicht wie einer der Männer, die sie kannte.

„Ich …“ Sie verstummte, als er ins bleiche Mondlicht trat, schwarz gekleidet wie am Abend zuvor, seine markanten Gesichtszüge wirkten noch geheimnisvoller. Sie betrachtete ihn und spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte, während sich ein aufregendes Kribbeln in ihrem Körper und sogar auf ihrer Haut auszubreiten schien. Sie rieb sich die nackten Arme, um die seltsame Empfindung zu vertreiben, doch es half nichts. Ashdowne trat noch einen Schritt näher heran.

„Ich hoffe, Sie haben an mich gedacht“, sagte er sanft. Georgianas Augen weiteten sich. Sie hatte sich stets gegen männlichen Charme gewappnet geglaubt, aber bei Ashdowne war das etwas anderes. Wie eine schleichende Krankheit verwirrte er ihre Sinne und ging ihr nicht mehr aus dem Kopf, auch wenn sie versuchte, den Gedanken an ihn von sich zu schieben. Wie er nun so mit seinem einschmeichelnden Lächeln vor ihr stand, war sie vollends hingerissen. Doch Georgiana wollte dies vor dem arroganten Marquess keinesfalls zugeben; sie hob ihr Kinn und runzelte die Stirn.

Er lachte ein wenig, da ihn ihre Widerspenstigkeit zu amüsieren schien. „Etwa nicht? Nun, dann möchte ich Sie überzeugen.“

Er schnurrte beinahe wie ein Kater. Georgiana räusperte sich. „Von was möchten Sie mich überzeugen?“, erkundigte sie sich, ohne ihn anzusehen.

„Dass Sie mich …“

Georgiana atmete tief ein.

„… als Ihren Assistenten anstellen“, fügte er hinzu, und sie atmete langsam aus. „Ich stelle mich Ihnen zur Verfügung, um Ihnen bei Ihrem Kampf um Gerechtigkeit zu helfen. Was meinen Sie dazu, Miss Bellewether?“

Georgiana zögerte und wagte einen raschen Seitenblick auf ihn. Zuerst hatte sie Ashdowne mit den anderen Männern gleichgesetzt, was die Beurteilung ihrer Fähigkeiten betraf. Doch nun schien er allen Ernstes interessiert zu sein. Er zeigte nicht mehr den selbstgefälligen Gesichtsausdruck, der ihr das Gefühl vermittelt hatte, dass er nichts mit ihr zu tun haben wollte. Stattdessen las sie in seinen Augen echtes Interesse.

Georgiana blinzelte unsicher. Zum ersten Mal in ihrem Leben fragte ein Mann sie tatsächlich nach ihrer Meinung – und das nicht nur auf die idiotische Weise, wie das ihre Verehrer mit dem Hundeblick taten. Ashdownes Augen waren nicht verklärt, sondern so wach wie immer. Sie glitzerten wie bei einem Raubtier, was in ihr wieder jenes Kribbeln auslöste. Sie fühlte sich lebendig und aufgeregt, ganz so, als ob sie kurz vor der Lösung eines ihrer Rätsel stehen würde.

Georgiana wandte den Blick ab, bevor sie noch ganz die Fassung verlieren würde. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, wie es wäre, mit irgendjemandem über ihre Ermittlungen sprechen zu können – von dem Gefühl, sich in der Aufmerksamkeit eines attraktiven Mannes zu sonnen, einmal ganz abgesehen. Die Versuchung war groß, aber wollte sie wirklich einen ihrer Verdächtigen ins Vertrauen ziehen? Die Idee ließ sie erzittern, allerdings mehr aus Aufregung als aus Widerwillen.

Andererseits hatte sie sich gerade gefragt, wie sie an Mr. Cheever und Lord Whalsey herankommen sollte. Da sie offensichtlich die Schuldigen waren, schien es töricht von ihr, sich über Ashdowne Gedanken zu machen. Nein, berichtigte sich Georgiana selbst, während sie ihren Blick über seine dunkle Gestalt gleiten ließ. Es war nie töricht, dem Marquess gegenüber Vorsicht walten zu lassen. Hier im Mondschein strahlte er eine Gefährlichkeit aus, wie sie von Whalsey und Cheever nicht ausging. Sie hatte das sichere Gefühl, dass sie nicht mit ihm allein bleiben sollte. Ihre Mutter wäre entsetzt.

Doch diese Bedrohung konnte auch ihren Nutzen haben, denn Ashdowne schien zu allem fähig zu sein. Er hätte sicher keine Schwierigkeiten, zwei solche Gauner wie Whalsey und Cheever zur Strecke zu bringen. „Sie könnten mir vielleicht doch helfen“, flüsterte sie und starrte in die Nacht hinaus.

„Ja?“ Es war nur ein kleines Wort, doch verwirrte es ihre Sinne auf eine Weise, die Georgiana bisher nicht gekannt hatte.

Verärgert bemühte sie sich, die Konzentration nicht zu verlieren.

„Ich weiß, wer die Diebe sind, aber ich fürchte, sie werden Bath verlassen, wenn man sie nicht aufhält.“

„Was schlagen Sie vor?“, fragte Ashdowne. Kein Gelächter, kein Spott. Es war nicht einmal ein Anflug von Verachtung zu spüren, was Georgiana sehr erleichterte. Vielleicht war seine Idee, ihr Assistent zu sein, gar nicht so schlecht, denn allein die Möglichkeit, ihre Überlegungen mit jemand anderem teilen zu können, erleichterte vieles für sie.

„Ich bin mir nicht ganz sicher“, gab sie zu. „Bisher habe ich keinen Beweis, den ich dem Richter vorlegen könnte – und der würde mir wahrscheinlich sowieso nicht zuhören. Ich glaube, es bleibt nichts anderes übrig, als einen der Schuldigen direkt darauf anzusprechen.“

„Miss Bellewether“, sagte Ashdowne. Etwas in seiner Stimme ließ sie aufschauen. Als sie seine Augen im Mondlicht funkeln sah, überlief sie ein Schauder. „Sie werden keinen Verbrecher ansprechen.“

Obwohl dies wie ein Befehl klang, entschloss sich Georgiana stirnrunzelnd, nicht mit ihm zu streiten, sondern seinen Einwand geschickt für sich zu nutzen. „Nun, dann könnte es Ihre Aufgabe sein“, meinte sie.

„Sie möchten, dass ich den Burschen gegenübertrete?“ Ashdowne hob fragend eine Augenbraue.

„Das wäre doch eine gute Aufgabe für einen Assistenten, meinen Sie nicht?“, fragte sie lächelnd. „Ich wäre ja dabei und würde dann das Reden übernehmen. Sicher könnte ich sie zu einem Geständnis bringen, zumindest einen der beiden. Heute Vormittag habe ich nämlich schon mit einem im ‚Pump Room‘ gesprochen, und er verhielt sich auffällig verdächtig.“

Ashdownes schöner Mund wurde schmal. „Heißt das, dass Sie heute Morgen zum Sturz gebracht wurden?“

„Nun, in gewisser Weise …“

Er murmelte etwas Unverständliches. „Ich würde sagen, Sie haben Glück gehabt. Sie können doch Gesetzesbrecher nicht einfach zur Rede stellen. Sie haben keine Ahnung, wozu diese Sorte Männer fähig ist. Ich habe ein paar in London erlebt, die Ihnen den Hals für weniger umdrehen würden.“

„Sie haben gewiss recht“, erwiderte Georgiana. „Wissen Sie, ich verfolge das Geschehen in den Londoner Zeitungen, und vor allem die Kriminalfälle interessieren mich sehr. Aber ich kann Ihnen versichern, dass es sich bei diesem Mann um keinen gewöhnlichen Gauner handelt.“

Ashdowne schien noch nicht besänftigt. Er wirkte vielmehr ziemlich aufgebracht, und sein markantes Gesicht schien auf einmal hart. Zu Georgianas Überraschung umfassten seine behandschuhten Hände plötzlich ihre bloßen Arme. Ihr stockte der Atem. Die Hitze, die sich in ihr ausbreitete, verwirrte sie ebenso wie die plötzliche Veränderung ihres Gesprächspartners. Der Marquess of Ashdowne war mit einem Schlag von einem charmanten Kavalier zu einem gefährlichen Raubtier geworden.

Als sie so von seinen Händen und seinen blitzenden Augen in Bann gehalten wurde, fühlte sich Georgiana zwischen Furcht und Erregung, zwischen der Hitze seiner Berührung und der Kälte ihres Schauderns hin und her gerissen. „Miss Bellewether, Sie werden niemanden ins Verhör nehmen, wie harmlos er Ihnen auch erscheinen mag“, sagte er.

Georgiana wollte protestieren. Sie hatte sich noch nicht einmal dazu geäußert, ob sie ihn tatsächlich als ihren Assistenten akzeptieren würde, und dieser eingebildete Mann sagte ihr jetzt schon, was sie tun sollte. So stellte sie sich das nicht vor, doch Ashdowne tat ja immer das, was man nicht erwartete. Auch jetzt war es nicht anders, denn während Georgiana ihn noch aus großen Augen anschaute, neigte er den Kopf und küsste sie.

Sie war schon vorher geküsst worden, aber diese Burschen vom Land hatten in ihr nie den Wunsch erweckt, eine derartige Intimität weiterzuverfolgen. Sie hatte es eher geschmacklos gefunden, wenn jemand seinen Mund auf den ihren gepresst hatte. Bis jetzt.

Ashdowne ließ diese anderen verblassen. Er spielte meisterhaft mit ihren Lippen. Seine erste Berührung war so federleicht, eine solch zarte Liebkosung, dass sie sich sogleich nach mehr sehnte. Anstatt ihr jedoch diesen Wunsch zu erfüllen, folgte er der Linie ihres Kinns, ihrer Wange, ihrer Lider und ihrer Stirn, über die eine Locke gefallen war. Seine Berührungen versprachen ihr unbekannte Sinnesfreuden.

„Sie sind eine wahrhaft reizende Verführung“,flüsterte Ashdowne ihr ins Haar. Dann kehrten seine Lippen zu ihrer unendlichen Erleichterung zu den ihren zurück und umschlossen sie so lange heftig, bis Georgiana ein leises Stöhnen vernahm, das sie zu ihrem Schrecken als das ihre erkannte. Sie schlang ihre Arme um Ashdowne und atmete tief ein, als sie die Hitze verspürte, die von seinem kräftigen Körper ausstrahlte. Er war so warm und fühlte sich so fest an, dass Georgiana ihre Hände über seinen Rücken wandern und unter seinen Rock schlüpfen ließ.

Ihre Erkundungen schienen ihn zu ermutigen, denn nun berührte er ihre Zunge mit der seinen. Sie keuchte vor Überraschung; dieses zarte Eindringen schien ihren ganzen Körper auf eine seltsame Weise zu erregen. Merkwürdig, dass etwas so Komisches so köstlich sein kann, dachte Georgiana. Es war besser als alles, was sie je gekostet und genossen hatte. Ein Geschmack wie der Ashdownes war ihr noch nie untergekommen – er besaß einen tiefen, satten Ton von … Leidenschaft?

Auf einmal wurde ihr bewusst, dass es sich gar nicht schickte, den Marquess auf diese Weise zu umarmen. Sie sollte sich dagegen wehren, dass eine seiner elegant behandschuhten Hände ihren Nacken hielt, während ihr Kopf zurückgeneigt war und ihr Mund sich geöffnet dem seinen darbot. Sie sollte sich nicht so eng an ihn schmiegen, dass ihre Brüste gegen seine elegante Weste gedrückt wurden, und außerdem sollte sie auf keinen Fall so ungehemmt über die unglaubliche Sinnesfreude seufzen, die sie in seinen Armen fand.

Von Weitem vernahm Georgiana Schritte, und Ashdowne ließ daraufhin von ihren Lippen. „Wen verdächtigen Sie?“, flüsterte er ihr ins Ohr. Sie brauchte eine ganze Weile, bis ihr umnebelter Kopf seine Frage zu verstehen vermochte. Während sie sich noch sammelte, trat er einen Schritt zurück.

„Wen ich verdächtige?“, fragte sie mit einer Stimme, die sie kaum als die ihre erkannte. „Nun, Lord Whalsey und Mr. Cheever.“

„Aha“, sagte er sanft und trat bereits wieder in den Schatten des Gebäudes zurück. „Ich werde Whalseys Haus überwachen lassen.“

Georgiana blinzelte. Sie wurde von einer Enttäuschung erfasst, die so heftig war, dass sie in Versuchung geriet, ihn zurückzurufen, oder sich seinem schlanken Körper entgegenzuwerfen, um ihn um mehr zu bitten. Doch er war bereits fort.

„Miss Bellewether!“ Die Stimme veranlasste Georgiana, sich schuldbewusst umzudrehen. Sie zuckte innerlich zusammen, als sie Mr. Hawkins, den Vikar, auf sich zutreten sah. „Sie sollten doch hier nicht allein sein“, sagte er. Seine Augen wanderten anzüglich zu ihrem Busen, und sie war froh, dass es so dunkel war. Sie war sich nämlich sicher, dass sie von Kopf bis Fuß errötet war.

„Ich wollte gerade hineingehen“, brachte sie mühsam heraus.

Mr. Hawkins sah ein wenig verärgert aus, bot ihr aber an, sie zu begleiten. Sie nahm wohl oder übel seinen Arm, der nur ein dürftiger Ersatz für den Ashdownes war, und versuchte ihre Verwirrung zu verbergen. Als sie in den Empfangssaal traten, sah sich Georgiana sofort unter den Anwesenden um. Sie entdeckte Lady Culpepper, die sich mit einem schwarzhaarigen Gentleman unterhielt.

„Lady Culpepper hat sich ja wohl überraschend schnell wieder erholt“, sagte Mr. Hawkins missmutig.

Das schien ihr eine seltsame Bemerkung für einen Vikar, und Georgiana fühlte sich auf einmal wieder hellwach. „Vielleicht spricht der Gentleman ihr ja Trost zu“, meinte sie.

Mr. Hawkins zog nur hörbar und ganz unkirchlich die Luft ein.

„Wer ist er?“, fragte Georgiana und schaute sich den Mann interessiert an. Er war groß, sah gut aus und trug elegante, wenn auch unauffällige Kleidung.

„Einer der reichsten und mächtigsten Männer dieses Landes“, erwiderte Mr. Hawkins verächtlich. „Er ist mit der Hälfte des Adels verwandt, hat jedoch mehr Geld als fast alle von ihnen zusammen.“

„Vielleicht ist er ein Verwandter von Lady Culpepper?“

„So sagt man. Angeblich hat er jemanden aus London mitgebracht, der den Schmuck wiederfinden soll. Als ob ihn die Kette wirklich kümmern würde! Ist doch nur Kleingeld für ihn. Höchst merkwürdige Sache, dieser Diebstahl, wenn Sie mich fragen.“

Georgiana wandte sich ihm blitzschnell zu. Ihr Herz schlug heftig. „Und wen hat er aus London mitgebracht?“

„Einen Detektiv“, antwortete Hawkins. „Ich kann mir gut vorstellen, dass der Bursche es schon bald bereuen wird, gekommen zu sein, wenn er sich mit zwei solchen Leuten auseinandersetzen muss“, fügte er so herablassend wie möglich hinzu.

Georgiana hörte ihm bereits nicht mehr zu. Sie konnte nur noch an den Londoner Detektiv denken. Nach all den Jahren sollte sie nun endlich einen dieser berühmten Männer persönlich kennenlernen. Sie sah sich nach Ashdowne um, konnte ihn jedoch nirgendwo entdecken. Wieder einmal ärgerte sie sich über das ständige Verschwinden des Marquess.

Vielleicht ist er bereits hinter Lord Whalsey her, dachte sie. Sie hätte am liebsten schon heute Abend mit dem Londoner Detektiv gesprochen, doch das Wissen, dass Ashdowne sich um ihren Hauptverdächtigen kümmerte, beruhigte sie für den Augenblick. Morgen früh wollte sie sich dann an den Polizeibeamten wenden. Wenn alles gut ging, konnte sie ihm ihren Fall darlegen und die Schuldigen noch vor dem Mittagessen überführen. Hoffentlich befand sich die Halskette noch bei Whalsey, denn dann würde sie diese persönlich Lady Culpepper zurückbringen können.

Die undankbare Dame hätte somit die Möglichkeit, ihre Meinung über Miss Bellewether zu ändern. Alle würden sie endlich ernst nehmen müssen, überlegte Georgiana aufgeregt. Dann könnte endlich ihre heiß ersehnte Laufbahn als anerkannte Detektivin beginnen.

4. KAPITEL

Georgiana stand auf der Straße gegenüber Lady Culpeppers Wohnsitz und bemühte sich, so unauffällig wie möglich zu wirken. Das erwies sich als schwierig, da sie seit dem frühen Morgen hier Posten bezogen hatte und die Bediensteten der umliegenden Residenzen ihr bereits misstrauische Blicke zuwarfen. Sie harrte dennoch auf ihrem Platz aus und wanderte nur ein wenig die Straße auf und ab. Schließlich verfolgte sie ein wichtiges Ziel.

Der Londoner Detektiv, der am Abend zuvor angekommen war, würde bestimmt früher oder später den Tatort besichtigen. Dies war zumindest Georgianas Überzeugung, und sie hatte sich vorgenommen, ihn dann anzusprechen. Doch die Angewohnheit Lady Culpeppers, lange auszuschlafen, verschob den Besuch des Polizeibeamten wohl auf den späteren Vormittag. Bisher waren nur Diener und ein ziemlich heruntergekommener Mann mittleren Alters im Lieferanteneingang verschwunden.

Als der besagte Bursche eine halbe Stunde später wieder herauskam, dachte sich Georgiana nichts dabei, bis er die Straße überquerte und direkt auf sie zusteuerte. Unwillig runzelte sie die Stirn, denn sie hatte keine Lust, ihre Zeit mit jemandem zu vergeuden, der ihr vermutlich etwas verkaufen wollte. Schließlich musste sie Lady Culpeppers Haus im Auge behalten, oder sie würde ihre Chance verpassen.

„Verzeihen Sie, Miss“, begann der Mann höflich. Er hatte sich so vor sie hingestellt, dass sie dazu gezwungen war, ihren Hals zu recken, um den Eingang zum Haus Lady Culpeppers weiterhin beobachten zu können. „Sie scheinen sich für das Gebäude dort zu interessieren. Könnten Sie mir netterweise sagen, warum?“

Georgiana war von seiner direkten Art überrascht und betrachtete sich den Fremden nun genauer. Auch wenn seine Kleidung einen schlechten Schnitt aufwies, wirkte er doch seriös. Sie verbarg ihre Ungeduld und versuchte, freundlich zu wirken. „Haben Sie denn noch nicht gehört, dass ein Londoner Detektiv mit der Aufklärung des Diebstahls von Lady Culpeppers Halskette beauftragt wurde?“, fragte sie.

Der Mann schien überrascht, und seine dicken braunen Brauen zogen sich zweifelnd zusammen. Er wirkte erschöpft, und sein Gesicht wies mehr Falten auf, als das für sein Alter zu erwarten war. Georgiana hätte sich unter anderen Umständen durchaus dafür interessiert, jemanden außerhalb ihres gewöhnlichen Bekanntenkreises kennenzulernen; doch heute war sie einfach zu beschäftigt. Sie hatte auch keine Zeit, ihm die Einzelheiten des Raubes darzulegen, falls er diese noch nicht kannte.

„Entschuldigen Sie meine Aufdringlichkeit, Miss, aber was hat das mit Ihnen zu tun?“, erkundigte er sich und schaute sie neugierig an.

„Ich warte auf ihn“, sagte Georgiana erhaben und hoffte, dass der Mann dies als Wink, die Unterhaltung zu beenden, verstehen würde.

Er tat es nicht. Der Fremde blieb weiterhin vor ihr aufgepflanzt und versperrte ihr mit seiner untersetzten Figur den Blick. Er zeigte sich keineswegs entmutigt, sondern legte vielmehr seinen Kopf zur Seite und blickte sie an. „Wilson Jeffries, zu Ihren Diensten, Miss.“ Warum geht er nicht endlich weg, dachte sie. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite schien sich etwas zu tun, und sie versuchte ungeduldig, einen Blick über seine Schulter zu erhaschen.

„Warum wollten Sie mich sprechen?“

„Sie?“ Georgiana blinzelte ihn überrascht an.

Der Mann nickte, und sein Mund verzog sich zur Andeutung eines Lächelns. „Ja, Miss. Ich bin der Londoner Detektiv.“

Sie atmete tief ein und vergaß, Lady Culpeppers Haus zu beobachten. Genau genommen war sie ein wenig enttäuscht, da Wilson Jeffries überhaupt nicht so aussah, wie sie sich das von einem Londoner Verbrecherjäger vorgestellt hatte. Für sie hätte er ein kühner junger Polizist sein sollen, der etwas Geheimnisvolles ausstrahlte.

Nun sah sie sich einem nicht besonders großen Mann gegenüber, der die Schultern hängen ließ und ziemlich müde wirkte. Die Erschöpfung spiegelte sich in seinen braunen Augen wider. Sein zerknitterter Anzug und seine harmlose Erscheinung schienen eher zu einem einfachen Ladenbesitzer zu passen als zu einem erfahrenen Polizeibeamten.

Wilson Jeffries schien weder hart im Nehmen noch besonders klug zu sein, was ihr jedoch recht gut zupasskam. Zweifelsohne hatte dieser Londoner Detektiv ihre Hilfe bitter nötig. Der Gedanke schmeichelte Georgiana, und sie lächelte ihm freundlich zu.

„Es handelt sich nicht darum, was Sie für mich, sondern was ich für Sie tun kann“, sagte sie.

Als er sie fragend anschaute, fuhr sie mit wachsendem Selbstbewusstsein fort: „Wissen Sie, ich zähle mich nämlich selber ein bisschen zu den Detektiven und habe diesen Fall genau untersucht. Ich war auch anwesend, als das Ganze passierte.“

„Und Sie haben Informationen bezüglich des Diebstahls?“ Er wirkte etwas skeptisch, aber Georgiana ließ sich davon nicht einschüchtern. So waren die Männer eben, wenn es um ihre Fähigkeiten ging, doch sie war sich sicher, dass dieser hier sich eine derartige Haltung nicht lange leisten konnte.

Sie trat einen Schritt näher auf ihn zu und flüsterte verschwörerisch: „Ich habe inzwischen die Gruppe der Verdächtigen auf drei reduziert.“

Der Mann musterte sie von oben bis unten. „Haben Sie das?“, fragte er.

„Ja, und ich würde Ihnen gern meine Beobachtungen mitteilen, einschließlich der Identität des Räubers.“

„Wirklich?“, erwiderte Jeffries. Er schien ein recht wortkarger Mann zu sein, und Georgiana fragte sich, ob er diese Angewohnheit beim Ausfragen der Verdächtigen zu seinem Vorteil gebrauchen konnte. Vielleicht konnte sie ihm nicht nur bei diesem besonderen Fall helfen, sondern ihm auch ein paar Vorschläge machen, wie er in Zukunft seine Methode verbessern könnte.

„Ich muss zugeben, dass ich sehr gern eine Laufbahn wie die Ihre einschlagen würde, aber leider steht sie mir als Frau eben nicht offen“, gab Georgiana zu. „Das hält mich jedoch nicht davon ab, alle möglichen Rätsel zu lösen. Meist sind es nur unbedeutende Geheimnisse, doch im Fall von Lady Culpepper handelt es sich ja um ein wirkliches Verbrechen. Deshalb helfe ich Ihnen mit meiner Erfahrung nur zu gern, damit die Sache so schnell wie möglich geklärt werden kann.“

„Ich verstehe“, sagte Jeffries, obwohl er keineswegs so aussah. Vielleicht war er ja langsam, aber dafür gründlich, dachte Georgiana.

„Sollen wir vielleicht ein wenig die Straße hinabgehen?“, erkundigte sie sich, da ihr die neugierigen Blicke der Passanten allmählich ein wenig unangenehm wurden.

Jeffries schien verdutzt, doch als sie ihn am Ärmel zupfte, folgte er ihr. „Haben Sie die Bediensteten befragt?“, fragte sie.

„Miss, ich …“

„Ist nicht so wichtig“, sagte Georgiana und winkte ab. „Ich bin mir sowieso sicher, wer der Dieb ist.“

„Wie sind Sie darauf gekommen, Miss?“, wollte Jeffries wissen.

„Wie ich schon sagte, habe ich die Liste der Verdächtigen auf drei reduziert“, erklärte sie, froh darüber, endlich einmal ihre Gedankengänge darlegen zu können. „Zuerst habe ich Ashdowne in Betracht gezogen …“

Autor

Deborah Simmons
Die ehemalige Journalistin Deborah wurde durch ihre Vorliebe für historische Romane angespornt, selbst Historicals zu schreiben. Ihr erster Roman "Heart's Masquerade" erschien 1989, und seitdem hat sie mehr als 25 Romane und Kurzgeschichten verfasst. Zwei schafften es bis ins Finale der alljährlichen RITA Awards, einer Auszeichnung für besondere Leistungen im...
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