Historical Exklusiv Band 49

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RETTER IN HÖCHSTER NOT von FRANCIS, JUNE
Wer ist dieser Unhold, der die junge Frau bedroht? Wütend stößt Lord Mackillin den Mann zur Seite. Auch wenn die schöne Cicely seine Hilfe vehement ablehnt, verbietet ihm seine Ehre, sie im Stich zu lassen. Nur eines darf er nicht: sich in sie verlieben. Schließlich ist er bereits einer anderen versprochen. Doch allein beim Anblick von Cicelys sinnlichen Lippen könnte er alle Regeln des Anstands vergessen …

DIE SCHÖNE HEILERIN von JAMES, SOPHIA
"Ihr seid jetzt mein Eigentum!" Lady Madeleine ist verzweifelt: Seit dem Tod ihrer Mutter wurde die Heilerin von Männern nur gedemütigt. Und jetzt fällt sie auch noch dem grausamen Alexander Ullyot, Laird of Ashblane, in die Hände! Madeleine erwartet das Schlimmste, aber schon bald lernt sie den Clanführer von seiner leidenschaftlichen Seite kennen. Kann sie es wagen, ausgerechnet dem Feind ihr Herz zu schenken?


  • Erscheinungstag 07.10.2014
  • Bandnummer 49
  • ISBN / Artikelnummer 9783733760663
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

June Francis, Sophia James

HISTORICAL EXKLUSIV BAND 49

JUNE FRANCIS

Retter in höchster Not

So ein ungehobelter schottischer Barbar! Die englische Kaufmannstochter Cecily Milburn kann nicht glauben, dass Lord Mackillin ein Freund ihres Vaters sein soll. Sie will mit ihm nichts zu tun haben. Als der Lord sie allerdings aus höchster Not rettet – und ihr anschließend einen sündigen Kuss raubt – schlägt ihr Herz plötzlich verräterisch schnell …

SOPHIA JAMES

Die schöne Heilerin

Rasch zieht der Laird of Ashblane seinen Dolch und markiert seine Geisel mit einem Schnitt knapp über ihren Brüsten. Nun gehört Lady Madeleine ihm – und er wird sich an ihr für die Verbrechen der Engländer rächen. Doch als er die attraktive Adelige näher kennenlernt, verspürt er nur noch einen brennenden Wunsch: seine Sehnsucht nach ihren Küssen zu stillen!

1. KAPITEL

Januar 1461

Stirnrunzelnd betrachtete Cicely Milburn die blutige Schürfwunde an der Flanke des Pferdes. Wem mochte der Wallach gehören? Das Tier bebte am ganzen Körper, als Cicely ihm behutsam die Hand auf den Nacken legte. Zuerst schnupperte es vorsichtig an dem runzeligen Apfel, den sie ihm auf der flachen Hand entgegenhielt, dann nahm es die Frucht. Zufrieden lächelnd ging Cicely zu ihrem eigenen Zelter in die benachbarte Box und musste sogleich wieder voller Sorge an ihre beiden zwei Jahre jüngeren Brüder denken. Sie wünschte, Matt hätte sich nicht auf die Reise nach Kingston-upon-Hull machen müssen, um Erkundigungen nach seinem Zwillingsbruder und seinem verwitweten Vater einzuholen. Da Gerüchte im Umlauf waren, dass sich seit ungefähr einer Woche in der Umgebung von Sandal Castle, das dem Duke of York gehörte, jede Menge Lancastrianer aufhielten, hatte Matt zu seinem Schutz vorsichtshalber die meisten männlichen Bediensteten mitgenommen. Falls dort wirklich ein Kampf stattgefunden hatte, war durchaus zu erwarten, dass man auf angriffslustige marodierende Soldaten stieß. Doch nicht einmal mit ihrem Stiefbruder Diccon konnte Cicely ihre Ängste teilen. Auch ihn hatte sie in den letzten sechs Monaten nicht gesehen, und um seine Sicherheit fürchtete sie ebenfalls. Als sie Schritte hörte, die sich näherten, griff sie sofort nach dem Dolch an ihrem Gürtel. Vorsichtig sah sie sich um.

Wut wallte in ihr auf, als sie den Mann sah, der dort stand. „Master Husthwaite! Was wollt Ihr hier? Wie konntet Ihr den armen Gaul so schinden?“, fragte sie streng.

„Hier seid Ihr also, Mistress Cicely. Ich habe bereits schon nach Euch gesucht.“

Der Mann mit dem mausgrauen, strähnigen Haar musterte sie mit seinen kalten silbergrauen Augen, sodass Cicely wütend die Fäuste ballte.

„Aus welchem Grund?“, fragte sie brüsk.

Master Husthwaite sog bedächtig die Luft ein und blies sie geräuschvoll wieder aus. „Der Gaul ist eine lahme Schnecke“, ließ er sich schließlich zu einer Antwort herab. „Wenn mein Onkel darauf bestanden hätte, dass seine Kunden pünktlich bezahlen, könnte ich mir jetzt ein besseres Pferd leisten.“

„Was soll das heißen: darauf bestanden hätte?“

„Mein Onkel ist kürzlich verstorben. Ich übernehme sein Geschäft.“ Händereibend, den Blick auf ihren wohlgeformten Busen geheftet, näherte er sich ihr. „Nachdem ich in Knaresborough mit Master Matthew gesprochen habe, bin ich in aller Eile hierhergeritten. Ich dachte, Ihr könntet meine Hilfe gebrauchen.“

„Im Haus meines Vaters? Wieso sollte ich da Eure Unterstützung benötigen? Ich bin durchaus fähig, allein den Haushalt zu führen. Und falls ich wirklich auf jemanden angewiesen sein sollte, so würde ich die Frau des Verwalters rufen.“

Husthwaite strich sich über die hohlen Wangen, argwöhnisch kniff er die Augen zusammen. „Es ist eine andere Art von Hilfe, die ich Euch anbiete. Ich war zutiefst besorgt, als Master Matthew mir erzählte, dass er nach Kingston-upon-Hull reitet, um sich bei dem Handelsagenten nach Eurem Vater zu erkundigen.“ Er trat noch einen Schritt näher. „Ich fürchte, Ihr müsst Euch auf schlechte Nachrichten gefasst machen.“

„Ich weiß nicht, was Euch zu dieser Annahme führt“, erwiderte Cicely kühl, und, da sie das Gefühl hatte, Abstand halten zu müssen, trat sie neben den Kopf ihres Pferdes. „Es ist nicht das erste Mal, dass mein Vater nicht zum erwarteten Tag heimkehrt. Insbesondere in den Wintermonaten kommt das immer wieder vor. Stürmisches Wetter kann das Auslaufen des Schiffes hinauszögern.“

„Das könnte so sein, wenn sich die Rückkehr Eures Vaters und Eures Bruders ein paar Tage oder eine Woche verschoben hätte. Doch nun feiern wir bereits das Fest des Heiligen Hilarius, und wie ich von Eurem Bruder erfuhr, habt Ihr seit sechs Wochen nichts mehr von ihnen gehört. Ich glaube wirklich, Ihr müsst Euch mit dem Gedanken vertraut machen, dass Euer Vater tot sein könnte.“

„Nein!“, schrie sie. „Das kann und will ich nicht glauben.“ Sie wollte nicht an die schrecklichen Vermutungen erinnert werden, die Matts Ahnung, seinem Bruder könne etwas zugestoßen sei, in den letzten zehn Tagen in ihr wachgerufen hatten.

„Es ist schwer, aber Ihr müsst Euch mit den Tatsachen abfinden. Euer Vater lebt nicht mehr. Wir müssen jetzt über Eure Zukunft nachdenken.“

„Wir? Was soll das denn heißen? Wollt Ihr Euch etwa in meine Angelegenheiten einmischen?“ Ihre Augen sprühten gleichsam Feuer. „Das soll wirklich nicht Euer Problem sein. Ich … ich bin versprochen. Wir werden zu Ostern heiraten.“

Husthwaites tief in den Höhlen liegende Augen glänzten teuflisch. „Unter den Papieren Eures Vaters fand ich nichts über ein solches Arrangement.“

„Dennoch wird die Hochzeit stattfinden.“ Cicely war wütend darüber, dass er Einsicht in die persönlichen Unterlagen ihres Vaters hatte. Hätte Nat Milburn gewusst, dass dieser Schreiberling es wagen würde, in die Fußstapfen seines verstorbenen Onkels zu treten, dann hätte ihr Vater angeordnet, sofort einen anderen Mann mit den geschäftlichen und persönlichen Angelegenheiten der Familie Milburn zu betrauen.

„Wenn Ihr meint. Doch sagt mir, wer ist denn dieser vermeintliche Verlobte?“

„Sein Name geht Euch überhaupt nichts an. Und nun seid so gut und geht. Ich habe Vorbereitungen für die Rückkehr meiner Brüder und meines Vaters zu treffen.“

Er starrte sie begehrlich an. Anstatt den Stall zu verlassen, griff er nach der Reitpeitsche, die an seinem Sattel hing, und schlug nach Cicelys Pferd. Voller Zorn schrie Cicely auf. Alle Vorsicht außer Acht lassend, griff sie nach der Gerte, als dieser Rohling erneut zuschlagen wollte. Doch bei dem Versuch, dem Mann die Peitsche zu entreißen, wurde sie gegen ihn geworfen. Sofort nutzte Husthwaite die Situation aus. Er schlang die Arme um Cicely und drückte sie so fest an sich, dass sie kaum noch atmen konnte.

„Lasst mich sofort los. Ihr vergesst Euch“, keuchte sie.

Er lachte und legte seinen Kopf an ihren zarten Nacken. Cicely wehrte sich verzweifelt, während Husthwaite sie ganz langsam, Zentimeter für Zentimeter hinunter ins feuchte Heu zwang. Im Kampf verlor sie ihre Haube. Er griff in ihr gelöstes Haar, zog ihr Gesicht ganz nahe an seines und versuchte, sie zu küssen. Sie ekelte sich vor seinen faulen Zähne und dem schlechten Geruch seines Atems. Irgendwie gelang es ihr, ihn mit den Fingern ins Kinn zu kneifen. Rüde schlug er ihre Hand beiseite. „Dafür werdet Ihr zahlen“, knurrte er.

Cicelys Rettung kam so schnell, dass sie es kaum fassen konnte. Binnen weniger Augenblicke war sie frei. Ihr Peiniger lag am Boden, und sie selbst fühlte sich leicht wie eine Feder, als sie wieder auf ihren Füßen stand. Fest hatte ihr Retter zugegriffen, wie Feuer brannten seine Hände auf der Haut unter ihrem Kleid. Ein seltsames, äußerst verwirrendes Gefühl war das, nicht zu vergleichen mit dem Schrecken, den Husthwaites Angriff ihr versetzt hatte.

Als Erstes sah sie das verschlungene Muster einer glanzlosen Zinnbrosche, die einem groben Wollumhang als Halt um einen wettergegerbten Hals diente. Ihr Blick wanderte höher, und es verschlug ihr fast den Atem, als sie das bärtige Kinn, die breiten Wangenknochen, überhaupt das markante Gesicht eines Mannes mit schulterlangem kastanienbraunem Haar sah. Rasch wandelte sich ihre anfängliche Erleichterung in Angst und Schrecken, als sie den Dialekt des Fremden hörte. Erinnerungen erwachten an die Pilgerreise, die sie mit ihrer sterbenskranken Mutter zum Kloster Alnmouth unternommen hatte, das sich nicht weit von der Grenze zwischen England und Schottland befand. Ihre Mutter stammte aus der Gegend und verehrte die keltischen Heiligen, die das Evangelium von Irland herübergebracht hatten.

„Ich hoffe, er hat Euch nicht allzu großen Schaden zugefügt, Jungfer.“ Diesmal sprach der Fremde langsamer und deutlicher.

Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass die goldenen Locken ihr über die Schultern flogen. Er griff nun mit der Hand nach einer Locke und strich sie Cicely ungelenk, aber behutsam hinters Ohr. Ihr stockte fast der Atem. All die Geschichten, die Großvater und einige Großonkel ihr und ihren Zwillingsbrüdern erzählt hatten, kamen ihr in den Sinn. Schreckliche Geschichten, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen, hatte ihre Mutter immer gesagt. Selbstverständlich hielt deshalb auch Cicely die Grenzlandschotten für einen ungehobelten Menschenschlag. Sie fürchtete, dass dieser Mann sie nur vor Husthwaites hinterhältigen Absichten gerettet hatte, um sein eigenes Vergnügen mit ihr zu haben. Sicherlich wäre sie jetzt ohnmächtig geworden, wenn sie zu der Sorte Frauen gehört hätte, die leicht in Ohnmacht fallen. Sie aber tastete nach dem Dolch, der neben dem Schlüsselbund an ihrem Gürtel hing, und ihre Finger umschlossen den mit einer Kordel umwickelten Griff.

Mackillins Blick glitt über ihr bleiches Gesicht. Die Farbe ihrer Augen erinnerte ihn an die Glockenblumen, die unter den Ebereschen am Loch Trool blühten. Normalerweise gehörte er nicht zu den Menschen, die sich in Poesie versuchten. Doch angesichts dieser blauen Augen wäre vermutlich auch er durchaus fähig, ein Lied zu schreiben. Dieses Mädchen besaß zudem nicht nur wunderschöne Augen, sondern auch ein hübsches, herzförmiges Gesicht, eine edle, gerade Nase und Lippen, die geradezu danach verlangten, geküsst zu werden.

Etwas war da in seinem Blick, das Cicely unruhig machte. Fast unbewusst strich sie sich mit der Zungenspitze kurz über die Lippen. Sie wusste, sie musste ihren Dolch ziehen, jetzt oder nie. „Haltet Abstand, Ihr … Ihr Barbar!“, schrie sie, während sie ihm mit ihrer Waffe drohte.

Abgesehen von einem kurzen Aufblähen seiner Nasenflügel schien er unbeeindruckt. „Und wenn ich mich weigere, Jungfer, was gedenkt Ihr dann, mit diesem … Spielzeug zu machen?“, fragte er sichtlich amüsiert.

„Ich steche zu. Die Klinge ist scharf“, warnte sie.

Seine Augen glänzten feurig. „So dankt Ihr mir? Verdiene ich da nicht eine Belohnung?“ Mit einer Sorglosigkeit um seine eigene Sicherheit, die Cicely die Sprache verschlug, griff er nach ihrem Handgelenk. Ein kurzer Dreh, und sie stöhnte vor Schmerz. Die Waffe fiel zu Boden. Danach fasste er mit dem linken Arm um Cicelys Taille und legte die rechte Hand um ihren Kopf. „Ein Kuss für meine Schmerzen“, sagte er und suchte ihren Mund.

Cicely wollte sich abwenden, doch es gelang ihr nicht, sich gegen diesen starken und muskulösen Mann zu wehren. Nach einer Weile spürte sie, wie der Druck seines Mundes nachließ. Sanft und prickelnd bewegten sich seine Lippen über die ihren. Erschrocken stellte sie fest, dass sie sogar sein raues, kratziges Kinn seltsam sinnlich und gar nicht störend fand. Nur dreimal zuvor war sie geküsst worden, doch keiner dieser Küsse hatte eine solche Hitze in ihrem Innern entfacht wie dieser.

Hatte sie nicht Diccon ewige Liebe geschworen? Er war der einzige Mann, der das Recht besaß, sie auf diese Weise innig und betörend zu küssen. Obwohl ihr Vater einer Verlobung seinen Segen verweigert hatte, glaubte Cicely, ihn nach seiner Rückkehr umstimmen zu können. Und nun erlaubte sie diesem … diesem Wilden, sie zu küssen, dazu noch ohne Gegenwehr. Mit einem Ruck drehte sie ihren Kopf zur Seite und hob die Hand. Doch der Schlag verfehlte sein Ziel, denn der Fremde ließ sie plötzlich los.

Wütend sah sie ihn an. „Mein Vater wird Euch dafür büßen lassen, dass Ihr es gewagt habt, mich so unzüchtig zu berühren“, schimpfte sie.

Mackillin sah sie argwöhnisch an. Natürlich war es ein Fehler gewesen, die junge Frau zu küssen. Das wusste er. Doch konnte allein der Anblick dieser Lippen einen jeden Mann nicht alle Gesetze der Ritterlichkeit vergessen lassen? Und erst diese goldene Lockenpracht, die so köstlich nach Kamille duftete! Nie zuvor hatte er solches Haar gesehen. Er atmete tief durch. Auch ihre Haut hatte nach Kamille gerochen, erinnerte er sich. Zugleich spürte er wieder das herrliche Gefühl, wie ihr Busen an seiner Brust gelegen und ihr Bauch gegen seine Männlichkeit gedrückt hatte. Die Regung in seinen Lenden hielt immer noch an. „Euer Vater? Ist er einer der Bediensteten hier?“

„Gott bewahre, nein! Er ist …“ Sie schwieg, unsicher, wie er wohl reagieren würde, wenn er erführe, dass sie die Tochter des Hauses war. Was wollte dieser Mann auf dem Hof ihres Vaters? Jahrzehntelang hatten die Schotten ihre räuberischen Streifzüge nicht so weit nach Süden über die Grenze ausgedehnt. Ohne zu antworten, rannte sie wie von Furien getrieben blindlings davon. Direkt vor dem Stall prallte sie mit jemandem zusammen, der sie am Arm hielt. Erschrocken schrie sie auf. Doch kurz darauf hörte sie eine vertraute Stimme: „Was ist passiert, Cissie? Warum brüllst du so?“

„Oh Jack, du bist es“, rief sie erleichtert. Glücklich sank sie an die Brust ihres Bruders. Gerade noch rechtzeitig bemerkte sie, dass sein rechter Arm in einer Schlinge lag. „Was ist passiert?“ Vorsichtig berührte sie seine Schulter und sah forschend in das geliebte Gesicht. „Matt hat geahnt, dass du verletzt bist. Gott sei Dank, nun bist du ja zu Hause. War es etwa der Barbar da, der deinen Arm verletzt hat?“ Sie zeigte zum Stall. „Hast du dein Schwert, Jack?“, flüsterte sie, als sie sah, dass Mackillin ihr gefolgt war. Er stand am Eingang zum Stall und beobachtete sie.

Jack sah sie an, als wäre sie nicht bei Sinnen. „Ein Kampf gegen Mackillin? Das wäre zwecklos. Ich kenne niemanden, der die Kunst des Fechtens besser beherrscht als er.“

„Du hast also mit ihm gekämpft und verloren?“

Jack blickte gen Himmel. Er sah aus, als würde er um göttliche Hilfe bitten. „Nein, Cissie. Er hat mir das Leben gerettet.“

Fassungslos sah sie ihn an. „Nein! Er … doch nicht der. Das muss ein Missverständnis sein.“

„Du bist es, die hier nichts versteht, Cissie. Er ist ein Freund von Vater.“

„Das kann nicht sein. Vater ist ein gebildeter, kultivierter Mensch. Er ist weit gereist und sehr belesen. Was könnte er schon gemein haben mit diesem … diesem schottischen Wilden?“ Zornig musterte sie Mackillin, der sie mit einem Gesichtsausdruck ansah, der sie verwirrte. „Ich muss mit Vater sprechen. Ich muss ihm sagen, dass dieser Mensch es gewagt hat, mich zu küssen.“ Sie drehte sich um und wollte zum Haus rennen.

„Warte, Cissie.“ Jack hielt sie mit seinen Worten zurück.

„Weshalb? Wenn du glaubst, ich würde meine Meinung ändern, dann hast du dich …“ Sie sah ihren Bruder über die Schulter hinweg an und blieb erschrocken stehen, als sie seine bekümmerte Miene sah. „Was ist los? Du siehst so traurig aus.“

Jack schluckte mehrmals. „Du wirst Vater nicht im Haus ­finden.“

Cicely kam langsam zurück. „Wieso nicht? Wo ist er? Hatte er einen Unfall?“ Jack zögerte. „Du machst mir Angst, Bruder. Sag schon, was ist passiert?“

„Er ist tot“, schluchzte Jack. „Ermordet von diebischem Gesindel.“ Aus Cicelys Gesicht wich alle Farbe. Ungläubig schüttelte sie den Kopf und packte ihren Bruder am gesunden Arm. „Es tut mir so leid, Cicely.“

„Ich kann es nicht glauben. Nein, ich will es nicht glauben.“ Sie raffte den Saum ihres braunen Rockes hoch und zeigte auf diese Weise ungewollt die weiten Beinkleider aus weicher Lammwolle, die sie immer zum Reiten trug. Anschließend rannte sie über den Hof zum Haus, laut gackernd wichen ihr die aufgescheuchten Hühner aus. Weder die drei Packpferde, die geduldig darauf warteten, dass man sie von ihrer Last befreite, noch den Mann, der auf dem Pferd saß, sah sie, so eilig hatte sie es. Ihr Vater musste im Haus sein, seine tiefe Stimme musste doch nach ihr rufen. Verzweiflung trieb sie, als sie die Stufen hinaufrannte, die an der Außenmauer des grauen Steinhauses zur Eingangshalle führten. Ungeduldig kämpfte sie im eisigen Wind mit der Tür, bis diese sich schließlich öffnen ließ und ihr Einlass gewährte.

Während Mackillin voller Mitleid und Bestürzung verfolgte, wie Cicely aus seinem Blickfeld entschwand, überkam ihn wieder die starke Erregung, die er zu ignorieren versuchte. Er hatte ganz vergessen, dass Jack ihm erzählt hatte, wie hübsch seine Schwester sei. Hätte er sich daran erinnert, dann hätte er bestimmt sofort vermutet, wen er vor sich hatte. Trotzdem, auch wenn er nicht gewusst hatte, dass sie die Tochter des Hauses war, sein Benehmen war unverzeihlich. Und doch – sobald er nur daran dachte, wie er sie in den Armen gehalten hatte, schlug sein Herz schneller. Sein Aufenthalt in Milburn sollte notgedrungen sowieso nur von kurzer Dauer sein. Zum Glück. Ansonsten wäre er noch versucht, die Belohnung einzufordern, die ihm der sterbende Nat Milburn angeboten hatte.

„Ich muss nach ihr sehen“, sagte Jack traurig und hilflos.

Mackillin hielt ihn mit einer Handbewegung zurück. „Lass ihr Zeit, sich zu beruhigen.“

Jack zögerte, doch dann nickte er. „Ihr habt sie also geküsst. Hat sie deshalb so geschrien?“

„Wieso? Sie schrie schon aus voller Kehle, bevor ich sie berührte.“ Ein Geräusch hinter ihnen erregte ihre Aufmerksamkeit. „Da hast du die Erklärung“, sagte Mackillin, als Husthwaite mit seinem Pferd am Zügel auftauchte.

Die Wange des Mannes war geschwollen und zeigte deutliche Kratzspuren. „Da seid Ihr also zurück, Master Jack.“

„Wer seid Ihr?“, zürnte Milburn.

„Gabriel Husthwaite, der Neffe des Mannes, der die Geschäfte für Euren Vater erledigte. Mein Onkel ist kürzlich gestorben. Ich bin sein Nachfolger. Eure Familie wird meine Dienste benötigen, wenn ich mit der Vermutung recht habe, dass Euer Vater verstorben ist.“

„Ja. Überfallen und ermordet.“ Jack sah unsicher zu Mackillin. „Das ist der Mann, von dem Vaters Handelsagent in Kingston-upon-Hull sprach.“

Mackillin musterte Master Husthwaite streng.

Der zwang sich zu einem dünnen Lächeln. „Jungfer Cicely wollte ja nicht glauben, dass ihr Vater tot ist. Ich habe ihr erklärt, dass allein der Tod der Grund für seine lange Abwesenheit sein kann.“

„Deshalb hat sie wohl so verzweifelt geschrien“, sagte Jack und fuhr sich mit der Hand durch das blonde Haar. „Aber sie …“

„Nein, das stimmt nicht“, fuhr Mackillin ärgerlich dazwischen. „Der Kerl hat Eure hübsche Schwester auf schändliche Weise belästigt.“

Husthwaite musterte Mackillin mit verschlagenem Blick. „War mein Benehmen denn so anders als das Eure? Ihr hieltet sie doch für eine Magd. Habt Ihr nicht für Eure Mühen einen Kuss von ihr gefordert?“

Mackillin drehte sich zu Jack um und sagte leise: „Entschuldige, Jack. Sie nannte mich einen Barbaren und wollte mich erdolchen.“

„Oje. Sicher hatte sie Angst, weil Ihr aus dem Grenzland kommt. Es tut mir leid, Mackillin. Aber unser Großvater und sein Bruder pflegten uns so haarsträubende Geschichten über die schottischen Räuber zu erzählen, dass wir als Kinder oft nachts nicht schlafen konnten“, erklärte Jack.

Husthwaite trat zu den beiden. „Die Jungfer Cicely braucht eine strenge Hand. Nur so lässt sich ihr Temperament zügeln. Mich hat sie auch bedroht. Ich habe mich nur verteidigt, bevor dieser Mackillin dazukam.“

„Ihr lügt“, widersprach Mackillin heftig. „Da war keine Klinge zu sehen. Ihr habt sie ins Heu gestoßen. Einen wie Euch verschmäht sie gewiss.“

Der Mann grinste höhnisch. „Na, Euch wohl auch. Schert Euch fort, macht Euch auf den Weg. Und zwar dorthin, wo Ihr hingehört, nämlich in Euer eigenes Land. Die Angelegenheiten dieser Familie sind meine Obliegenheiten. Die gehen Euch nichts an, Ihr Barbar.“

Wutschnaubend packte Mackillin Husthwaite am Kragen seines kurzen und engen Rockes mit dem reich gefalteten Rückenteil, hob ihn hoch in die Luft und platzierte ihn unsanft auf den Rücken seines Pferdes. „Verschwindet, bevor ich meine Fäuste nutze, Euch die Kehle aufschlitze und Euch von Eurer lockeren Zunge befreie.“ Mit einem aufmunternden Schlag auf die Flanke des Pferdes versetzte er seinen Worten Nachdruck.

Husthwaite griff nach den Zügeln und wäre fast wieder seitwärts aus dem Sattel gerutscht, hätte Mackillin ihn nicht gehalten. Das Pferd trottete zum befestigten Pfad, der zum Dorf führte und weiter hinten in die Überlandstraße nach Knaresborough mündete, das mehr als eine Meile entfernt lag.

Jack schüttelte unwillig den Kopf. „Die Sache gefällt mir nicht. Vater hätte niemals gewollt, dass solch ein Mann sich unserer geschäftlichen Angelegenheiten annimmt.“

„Der Kerl ist zweifellos ein Schurke. Kennst du niemanden, der euch helfen könnte, mit ihm fertig zu werden?“

Jack nickte. „Doch. Diccon. Nur weiß ich nicht, wo er sich derzeit aufhält. Und da wäre noch Owain, der Mann unserer Stiefschwester und ein guter Freund unseres Vaters. Matt oder Cissie könnten ihn benachrichtigen. Wo ist Matt eigentlich?“ Er schaute sich suchend um. „Sicherlich ist er irgendwo auf den Feldern. Wenn er das Spektakel gehört hätte, wäre er schon längst gekommen, um zu sehen, was los ist. Hoffentlich ist er bald zurück. Bleibt Ihr zur Nacht und sprecht mit ihm?“

Mackillin blickte zum düsteren Himmel und nickte. „Ja, vor Einbruch der Dunkelheit kämen wir sowieso nicht mehr weit. Geh du ins Haus und sieh nach deiner Schwester. Robbie und ich kümmern uns derweil um die Pferde. Und noch eines, Jack: Sag bitte nichts davon, dass dein Vater mir als Dank die Hand deiner Schwester angeboten hat. Ein solches Anerbieten kann ich nicht annehmen. Und nun geh. Ich sorge dafür, dass das Gepäck ins Haus gebracht wird.“

Jack dankte ihm und eilte seiner Schwester nach.

Im Haus kniete Cicely vor der Feuerstelle und streichelte einen der Hunde. Mit tränennassem Gesicht schaute sie zu ihrem Bruder auf, als dieser zu ihr trat. „Es ist wohl wahr, was du berichtet hast.“ Ihre Stimme zitterte. „Über eine so ernste Sache wie den Tod unseres geliebten Vaters würdest du bestimmt keine Witze machen.“

„Es tut mir leid, Cissie.“ Ungelenk legte er seinen Arm um ihre Schulter. „Ich wusste, wie schlimm die Nachricht für dich ist. Aber wo ist Matt eigentlich?“

„Er ist nach Kingston-upon-Hull geritten, um zu hören, ob Vaters Handelsagent Nachricht von euch hat. Matt war sich sicher, dass er euch dort trifft.“

Verständnislos blickten Jacks blaue Augen sie fragend an. „Vaters Agent hat Matt überhaupt nicht erwähnt. Wann ist er denn losgeritten?“

„Erst heute Morgen. Die meisten unserer Männer hat er mitgenommen.“ Seufzend stand sie auf. „Du hast also mit dem Agenten gesprochen? Was hat er gesagt?“

„Er schien nicht überrascht, als er von Vaters Tod hörte. Und er sprach von Husthwaite. Wir hatten keine Ahnung, dass dessen Onkel gestorben ist. Man hätte einen Kurier mit dieser Nachricht zu einem unserer Händler auf den Kontinent schicken müssen. Vater wäre bei Erhalt dieser Botschaft bestimmt augenblicklich heimgekommen.“

„Ich selbst habe erst heute vom Ableben des alten Husthwaite erfahren. Soweit ich weiß, hat sein Neffe keine vollständige juristische Ausbildung. Er hat lediglich als Schreiber bei seinem Onkel gearbeitet. Doch lass uns später darüber reden“, erklärte sie mit brüchiger Stimme. „Wir müssen Diccon benachrichtigen.“

Jack nickte. „Du weißt, wo er sich aufhält?“

Sie sah ihn traurig an. „Nein. Aber sicherlich wissen Kate oder Owain, wie sie ihn erreichen können. Wir müssen sie alle über Vaters Tod benachrichtigen.“ Sie schwieg und schluckte die Tränen herunter. „Wenn man Diccon nicht findet, wird uns bestimmt Owain helfen, falls Husthwaite Ärger machen sollte.“

„Hoffentlich.“

Cicely wischte sich mit dem Handrücken über das tränennasse Gesicht. „Musste Vater arg leiden? Hat man die Teufel gefasst und bestraft?“

Jack trat mit dem Fuß die Glut aus, die aus der Feuerstelle gefallen war. „Er starb schnell. Doch zuvor hat er Mackillin noch das Versprechen abgenommen, mich sicher nach Hause zu begleiten. Er hat einen der Räuber und sein Diener Robbie einen zweiten getötet, ein dritter konnte leider entkommen.“

Sie verschränkte die Hände. „Ich kann nicht verstehen, wie Vater einem aus dem Grenzland so ein Versprechen abnehmen konnte“, meinte sie weinend.

Jack sah sie traurig an. „Mackillin ist nicht das, wofür du ihn hältst. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Vater und er sich umarmt haben.“

„Wie konnte Vater einen solchen Mann kennen?“, fragte sie erstaunt.

Jack versuchte, sich die juckende Hand unter dem geschienten Arm zu kratzen. „Sie sind beide weit gereist. Mackillin besitzt ein Schiff. Vermutlich sind sie sich zum ersten Mal begegnet, bevor Vater unserer Stiefmutter versprochen hat, seine weiten Fahrten aufzugeben – damals, als er dieses Herrenhaus von unserem Großonkel geerbt hatte und lieber hier leben wollte als in dem baufälligen Anwesen unseres Großvaters.“

„Ich erinnere mich. Ich war zwölf Sommer alt, als Großonkel Hugo kinderlos starb. Vater entschied sich damals, die beiden Güter zusammenzulegen“, erklärte sie mit leiser, fast zitternder Stimme.

„Ja, das war vor fünf Jahren. Matt und ich waren damals zehn. Möglicherweise trafen sich Vater und Mackillin in Calais“, meinte Jack nachdenklich.

Seufzend nahm Cicely den Kissenbezug zur Hand, an dem sie vormittags genäht hatte. „Dort ist Diccon auch Edward of York begegnet. Vater war böse auf Diccon, weil er von Edward so angetan war, dass er vorhatte, sich ihm anzuschließen.“ Sie legte das Leinentuch wieder zurück, denn auf ihre Näharbeit konnte sie sich jetzt einfach nicht konzentrieren.

Jack verzog das Gesicht. „Was hast du von Vater erwartet? Sein ganzes Leben lang hat er den Duke of Lancaster unterstützt, obwohl Henry IV. geisteskrank und ein schlechter König ist. Mehr Priester als Krieger, wie Vater immer sagte.“

Cicely nickte. „Dennoch vermute ich, dass Diccon die Seiten gewechselt hat. Möglicherweise setzt er sich nun für die Yorks ein, obwohl er in Lancashire geboren und aufgewachsen ist.“ Das war jedoch nicht der einzige Grund, weshalb ihr Vater seine Einwilligung zu einer Ehe mit Diccon bislang nicht gegeben hatte. Sie vermutete, dass es noch einen weiteren gab: Diccon besaß kein Land und auch sonst keinerlei materielle Güter.

Jack seufzte. „Ich bin müde und im Augenblick nicht in der Stimmung, mich mit den Streitigkeiten der Häuser York und Lancaster zu befassen. Wir haben genug eigene Sorgen. Vater hätte sicherlich erwartet, dass du Mackillin höflich bewirtest. Speis und Trank und ein Bett ist das wenigste, was wir ihm bieten sollten, wenn er sich schon weigert, die Belohnung anzunehmen, die Vater ihm angeboten hat.“

„Aha, das also bringt ihn her: die Aussicht auf eine Belohnung“, antwortete Cicely verärgert.

„Ich hätte es nicht erwähnen sollen. Ich habe dir doch gesagt, er will keine Belohnung.“

„Das sagt er nur. Lass dich nicht täuschen, Jack. Vielleicht will er mehr, als ihm geboten wurde. Er muss doch wissen, dass Vater ein reicher Mann ist.“

„Du beleidigst ihn“, erwiderte Jack zornig. „In den letzten zehn Tagen hätte er mir jederzeit die Kehle durchschneiden und all unsere äußerst wertvollen Güter stehlen können. Nun gut, er hat dich geküsst, Cicely, aber das solltest du ihm verzeihen. Er weiß, dass es ein Fehler war.“

Sie spürte die Röte in ihren Wangen, beugte sich zu einem der Hunde hinunter und entfernte ihm ein paar Kletten, die sich im rauen Fell festgesetzt hatten. „Er hielt mich für eine Magd“, sagte sie leise. „Ist das etwa eine Entschuldigung dafür, dass er sich wie ein Wilder benommen hat?“

„Mackillin ist kein Wilder. Du solltest deine Zunge hüten, Cissie, und dankbar sein, dass er Husthwaite verjagt hat.“ Jack seufzte tief und sah seine Schwester traurig an. „Oh Cissie, das Haus ist so leer ohne Matt und Vater. Es wird nie wieder so sein wie früher.“

Cicely nickte zustimmend und erinnerte sich zugleich an die langen, traurigen Wintermonate nach dem Tod der Stiefmutter vor zwei Jahren. Sie konnte nur hoffen, dass es bald Frühling wurde, sodass sie wieder mehr Zeit in der freien Natur verbringen konnten. In dieser Jahreszeit war es schwierig, die langen und dunklen Abendstunden zu füllen. Die schweren Arbeiten wie Einmachen und Einlegen von Gemüse, Salzen von Fleisch und das Herstellen von Kerzen waren alle getan. Es blieben nur noch Stickarbeiten, das Färben von Wolle oder das Rühren von Seifen und Salben – alles Tätigkeiten, bei denen sie ihren Gedanken freien Lauf lassen und sich um Diccon Sorgen machen konnte. Sie seufzte schwer und sehnte sich verzweifelt danach, dass ihr Vater noch am Leben wäre. Doch das war ein Wunsch, der nicht erfüllt werden konnte. Stattdessen musste sie nun Jacks Retter höflich behandeln – wirklich keine leichte Aufgabe für sie.

Als habe er ihre Gedanken gelesen, sagte ihr Bruder: „Ein Mahl und ein sauberes Bett sind nur ein kleiner Dank für alles, was Mackillin für uns getan hat. Vielleicht wäre jetzt ein warmes Würzbier genau das Richtige.“

„Und vermutlich erwartest du, dass ich ihm auch die beste Gästekammer und ein heißes Bad herrichte“, maulte sie.

„Das ist nicht notwendig“, meldete sich eine Stimme, die Cicelys Herz schneller schlagen ließ.

Während sie sich wunderte, weshalb die Hunde das Kommen des Fremden nicht gemeldet hatten, holte sie tief Luft und wartete noch einem Moment, bis sie ihre Fassung wiedergewonnen hatte. Erst danach drehte sie sich nach Mackillin um. Er stand nur wenige Schritte von ihr entfernt. Seine Haare waren struppig und strähnig. Er stank nach Pferd und Schweiß und nach … ja, einfach nach einem Mann. Es erstaunte sie, dass sie das wahrnahm. Er war zwar groß und stark, aber das sollte keineswegs bedeuten, dass sie sich von ihm einschüchtern ließ.

„Selbstverständlich sollt Ihr die schönste und beste Schlafkammer erhalten. Schließlich habt Ihr meinem Bruder das Leben gerettet und ihn zurück zu uns nach Hause gebracht.“ Sie hatte versucht, ihrer Stimme Wärme zu verleihen, aber dennoch klangen ihre Worte irgendwie steif.

Er neigte sein struppiges Haupt. „Ich gab Eurem Vater mein Wort.“

„Wahrlich ehrenhaft.“

„Selbst Barbaren halten ihr Wort – hin und wieder jedenfalls.“ Er sah sie so herausfordernd an, als solle sie glauben, er könne sich nicht wie ein Edelmann benehmen.

Sie hielt seinem Blick stand. „Alles hat eben seinen Preis.“

Mackillin sah fragend zu Jack. „Ich habe ihr nichts gesagt“, erklärte der hastig.

„Gut.“ Mackillins Kinnmuskeln zuckten unmerklich. „Ich versichere Euch, Jungfer Cicely, meinen Preis – wenn ich ihn denn verlangen würde – würdet Ihr nicht zahlen wollen. Doch nun bitte ich nur um eine Pritsche und eine Decke für meinen Diener Robbie und mich. Ein Platz hier vor dem Feuer reicht uns.“

Noch bevor Cicely darauf antworten konnte, meldete Robbie sich zu Wort: „Nein, Mackillin, als schottischer Lord, der Ihr nun mal seid, solltet Ihr die beste Schlafkammer im Haus erhalten.“

Cicely sah erstaunt zu Mackillin auf. „Ist das wahr? Ihr seid ein schottischer Lord?“

Er zuckte mit den Achseln. „Der Titel ist neu für mich.“

„Aha, das erklärt alles“, erwiderte Cicely trocken.

Er zog eine Braue hoch. „Erklärt was?“

Sie schüttelte den Kopf, wohl wissend, dass sie als Erläuterung nur sagen konnte, bei seinem Aussehen würde ihn kein vernünftiger Mensch für einen Adeligen halten. Natürlich konnte er nichts dafür, dass seine Kleider schmutzig von der Reise waren. Aber aus dem besten Tuch war sein Gewand auch nicht gerade gefertigt. Unter dem Mantel trug er ein ganz gewöhnliches Lederwams, keines aus Samt, wie es sich für einen Mann seines Standes gehört hätte. Sie ließ ihren Blick weiterwandern. Anstelle teurer seidener Beinkleider trug er grobe braune Wolle. Und dennoch, wenn er wirklich ein Lord sein sollte, dann hätte ihr Vater von ihr erwartet, dass sie den Mann auch so behandelte.

„Selbstverständlich werde ich Euch die beste Schlafkammer herrichten, Lord Mackillin.“

„Trotz meines Äußeren?“, fragte er leise. „Ach, vergesst es, Jungfer. Für eine Nacht will ich Euch und Eurem Bruder nicht so viele Umstände machen. Es gibt genug, worum Ihr Euch zurzeit kümmern müsst.“

Dem konnte sie nur zustimmen. „Wenn Ihr mich nun entschuldigen wollt“, sagte sie mit einem leichten Neigen des Kopfes. „Ich muss das Gesinde … über den Tod meines Vaters informieren.“

Mackillin nickte und wandte sich anschließend zu Robbie und Jack.

Cicely zwang sich, langsam zum anderen Ende der Halle zu gehen. Einer der Hunde trottete hinter ihr her. Neben der Treppe, die zum ersten Stock führte, befand sich eine Tür zu einem Gang. Cicely war versucht, nach links durch diese Tür zu schlüpfen und danach die Treppe hinauf zum Turm zu rennen, wo ihre Schlafkammer lag. Doch sie ging nach rechts, durchquerte auf ihrem Weg zur Küche die Getränkekammer, den Raum, in dem die wertvollsten Lebensmittel lagerten, den Abstellbereich, die Vorratskammer und die Waschküche.

Auf der Schwelle zur Küche blieb Cicely kurz stehen und beobachtete die Köchin, die sich vor dem Feuer ein Nickerchen gönnte. Tabitha, die Küchenmagd, schnitt Kräuter. Tom, der Hausknecht, unterhielt sich mit ihr und rührte zugleich in dem großen schwarzen Topf, der über dem Feuer hing. Martha, eine ältere Magd, trällerte leise vor sich hin, während sie einen Teig ausrollte. Sie hatten Cicely nicht kommen hören und schauten erstaunt auf, als sie ihre Stimme hörten: „Ich habe eine traurige Nachricht.“

Die Köchin erhob sich langsam. Tabitha ließ ihr Messer fallen, und auch Tom und Martha hielten in ihrer Arbeit inne. Erwartungsvoll blickten sie auf Cicely. „Was ist passiert, Jungfer Cicely?“, fragte schließlich die Köchin.

„Der Herr ist tot“, sagte Cicely, die ihren Gefühlen nicht freien Lauf lassen wollte, mit zittriger Stimme.

Die Köchin schüttelte bekümmert den Kopf. „Oh Gott, das hatten wir befürchtet. Er war ein guter Herr. Wir werden ihn sehr vermissen.“

Martha stöhnte laut auf und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. „Wie ist es passiert?“

Cicely wiederholte in kurzen Worten, was Jack ihr erzählt hatte. Dann erklärte sie, dass man einen schottischen Lord mit seinem Diener als Gäste für die Nacht habe. „Vielleicht lässt sich die Graupensuppe, die wir zum Abendessen gekocht haben, mit dem restlichen Hammelfleisch anreichern“, schlug sie vor, während sie krampfhaft versuchte, sich ihre Verzweiflung nicht anmerken zu lassen.

Die Köchin nickte verständnisvoll. „Wir könnten auch noch ein paar Hühner schlachten, und natürlich werde ich noch mehr Brot backen müssen.“

Cicely nickte zustimmend. „Ich überlasse es dir. Du wirst schon wissen, was nötig ist.“ Ein wenig ratlos strich sie sich über den Kopf. „Da ihr das Feuer hier zum Kochen benötigt, werde ich das Würzbier in der großen Halle wärmen. Tom, du bringst zwei Pritschen herbei und lüftest ein paar Decken aus.“

„Ja, Jungfer Cicely“, sagte der Hausknecht und rannte sofort los.

Cicely holte aus der Vorratskammer eine Kanne Ale, einen Krug Honig und aus einem verschlossenen Schrank Zimt und Ingwer. Ihr Herz war schwer vor Kummer, als sie mit all den Sachen zurück in die Halle ging. Dort sah sie ihren Bruder und Mackillin beieinanderstehen. Das Reisegepäck war inzwischen in einer Ecke gestapelt worden.

Als die beiden Männer Cicely kommen sahen, brachen sie ihr Gespräch ab und setzten sich auf die Bank, die in der Nähe des Feuers stand. Schweigend schauten sie zu, wie Cicely eine gusseiserne Platte über die glühenden Holzscheite schob und darauf einen Eisentopf stellte. Cicely fühlte Mackillins forschenden Blick auf sich ruhen. Sie betete, dass Diccon ihre Nöte ahnen und sobald als möglich heimkommen möge. Wem sonst sollte sie ihre Sorgen über den eigenartigen schottischen Lord und das arrogante Verhalten von Husthwaite anvertrauen? Aber sie fürchtete, ihr Liebster könnte in die Kämpfe zwischen den feindlichen Truppen der Yorker und Lancasterianer verwickelt sein. Warum nur musste Diccon auch dem Erben des Duke of York seine Loyalität beweisen? Alles nur, weil ihr Stiefbruder wenig Land besaß und es unbedingt aus eigenen Stücken zu etwas bringen wollte?

Tom, der mit den Decken erschienen war und sie nicht weit vom Feuer entfernt zum Lüften ausbreitete, riss sie aus ihren Grübeleien. Leise befahl sie dem Knecht, dafür zu sorgen, dass vor dem Abendessen auch die Pferde der Gäste genügend Heu und Wasser erhielten. Tom bedachte die beiden Fremden mit einem argwöhnischen Blick, doch er nahm die Laterne an sich und eilte zum Stall.

Cicely ließ die Gewürzmischung nicht sehr lange ziehen. Sie nahm an, dass die Männer möglichst schnell ein heißes Getränk haben wollten und dass es sie nicht störte, wenn es nicht allzu stark gewürzt war. Während sie mit der Kelle das Gebräu in die Becher füllte, dachte sie an Matt. Er war nun Erbe der Ländereien. Wie würde er die schreckliche Nachricht vom Tod des Vaters aufnehmen?

„Ich wäre nicht überrascht, wenn es in den nächsten Tagen schneien würde“, meinte Jack, als Cicely den Männern die Becher reichte. „Der Himmel im Westen, direkt über dem Hochmoor, leuchtet so eigenartig.“

„Das ist der Sonnenuntergang“, wehrte Cicely ab. Die Vorstellung, dass ein Schneesturm sie von der Außenwelt abschneiden könnte und sie zwei ungeliebte Gäste bewirten müsste, war bestürzend. Im Augenblick kam ein Gast einfach ungelegen. Sie wollte sich in ihrer Trauer nicht seinen Wünschen widmen – zudem noch denen eines schottischen Lords. Sie wollte Zeit haben, um für das Seelenheil ihres verstorbenen Vaters und für Diccons sichere Heimkehr zu beten.

„Ist der Becher für mich bestimmt?“ Mackillin riss sie mit seiner Frage aus ihren Gedanken.

Sie nickte und versuchte, ihrem Blick eine Kälte zu verleihen, die sie eigentlich gar nicht verspürte. „Ja, Lord Mackillin. Benötigt Ihr sonst noch etwas? Ich könnte Euch zu einer kleinen Kemenate führen. Sicherlich wollt Ihr doch Eure Reisekleider wechseln und Euch Hände, Gesicht und Füße waschen.“

Seine Augen funkelten aufgebracht, goldgrün leuchtete die Iris. „Mackillin reicht als Anrede. Ich weiß Euer Angebot zu schätzen, Jungfer Cicely. Aber ich fühle mich wohl und warm unter meinem Schmutz. Außerdem reisen wir sowieso morgen in aller Frühe weiter.“ Er griff nun nach dem Zinnbecher, ohne dass Cicely auf seine Frage geantwortet hätte.

Sie achtete darauf, dass seine Finger die ihren nicht berührten. „Wie Ihr wollt“, antwortete sie brüsk. „Und nun entschuldigt mich.“

Ein Wilder, dachte sie, während sie fast ein wenig zu hastig in die Küche eilte. Dort waren die Frauen schon dabei, die Hühner zu rupfen, und auf einer Steinplatte nahe beim Feuer stand bereits der Teig für weiteres Brot. Cicely schätzte, dass es noch ein wenig dauern würde, bis das Abendessen fertig war. Ihre Hilfe wurde derzeit also nicht benötigt. Aus diesem Grund nahm sie die Lampe vom Schrank, zündete die Kerze an und ging durch die Tür zu der Wendeltreppe, die zu ihrer Kemenate im Turm führte.

Das Haus war vor mehr als hundert Jahren errichtet und befestigt worden, da die Schotten zur damaligen Zeit auch soweit südlich plündernd über die Grenze zogen. Seitdem war das Gebäude immer wieder ausgebaut und renoviert worden. Cicely liebte es und hoffte, dass Diccon nach ihrer Eheschließung einwilligte, hier mit ihr zu wohnen – wie eine einzige große und glückliche Familie. Doch nun fragte sie sich, ob ihre Wünsche jemals in Erfüllung gehen würden. Diccon war schon lange fort, und der frühe Tod des Vaters brachte zwangsläufig auch Veränderungen mit sich. Tränen liefen ihr über die Wangen.

In ihrer Schlafkammer war es warm. Von der Kohlenpfanne, die man früher am Tag dort aufgestellt hatte, leuchtete ein schummeriges Licht. Draußen war es bereits dunkel, und da ­Cicely hörte, dass ein Sturm aufkam, schloss sie schnell die Läden.

Anschließend ließ sie sich müde auf ihr Bett sinken. Ihr Herz schmerzte vor Kummer. Sie war traurig und wünschte nichts mehr, als sich in den Schlaf flüchten und damit alles vergessen zu können. Mackillin! Wollte er wirklich keine Belohnung? Konnte man ihm glauben? Und was hatte er damit gemeint, als er sagte, sie würde seinen Preis nicht zahlen wollen, wenn er ihn einforderte? Sie erinnerte sich, wie es sich angefühlt hatte, als seine Lippen die ihren berührten und er seine Brust gegen ihren Busen drückte. Wollte er vielleicht andeuten, dass er als Belohnung ihre Jungfräulichkeit für sich beanspruchen wollte? Der Gedanke trieb ihr die Röte in die Wangen. Eiligst stand sie auf und ging zu der Truhe am Fußende ihres Bettes.

Sie hob den schweren Deckel, schob ihn zur Seite und leuchtete mit der Laterne ins Innere der Truhe. Nach dem Tod ihrer Stiefmutter hatte Cicely mithilfe ihrer Zofe Martha Trauerkleider genäht, die sie bei der Beerdigung und viele Monate danach noch trug. Auch wenn es für den Vater in Yorkshire kein Begräbnis, sondern nur eine Gedenkmesse geben sollte, wollte Cicely seine Erinnerung in Ehren halten. Das bedeutete für sie, für die Zeit der Trauer angemessene Kleidung zu tragen.

Sie stellte die Lampe auf den Boden und zog aus der Truhe eine schwarze Surkotte und ein schmuckloses schwarzes Kleid. Aus dem Krug, der auf einem kleinen Tisch stand, füllte sie Wasser in eine Schüssel und wusch sich Gesicht und Hände. Mit dem schweren Leinentuch, das ihr Vater einst von einer der großen Handelsmessen auf dem Kontinent mitgebracht hatte, trocknete sie sich ab. Danach zog sie die schmutzigen Schuhe, die wollene Hose und das Obergewand aus. Über eine cremefarbene Wolltunika streifte sie das schwarze Gewand aus der besten Schafswolle, die die Pächter ihres Vaters produzierten. Darüber zog sie die mit Seide gefütterte und wattierte Surkotte mit dem Zobelbesatz, der aus den baltischen Ländern stammte und in Brügge gekauft worden war.

Schließlich langte sie noch einmal tief in die Truhe und holte eine würzig riechende Schatulle aus Zedernholz hervor. Dieser entnahm sie eine Gürtelkette, deren Glieder aus silbernen Blättern bestanden, und legte sie sich um die Taille. Als Letztes griff sie zu einer fein gearbeiteten Silberkette mit einem Kruzifix, die sie sich um den Hals legte. Aus einem Stoffbeutel zog sie schwarze Bänder hervor, die sie sich in die Zöpfe flocht. Als sie damit fertig war, schlüpfte sie in flache Schuhe, setzte sich aufs Bett und fragte sich, was sie als Nächstes tun sollte.

Sie war innerlich zu aufgewühlt und dem Weinen zu nahe, um jetzt schon zu den Männern hinunterzugehen. Insbesondere dem schottischen Lord, dessen Augen mehr ausdrückten, als seine Lippen verrieten, konnte sie in diesem Zustand nicht begegnen. Ob er nun ein Lord war oder nicht – im Grunde ihres Herzens hielt sie ihn immer noch für einen Barbar. Sie legte sich nun aufs Bett und dachte darüber nach, wie er sie in seine Arme genommen und geküsste hatte. Während ihr langsam die Augenlider zufielen, schalt sie sich, wie unschicklich und sündig es sei, weiterhin an den Kuss des wilden Schotten zu denken. Stattdessen sollte sie lieber für das Seelenheil ihres Vaters beten und darüber nachdenken, was zu tun war, wenn Matt zurückkehrte. Eine Weile sann sie noch vor sich hin, dann schlief sie ein.

2. KAPITEL

Jack, der vor dem Feuer eingenickt war, schreckte auf. „Wo ist denn meine Schwester?“, fragte er, als er sah, dass Martha den Tisch deckte.

„Ich weiß es nicht, Master Jack. Vor gut vier Stunden habe ich sie zuletzt in der Küche gesehen. Mittlerweile ist das Abendbrot fertig und könnte aufgetischt werden.“

„Vielleicht ist sie in ihrer Kemenate“, meinte Mackillin.

Argwöhnisch musterte Martha den schottischen Lord. Der Ausdruck in dem plumpen Gesicht verriet ihm nur allzu deutlich, was die Hausangestellte von ihm hielt. „Ich schicke Tabitha hinauf, um nach ihr zu sehen.“

Die Magd, die in der Schlafkammer ihrer Herrin nachschauen sollte, fand Cicely schlafend vor. Unsicher, wie sie sich verhalten sollte, da sie wusste, dass ihre Herrin in der letzten Zeit viele durchwachte Nächte aus Angst um Bruder und Vater verbracht hatte, ging sie schließlich wieder hinunter, ohne Cicely geweckt zu haben.

„In Trauerkleidern liegt sie tief schlafend auf ihrem Bett“, meldete sie. „Jungfer Cicely ist bestimmt erschöpft, Master Jack. Schon seit Wochen ängstigt sie sich um den Herrn und um Euren Stiefbruder.“

Unschlüssig blickte Jack zu Mackillin. „Sollen wir sie ­wecken?“

Mackillin fragte sich, ob sie wirklich schlief oder nur vorgab, dies zu tun, um ihm aus dem Weg zu gehen. Wie auch immer, vielleicht war es besser, ihr vor seiner Abreise am frühen Morgen nicht mehr zu begegnen. „Last Eure Schwester ruhen, Jack. Schlaf wird ihr wohltun. Es ist eine schwierige Zeit für sie. Achtet aber darauf, dass sie warm zugedeckt ist. Ich glaube, es wird eine kalte Nacht.“

„Gut, dann mach, wie der Lord gesagt hat, Tabby. Und danach bring uns das Abendessen“, befahl Jack.

„Sowie eine Schüssel mit Wasser und ein Tuch“, bat Mackillin lächelnd. „Vor dem Essen möchte ich mir doch gern die Hände waschen.“

Erschrocken wachte Cicely auf. Eine Weile lag sie im Dunkeln und wunderte sich, was sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Sie hatte geträumt. Über die Festungsmauern einer Burg war sie gejagt worden, gefolgt von einem riesigen Hund und einer dunklen Gestalt im schwarzen Umhang. Ihr Herz klopfte. Ein Fensterladen klapperte, und der Wind heulte. Sie zögerte aufzustehen. Es war so behaglich und warm im Bett. Aber es blieb ihr wohl nichts anderes übrig, sie musste diesen Laden befestigen.

Als sie sich aufsetzte, bemerkte sie das Kruzifix, das ihr vor der Brust baumelte. Sie umschloss es fest mit der Hand. Einst hatte es ihrer Mutter gehört, sie selbst trug es nur selten, einzig zu besonderen Gelegenheiten und gewiss nicht im Bett. Langsam erinnerte sie sich an das, was geschehen war, und begann zu weinen. Nie mehr sollte sie das Lächeln ihres Vaters sehen, nie mehr seine tiefe Stimme ihren Namen rufen hören. Einen Moment lang saß sie wie versteinert vor Kummer da. Doch dann schlug der Laden wieder, und eiskalt blies der Wind durch die Kammer. ­Cicely trocknete sich die feuchten Wangen und stieg aus dem Bett.

In der Kohlenpfanne war keine Glut mehr, in der Laterne die Kerze niedergebrannt. Wie lange hatte sie geschlafen? fragte sich Cicely. War es spät am Abend oder gar schon mitten in der Nacht? Ihr Magen knurrte. Sie hatte das Abendessen verpasst. Weshalb hatte man sie nicht gerufen? Nun erinnerte sie sich auch an ­Mackillin und seufzte. Bestimmt hielt er ihr Benehmen für äußerst unhöflich. Ach was, dachte sie schließlich, was kümmerte sie der Mann. Am Morgen würde er sowieso abgereist sein.

Abermals schlug der Laden gegen die Steinmauer vor dem Fenster, und wieder fuhr ein eisiger Luftzug durch den Raum. Cicely zitterte vor Kälte und dachte daran, dass ihr Vater versprochen hatte, ihr feines flämisches Glas für die Fensteröffnung mitzubringen. Obwohl sich ihre Augen mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt hatten, wollte sie doch ein Licht anzünden. Sie suchte nach einer neuen Kerze und der Zunderbüchse auf dem kleinen Schrank neben ihrem Bett.

Als ihr ein nächster Windstoß in die weiten Ärmel und unter den Saum ihres Kleides fuhr, wurde ihr klar, dass sie bei einem derartig starken Luftzug keinen Docht zum Brennen bekommen würde. Also legte sie Kerze und Zunder auf die Truhe und ging zum Fenster. Sie langte durch die schmale Fensteröffnung und fühlte sich wie geblendet. Dicke weiße Schneeflocken wehten ihr entgegen. Vergeblich versuchte sie mehrmals, nach dem Schlagladen zu fassen. Sie atmete auf, als sie das Holz endlich greifen konnte, dann aber hatte sie damit zu kämpfen, den Laden vor die Öffnung zu ziehen. Schließlich gelang ihr auch dies, und sie konnte endlich den Riegel vorschieben. Erleichtert trat sie zurück, stieß jedoch mit den Kniekehlen gegen etwas Hartes und fiel über die Kleidertruhe.

Cicely wischte sich mit dem Ärmel über das feuchte Gesicht und sah sich um. Es war nun so dunkel in der Kemenate, dass sie eben noch die Umrisse der Tür erkennen konnte. Ihr Magen meldete sich wieder. Warum hatte man sie nicht geweckt? Vielleicht hatte Mackillin Jack mit Vaters Wein betrunken gemacht und war nun dabei, das Haus auszurauben. Vor Angst blieb ihr fast das Herz stehen. Ihr Bruder vertraute diesem Mann zwar. Dennoch, dessen war sie gewiss, würde sie keine Ruhe finden, bevor sie sich nicht selbst überzeugt hatte, dass alles in Ordnung war.

Also griff sie erneut nach der Kerze und der Zunderbüchse. Es gelang ihr jedoch nicht, im Dunkeln einen Funken zu erzeugen. Sie konnte nur hoffen, dass sie auch ohne ein Licht sicher den Weg über die Treppe nach unten fand. Dass Jack mit durchschnittener Kehle in der Halle lag, daran wagte sie nicht zu denken, und schon gar nicht an die Dämonen oder Geister, die manch einer für die Seelen der Toten hielt und die zurückkamen, um die Lebenden heimzusuchen. Sie umklammerte ihr Kruzifix, betete, dass Gott ihren Vater in den Himmel aufnehmen würde, und tastete sich an der Wand entlang zur Tür.

Im Treppengang war es nicht ganz so stockfinster. Ein wenig Licht drang durch die schmale, lanzettenförmige Öffnung im Mauerwerk herein. Cicely blinzelte durch diese, und das Herz wurde ihr schwer. Schnee bedeckte die Landschaft und fiel immer noch in großen, dicken Flocken. Bei diesem Wetter war an eine schnelle Abreise des barbarischen Lords nicht zu denken. Vorsichtig, die Hand immer an der Mauer, ging sie die Treppe hinunter. Hinter der Tür zum Turmhaus, im fensterlosen Gang, blieb sie stehen und versuchte, sich zu orientieren. Auch hier konnte sie noch den Sturm wüten hören, wenn auch wesentlich schwächer. Klopfenden Herzens nahm sie eine Stufe nach der anderen, lauschte ängstlich und blinzelte angestrengt ins Dunkle, das ihr wie das leibhaftige Böse vorkam. Endlich berührte ihre Hand Holz. Eine Tür. Das musste die Küchentür sein. Erleichtert tat sie einen Schritt vorwärts. Leise quietschte der Riegel. Sie schrak zurück. Die Tür wurde geöffnet. Das Licht einer Laterne blendete sie. Ein unterdrückter Fluch, jemand griff nach ihrer Hand.

„Gütiger Gott, Ihr seid es, Jungfer Cicely? Was kriecht Ihr denn hier im Dunkeln herum? Ich hätte Euch verletzen können“, sagte Mackillin, während er die Laterne senkte.

Cicely brachte kein Wort heraus. Flüchtig nahm sie Mackillins wirres Haar und sein unrasiertes, markantes Gesicht wahr, als sie benommen vor Hunger und seelischem Druck gegen ihn schwankte. Mit einem Kraftausdruck fing er Cicely auf, legte den Arm um sie und trug sie mehr, als dass sie selbst ging, in die Küche. Sie versuchte, ihn wegzustoßen, aber das war, als wollte sie mit einer Feder eine Kerbe in einem Schild verursachen. „Lasst mich los“, wehrte sie sich.

„Nur wenn ich wirklich sicher bin, dass Ihr nicht ohnmächtig werdet.“

„Ich werde nicht ohnmächtig.“

„Doch.“ Er stellte die Lampe auf den Tisch, danach setzte er sich auf einen Stuhl beim Herdfeuer und zog Cicely zu sich aufs Knie.

„Was soll das?“ In panischer Angst schlug sie nach ihm.

„Nun beruhigt Euch, kleine Närrin. Ich will Euch doch nichts antun.“

„Das glaube ich nicht. Wo ist Jack?“ Hysterisch sah sie sich um.

„In seinem Bett natürlich, wo jeder vernünftige Mensch um diese Zeit ist. Und nun haltet endlich still. Nur wenn Ihr versprecht, mir in Ruhe zuzuhören, lasse ich Euch los.“

Sie sah ihn nachdenklich an. „Na, dann erzählt einmal, was Ihr hier in unserer Küche zu suchen habt.“

„Ich hörte ein Klopfen und glaubte zunächst, es könnte ein Reisender sein, der vom Weg abgekommen ist oder eine Bleibe sucht“, erklärte er ruhig. „Ich hatte keine Ahnung, welche Stunde es war, als ich in dunkler Nacht aufwachte. Da ich die anderen Leute nicht aufwecken wollte und nicht wusste, ob es Feind oder Freund war, der vor der Eingangstür stand, bin ich zur Küchentür gegangen. Ich habe nach draußen geschaut und gesehen, dass in einer solchen Nacht kein klar denkender Mensch unterwegs ist.“ Seine Miene verdüsterte sich. „So wie es aussieht, werden wir morgen früh auch nicht weiterreisen können.“

„So hoch liegt der Schnee bestimmt nicht“, versicherte sie.

„Vielleicht. Ich hoffe es. Meine Feinde werden sich meines Landes bemächtigen, wenn ich zu lange hier aufgehalten werde.“ Sie wunderte sich, wer wohl diese Feinde sein mochten, kam aber nicht dazu zu fragen, denn er sprach schon weiter. „Und weshalb seid Ihr durchs Haus gewandert?“

„Ich bin aufgewacht, weil der Wind den Fensterladen gegen die Mauer schlug. Ich konnte ihn wieder befestigen. Danach habe ich bemerkt, wie hungrig ich bin, und wollte mir etwas zu essen holen.“

„Ach ja, natürlich, Ihr habt das Abendessen verschlafen. Es ist noch genug übrig geblieben.“

Cicely sah eine weiße, gesunde Zahnreihe im Feuerschein glänzen, spürte, wie sein Griff sich lockerte, und sprang wie von der Tarantel gestochen mit einem Satz von seinen Knien. „Ich will Euren Schlaf nicht weiter stören, Lord Mackillin.“

Sie ging zum Tisch und lehnte sich Halt suchend gegen die Kante. Misstrauisch beobachtete sie Mackillin aus dieser Distanz und wartete angespannt, dass er nun endlich die Küche verließ. Doch er rührte sich nicht. Sie versuchte, sich zu beruhigen, und ging langsam zur Feuerstelle, in der ein riesiges Holzscheit lag, dessen Unterseite rot glühte. Es glimmte die ganze Nacht über und musste am Morgen nicht erneut entfacht werden, was manchmal durchaus keine leichte Aufgabe war. Ein paar Schritte neben der Feuerstelle lag ihr Lieblingshund. Er zuckte im Schlaf.

„Ihr erinnert mich an die Nacht … ganz schwarz und silbern“, sagte Mackillin plötzlich.

Erschrocken starrte Cicely ihn an. „Was habt Ihr gesagt?“

„Wenn Ihr meine Worte nicht verstanden habt, werde ich sie nicht wiederholen“, antwortete er und stand auf. „Kommt, Jungfer Cicely, setzt Euch ans Feuer. Ich bringe Euch Brot und etwas von dem Geflügel. Ich habe genug geruht. Außerdem, wer sagt mir, dass Ihr mir nicht im Schlaf die Kehle durchschneidet?“ Spöttisch waren die ausdrucksvollen Augen auf Cicely gerichtet.

Seine Worte hatten sie schon mehrmals entsetzt. Aber dass er glaubte, sie würde ihn im Schlaf ermorden, diese Vorstellung konnte sie nicht ertragen. „Ich würde Euch niemals etwas zuleide tun. Im Gegenteil, falls Ihr länger hier bleiben müsst, könnt Ihr auch nicht weiter in der Halle schlafen. Ich habe Euch extra eine eigene Kammer zugewiesen. Und mich bedienen – nein, Mylord, das gehört sich nicht.“

„Ich frage nicht danach, was sich gehört und was richtig oder falsch ist.“ Sein Ton war hart und bestimmt. „Ich bin nicht so hochnäsig und dünkelhaft. Mir macht es nichts aus, sich um jemanden zu kümmern. Hat Jesus Christus beim letzten Abendmahl nicht auch seine Jünger bedient? Euer Vater ist gestorben. Die kommenden Tage und Wochen werden bestimmt schwierig und anstrengend für Euch werden. Deshalb setzt Euch jetzt hin und hört auf, mit mir zu streiten. Ich werde auch meine Hände waschen, wenn Ihr glaubt, sie seien schmutzig.“

Er drehte sich um, damit sie über seine Worte nachdenken konnte. Und während er ihr etwas zu essen und zu trinken besorgte, versuchte er zu vergessen, wie erotisch die Tochter des Hauses in ihrer Trauerkleidung auf ihn wirkte. In Schottland konnte er eine viel tauglichere Braut finden. Hatte er sich nicht schon fast entschlossen, Mary Armstrong zu heiraten und sie vor ihrem gewalttätigen Vater zu retten? Sie war die Tochter eines Nachbarn, ein arroganter Mann, der sein Haus und seine Familie mit eiserner Hand regierte und dessen Frau unter recht eigenartigen Umständen verstorben war.

Außerdem war Lady Joan, Mackillins Mutter, die beste Freundin von Marys Mutter. Sie hatte eine solche Verbindung immer befürwortet, obwohl Marys Vater dagegen war. Armstrong und Mackillins Vater konnten einander nicht ausstehen. Die Feindschaft resultierte aus einem alten Streit, der immer damit endete, dass Mackillins Mutter tagelang ihren Ehemann mit eisigem Schweigen strafte. Als junges Mädchen hatte sein Vater sie während eines Raubüberfalls wie eine ganz gewöhnliche Magd quer über den Sattel liegend von England nach Schottland transportiert. Diese rüde Behandlung hatte sie ihm nie vergeben.

Im Haus ihrer zukünftigen Schwiegereltern war Lady Joan nicht willkommen gewesen. Das war einer der Gründe, weshalb sie nie vergessen konnte, dass sie aus einer adeligen englischen Familie, den Percys, stammte. Zu eben dieser Familie hatte man Mackillin vor siebzehn Jahren als Achtjährigen geschickt, nachdem sein Halbbruder Fergus versucht hatte, ihn zu töten. Seine schottischen Halbbrüder hatten Mackillin fast genauso gehasst wie ihre Stiefmutter. Vielleicht wäre seine Erziehung weniger gewalttätig verlaufen, wenn er Stiefschwestern statt Stiefbrüder gehabt hätte. Andererseits wäre er dann möglicherweise im Hause seines Vaters aufgewachsen und nicht in Northumberland, wo er seine Liebe für die Schifffahrt und das Reisen entwickelte.

Cicely entschied, dass es im Augenblick das Beste war, ­Mackillins Rat zu folgen. Sie setzte sich auf den Stuhl, den er gerade geräumt hatte. Nachdenklich streckte sie die kalten Füße gegen das wärmende Feuer. Sie wusste nicht recht, was sie von dem Mann halten sollte. Was war das für ein Lord, der eine Frau bediente? Ein ungewöhnlicher Mensch, der sein niederes Benehmen mit christlicher Demut entschuldigte. Welche Überraschungen mochte er ihr noch bieten während seines Aufenthalts in ihrem Haus? Was würde geschehen, wenn er eine Woche oder länger bleiben müsste? Zum Glück hatte sie genügend Lebensmittel im Haus: Eine ganze Speckseite war noch da, außerdem Räucheraal und gesalzener Fisch, ein wenig Butter und Käse, frisches wie auch eingemachtes Obst, Honig und Rosinen, Weizenmehl, Hafer und Gerste. In einem der Nebengebäude lag hoch aufgestapelt das Holz. Auch für die Pferde war noch reichlich Heu und Stroh vorhanden, und in der Scheune lagerte Korn.

Sie blickte auf, als sie ein Geräusch hörte. Mackillin kam mit einem gefüllten Teller. „Mackillin, das ist doch nicht nötig“, sagte sie verlegen, während sie aufgesprungen war, ihm den Teller aus der Hand nahm und auf den Tisch stellte.

Kommentarlos legte er eine Serviette und ein Messer daneben, anschließend verließ er die Küche. Cicely überlegte, ob er wohl zurückkommen würde. Egal, im Moment war sie einfach hungrig. Das Hühnerbein sah nicht nur verführerisch aus, sondern schmeckte auch vorzüglich.

„Hiermit könnt Ihr es hinunterspülen“, hörte sie plötzlich eine Stimme.

Verdutzt sah Cicely auf. Mackillin war zurückgekehrt. In der Hand hielt er den Glaskrug mit dem silbernen Henkel. Aus diesem Gefäß schenkte ihr Vater den Malvasier aus, Wein, von dem er immer behauptet hatte, er sei der beste der Welt. „Habt Ihr etwa davon getrunken?“, fragte sie empört.

Mackillin nickte. „Jack meinte, er würde gut zu Birnen und grünem Käse schmecken.“

„Aber nicht zu Huhn“, erklärte sie schroff. „Zu Geflügel trinken wir stets einen Weißwein, den ein Verwandter in Kent anbaut.“

„Den Weißwein aus Kent haben wir ebenfalls probiert.“

Argwöhnisch sah sie zu ihm auf. „War mein Bruder etwa betrunken, als er ins Bett ging?“

Mackillin zog die Brauen hoch. „Nein, natürlich nicht. Den meisten Wein habe ich getrunken. Obwohl, wenn ich ehrlich sein soll, ich habe schon besseren konsumiert. Aber das soll nicht Eure Schuld sein. Meine Verwandten besitzen ein Weingut an der Loire. Wenn ich gewusst hätte, dass ich hier eingeschneit werden würde, hätte ich ein paar Flaschen von dort im Gepäck gehabt. So habe ich alles per Kurier direkt zu meiner Mutter geschickt. Dennoch – Ihr habt den Malvasier, der schmeckt auch. Die Traube, die für diesen Wein verwendet wird“, begann er zu erklären, „stammt ursprünglich aus Griechenland, aus der Gegend um Monemvasia. Heute kultiviert man sie in Madeira. Auf der Insel wird auch Zuckerrohr angebaut, und zusammen mit den Trauben produziert man daraus diesen süßen Dessertwein.“

„Ich hatte Vater gebeten, mich einmal mit auf seine Reisen zu nehmen“, sagte Cicely leise, während sie zusah, wie Mac­killin den dunkelroten Wein in die wunderschönen venezianischen Trinkgläser füllte, die sich auf dem Küchentisch seltsam deplatziert ausmachten.

„Vielleicht nimmt Euch eines Tages ein anderer mit auf Reisen“, versuchte Mackillin zu trösten und reichte ihr ein Glas. „Bon appétit, Jungfer Cicely. Und nun werde ich Euch verlassen. Genießt den Wein. Wir sehen uns morgen früh.“

Cicely murmelte einen leisen Dank, während sie ihn dabei beobachtete, wie er die Küche verließ. Die Laterne hatte er zurückgelassen. Sie schaute nachdenklich in die Flamme hinter dem glitzernden Glas und dachte über das ungewöhnliche Verhalten dieses schottischen Lords nach. Sie ahnte, dass es wohl für ihren Seelenfrieden das Allerbeste wäre, wenn er so schnell wie möglich wieder abreisen würde.

Am folgenden Morgen konnte er jedoch nicht weiterreisen. Zwar hatte es aufgehört zu schneien, aber so weit das Auge sehen konnte, lag über Feldern und Hügeln eine dicke Flockendecke. Und die Wolken, die tief und schwer am Himmel hingen, verkündeten, dass in Kürze noch mehr Schnee fallen sollte.

„Hoffentlich hat Matt vor Einsetzen des Unwetters York erreicht.“ Besorgt sah Jack seine Schwester an. „Vielleicht kommt er wieder nach Hause, sobald es mit dem Treiben aufhört. Vielleicht reitet er gar nicht weiter bis nach Kingston-upon-Hull.“

Cicely nickte und blickte zu dem Pfad, der durch den hohen Schnee zu den Außengebäuden freigeschaufelt worden war. ­Mackillin, Robbie und Tom hatten bereits die Pferde versorgt, während Jack die Hühner fütterte, die in der Scheune Unterschlupf gefunden hatten.

Sie biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. „Bei diesem Wetter wird auch Vaters Verwalter nicht auftauchen. Seine ganze Sorge wird jetzt den Herden der Pächter gelten.“

„Kann man ihm das verübeln? Selbst die erfahrensten Schäfer werden es bei diesem Wetter schwer haben, ihre Tiere am Leben zu halten. Wir kommen hier auch ohne ihn zurecht.“ Jack stampfte den Schnee von seinen Stiefeln. „Ich hoffe nur, Ihr vergebt mir, Mackillin“, meinte er zu seinem Gast, als sie ins Haus gingen. „Es ist meine Schuld, dass Ihr hier gestrandet seid.“

„Keineswegs.“ Mackillin schüttelte den Kopf. „Wenn überhaupt jemand Schuld hat, dann diese Mörderbande in Brügge. Und über das Wetter hat nun wirklich niemand Kontrolle. Wir hätten auf der Landstraße, auf dem freien Feld, irgendwo zwischen nichts und nirgendwo sein können, als der Schneesturm einsetzte. Wenn ich schon aufgehalten werde, dann schon besser hier.“

„Kommt und wärmt Euch am Feuer“, sagte Cicely einladend. „Die Köchin wird ein paar Scheiben Schinken braten, dazu bereite ich warmes Würzbier. Ich dachte, nach der Arbeit draußen in der Kälte könntet Ihr ein zweites Frühstück gebrauchen.“

„Eine fantastische Idee“, erklärte Mackillin freudestrahlend in seinem harten schottischen Akzent. „Sicher verflucht Ihr mich manchmal. In einer Zeit, in der Ihr Ruhe und Frieden braucht, damit Ihr um Euren Vater trauern könnt, habt Ihr einen Gast im Haus.“

„Ach, unser Haus ist groß genug für uns alle. Da kann sich jeder zurückziehen, der allein sein will“, antwortete Cicely versöhnlich. Ihre Worte verrieten nicht den Aufruhr, in den seine Nähe sie versetzte. „Sobald als möglich müssen wir Diccon von Vaters Tod benachrichtigen, aber höchstwahrscheinlich ist es notwendig, zuerst mit Owain ap Rowan Kontakt aufzunehmen.“

Mackillin zog die Stirn in Falten. „Den Namen ap Rowan habe ich früher schon einmal gehört.“

„Owain ap Rowan ist Pferdezüchter. Er hat ein Gestüt mit Hengsten in der Grafschaft von Lancaster und Chester“, erklärte Jack.

„Er ist ein guter Mann“, fügte Cicely hinzu, während sie die Becher aus dem Schrank holte und auf den Tisch stellte. „Diccon hat mir erzählt, dass die ap Rowans die Armee unseres Königs während des Krieges mit Frankreich mit Pferden versorgten. Owain und Vater waren gute Freunde.“

„Ich verstehe. Dieser ap Rowan besitzt also eine Reihe hervorragender Eigenschaften – aber wer ist denn dieser Diccon?“, fragte Mackillin, während seine Blicke der anmutigen Gestalt folgten, die zurück zur Feuerstelle ging.

„Unser Stiefbruder“, antwortete Jack.

„Wir hatten gehofft, dass er zu Weihnachten heimkommen würde“, meinte Cicely, die Würzbier in die Becher füllte. „Aber wir haben nichts von ihm gehört.“

Jack verzog das Gesicht. „Cissie befürchtet, Diccon könnte sich für die Belange der Yorks engagiert haben.“

Cicely versuchte, ihren Bruder mit einem Stirnrunzeln zum Schweigen zu bringen. Mackillin musste nicht zu viel über Diccon und seine Probleme wissen. Doch es war schon zu spät.

„Letztes Jahr habe ich den Erben des Herzogs von York in Calais getroffen. Das Engagement Eures Stiefbruders für diesen Mann kann ich durchaus nachvollziehen“, sagte Mackillin, der Cicelys Stirnrunzeln bemerkt hatte und sich fragte, was dahintersteckte. „Er hat lange und ausführlich mit den Schiffseignern und Kaufleuten über ihre Belange und Sorgen gesprochen. Dort habe ich auch Euren Vater getroffen.“

„Dann seid Ihr sicher auch Diccon begegnet“, meinte Jack. „Diccon Fletcher? Er müsste zusammen mit Vater dort gewesen sein.“

„Dann bin ich ihm bestimmt begegnet. Ich kann mich im Moment allerdings nicht erinnern. Vielleicht fällt es mir später wieder ein.“ Dankend nahm Mackillin den Becher mit heißem Ale von Cicely entgegen. Seine haselnussbraunen Augen blickten aufmerksam in ihr hübsches blasses Gesicht, und er dachte daran, wie sich ihre Lippen angefühlt hatten. Gern hätte er sie noch einmal geküsst, doch er wusste, dass er einem solchen Verlangen nicht nachgeben durfte. Mary sollte seine auserwählte Braut sein. Er liebte sie zwar nicht, aber was hatte eine Ehe schon mit Liebe zu tun? Vermutlich hatte sich sein Vater beim ersten Blick in seine Mutter verliebt. Und was hatte er davon gehabt? Mary wird mir eine dankbare Ehefrau sein, überlegte Mackillin. Sie versteht sich gut mit Mutter, zusammen werden sie meinen Haushalt führen. So wie ihr Vater werde ich Mary nie schlagen. Ich werde versuchen, sie glücklich zu machen. Und obwohl ich Sir Malcolm Armstrong nicht ausstehen kann, ist es wohl besser, ihn als Verbündeten denn als Feind zu ­haben.

„Und? Könnt Ihr Euch Diccons entsinnen?“ Jack riss den Gast aus seinen Gedanken.

Mackillin lächelte. „Nein, noch nicht. Was ist Eure Sorge? Dass er mitten in den Machtkampf zwischen Lancaster und York gerät und für Euch verloren ist?“

„Genau das befürchte ich“, sagte Cicely leise. Sie schaute auf und sah forschend in die markanten Gesichtszüge des Fremden. „Wir sind verlobt. Ich möchte ihn nicht schon vor der Hochzeit verlieren.“

Bevor Mackillin den Sinn ihrer Worte richtig verstanden hatte, fuhr Jack seine Schwester entrüstet an: „Was soll denn das? Vater hat solch ein Verlöbnis niemals erwähnt.“

„Ganz gewiss hätte ich ihn überzeugt. Er hätte seine Meinung geändert und sich nicht geweigert, Diccon meine Hand zu geben. Wenn man ihn nicht ermordet hätte …“ Die Stimme versagte ihr, die Schöpfkelle fiel ihr aus der Hand, und sie wäre aus der Halle geflüchtet, wären in diesem Augenblick nicht Tabitha und ­Martha mit den Servierbrettern hereingekommen.

„Der Räucherschinken, Jungfer Cicely.“ Martha sah Cicely fragend an.

Sie riss sich zusammen und ging zurück zum Tisch. Keiner der beiden Männer machte eine Bemerkung darüber, dass sie die Fassung verloren hatte. Sie war erleichtert, als sie hörte, dass sie sich über die Fracht unterhielten, die sie auf den Packpferden mitgebracht hatten. Mackillin wollte wissen, ob Jack die Ladung sofort verstauen oder erst auspacken und sortieren wollte.

Jack zögerte. „Ein Teil der Waren ist für Kunden bestimmt, ein anderer Teil besteht aus Geschenken für die Familie und die Kirche. Ich denke, es wird das Beste sein, wir lassen alles so, bis Matt zurückkehrt. Jedoch bei diesem Wetter … Auspacken und alles Auflisten wird uns die Zeit vertreiben.“ Er wandte sich an seine Schwester. „Du könntest mir dabei helfen, Cissie.“

Sie griff nach einer Speckscheibe und legte sie auf eine Scheibe Brot. „Vater hatte versprochen, mir aus Flandern ein Glas für das Fenster in meiner Schlafkammer mitzubringen. In dieser Jahreszeit zieht es besonders durch die Ritzen zwischen Läden und Rahmen.“

Jack sah sie freudestrahlend an. „Er hat sein Versprechen gehalten. Wie immer. Er kaufte eine ganz neue Sorte Glas. Es ist nicht so dick wie das in meiner Schlafkammer und viel klarer. Leider war es für unsere Pferde zu sperrig. Auch das Glas für das Fenster in der Dorfkirche, das Vater zur Erinnerung an unsere Stiefmutter spenden wollte, und einige andere Dinge konnten wir nicht auf den Tieren transportieren. Der Handelsagent schickt einen Wagen mit den restlichen Gütern. Das Glas ist sorgfältig und fest verschnürt worden, und ich bete, dass es auf dem Weg hierher nicht zerbricht.“

„Ich werde das auch tun“, murmelte Cicely, denn das Glas war ein Geschenk, auf das sich wirklich zu warten lohnte. Bevor sie zu dem aufgestapelten Gepäck ging, nahm sie erst noch einen kräftigen Bissen von dem Speckbrot.

Jack und Mackillin folgten ihr, aber keiner der beiden machte Anstalten, die Waren auszupacken. Die Situation erinnerte Cicely wieder an die schönen Zeiten, wenn ihr Vater zur Freude aller Frauen im Haus seine Geschenke hervorgeholt hatte.

Mackillin, der ihr trauriges Mienenspiel bemerkte und sich den Grund dafür denken konnte, versuchte, sie abzulenken. „In der Kathedrale Saint-Maurice von Angers befindet sich ein herrliches farbiges Glasfenster.“

Die Erwähnung des Heiligen weckte Cicelys Interesse. „Gibt es viele Schneider in Angers? Der heilige Maurice ist nämlich der Schutzpatron der Schneider.“

Mackillin zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nur, dass die Frauen dort wunderschöne Gobelins fertigen.“

„Woher wisst Ihr das denn?“, fragte sie überrascht.

„Als junges Mädchen besuchte meine Mutter einmal ihre französischen Verwandten in Angers. Vor ein paar Jahren hat sie mich gebeten, ihr von dort einen Gobelin mitzubringen.“

„Angers ist doch die Hauptstadt des Anjou, nicht wahr?“

Mackillin nickte. „König René, der Vater von Königin Margaret von England, hat sein Schloss in Angers.“

„Wart Ihr bei Hofe?“

Er verzog die Lippen leicht zu einem Lächeln. „Wenn ich jetzt zugebe, dass ich bei Hofe war, gebt Ihr dann zu, dass Ihr überrascht seid?“ Cicely errötete. „Damals war ich noch kein Lord“, fuhr er fort, als sie nicht antwortete. „Aber der König kannte die Percys, und so war ich willkommen. René ist ein guter Mann, sehr kultiviert, ohne Allüren und Standesdünkel. Er liebt das Gespräch mit seinen Untertanen wie auch mit Besuchern. Er ist an allem interessiert, und wir haben uns lange über Malerei, Musik, Gesetzgebung und Mathematik unterhalten.“

Ja, dachte Cicely, er überrascht mich wirklich. Eigentlich konnte sie sich kaum vorstellen, dass dieser Mann über solche Dinge sprechen konnte.

„Oje“, Jack stöhnte. „Die Mathematik hättet Ihr nicht erwähnen sollen. Vater bestand darauf, dass jeder Kaufmann die wichtigsten Grundlagen dieser Wissenschaft kennen müsse. Er wollte, dass ich entsprechende Bücher studiere. Deshalb hatte er auch die Absicht, mit Master Caxton darüber zu sprechen. Ich hätte nie gedacht, dass man sich so viel Wissen aneignen muss, um Kaufmann zu werden.“

Mackillin zwinkerte Cicely zu. Unbewusst lächelte sie zurück, und es war, als entzünde sich in dem kurzen Moment, in dem sich ihre Blicke trafen, eine Flamme. Plötzlich schlug Cicelys Herz schneller. Verstört senkte sie den Blick. Nur weil dieser Mann doch nicht so ungehobelt ist, wie ich zunächst angenommen hatte, muss ich ihm nun nicht gleich trauen, überlegte sie, während ihr Blick auf die Decken und zusammengerollten Pritschen fiel. „Ich werde veranlassen, dass man Euch die beste Schlafkammer im Haus bereitet.“

„Dafür wäre ich Euch sehr dankbar. Und auch einen Kübel mit heißem Wasser wüsste ich zu schätzen“, meinte er, während er sich demonstrativ mit dem Handrücken über die rauen Kinnstoppeln strich.

Jack schluckte den letzten Happen seines Schinkenstücks hinunter. „Ach, wir haben noch etwas Besseres für Euch, Mackillin. Direkt neben der besten Schlafkammer befindet sich ein Raum mit einem Zuber.“

„Oh ja“, bestätigte Cicely mit strahlenden Augen. „Eurer Lordschaft würden ein ausgedehntes Bad im heißen Wasser und ein frisches Gewand sicher guttun.“

Mackillin hatte noch ganz andere Wünsche als nur ein dampfend heißes Bad für seinen schmutzigen, schmerzenden Körper und ein sauberes Gewand aus seiner Satteltasche. Ganz oben auf seiner Wunschliste stand das Verlangen, mit dem hübschen Mädchen, das da vor ihm stand, ins Bett zu gehen. Doch da er wusste, dass dieser Wunsch unerfüllt bleiben musste, wollte er sie zumindest ein wenig necken. „Oh nee, Mädchen, wenn ich mich wasche, würde ich meine zweite Haut verlieren und könnte mir den Tod holen.“

Er macht sich über mich lustig, dachte Cicely. „Dann müsst Ihr eben ein zweites Gewand anziehen“, sagte sie streng.

„Ich glaube, er will dir nur nicht extra Arbeit machen, Cissie“, meinte Jack grinsend. „Auf hoher See habe ich gesehen, wie Mackillin auf unserem Schiff in ein riesiges Wasserfass getaucht ist. Das hätte ich nicht gekonnt. Es war eiskalt, ein steifer Wind kam von Norden.“

„Bist du wohl still, Junge!“, sagte Mackillin schmunzelnd. „Deine Schwester ändert sonst noch ihre Meinung über mich.“

Cicely wollte diese Angelegenheit nicht weiter erörtern. „Dann wollt Ihr also, dass man Euch den Waschzuber füllt?“ Mit dieser Frage beendete sie die heikle Diskussion.

„Gern, wenn es keine Umstände macht.“

„Keine Sorge, Ihr bekommt Euer Bad, und wenn ich eigenhändig die Wassereimer hinaufwinden müsste.“ Sie nahm eines der Pakete in die Hand und versuchte zu fühlen, was wohl darin sein mochte.

Mackillin sah sie erschrocken an. „Nein, Jungfer Cicely, das ist keine Tätigkeit für Euch. Robbie wird mir helfen, das Wasser hinaufzutragen. Später werden wir auch die dann wohl leeren Wasserfässer füllen. Das wird uns die Zeit vertreiben und meine Muskeln nicht erschlaffen lassen.“ Nach kurzem Schweigen fuhr er fort: „Und falls Ihr mich nun wieder daran erinnern wollt, dass dies keine Arbeit für einen Lord sei, dann lasst Euch gesagt sein, dass ich in der Vergangenheit viele solcher Tätigkeiten ausgeführt habe. So, und nun fange ich aber sofort mit dem Wasserschleppen an. Wer weiß, wann ich das nächste Mal Gelegenheit zu einem Bad haben werde, zumal der Boden gerade gefriert und das Wasser zu Eis wird.“

Cicely legte das Paket wieder zu den anderen. „Dann würden wir eben das Eis brechen. Und wenn die Wasserfässer leer sein sollten, würden wir Schnee sammeln und in großen Pfannen über dem Feuer schmelzen“, erklärte sie schlagfertig.

„Hm, Ihr seid ja ein kluges Mädchen.“

Sie errötete leicht über das Kompliment und sah ihm nicht mehr so ärgerlich hinterher wie noch gestern, als er mit Robbie die große Halle verließ. „Hat Mackillin eigentlich keine Ehefrau erwähnt, Jack?“, fragte sie beiläufig.

Er zögerte. „Weshalb fragst du ihn nicht selbst, wenn es dich interessiert? Übrigens bin ich sicher, dass Vater nicht wollte, dass du Diccon heiratest.“

„Woher willst du das denn wissen, wenn er nicht mit dir darüber gesprochen hat?“

Jack sah sie ernst an. „Glaub mir, Cissie, Vater hatte einen ganz anderen Mann für dich im Sinn.“ Doch bevor sie ihren Bruder fragen konnte, wer das denn sein sollte, eilte er Mackillin und Robbie hinterher.

Verärgert schaute Cicely ihm nach. Schließlich ging sie in das obere Stockwerk, um die Schlafkammer für den Gast herzurichten, obwohl es noch eine geraume Weile dauern konnte, bis der Badezuber mit heißem Wasser gefüllt war.

Mackillin, der sie gesehen hatte, folgte ihr die Treppe hinauf. Er konnte seine Augen nicht von dem verführerischen Hüftschwung unter dem schwarzen Kleid lassen. Was hatte sich Diccon Fletcher wohl dabei gedacht, sie schutzlos zurückzulassen, wo er doch wusste, dass ihr Vater auf dem Kontinent unterwegs war? Mackillin konnte sich jetzt wieder an Fletcher erinnern. Er war ein gut aussehender junger Mann, der keine Gefahr scheute und unbedingt im Leben vorankommen wollte. Nat Milburn hatte sie miteinander bekannt gemacht. Später hatten sie sich noch einmal zusammen mit dem jungen Edward of York und seinen Anhängern in einer Taverne getroffen. Diccon hatte zu viel getrunken. Er erzählte, dass der König nicht Wort gehalten habe und ihm den Lohn für seine Dienste schuldig geblieben sei. Mackillin war sich vollkommen sicher, dass Fletcher nun Edwards Gefolgsmann war. Er fragte sich nur, wie sich diese Tatsache auf Cicelys Zukunft auswirken könnte. Was würde geschehen, wenn Diccon auf dem Schlachtfeld fiel? Wen sollte sie dann heiraten? In Anbetracht dessen, was er mittlerweile über Nat Milburns Tochter und ihre Beziehung zu Diccon Fletcher erfahren hatte, machten Mackillin die letzten Worte ihres sterbenden Vaters nun doch sehr nachdenklich.

Aber das sollte nicht seine Sorge sein, überlegte Mackillin weiter. Er war auf dem Weg nach Schottland, zu der Braut, die er ausgewählt hatte. Dennoch konnte er die Augen nicht von Cicely lassen, die ihm mit der Laterne den Weg über einen langen Korridor wies. Er ging dicht hinter ihr und konnte den Duft ihres Haares riechen, der ihn an die Kamillen erinnerte, die in großen Mengen auf den Ländereien seiner französischen Verwandten blühten. Dort sammelten die Frauen die Blüten, trockneten sie und parfümierten damit das Waschwasser. Doch nie zuvor hatte er den Duft so erregend empfunden wie in diesem Augenblick.

Cicely blieb vor einer breiten, mit Schnitzwerk versehenen Tür, die leicht angelehnt war, stehen. „Ich hoffe, Ihr werdet Euch hier wohlfühlen“, sagte sie, während sie die Tür weit öffnete.

„Ganz bestimmt. Ihr könnt Euch sicher nicht vorstellen, an welchen Plätzen ich schon geschlafen habe“, antwortete er und bedeutete ihr zugleich, dass sie vorangehen sollte.

Cicely zögerte leicht, doch schließlich sagte sie sich, dass ­Mackillin, nun da er wusste, dass sie die Tochter des Hauses war, sicherlich keine weiteren Avancen machen würde. Aber im nächsten Augenblick fiel ihr ein, dass er sie mitten in der Nacht auf seinen Schoß gezogen hatte. Wenn doch nur Diccon zurückkommen würde! Wenn sie wüsste, dass er in der Nähe wäre, würde sie die Anwesenheit dieses Mannes bestimmt nicht so beunruhigen.

Sie stellte die Laterne neben eine Schale mit getrockneten Rosen­blättern, Lavendel- und Levkojenblüten, die auf einem runden Tisch mit gedrechselten Beinen stand. Direkt daneben befand sich ein goldgerahmter ovaler Spiegel. An einer Wand hingen mehrere Gobelins. Draußen schneite es wieder, und es war mittlerweile dunkel geworden. Doch im Inneren dieses Raumes hatte die glühende Holzkohle in der Kohlenpfanne bereits die Kälte vertrieben, und dank der vielen brennenden Bienenwachskerzen war es auch hell in der Kammer.

Mackillin erkannte sofort, dass der Raum luxuriös und mit viel Liebe eingerichtet war. In dem breiten Bett konnten bequem zwei Personen liegen. Die Bettvorhänge und die Tagesdecke waren aus kostbarem gelbem und rotem Damast. Im Geiste stellte er sich vor, wie er Cicely auf das Bett warf, die Vorhänge zuzog und, nachdem er sie in aller Eile ihrer Kleider entledigt hatte, ihren Körper mit Küssen bedeckte. Er musste sich direkt zwingen, den Blick von diesem verführerischen Bett abzuwenden, als er spürte, dass seine Männlichkeit sich regte.

Zwei Schränke und eine große, mit Schnitzereien versehene Truhe standen an der Wand, und der Teppich unter seinen Füßen war so dick, dass seine Stiefel darin versanken. Wenn er nicht bereits gewusst hätte, dass Nat Milburn ein reicher Kaufmann gewesen war, dann wäre ihm spätestens jetzt aufgefallen, wie vermögend die Milburns waren. Die Schlafkammern seiner Eltern strahlten einen gewissen Wohlstand aus, erinnerte sich Mackillin, aber keiner der Räume war so kostbar ausgestattet gewesen wie diese hier. Im Stillen musste er über den Gedanken lachen, dass seine Mutter Cicely als nicht standesgemäße Frau für ihn ablehnen könnte. Doch sie besaß mehr Anmut, Intelligenz und Geschmack als viele Damen, denen er bei seinen Percy-Verwandten im Schloss in Northumberland begegnet war.

Mit einem Mal fühlte er sich in seinen dreckigen, übel riechenden Reisekleidern regelrecht fehl am Platz. Plötzlich wuchs der Wunsch in ihm, sein Ansehen in Cicelys Augen aufzubessern. „Und wo ist der Zuber?“, fragte er, als er sah, dass Robbie bereits seine Satteltasche ausgepackt und ein frisches Gewand auf dem Bett ausgelegt hatte.

„Ich zeige Euch den Weg dorthin“, erklärte Cicely, die ebenfalls die frischen Kleider entdeckt hatte.

Sie führte Mackillin zu einer schmalen Tür in einer Ecke der Kammer. Als sie den kleinen Raum gerade betreten wollte, ertönte ein leises, diskretes Klopfen von der Außentür. Cicely wie auch Mackillin drehten sich um. Es war Tom, der mit einem dampfenden Wassereimer vor ihnen stand. „Hier ist noch mehr Wasser für seine Lordschaft, Jungfer Cicely. Soll ich den Zuber ganz voll machen?“

„Ja, Tom.“

„Nein, noch nicht“, hielt Mackillin den Mann zurück. „Stell den Eimer nur ins Bad. Erst muss ich prüfen, wie warm das Wasser ist. Weißt du, wo Robbie ist?“

„Er wollte nach den Pferden sehen.“

Mackillin zog unwillig die Brauen hoch. „Dann musst du mir aus den Stiefeln helfen. Und … kannst du auch einen Bart scheren?“

„Ja, mein Herr. Ich habe es immer bei meinem Großvater getan“, erklärte Tom.

Mackillin nickte zufrieden und schenkte Cicely ein kurzes Lächeln. „Dann habt Dank, Jungfer Cicely. Ich will Euch nicht weiter aufhalten.“

Rasch verließ sie die Kammer und versuchte, an etwas anderes zu denken als daran, wie der wilde Schotte gebadet und rasiert wurde. Auf dem Gang sah sie auf einer der Truhen ein Stück Seife liegen. Sie musste vergessen haben, es zu den Tüchern im Baderaum zu legen. Eilig lief sie mit der Seife zurück in Mackillins Schlafkammer. Die Tür war angelehnt. Cicely rief nach Tom, erhielt aber keine Antwort. Sicher ist er bei Mackillin im Baderaum, dachte sie. Und da sie das Plätschern von Wasser hörte, nahm sie an, dass seine Lordschaft schon im Zuber saß.

„Tom!“, rief sie noch einmal. Wieder erhielt sie keine Antwort. „Mackillin?“ Sie zögerte, doch schließlich klopfte sie beherzt an die Tür zum Baderaum und linste vorsichtig hinein. Sie konnte den Zuber sehen, trotz des Dampfes, aber keinen der beiden Männer. Nur ein Rauschen vernahm sie, so laut und unvermittelt, dass sie erschreckt zusammenfuhr. Plötzlich tauchten ein Kopf, Schultern und eine Brust aus dem Wasser auf. Mit offenem Mund schaute sie zuerst auf zerzauste, dichte braune Locken, danach wurde sie auf eine lange und silbrig glänzende Narbe unterhalb des linken Schlüsselbeins aufmerksam. Ihr wurde ganz heiß bei dem Anblick. Wie in Trance sah sie, wie Mackillin nach dem Schwert griff, das neben dem Leintuch auf dem Hocker lag, und sein nasses Haar zurückwarf. Kurze Zeit später erhob er sich. Das Wasser strömte an seinem Körper entlang.

Erschrocken schloss Cicely die Augen und packte hastig Mackillins schmutzige Kleider zusammen. Natürlich hatte sie ihre jüngeren Brüder nackt gesehen, als sie noch klein waren. Niemals aber hatte sie einem erwachsen Mann in seiner ganzen Männlichkeit gegenübergestanden. Noch einmal wagte sie einen kurzen Blick, warf die Seife in seine Richtung und stürzte aus der Kammer.

3. KAPITEL

Meine Güte, Cissie, wohin willst du denn so schnell?“ Jack begegnete seiner davoneilenden Schwester auf der Treppe. „Du brichst dir noch das Genick!“

Sie war ihrem Bruder fast dankbar, dass er sie vom Bild des nackten Mackillin ablenkte. Verschämt verbarg sie mit der einen Hand dessen schmutzige Kleider hinter ihrem Rücken, mit der anderen Hand umklammerte sie eine Geländersäule. „Wo warst du denn?“, fragte Cicely, um ihm nicht antworten zu müssen. „Ich habe mir Sorgen gemacht.“

„Wieso?“, lachte er. „Wir sind eingeschneit. Was kann mir da schon passieren? Und mit einem gebrochenen Arm reite ich bestimmt keine zehn Meilen oder noch mehr, zumal noch mehr Schnee fallen wird.“

„Hast du etwa mit dem Gedanken gespielt, Matt zu folgen?“, fragte sie erschrocken. „Machst du dir Sorgen um ihn?“

„Du etwa nicht?“

„Ist er in Gefahr? Spürst du es?“

Jack zögerte mit einer Antwort. „Ich denke schon, dass er Angst hat. Aber unter diesen Umständen hätte das jeder von uns. Im Moment können wir aber sowieso nichts tun. Doch warum ruhst du dich nicht etwas aus? Setz dich mit deinem Stickzeug ans Feuer.“

„Warum packen wir nicht die Sachen aus, die du mitgebracht hast?“

„Das kann warten. Und du solltest wirklich nicht ständig herumrennen. Die Dienerschaft weiß genau, was zu tun ist. Es reicht, wenn du die notwendigen Anweisungen gibst.“

Eigentlich hat er recht, überlegte Cicely. Es wäre schön, mit ihrer Stickerei am Feuer zu sitzen und den eigenen Gedanken nachzuhängen. Wenn aber Mackillin herunterkam und sie dort vorfand? Allein? Was dann? Würde sie es wagen, ihm ins Gesicht zu sehen? Sie wusste es nicht. Bestimmt würden ihre Augen dorthin wandern, wo sein Geschlechtsteil war. Nein, solche Gedanken durfte sie erst gar nicht aufkommen lassen. Ach, wäre er doch erst gar nicht hier aufgetaucht. Und wenn ihre Stiefmutter nicht gestorben wäre, dann wäre Vater auch nicht wieder auf Reisen gegangen. Wenn er Jack erlaubt hätte, allein mit einem der Handelsagenten ins Ausland zu reisen, würde Vater noch leben – und Mackillin wäre hier nicht wegen seiner Belohnung aufgetaucht. Das war doch der einzige Grund, weshalb er hier war. Das Beste war wohl, nicht weiter über ihn nachzudenken. Stattdessen sollte sie sich Gedanken machen, wie man Diccon die Mitteilung vom Mord an ihrem Vater überbringen konnte.

Zunächst trug sie Mackillins schmutzige Kleidung ins Waschhaus. Als das erledigt war, vervollständigte sie ihre Trauerkleidung und legte den schwarzen Schleier um. Erst danach holte sie ihren Stickrahmen hervor und setzte sich ans Feuer. Recht bald fiel ihr ein, dass es nutzlos war, darüber nachzudenken, wie man Diccon benachrichtigen sollte, solange sie eingeschneit waren. Sie ließ ihre Gedanken schweifen und stellte sich vor, auf Mackillins Schiff über die Meere zu segeln und alle die Orte kennenzulernen, die ihr Vater besucht hatte. Traurig dachte sie daran, dass sie niemals mehr seine Stimme hören würde. Niemals mehr seinen Erzählungen über Venedig, Florenz oder Brügge würde lauschen können – alles Orte, die sie so gern mit ihm zusammen bereist hätte. Aber von dem wenigen, was seine Lordschaft berichtet hatte, schloss sie darauf, dass er eine ähnliche Gabe wie ihr Vater besaß, mit Worten ein Bild von fremden Plätzen zu malen.

Nachdenklich rieb sich Mackillin mit dem Tuch trocken, bis seine Haut rot glühte. Er lächelte in sich hinein. Jungfer Cicely war bestimmt zufrieden, dass er nun nicht mehr nach Schweiß und Pferd roch. War sie es gewesen, die die Seife geworfen hatte? Er hatte nur so etwas wie einen schwarzen Rock verschwinden sehen, als er die Augen öffnete. Seine schmutzigen Kleider schienen ihm auch abhanden gekommen zu sein. Er konnte nur hoffen, dass sein Anblick sie nicht erschreckt hatte. Er musste erneut bei dem Gedanken lächeln, wie angenehm es auf seinen Reisen war, wenn ihm eine Frau den Rücken schrubbte und sich auch sonst nützlich machte. Ganz deutlich hatte er plötzlich ein Bild von Cicely vor Augen. Er verspürte ein heftiges Verlangen, als er sich vorstellte, wie ihre kleinen prallen Brüste sich unter dem Seidenkleid bewegten, während sie ihm die Schultern wusch. Unwillig, als ob er sich so von seinen Sehnsüchten befreien könnte, schüttelte er den Kopf. Nein, Cicely war wirklich nichts für ihn, auch wenn es Nat Milburn geglaubt hatte.

Ich sollte lieber an die Braut denken, die mir bestimmt ist, befahl Mackillin sich. Die letzte Begegnung mit Mary war allerdings schon lange her. Damals schien sie noch ein Kind zu sein. Soweit er sich aber erinnern konnte, war sie ein ganz anderer Typ als Cicely Milburn. Sicherlich war Mary mittlerweile zu einer hübschen jungen Frau herangewachsen. Sie hatte nicht so weizenblondes Haar wie Jungfer Cicely. Schwarz war sie gewesen. Natürlich hatte er ihr Haar nie berührt, aber er hegte keinen Zweifel, dass es nicht so seidenweich war wie das von Jacks Schwester. Dies hatte er in der Hand gehabt, als er sie im Stall küsste. Oh verdammt! Er musste endlich aufhören, an Cicely zu denken. Eine Heirat mit Mary Armstrong würde ihm alles geben, was er brauchte. Sie war, wie er gehört hatte, groß und kräftig gebaut. Ganz bestimmt würde sie ihm gesunde Söhne und hübsche Töchter gebären. Sein älterer Halbbruder hatte auch geheiratet und Kinder gezeugt, aber keiner seiner Sprösslinge lebte lange. Die Frau von Fergus, seinem jüngeren Halbbruder, war letztes Jahr im Kindbett gestorben, und auch das Baby hatte nicht überlebt.

Noch immer ärgerte es Mackillin, wenn er an die vielen Gemeinheiten dachte, die ihm Fergus zugefügt hatte. Oder an die heftigen Raufereien, die sie auf den Wehrgängen des Schlosses seines Großvaters im Südwesten von Schottland oder in der Burg seines Vaters im Grenzland ausgefochten hatten. Die Narbe an seinem Schlüsselbein rührte auch von solch einem Kampf her. ­Jedes Mal, wenn Mackillin sich daran erinnerte, pochte die Narbe, als fahre ihm Fergus’ Klinge erneut ins Fleisch. Niemals konnte er den Hass für den Sohn jener englischen Frau vergessen, die in Fergus’ Augen seine Mutter ersetzt hatte. Nun waren alle drei Männer tot. Aus dem Hinterhalt überfallen und getötet. Seine Mutter schien nicht zu wissen, wer die Täter waren. Und da seine Halbbrüder keine Erben hinterließen, hatte er selbst die Killin-Wehrburg und die dazugehörenden Ländereien geerbt.

Wieder musste er an Cicely denken. Ob sie wohl ihre Meinung über den Barbaren ändern würde, fragte er sich, wenn sie erfuhr, dass er ein halber Engländer war? Er strich sich mit der Hand über das frisch rasierte Kinn. Das Tuch um die schmalen Hüften geschlungen, ging er langsam und nachdenklich in die Schlafkammer. Vielleicht wird mein verändertes Äußeres sie davon überzeugen, dass ich kein Wilder bin, überlegte er.

Nachdem Mackillin erst Unterwäsche und Beinkleider angezogen hatte, streifte er ein dünnes Unterhemd über. Als weitere Schicht kam ein Leinenhemd, schließlich ein grünes Wollwams, das am Halsausschnitt, an den Ärmelaufschlägen und am Saum mit aufwendigen Mustern bestickt war. Als Nächstes legte er den ärmellosen Überrock an, der bis zu den Waden reichte. Der Überrock besaß eine Innentasche, in die er ein Buch steckte, das einen Umschlag aus Pergament hatte. Und nachdem er sich noch die Haare gekämmt hatte, die auf Ohrlänge geschnitten worden waren, fühlte er sich bereit, einer Dame Gesellschaft zu leisten. Sein Herz klopfte schneller, da er erneut an Cicely denken musste. Er runzelte unwirsch die Stirn über sich selbst. Nachdem er schließlich noch die Lederschuhe angezogen und an den Innenseiten zugeschnürt hatte, nahm er die Laterne vom Tisch und verließ die Schlafkammer.

Als er in die Halle kam, sah er Cicely beim Feuer sitzen. Stirnrunzelnd stellte er fest, dass sie ihr Haar unter einem schwarzen Schleier verborgen hatte. Wie eine Nonne wirkte sie nun in ihren schwarzen Gewändern. War das gewollt? Was wollte sie damit ausdrücken? Etwa: Berühre mich nicht?

Die Hunde hoben die Köpfe, als Mackillin sich näherte, und auch Cicely blickte von ihrer Stickerei auf. Er las das Erstaunen in ihren Augen und wusste in diesem Moment, dass er den gewünschten Effekt erreicht hatte. Sogleich besserte sich seine Laune. Da er ihr bedeutete, sitzen zu bleiben, beugte sie ihren Kopf wieder über den Stickrahmen.

Mackillin suchte sich eine Sitzgelegenheit nahe beim Feuer und zog sein Buch heraus. Es war ein Vermächtnis eines älteren Verwandten aus der Percy-Familie. Die Handschrift war zum Glück noch gut lesbar, obwohl das Buch schon über fünfzig Jahre alt war. Während er vorsichtig die Seiten umblätterte, bemerkte er, dass Cicely ihn beobachtete. „Immer wenn ich dieses Buch zur Hand nehme, muss ich an den Kopisten denken, der über Monate die vielen Tausend Worte abgeschrieben hat.“ Er versuchte, ein Gespräch zu beginnen.

„Was ist das für ein Buch?“ Cicely war beeindruckt. Nicht nur seine äußere Verwandlung erstaunte sie. Es imponierte ihr auch, dass er ein Buch mit sich führte und obendrein noch entschlossen schien, darin zu lesen. Und sie war erleichtert. Anscheinend wusste er nicht, dass sie ihn splitternackt gesehen hatte. Als ärgerlich empfand sie nur den Wunsch, sein rasiertes Kinn berühren und über sein kastanienbraunes Haar streichen zu wollen, das sich über den Ohren leicht wellte. Was würde Vater von solch einem Wunsch gehalten haben? fragte sie sich mit zunehmendem Missmut. Wie konnte es sein, dass sie um ihn trauerte, in Diccon verliebt und zugleich von diesem Mann fasziniert war?

„Die Canterbury Tales – habt Ihr davon gehört?“, fragte Mac­killin.

„Ja. Aber ich habe nie eine Kopie dieser Geschichten gesehen“, antwortete sie und war erstaunt, dass ihre Stimme so normal klang.

„Möchtet Ihr, dass ich Euch etwas daraus vorlese?“ Er hatte inzwischen die Stelle gefunden, bei der er zuletzt mit Lesen aufgehört hatte. „Es ist ein Teil der Erzählung des Mönchs, eine Geschichte über den Grafen Ugolino von Pisa“, fuhr er fort, ohne auf ihre Antwort zu warten.

„Wer war denn dieser Graf, Mylord?“

„Mackillin“, verbesserte er sie, ohne nachzudenken. Anschließend fing er an zu lesen. Erst nach einer Weile hob er den Kopf und verzog das Gesicht. „Ach, vielleicht doch nicht.“

„Wieso … warum denn nicht?“ Fragend schaute sie ihn an. Ihre Blicke trafen sich, und ihr Herz schlug schneller.

„Weil es eine Tragödie ist und Ihr im Augenblick schon genug zu trauern habt“, erklärte er ein wenig barsch, dann senkte er den Blick und blätterte einige Seiten weiter. „Die Erzählung des Müllers ist ungeheuer humorvoll, aber nicht geeignet für die Ohren eines jungen Mädchens. Vielleicht die Erzählung von der Nonne? Zweifelsohne ist die besser. Darin steht die Bitte der ­Maria. Möchtet Ihr, dass ich Euch daraus vorlese? Oder soll ich Euch lieber … ja, was haben wir denn hier?“ Er lächelte verschmitzt. „Die Erklärung des Namens Cecilia. Wusstet Ihr, dass der Name Cecilia in der Übersetzung ‚Himmelslilie‘ heißt?“

„Mein Vater erzählte es mir. Cecilia war eine römische Edelfrau, nach ihr hat man mich benannt.“ Innerlich schüttelte ­Cicely den Kopf darüber, was für eine Unterhaltung sie mit dem fremden Schotten führte – und nicht nur, weil sie ihr heimliches Versprechen brach, Abstand zu halten.

„Ihr kennt ihre Geschichte?“

Cicely nickte, und während sie ein Blütenblatt mit blauem Faden ausstickte, dachte sie an die Cecilia, die ihren heidnischen Gatten zum Christentum bekehrt hatte. „Ich höre die Erzählung gern noch einmal, wenn Ihr sie noch nicht gelesen habt“, sagte sie leise.

„Ich kenne sie ebenfalls, aber das macht nichts.“

Er schloss das Buch, entschuldigte sich kurz, stand auf und ging hinüber zu dem Gepäck, von dem ein Teil immer noch aufgestapelt in einer Ecke der Halle lag. Es war vollkommen still in der Halle, nur das Feuer knisterte. Verwundert fragte sich Mac­killin, ob sie nach der aufregenden Nacht noch müde war. War das der Grund, weshalb sie keinen weiteren Versuch unternommen hatte, den Inhalt der mitgebrachten Güter zu erforschen? Vielleicht ist es klüger, sie mit ihrer Stickerei und ihrer Trauer allein zu lassen, überlegte er. Doch zugleich fragte er sich, ob Sticken die einzige Beschäftigung war, mit der sie ihre freie Zeit an den langen Wintertagen vertrieb. An jenen Tagen, an denen das Wetter es nicht erlaubte, vor die Tür zu gehen. Selbst als Nat Milburn noch lebte, musste es nach dem Tod ihrer Stiefmutter mit den Männern, die oftmals anderswo ihren Geschäften nachgingen, ein einsames Leben für Cicely gewesen sein.

Mackillin dachte an den Moment, als der Kurier im Haus seiner französischen Verwandten erschienen war und die Bitte seiner Mutter überbrachte, zurück auf die Wehrburg ins Grenzland zu kommen. Dort hatte er sich nie zu Hause gefühlt. Eher noch konnte er sein eigenes Haus in Kirkcudbright, dem geschäftigen Hafenort an der Ostküste, als sein Heim betrachten. Sein Blick wanderte über die Gobelins an den Wänden, und plötzlich wusste er, weshalb er sich in diesem Haus so wohlfühlte. „Die Halle erinnert mich an mein Haus in Kir’coo-bri.“ Er sprach den Namen des Ortes im lokalen schottischen Dialekt aus. „Dorthin bin ich immer geflüchtet, wenn das Leben im Schloss meines Groß­vaters für mich unerträglich wurde. Dort entdeckte ich auch meine Liebe für die Schiffe und die Sehnsucht nach fernen Ländern.“

„Wieso aber erinnert diese Halle Euch an Euer Haus?“, erkundigte sich Cicely, die es verwunderlich fand, dass er es im Schloss seines Großvaters unerträglich fand.

„Die Größe und …“ Er ging zu einem Wandteppich, auf dem Die Jagd abgebildet war. „… dieser Gobelin. Ich wette, den hat Euer Vater in Angers gekauft.“

„Genau weiß ich das nicht. Auf jeden Fall in Frankreich.“ Da Mackillin ihr den Rücken zuwandte, erlaubte sie sich, eingehend sein Haar, das sich im Nacken kräuselte, seine breiten Schultern und die festen, muskulösen Waden zu betrachten.

Als er sich plötzlich umdrehte, senkte sie schnell den Blick. Ihre Wangen glühten vor Scham, denn ihr war sofort klar, dass er bemerkt haben musste, auf welch unziemliche Weise sie ihn gemustert hatte. Verlegen räusperte sie sich. „Mein Vater hat, kurz nachdem wir hierher gezogen sind, bei einem seiner Handelsagenten einige Wandteppiche für meine Stiefmutter bestellt“, versuchte sie ihre Verlegenheit zu überspielen. „Die Wände waren leer und verrußt von den Feuern im Winter, wie auch jetzt schon wieder. Als Lord werdet Ihr in Schottland doch sicher in einem Schloss mit einer großen Halle wohnen?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein. Das Schloss hat der ältere Bruder meines Vaters geerbt. Ihr seid wohl noch nie im schottischen Grenzland gewesen, Jungfer Cicely? Der Ort, an den ich zurückkehre, lässt sich nicht vergleichen mit den prächtigen Bauwerken in England, etwa das Schloss meiner Verwandten in Alnwick in Northumberland. Das Gebäude, das ich übernommen habe, ist eine Wehrburg in einer einsamen, rauen Landschaft. Zurzeit ist meine Mutter die Kastellanin auf Killin, das ungefähr einen Tages­ritt von Berwick-upon-Tweed entfernt liegt.“

Cicely sah nicht von ihrer Stickarbeit auf, als sie leise sagte: „Mein Vater hat Berwick-upon-Tweed oft erwähnt. Das Dorf liegt an der Ostküste, nicht wahr? Hat es nicht mehrmals den Besitzer gewechselt? Viele Ortschaften entlang der Grenze haben ja während des Krieges zwischen unseren Ländern neue Herrschaften erlebt.“

„Ihr seid gut informiert“, meinte Mackillin anerkennend, während er sich wieder ans Feuer setzte.

Cicely errötete. „Ich bin die Tochter eines Kaufmanns. Da muss ich interessiert sein an den Plätzen, die mein Vater aufsucht. Er hatte entfernte Verwandte nahe der Grenze. Aber zu denen besitzen wir keine engere Beziehung.“

Mackillin schwieg eine Weile nachdenklich. „Dann waren Eure Verwandten wohl auch nie auf diesem Anwesen?“, fragte er vorsichtig.

„Nein. Nicht seitdem ich hier lebe. Möglicherweise haben sie meinen Großonkel hier einmal besucht.“ Sie schaute auf. „Weshalb fragt Ihr? Seid Ihr etwa mit ihnen näher bekannt?“

Er zögerte. „Nein, nein, absolut nicht. Ich … vermute allerdings, dass sie etwas mit dem Mord an Eurem Vater zu tun haben könnten.“

Autor

June Francis
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Sophia James
Romane von Georgette Heyer prägten Sophias Lesegewohnheiten. Als Teenager lag sie schmökernd in der Sonne auf der Veranda ihrer Großmutter mit Ausblick auf die stürmische Küste. Ihre Karriere als Autorin nahm jedoch in Bilbao, Spanien, ihren Anfang. Nachdem ihr drei Weißheitszähne gezogen wurden, lag sie aufgrund starker Schmerzmittel tagelang flach....
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