Historical Exklusiv Band 51

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BALLADE DER LIEBE von GASTON, DIANE
Gebannt lauscht Jameson Flynn den irischen Volksweisen von Rose O’Keefe - und lässt sich von der engelsgleichen Stimme und der betörenden Schönheit der Sängerin verzaubern. Gern würde Jameson ihr näherkommen. Doch sein Arbeitgeber, der Marquess of Tannerton, will Rose zu seiner Geliebten machen! Wird sie sich auf ein amouröses Abenteuer mit dem wohlhabenden Edelmann einlassen - oder kann Jameson ihr Herz gewinnen?

EINE HÖCHST UNMORALISCHE WETTE von LANDON, JULIET
Caterina ist fasziniert. Meisterhaft gleiten Chase Bostons Finger über die Tasten des Klaviers. Hat sie den attraktiven Baronet falsch eingeschätzt? Sein Spiel bringt eine Saite in ihr zum Klingen, von dessen Existenz Caterina bisher nichts ahnte. Alles verzehrende Leidenschaft erfüllt sie. Doch für diese Erkenntnis scheint es zu spät zu sein: Kurz zuvor hat sie seinen Heiratsantrag noch empört abgelehnt …


  • Erscheinungstag 10.02.2015
  • Bandnummer 51
  • ISBN / Artikelnummer 9783733760700
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Diane Gaston, Juliet Landon

HISTORICAL EXKLUSIV BAND 51

DIANE GASTON

Ballade der Liebe

Roses Herz pocht wie wild, als sie den charmanten und attraktiven Jameson trifft. Zwar gibt er vor, nicht an ihr interessiert zu sein, aber seine glühenden Blicke sprechen eine andere Sprache! Als ein reicher Marquess Rose Avancen macht, muss sie sich entscheiden: Will sie ein sicheres Leben im Wohlstand führen – oder für die Liebe alles auf eine Karte setzen …

JULIET LANDON

Eine höchst unmoralische Wette

Welch ein Affront! Um ihre Familie aus einer prekären finanziellen Situation zu retten, bittet Chase Boston um die Hand von Caterina Chester – und wird abgewiesen! Aber so schnell gibt der Baronet nicht auf. Er muss die hübsche Rothaarige für sich gewinnen! Kann er Caterina überzeugen, dass hinter seinem Antrag mehr als rein geschäftliche Interessen stecken?

1. KAPITEL

London, Juli 1817

Vauxhall Gardens war nicht der Ort, den Jameson Flynn für abendliche Zerstreuungen wählen würde, hätte sein Dienstherr, der Marquess of Tannerton, seine Begleitung nicht erwünscht.

Der beliebte Londoner Vergnügungspark mit seinen Nachbildungen griechischer Tempel und chinesischer Pagoden aus Holz und Pappmaschee übte auf Flynn keinerlei Reiz aus. Auch die Besucher erschienen ihm gekünstelt und unecht, denn viele trugen Masken vor dem Gesicht, um ihre Identität zu verbergen. Niemand wollte sich zu erkennen geben, ob Herren von Rang und Reichtum oder einfaches Volk und Damen von zweifelhaftem Ruf.

„Nehmen Sie noch etwas Schinken.“ Tannerton reichte ihm die Platte mit hauchdünn geschnittenen Schinkenscheiben, eine von Vauxhalls Spezialitäten.

Der steinreiche Tanner – wie der Marquess sich gerne nennen ließ – aß mit Appetit, als diniere er in Carlton House und nicht in einem zugigen Separee unter den Arkaden. Flynn lehnte dankend ab und nippte an einem Glas Arrak, eine zu Kopf steigende Mixtur aus Zuckerrohrschnaps, Palmwein und Gewürzen, deren Wirkung den Reiz des Vergnügungsparks in seinen Augen nur geringfügig erhöhte. Es war nichts Ungewöhnliches, dass der Marquess seine Gesellschaft suchte, wobei Flynn sich keinen falschen Illusionen hingab. Er war Tanners Sekretär, nicht sein Freund.

Ein Außenstehender hätte allerdings Mühe gehabt, zu erkennen, welcher der beiden Herren der Aristokrat war. Flynn legte großen Wert auf seine äußere Erscheinung. Er trug sein dunkelbraunes Haar stets wohlfrisiert; schwarzer Gehrock und eng anliegende Pantalons waren von tadellosem Sitz. Tanner, einige Jahre älter und dunkelblond, nahm es weniger genau mit seinem Erscheinungsbild und machte meist den Eindruck, als sei er gerade vom Pferd gestiegen.

Flynn stellte das Glas auf den Tisch. „Sie wünschten meine Begleitung gewiss nicht ohne Grund, Sir. Wann darf ich Genaueres erfahren?“

Schmunzelnd griff Tanner in die Innentasche seines Gehrocks, zog einen Zettel hervor und reichte ihn Flynn. „Werfen Sie einen Blick darauf.“

Es handelte sich um ein Programmheft, das einen Liederabend mit Orchesterbegleitung ankündigte. Die Sängerin, eine gewisse Miss Rose O’Keefe, war der neue Stern in Vauxhall Gardens.

Flynn hätte es wissen müssen. Eine Frau.

Nachdem Tanners Mission in Brüssel erfolgreich abgeschlossen war, hatte er sein gewohntes Leben in London wieder aufgenommen, das vorwiegend darin bestand, sich seichten Zerstreuungen zu widmen, dem Pferdesport, durchzechten Nächte am Spieltisch und natürlich schönen Frauen. Kaum eine von ihnen hätte dem reichen, blendend aussehenden Aristokraten ihre Gunst verweigert. Zudem eilte Tanner der Ruf voraus, seine Geliebten zu verwöhnen und nicht mit kostbaren Geschenken zu geizen. Wenn sein Interesse schwand, was unweigerlich irgendwann eintraf, konnte die jeweilige Dame sich mit einer stattlichen Abfindung über den Verlust ihres spendablen Gönners hinwegtrösten. Tanner hatte also freie Wahl im reichen Angebot von Schauspielerinnen, Tänzerinnen und Opernsängerinnen.

„Ich tappe immer noch im Dunklen, nehme aber an, dass Ihr Interesse dieser Miss O’Keefe gilt. Allerdings ist mir nicht klar, wozu Sie mich brauchen.“ Wenn es um Tanners Frauen ging, bestanden Flynns Aufgaben darin, Verhandlungen mit der jeweiligen Angebeteten zu führen, finanzielle Details zu regeln und der Dame am Ende einen Abschiedsbrief zu überreichen, da Tanner hysterische Weinkrämpfe hasste.

Tanners Augen blitzten schalkhaft. „Sie werden mir helfen, die junge Dame zu erobern.“

Flynn verschluckte sich beinahe an seinem Arrak. „Ich? Seit wann brauchen Sie meine Unterstützung in Herzensangelegenheiten?“

Tanner beugte sich vor. „Diese Frau ist etwas ganz Besonderes. Bis vor Kurzem hatte noch kein Mensch von ihr gehört. Eines Abends stand sie plötzlich auf der Bühne, sang irische Lieder und verschwand anschließend auf geheimnisvolle Weise. Niemand weiß, woher sie kommt, wer sie ist. Jedenfalls scheint sie keine leichte Eroberung zu sein.“

Flynn bedachte seinen Dienstherrn mit einem skeptischen Blick.

Tanner redete unbeirrt weiter. „Pomroy und ich hörten sie vor zwei Abenden. Eine hinreißende Stimme. So etwas haben Sie noch nie erlebt, Flynn. Ich muss die Kleine kennenlernen.“ Stirnrunzelnd nahm er einen tiefen Schluck. „Leider bewacht ihr Vater sie wie ein Schießhund. Ich schaffte es nicht einmal, ihm meine Karte zu geben. Nach dem Auftritt seiner Tochter wurde er von Scharen ihrer Verehrer bestürmt.“

Flynn konnte sich kaum vorstellen, dass der Marquess sich durch eine schubsende Menge aufgeregter junger Männer drängelte, um einer Vauxhall-Sängerin seine Aufwartung zu machen. „Aber wie kann ich Ihnen behilflich sein?“

„Sie finden einen Weg, wie Sie an den Vater herankommen, und führen die Verhandlungen für mich.“ Er nickte zufrieden. „Sie sind der geborene Diplomat, eine Gabe, die mir, wie Sie wissen, vollständig fehlt.“

Nach Flynns Ansicht bestanden die Verhandlungen lediglich darin, eine stattliche Summe zu nennen, und die Dame würde dem Charme des Marquess erliegen, allerdings hütete er sich, diese Meinung zu äußern. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass er den Vermittler spielte, bisher war er jedoch immer erst nach Tanners ersten Schritten in Aktion getreten. Solche Gespräche unterschieden sich nur unwesentlich von Tanners geschäftlichen Verhandlungen. Flynn handelte die Konditionen aus, legte Termine fest und formulierte die Abschlussklausel. Und der Marquess frönte dem Vergnügen.

Die Orchesterklänge, die aus der Ferne zu den Arkaden herüberwehten, verstummten. Tanner zog seine goldene Taschenuhr. „Ich glaube, es ist Zeit für ihren Auftritt. Wir müssen uns beeilen.“

Flynn folgte seinem Dienstherrn, der mit langen Schritten der Rotunde zustrebte, an deren Stirnseite das Orchester auf einem Podium platziert war. Tanner drängte sich vor, um freien Blick auf die Bühne zu erhalten. Er war aufgeregt wie ein kleiner Junge vor dem Aufstieg eines Heißluftballons.

Die Musik setzte ein und spielte eine Melodie, die Flynn vertraut war, und dann trat Miss O’Keefe unter Applaus und Jubelrufen vor das Orchester und begann zu singen:

When, like the dawning day

Eileen Aroon

Love sends her early ray …

Ihre kristallklare Stimme schwang sich empor, erfüllte die laue Sommernacht, und das Publikum lauschte in andächtigem Schweigen. Flynn hob den Blick zur Bühne, und die Lichter der bunten Lampions, die das Podium bekränzten und in den Ästen der Bäume hingen, verschwammen vor seinen Augen. Er sah nur die schlanke Frauengestalt in einem dunkelroten Kleid, das in der leichten Brise flatterte.

Ihr Haar, dunkel wie der Nachthimmel, bildete einen dramatischen Kontrast zu ihrer hellen Haut, geheimnisvoll schimmernd wie Seide. Ihr Mund, im Gesang geöffnet, leuchtete rosig wie der Kelch einer Sommerrose.

Das also war Rose O’Keefe, Vauxhalls neuester Stern. Sie erschien ihm wie eine Traumgestalt, eine Märchenfee, die ihre schlanken hellen Arme ausbreitete, als wolle sie ihr Publikum umarmen.

Were she no longer true

Eileen Aroon

What would her lover do …

Flynn schluckte gegen den Knoten an, der ihm unvermutet die Kehle zuschnürte. Das irische Liebeslied „Eileen Aroon“, das die Sängerin mit einer leicht angedeuteten irischen Modulation vortrug, löste eine Flut von Gefühlen in ihm aus, wie er sie seit Jahren nicht verspürt hatte. Er kniff die Augen zusammen, und das Bild seiner Mutter stieg in ihm auf, die auf dem alten Pianoforte spielte, daneben stand sein Vater mit den Geschwistern. Er glaubte beinahe, den volltönenden Bariton seines Vaters zu hören, der sich harmonisch mit dem süßen Sopran seiner Schwester Kathleen vereinte. Und ihm war, als rieche er die feuchte Erde, die würzige Luft, das grüne Gras der Heimat.

Seit er vor zehn Jahren nach Oxford gegangen war, den Kopf voller ehrgeiziger Zukunftspläne, hatte er Irland nicht wiedergesehen. Und diese Verführerin mit ihrem Sirenengesang weckte nicht nur seine Sinnlichkeit, sondern auch eine schmerzliche Sehnsucht nach Abenden voller Lachen und Gesang im Kreise seiner Familie.

„Habe ich zu viel versprochen? Ist sie nicht fabelhaft?“ Tanner schlug ihm auf die Schulter.

Flynn blickte wieder zur Bühne. „Sie ist außergewöhnlich.“

Tanners unverhohlene Bewunderung für Rose O’Keefe spiegelte sich in seiner Miene. Flynn gab sich Mühe, seine Begeisterung weniger deutlich zu zeigen, obwohl seine Faszination mit jedem ihrer Lieder glühender brannte.

Mit ihrem Gesang rief diese junge Frau ihm alles in Erinnerung, was er in Irland zurückgelassen hatte. Plötzlich machte er sich Vorwürfe, die monatlichen Briefe seiner Mutter nicht öfter als dreimal im Jahr zu beantworten. Er sehnte sich schmerzlich danach, seine Eltern in die Arme zu schließen, mit seinen Brüdern Ringkämpfe auszutragen, seine Schwestern zu necken. Wie lang war es eigentlich her, dass er laut gelacht hatte? Eine Frau in den Armen gehalten hatte? Wann hatte er „Eileen Aroon“ zuletzt gesungen?

Ehrgeizige Zukunftspläne hatten ihn frühzeitig zum Mann reifen lassen, ihn seiner Jugend entfremdet. Seit sechs Jahren war er der Sekretär des Marquess, wobei diese Stellung lediglich eine Sprosse auf seiner Karriereleiter sein sollte. Denn Flynn hatte hohe Ziele und strebte eine Position in der Regierung an. Sein größter Wunsch war, einem Mitglied des Königshauses als Berater zu dienen. Tanner unterstützte Flynn in seinem Eifer, hatte ihn zum Wiener Kongress mitgenommen und nach Brüssel, wo der zielstrebige junge Mann hochrangige Staatsmänner kennengelernt hatte.

Nicht zuletzt deshalb erschrak Flynn angesichts seiner Reaktion auf Rose O’Keefe. Sie lenkte ihn ab, ihre süße Stimme weitete ihm das Herz, weckte erotische Gefühle in ihm. Lüsternes Verlangen und Sehnsucht nach der Heimat ergaben eine seltsame Mischung, eine höchst unwillkommene dazu. Im Augenblick fühlte er sich indes seinen Empfindungen hilflos ausgeliefert, gefangen vom Zauber ihrer Stimme und ihrer Schönheit.

Dieser Zauber würde vergehen, bald würde er wieder festen Boden unter den Füßen finden, was auch dringend nötig war, denn diese Frau, die so unvermutet seine Sinne geweckt und eine vergessen geglaubte Sehnsucht nach der Heimat in ihm aufgewühlt hatte, war die Frau, die er seinem Dienstherrn zuführen sollte.

Rose ließ den Blick über ihre aufmerksam lauschenden Zuhörer schweifen. Mit jedem Auftritt in Vauxhall hatte sie ein größeres Publikum angezogen, und vor ein paar Tagen war sie sogar lobend im Morning Chronicle erwähnt worden. Sie genoss es, wenn ihre Stimme das Orchester übertönte und sich in die Sommernacht schwang. Der Zauber von Vauxhall zog sie in einen magischen Bann, und ihr war beinahe, als sehe sie sich selbst wie im Traum aus großer Höhe auf der Bühne stehen und irische Lieder singen.

Mr Hook persönlich hörte ihr von einer Seitengasse der Bühne zu und nickte wohlwollend. Rose schenkte dem Musikdirektor ein Lächeln, bevor sie sich wieder ihrem Publikum zuwandte. Sie war stolz darauf, dass Miss Hart – vielmehr inzwischen Mrs Sloane – vor ihrer Hochzeitsreise nach Italien eine ihrer Vorstellungen besucht hatte. In der kurzen Zeit, die Rose bei Miss Hart gewohnt hatte, hatte sie viel gelernt. Eine ihrer Lektionen schätzte sie besonders: Miss Hart hatte ihr beigebracht, stolz auf sich selbst zu sein. Und an diesem Abend war Rose sehr stolz auf sich. So stolz, dass sie glaubte, all ihre Träume könnten wahr werden. Sie glaubte daran, eines Tages eine gefeierte Sängerin zu sein, die ganz London bejubelte. Sie würde in Covent Garden singen, in der Drury Lane oder sogar – wagte sie zu hoffen? – in King’s Theatre.

Erneut flog Roses Blick über ihr Publikum, vorwiegend Männer, die bewundernd zu ihr aufblickten. Seit sie zehn Jahre alt war, sahen Männer sie bewundernd an. Mittlerweile hatte sie gelernt, diesen meist dreisten Blicken ohne Scheu zu begegnen. Und sie hatte gelernt, mit Herren zu plaudern, ohne zu erröten, und sie nötigenfalls in ihre Schranken zu weisen.

Zufällig streifte Roses Blick zwei Herren in der ersten Reihe seitlich unter den Lampen. Der eine war sehr hochgewachsen und gut aussehend, aber ihre Aufmerksamkeit galt dem Herrn neben ihm, der so hingerissen zu ihr aufblickte, dass ihr Herzschlag ins Stolpern geriet.

Sie sang die letzten Verse.

Truth is a fixed star …

Als das Lied verklang, erhob sich donnernder Applaus. Rose warf dem Herrn, der ihr so andächtig gelauscht hatte, einen verstohlenen Blick zu. Er stand immer noch reglos wie eine Statue, den Blick auf sie fixiert. Sie spürte, wie ihre Wangen sich erhitzten.

Anmutig verneigte sie sich, sah ihren Bewunderer noch einen heimlich an, schloss die Augen und stimmte sich innerlich auf das nächste Lied ein. Und während sie sang, kehrte ihr Blick wie magisch angezogen immer wieder zu ihm zurück.

Irgendwann setzte das Orchester zum letzten Lied des Abends an: „The Warning“.

List to me, ye gentle fair,

Cupid oft in ambush lies …

Rose begann leise, beinahe im Flüsterton, und begleitete ihren Gesang mit gefühlvollen Gesten.

Of the urchin have a care,

Lest he take you by surprise …

Ihre Stimme schwoll, gewann an Volumen, und sie musste sich zwingen, ihr Lied nicht direkt an den mysteriösen Fremden zu richten, der sich immer noch nicht bewegt hatte. Die Farbe seiner Augen konnte sie nicht erkennen, aber sie spürte seinen Blick auf sich und wünschte, ihren Blick mit dem seinen zu verschmelzen.

Flynn versuchte, die Empfindungen abzutun, die Rose O’Keefe in ihm auslöste, und redete sich ein, sie sei nur eine von vielen Frauen, auf die Tanner ein Auge geworfen hatte, vermochte allerdings nicht, den Blick von ihr zu wenden. Sein verstorbener Großvater, der einen Hang zu alten Mythen und rätselhaften Erscheinungen gehabt hatte, hätte ihm ins Ohr geflüstert: „Daran sind die Feen schuld.“

Wenn auch keine Feen, so doch ein verrückter Wunsch. Denn Flynn hatte den Eindruck, Rose O’Keefe singe nur für ihn allein.

Eine reine Illusion. Es gab nichts Persönliches zwischen ihm und dieser Frau, mit der er noch kein Wort gesprochen hatte. Die Empfindungen, die in ihm aufwallten, während er ihrem Gesang lauschte, waren Fantasien, ebenso töricht wie der Glaube an die Existenz von Feen. Er kannte seine Rolle genau. Er musste die Einwilligung von Miss O’Keefes Vater erlangen, die Tanner gestattete, seiner Tochter einen direkten Antrag zu machen. Vermutlich musste er ihr auch Geschenke überreichen und sie zu Verabredungen mit Tanner begleiten, Aufträge, die er bisher bedenkenlos erledigt hatte.

Dummerweise betörten die Schönheit ihrer Stimme und die Anmut ihrer Persönlichkeit seine Sinne, benebelten ihm den Verstand. Als sie von Cupido sang, wurde Flynn klar, warum der Liebesgott Amor mit Pfeil und Bogen dargestellt wurde. Er fühlte sein Herz von einem süßen Stich durchbohrt.

Am Ende des Liedes verneigte sich die schöne Sängerin tief im aufbrandenden Applaus, und Flynn erwachte aus einer absurden Traumwelt.

„Bravo!“, rief Tanner neben ihm mit lauter Stimme. „Bravo!“

Einen Augenblick später war die engelsgleiche Gestalt verschwunden, als sei sie nur ein Trugbild gewesen. Tanner klatschte so lange, bis die Hauptattraktion des Abends, der berühmte Bariton Charles Dignum, die Bühne betrat und zu singen begann.

Flynn musterte Tanner, als habe sein Dienstherr sich plötzlich in den in Irland verhassten Cromwell verwandelt, der ihm und seinen Landsleuten Hab und Gut geraubt hatte. Ein absurde Vorstellung, die an Lächerlichkeit kaum zu überbieten war. Flynns Mutter war Engländerin, die seit ihren Jugendjahren in Irland lebte. In seinen Adern floss ebenso viel englisches wie irisches Blut.

Heftig schüttelte er den Kopf, um seine törichten Gedanken loszuwerden. Rose O’Keefe hatte lediglich einen Anflug von Heimweh in ihm geweckt.

Er presste die Finger an die Schläfen. Bald würde er wieder zur Vernunft kommen und seine Aufgaben pflichtbewusst verrichten.

Als Tanner ihn beim Arm nahm und zurück ins Separee unter den Arkaden führte, klang ihre süße Stimme immer noch in Flynn nach wie ein verträumtes Echo:

List to me, ye gentle fair; Cupid oft in ambush lies …

2. KAPITEL

Rose spähte durch einen Spalt im Vorhang auf die Herren, die sich vor dem Bühneneingang drängten. Manche hielten Blumensträuße in den Händen, andere wedelten mit Visitenkarten und riefen ihren Namen. Falls er sich in der Schar der Bewunderer befand – der Mann, der ihr so hingerissen gelauscht hatte – konnte sie ihn jedenfalls nicht ausmachen.

Sie wandte sich an ihren Vater. „Heute sind noch mehr gekommen.“

„Ich wusste von Anfang an, dass du Erfolg hast, Mary Rose.“ Alroy O’Keefe legte seine Oboe in den Instrumentenkasten.

„Ist es nicht fabelhaft?“ Die Frau, mit der er zusammenlebte, eine dralle Mitdreißigerin im tief ausgeschnittenen Kleid, war begeistert. „Jetzt haben wir freie Wahl.“

Rose furchte die Stirn. „Mir geht es nicht darum, freie Wahl zu haben, Letty. Ich will nur singen.“

Als sie vor vier Monaten unangemeldet an der Wohnungstür ihres Vaters geklopft hatte, wusste Rose nichts von Letty Dawes’ Existenz. In den Briefen, die ihr Vater ihr in die Mädchenschule in Killyleagh schrieb, hatte er Letty nie erwähnt, allerdings waren seine Briefe nie sonderlich ausführlich gewesen.

Jedenfalls war O’Keefe völlig überrascht und wohl auch etwas enttäuscht, dass Rose sich entschlossen hatte, in London als Sängerin aufzutreten. Er hatte ihr wiederholte Male geraten, an der Schule in Irland zu bleiben, auf die er sie nach dem Tod ihrer Mutter geschickt hatte, wo sie nach ihrem Abschluss eine Anstellung als Musiklehrerin gefunden hatte. Aber Rose hielt sich für den Beruf einer Lehrerin nicht geeignet. Sie brannte darauf, als Sängerin auf der Bühne zu stehen.

Wie ihre Mutter.

Ihre liebsten Erinnerungen waren die, als sie am Krankenbett ihrer Mutter saß und gespannt deren Erzählungen von den Londoner Bühnen lauschte, von den erhebenden Momenten, ein großes Orchester spielen zu hören, dem Lichterglanz, dem tosenden Applaus, und von ihrem größten Glück, als sie in King’s Theatre aufgetreten war. Die sieben Jahre als Internatsschülerin und weitere vier Jahre als Musiklehrerin hatten nicht ausgereicht, das Feuer zu löschen, das in Rose seit ihren Kindertagen loderte. Ihr innigster Herzenswunsch war es, in die Fußstapfen ihrer Mutter zu treten. Rose hatte jeden Penny zur Seite gelegt, bis sie genügend Geld gespart hatte, um die Reise nach London anzutreten.

Ihr Traum vom glücklichen Wiedersehen mit ihrem Vater platzte bereits in den ersten Minuten nach seinen Umarmungen und Küssen. Letty Dawes stand plötzlich im Zimmer und begann, nachdem sie sich von ihrem ersten Schreck erholt hatte, darüber zu lamentieren, dass sie es sich nur unter größten Entbehrungen leisten konnten, Rose bei sich aufzunehmen und zu verköstigen. Und über Roses Wunsch, auf einer Londoner Bühne zu singen, hatte sie nur schrill gelacht. Welches Theater schon ein unbedarftes irisches Mädchen engagieren würde, hatte Letty abfällig bemerkt.

Rose war zunächst der Meinung, ihr Vater sei mit Letty verheiratet, doch er hatte ihr erklärt, Theaterleute und Künstler lebten nach anderen Regeln der Moral, als sie es in der Schule gelernt hatte. Er und Letty mussten nicht verheiratet sein, um miteinander zu leben. Schließlich bot er Rose an, ihr die Rückreise nach Irland zu bezahlen, worauf Letty einen Wutanfall bekam und kreischte, diese Ausgabe würde sie ins Elend stürzen. Zwischen dem Paar entbrannte ein erbitterter Streit, in dessen Verlauf Rose völlig verwirrt aus dem Haus stürzte und sich schwere Vorwürfe machte, ihrem Vater zur Last zu fallen. Seither war einige Zeit vergangen, und mittlerweile war sie froh, Hals über Kopf davongerannt zu sein. Andernfalls hätte sie Miss Hart nie kennengelernt.

Denn Miss Hart war es, die sie nach Vauxhall Gardens gebracht hatte, an jenem denkwürdigen Abend, als Rose ihren Vater wiedersah und es zu einer tränenreichen Versöhnung kam. Anschließend stellte ihr Vater sie Mr Hook vor, dem Musikdirektor des Vergnügungsparks, der sie vorsingen ließ. Und zu ihrer großen Freude erklärte er sich bereit, sie auftreten zu lassen, wenn der Vater seine Einwilligung gab, da Rose noch nicht einundzwanzig war. Als die Zeit kam, Miss Harts Haus zu verlassen, kehrte Rose zu ihrem Vater und Letty zurück, die in ihr plötzlich eine lohnende Einnahmequelle sah. Um in Vauxhall singen zu dürfen, hätte Rose jede Strapaze auf sich genommen, also fügte sie sich auch in ein Zusammenleben mit Letty.

Bald musste sie auch das ungestüme Werben ihrer Bewunderer ertragen, die ihren Vater bedrängten, sie kennenzulernen. Das gehörte nun einmal zu ihrem Beruf, wie O’Keefe meinte.

Nun blickte er durch den Spalt im Vorhang. „Vielleicht ist diesmal ein adeliger Herr dabei. Dem musst du schöne Augen machen, wenn du vorwärtskommen willst.“

„Ja, genau“, fügte Letty hinzu und legte in heuchlerischer Vertraulichkeit den Arm um Roses Schulter. „Ein vornehmer adeliger Herr wäre ein Glücksfall. Du ahnst ja nicht, wie sehr du von einer solchen Bekanntschaft profitieren kannst, Rose. Manche Gönner kaufen sogar Häuser für ihre …“

Rose entwand sich der aufdringlichen Geste. Immerhin war sie nicht mehr so naiv wie bei ihrer Ankunft. In Miss Harts Haus hatte sie gelernt, wie Männer Frauen einschätzten, die es zur Bühne zog. Wo aber blieb die Liebe? Wo die Romantik?

„Diese Herren erwarten Gegenleistungen für ihre noblen Geschenke, zu denen ich nicht bereit bin“, erklärte Rose herablassend.

Letty lachte schrill. „Wen interessiert, wozu du bereit bist? Männer nehmen sich, was sie wollen, das war schon immer so. Und eine Frau ist gut beraten, auf ihren Vorteil zu achten, sonst ist sie verloren.“

Ihr Vater tätschelte seiner Tochter zärtlich die Wange. „Lass gut sein, Mary Rose“, sagte er leise. „Ich sorge dafür, dass du eines Tages das Leben einer feinen Dame führst. Ich gebe meine kleine Prinzessin keinem armen Schlucker, verlass dich darauf.“

Mit diesen Worten verschwand er nach draußen, und sie hörte ihn rufen: „Geben Sie mir Ihre Karten, meine Herren …“, bevor die Tür hinter ihm ins Schloss fiel.

Letty drohte ihr mit dem Zeigefinger. „Höre auf deinen Vater, Mädchen. Er handelt nur in deinem Interesse.“

Um nicht länger mit ihr reden zu müssen, spähte Rose wieder durch den Vorhang. Die Männer, die sich um ihren Vater scharten, wirkten im schwachen Schein der Laternen irgendwie gespenstisch, wie flatternde Fledermäuse. Rose fröstelte. Sollte Letty nur reden. Sie jedenfalls genoss ihren Erfolg als Sängerin. Nach der Saison in Vauxhall würde sie gewiss ein neues Angebot bekommen, und bald konnte sie selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen. Dann konnte sie es sich leisten, auf die Liebe zu warten.

Roses Finger am Vorhang schlossen sich zur Faust. So lange, bis ihr die wahre Liebe begegnete, wollte sie singen und sich gegen alle Pläne, die ihr Vater und Letty ausgeklügelt hatten, zur Wehr setzen.

Während sie durch den schmalen Schlitz im Vorhang spähte, fragte sie sich, ob eine dieser schattenhaften Gestalten der Mann sein könnte, der ihr vorhin aufgefallen war. Wäre er der Richtige? Der Mann, der sie lieben würde? Doch unter all den Herren, deren Visitenkarten und Geschenke ihr Vater einsammelte, konnte sie keinen entdecken, der infrage käme.

Letty trat hinter sie und zog den Vorhang weiter auf. „Dein Vater ist ein kluger Mann; er hält die Bewerber erst einmal hin. Das erhöht ihre Bereitschaft, mehr zu bezahlen in der Hoffnung, dich zu erobern.“ Sie machte eine Pause, und Rose spürte geradezu, wie das Räderwerk ihrer Gedanken sich drehte. „Aber nicht zu lange. Wenn sie über Gebühr warten müssen, kühlt das Interesse ab.“

Mittlerweile waren die Arme ihres Vaters beladen mit Blumen und kleinen Paketen, in einer Hand hielt er einen Stapel Visitenkarten. Er wandte sich zum Gehen, als ein Nachzügler vortrat. In der schwachen Beleuchtung konnte Rose ihn nur undeutlich sehen; er trug einen dunklen Gehrock und glich in etwa ihrem Bewunderer aus der ersten Reihe.

Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, die Knie wurden ihr weich.

Ihr Vater und die Schattengestalt wechselten ein paar Worte, bevor der Fremde sich nach einer eleganten Verneigung entfernte und Alroy O’Keefe die Garderobentür aufriss.

Er ließ die duftenden Blumen und Päckchen auf den Tisch fallen und wandte sich an Rose. „Nimm mir die oberste Karte ab.“

Sie zog die Karte heraus und las: „Marquess of Tannerton.“

Ihr Vater warf den restlichen Stapel achtlos auf den Tisch. „Ich gab ihm die Zusage, morgen um vier Uhr bei uns vorzusprechen.“

Lettys Augen glitzerten. „Das war der Marquess?“

„Ich bin mir nicht sicher“, antwortete ihr Vater mit einem ängstlichen Lächeln. „Ich war völlig verdattert, muss ich zugeben. Habe gar nicht richtig gehört, was er sagte. Ich hörte nur ‚Marquess‘ und lud ihn für morgen um vier Uhr ein.“ Er bedachte Rose mit einem nachsichtigen Blick. „Du musst diesen Marquess kennenlernen, Mary Rose.“

Sie sollte erfreut sein, das Interesse eines adeligen Herrn geweckt zu haben, doch es wollte sich keine Freude einstellen. Was immer zwischen einem Marquess und einer Sängerin geschehen könnte: Liebe hätte nichts damit zu tun.

Rose seufzte. Sie musste diesen Mann abweisen, durfte ihm keine Hoffnungen machen. Sie war zuversichtlich, sich genügend Kenntnisse im Umgang mit feinen Herren angeeignet zu haben, um unerwünschte Artigkeiten abzuwehren. Ihr lag nur daran, diesen Sommer in Vauxhall zu singen und Mr Hook davon zu überzeugen, dass er sie mit besten Empfehlungen an andere Theaterdirektoren der Stadt weiterreichte. Rose wollte singen, das nächste Mal vielleicht auf einer richtigen Bühne in einem richtigen Theater. Sie träumte davon, eines Tages Hauptrollen in Opern zu singen, Lobeshymnen über ihre Sangeskunst in allen Zeitungen zu lesen. Ihr Bild sollte auf Theaterplakaten prangen, Theaterdirektoren sollten erbitterte Konkurrenzkämpfe austragen, um ihr Haus mit der berühmten Sängerin Rose O’Keefe zu schmücken.

Bis es so weit war, wollte sie jeden Penny sparen, um sich eine eigene Wohnung leisten zu können, damit Letty nicht länger Anlass hatte, ihrem Vater vorzuwerfen, seine Tochter liege ihm auf der Tasche. Rose wollte den richtigen Platz im Leben finden und sich nicht mit faulen Kompromissen zufriedengeben. Keinesfalls wollte sie ihr Herz an einen Marquess verlieren, dem es nur um ein seichtes Vergnügen ging. Auch wenn er blendend aussah. Auch wenn ihr Blut bei seinem Anblick in Wallung geriet.

Um ihren Vater nicht zu enttäuschen, wollte sie ihn glauben lassen, sie füge sich seinen Wünschen.

„Ich werde den Marquess empfangen, Papa“, sagte sie.

Flynn stieg aus der Mietdroschke, ging zu Fuß die Langley Street entlang bis zu der Adresse, die O’Keefe ihm genannt hatte, und blieb schließlich vor einem schlichten Mietshaus stehen. Er holte tief Atem und ermahnte sich nicht zum ersten Mal, dass seine gestrige Schwärmerei für die Sängerin in Vauxhall seinem übermäßigen Arrakgenuss zuzuschreiben war. Mittlerweile hatte er wieder einen klaren Kopf.

Rose O’Keefe würde sich – ebenso wie Tanners frühere Eroberungen – als geschäftstüchtige junge Dame erweisen, die damit rechnete, ihren Preis in die Höhe zu treiben, wenn sie geschickt taktierte. Flynns Aufgabe bestand nicht zuletzt darin, dass Tanner keinen Penny mehr bezahlte, als sie wert war – und ihr Preis durfte nicht höher liegen als der ihrer Vorgängerinnen.

Vor der Haustür zog Flynn an den Manschetten seines Gehrocks, denn das äußere Erscheinungsbild war wichtig in solchen Verhandlungen. Er räusperte sich, öffnete die Tür und betrat einen dämmrigen Vorraum.

Nachdem seine Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, stieg er die Holztreppe hinauf und klopfte im ersten Stock an eine Wohnungstür. Als der Knauf gedreht wurde und die Tür langsam geöffnet wurde, verspürte er eine Enge um die Brust, als sei er von Mayfair nach Covent Garden gerannt.

Seine Beklommenheit wich, als Mr O’Keefe ihn in ein Zimmer mit abgewetzten Polstermöbeln führte, deren Schäbigkeit von einer verschwenderischen Blumenfülle auf jeder nur denkbaren Abstellfläche gemildert wurde. Flynn beglückwünschte sich, in weiser Voraussicht auf ein weiteres Blumenbouquet verzichtet zu haben. Er befühlte die Innentasche seines Gehrocks, in der er Tanners Mitbringsel verwahrte.

„Guten Tag, Sir.“ O’Keefe verneigte sich zum wiederholten Male. „Sehr erfreut über Ihren Besuch.“

„Guten Tag, Sir.“ Eine stark geschminkte Frau in einem grellgrünen Kleid mit gewagtem Ausschnitt versank in einen tiefen Knicks.

O’Keefe nahm dem Besucher Hut und Handschuhe ab und wies auf die üppige Frau. „Miss Dawes, eine gute Freundin von Rose und mir.“

Sie versank erneut in einen Knicks.

Die Unterwürfigkeit der beiden störte Flynn sehr, bis ihm dämmerte, dass sie ihn für Tanner hielten. „Bedauerlicherweise versäumte ich gestern Abend, Ihnen meinen Namen zu nennen. Ich bin Jameson Flynn, der Sekretär des Marquess of Tannerton …“

Roses Vater war sichtlich erleichtert. „Aha“, sagte er in beinahe normalem Tonfall und streckte Flynn die Hand entgegen. „Freut mich, dass Sie gekommen sind.“

Flynn schüttelte ihm die Hand. „Und ich freue mich, dass Sie mir gestatten, vorzusprechen.“

O’Keefe machte eine einladende Handbewegung, und Flynn nahm auf dem verschossenen Samtsofa Platz, während sein Gastgeber, ein spindeldürrer, untersetzter älterer Mann, sich auf einen Stuhl setzte.

„Ich komme im Auftrag des Marquess“, begann Flynn, „dem die schöne Stimme Ihrer Tochter in Vauxhall Gardens auffiel. Er möchte sie kennenlernen.“

O’Keefe hörte aufmerksam zu und nickte.

Flynn fuhr fort: „Es ist mir ein Anliegen, Miss O’Keefe die Grüße und Hochachtung des Marquess persönlich zu überbringen, wenn dies möglich ist.“

„Ich hole sie“, bot Miss Dawes eifrig an. „Ich verstehe gar nicht, wo sie bleibt.“

„Dafür bin ich Ihnen sehr verbunden.“ Flynn sah Miss Dawes hinterher, als sie eilig durch eine Seitentür verschwand.

„Rose!“, hörte er ihre scharfe Stimme.

Flynn furchte die Stirn.

„Sie wird jeden Moment hier sein“, meinte O’Keefe zuversichtlich.

Flynn hatte nicht vor, die Verhandlungen mit dem Vater zu führen. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass ein persönliches Gespräch mit der jeweiligen Dame zu schnellerem Erfolg führte.

„Da ist sie schon“, flötete Miss Dawes an der Tür und trat beiseite.

Rose O’Keefe bewegte sich so anmutig, dass sie über dem Boden zu schweben schien. Im hellen Tageslicht und aus der Nähe verschlug ihm ihre Schönheit den Atem. Ihr fein geschnittenes ovales Antlitz, umrahmt von rabenschwarzen Locken, wirkte beinahe transparent in seinem makellosen Elfenbeinschimmer. Aber noch faszinierender waren ihre Augen, von einem Grün wie die wogenden Hügel seiner irischen Heimat, das ihn verzauberte.

Flynn erhob sich zögernd.

Bevor er etwas hervorbrachte, sagte sie: „Und Sie sind?“

Ihr Vater sprang auf und trat neben sie. „Mary Rose, Mr Flynn ist der Sekretär des Marquess of Tannerton.“

Ihre faszinierend grünen Augen weiteten sich ein wenig.

Flynn verneigte sich. „Miss O’Keefe.“

Sie erholte sich rasch von ihrem Erstaunen. „Sie wollen mich sprechen, Sir?“

Er hörte den Hauch eines irischen Akzents, den sie offenbar nicht völlig abgelegt hatte. „Ich komme im Auftrag des Marquess …“

„Verstehe“, unterbrach sie ihn. „Was könnte ein Marquess von mir wünschen, worum er mich nicht persönlich bitten kann?“

Verdutzt blinzelte Flynn.

„Mary Rose!“, wies ihr Vater sie zurecht. „Hüte deine Zunge.“

„Tu gefälligst, was dein Vater sagt“, fauchte Miss Dawes.

Rose bedachte die Gefährtin ihres Vaters mit einem widerwilligen Blick. Die Sache nimmt keinen günstigen Verlauf, dachte Flynn. Allem Anschein nach wollten der Vater und diese vulgäre Person das Mädchen zu diesem Schritt zwingen. Tanner aber interessierte sich nicht für Frauen, die gezwungen wurden, sein Bett zu teilen. Flynn musste persönlich mit Miss O’Keefe verhandeln, um sich zu vergewissern, dass sie bereit war, sich auf den Handel einzulassen.

Im Augenblick machte sie allerdings keineswegs den Eindruck, zu irgendetwas bereit zu sein.

„Ich wünsche, mit Miss O’Keefe alleine zu sprechen, Sir“, sagte er leise, aber bestimmt.

O’Keefe machte ein unschlüssiges Gesicht.

Miss Dawes hingegen hob warnend den Finger. „Sei ein braves Mädchen.“ Damit schob sie den Vater aus dem Zimmer.

Flynn wandte sich an Miss O’Keefe, deren Blick seltsam gehetzt wirkte. „Ich möchte Sie nicht in Verlegenheit bringen, Miss“, sagte er leise.

Anmutig winkte sie ab. „Aber nein, das tun Sie keineswegs.“

Er schwieg, überlegte seine nächsten Worte.

Sie sprach zuerst. „Sind Sie aus einem bestimmten Grund gekommen, Mr Flynn?“ Ihre Stimme klang gepresst, in den Winkeln ihrer schön geschwungenen Lippen bildeten sich winzige Fältchen.

Flynn wurde stutzig. Diese junge Dame schien keineswegs an einem Antrag interessiert zu sein. „Ja, gewiss. Es handelt sich um Lord Tannerton.“

„Wollen Sie sich setzen, Sir?“, fragte sie verkrampft höflich.

Er neigte den Kopf und wartete, bis sie ihm gegenüber Platz genommen hatte, bevor er sich gleichfalls setzte.

„Was sagten Sie, Mr Flynn?“

Er begann erneut. „Ich sagte, der Marquess hörte Sie in Vauxhall singen …“

„Und Sie, Mr Flynn? Haben Sie mich ebenfalls singen gehört?“ Sie schien es regelrecht darauf anzulegen, ihn ständig zu unterbrechen.

„Ja, Miss O’Keefe, auch ich hatte das Vergnügen.“

Ein flüchtiges Lächeln umspielte ihre Lippen. „Hat Ihnen mein Gesang gefallen?“ Sie senkte den Blick, und er bewunderte ihre langen seidigen Wimpern.

„Sehr sogar“, antwortete er und hatte Mühe, einen klaren Kopf zu bewahren.

Sie faltete die Hände im Schoß. „Flynn … das ist ein irischer Name. Woher kommen Sie, Mr Flynn?“

Flynn war nicht daran gewöhnt, sich die Führung in einem Gespräch entziehen zu lassen, was ihn beinahe ebenso störte wie ihr offensichtliches Widerstreben, zum Punkt zu kommen. Beinahe so sehr, wie ihre Augen ihn verstörten.

„Woher ich komme?“, wiederholte er.

„Ja, aus welcher Gegend in Irland stammen Sie?“

Er konnte sich nicht entsinnen, wann ihm je diese Frage gestellt worden wäre. „Aus County Down, in der Nähe von Ballynahinch.“

Ihre bezaubernd grünen Augen blitzten. „Ich bin in Killyleagh zur Schule gegangen.“

„Genau wie meine Schwester.“ Die Antwort sprudelte ohne sein Zutun über seine Lippen.

„Ach ja?“ Sie wurde nachdenklich. „Heißt sie zufällig Siobhan? Zwei Klassen über mir gab es eine Siobhan Flynn.“

Siobhans Name trug ihn in Gedanken zurück nach Ballynahinch. Die kleine Siobhan. Sie war elf, als er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Wie alt mochte sie jetzt sein? Einundzwanzig?“

Das bedeutete, dass Miss O’Keefe nicht älter als neunzehn war. Kein Wunder, dass ihr Vater seine schützende Hand über sie hielt.

„Das könnte sie gewesen sein“, sagte Flynn.

In Roses Augen tanzten Funken. „Wie geht es ihr? Ich bekomme nur selten Nachricht von ehemaligen Schülerinnen.“

Flynn wurde mit einem Mal klar, dass er nur das über Siobhan wusste, was seine Mutter ihm in ihren Briefen mitteilte. „Sie ist verheiratet und hat zwei Söhne.“

Miss O’Keefe seufzte. „Wie schön für sie!“

Flynn nahm einen neuen Anlauf. „Um auf den Marquess zu kommen …“

„Ach ja, der Marquess.“ Ihre Stimme klang wieder gepresst. „Er hat Sie geschickt. Sie sind ja auch nicht gekommen, um mit mir über die Heimat zu sprechen.“

Heimat. Heimat. Das Wort hallte wie ein Echo in ihm nach.

„Der Marquess hat den Wunsch, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss O’Keefe. Er möchte Ihr Freund werden.“

„Mein Freund?“ Sie wandte den Blick ab. „Das weiß er bereits, obwohl er mich nur ein paar Lieder singen hörte?“

Er öffnete den Mund, um sie mit Komplimenten zu ködern, doch sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Schließen Sie rasch Freundschaften, Mr Flynn?“

„Ob ich rasch Freundschaften schließe?“, wiederholte er wie ein Einfaltspinsel. Es gefiel ihm keineswegs, dass sie ihn so mühelos abzulenken vermochte und er darüber vergaß, seinen Auftrag auszuführen.

Flynn zwang sich, ihrem Blick zu begegnen. „Seien Sie versichert, Miss O’Keefe, der Marquess wählt eine Freundin mit Bedacht und wird Sie nicht enttäuschen.“

Unbeirrt hielt sie seinem Blick stand. „Und schickt er jedes Mal Sie vor, um eine neue Freundin von ihrem Glück in Kenntnis zu setzen?“

Flynn zog die Brauen hoch. Sie schien sich keineswegs über Tanners Interesse zu freuen. Warum nur? Ihr Vater und dieses Frauenzimmer waren doch ganz begeistert von dieser Aussicht.

Es galt, sie davon zu überzeugen, dass sie mit Tanner als Gönner ein sorgenfreies Leben erwartete, in dem sie gewiss mehr Freiheiten genoss als im Haus ihres Vaters, wo sie offensichtlich von der keifenden Miss Dawes schikaniert wurde.

Er gab sich innerlich einen Ruck. „Der Marquess schaltet mich als Vermittler ein, um eine Dame von seinen aufrichtigen Absichten zu überzeugen.“ Er griff in die Innentasche seines Gehrocks. „Um seine Absichten deutlich zu machen, möchte der Marquess Ihnen ein kleines Geschenk überreichen.“

Flynn zog eine kleine Samtschatulle hervor. Mit einem ängstlichen Blick zur Tür, hinter der sie Miss Dawes und ihren Vater vermutete, legte Rose ihre Fingerspitzen abwehrend auf seinen Handrücken. „Keine Geschenke“, flüsterte sie, und ihr Blick flog erneut zur Tür. „Bitte.“

Flynns Arm verharrte in der Bewegung, die Berührung ihrer Finger schien seine Haut zu versengen. Er nickte stumm und schob das Etui wieder ein.

„Wie reizend. Über eine kleine Aufmerksamkeit würde ich mich freuen“, sagte sie nun honigsüß und mit erhobener Stimme.

„Es wird nicht lange auf sich warten lassen“, murmelte Flynn.

Rose faltete die Hände wieder im Schoß, ihr Atem ging flach und gehetzt. Ihre Finger prickelten von seiner Berührung, und ihr war, als würde sie innerlich schmelzen wie Bienenwachs.

Zu ihrer Erleichterung hatte er augenblicklich begriffen, dass ihr Vater und Miss Dawes nichts von einem Geschenk erfahren sollten. Hätte er ihren Wink nicht verstanden, würde Letty ihr tagelang in den Ohren liegen, sie müsse dem Marquess ein weiteres Geschenk abschwatzen. Und ihr Vater würde sie um des lieben Friedens willen bitten, Letty den Gefallen zu tun. Alle anderen Geschenke ihrer Verehrer landeten in Lettys Besitz oder wurden verschachert, um anderen billigen Tand zu kaufen, der ihr besser gefiel.

Rose wollte Mr Flynn ihre Dankbarkeit mit einem Blick zeigen, musste sich aber abwenden, um der Strahlkraft seiner leuchtend blauen Augen nicht zu erliegen.

Als Letty vorhin in ihre Kammer gestürmt war und erklärt hatte, der Sekretär des Marquess besuche sie, hatte Rose erleichtert aufgeatmet, da sie auf diese Weise nicht gezwungen war, dem Marquess ihre Absage persönlich zu erteilen. Denn sie hatte befürchtet, es handle sich um den Herrn, der ihr in Vauxhall aufgefallen war. Doch dann stellte sich heraus, dass der Mann, der sie bezaubert hatte, der Sekretär des Marquess war, aus Irland stammte und sich auch noch als Verbündeter erwies, was seinen Reiz auf sie nur noch erhöhte.

Er war ein blendend aussehender Mann mit seinem fesselnden Blick. Haar und Brauen waren dunkelbraun. Seine markant geschnittenen Gesichtszüge gefielen ihr, seine entschlossene Kinnpartie ließ auf Standhaftigkeit schließen, und sein voller Mund auf sinnliches Feingefühl. Was würde sie empfinden, wenn ihre Lippen die seinen berührten?

Rose schalt sich im Stillen. Sie durfte sich nicht in romantischen Schwärmereien verlieren. Dieser Mann war nicht gekommen, um ihr den Hof zu machen. Er war gekommen, um sie mit seinem Dienstherrn zu verkuppeln.

Und dennoch zogen seine blauen Augen sie unwiderstehlich in seinen Bann.

„Der Marquess ist ein großmütiger Mann, Miss O’Keefe“, sagte er.

Sie bedachte ihn mit einem flüchtigen Blick. „Mr Flynn, wieso all die schönen Worte? Warum sagen Sie nicht rundheraus, dass der Marquess mich zu seiner Mätresse machen will? Das ist doch die Art Freundin, die ich ihm sein soll?“

Ein Muskel vibrierte in Flynns Wange, sein Blick aber ruhte immer noch auf ihr. „Diese Freundschaft bringt Ihnen viele Vorteile. Er kann Sie fördern, Sie beschützen.“

Erneut sah Rose zur Tür, hinter der sie ihren Vater und Letty vermutete. Beide wünschten sich nichts sehnlicher als den Schutz des Marquess für Rose und sein Geld für den eigenen Bedarf.

Auch Flynn schaute zur Tür. „Brauchen Sie Schutz, Miss O’Keefe?“ Seine leise Stimme klang besorgt.

Verdutzt sah sie ihn an und lachte hell. „Ich bringe mich nicht leichtfertig in Gefahr, glauben Sie mir.“

Letty war eine boshafte Person, und ihr Vater stand völlig unter ihrem Pantoffel, aber Rose fürchtete nicht, dass die beiden ihr allzu strenge Vorschriften machen würden. Sie lebte gerne mit ihrem Vater zusammen, nach all den Jahren, in denen sie getrennt gewesen waren.

„Sie könnten dem Marquess gestatten, Ihre Karriere zu fördern“, sagte Flynn.

Rose wollte bereits nach seiner Hand greifen, um seine Besorgnis zu zerstreuen, bezähmte sich aber im letzten Moment. „Ich brauche keine Hilfe“, wehrte sie ab und fügte hinzu: „Mein einziger Wunsch ist zu singen …“

Er griff seinen Gedanken wieder auf. „Lord Tannerton könnte Sie fördern …“

Abwehrend hob sie die Hand und bedauerte ihre naive Offenheit. „Ich brauche keine Hilfe. Machen Sie sich um mich keine Sorgen.“

Ihre Blicke trafen sich, verschmolzen miteinander, und plötzlich flatterten tausend Schmetterlinge in ihrem Bauch.

„Danken Sie dem Marquess in meinem Namen“, sagte sie mit lauter Stimme. „Ich habe mich über Ihren Besuch gefreut.“ Damit erhob sie sich und ging zur Wohnungstür.

Flynn blieb einen Moment unschlüssig stehen, ehe er ihr folgte. „Ich begreife Sie nicht, Miss O’Keefe“, flüsterte er eindringlich. „Wieso zögern Sie?“

Sie reichte ihm Hut und Handschuhe. „Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, Mr Flynn.“ Damit öffnete sie die Tür.

Er machte Anstalten zu gehen, drehte sich jedoch noch einmal um und ergriff ihre Hand. „Ob es Ihnen gefällt oder nicht, Miss O’Keefe, Sie haben einen Freund gewonnen.“

Schnell gab er ihre Hand wieder frei und eilte die Treppe hinunter. Rose legte die Finger an ihre Wange und wünschte, dieser Freund wäre nicht der Marquess, sondern Mr Flynn.

3. KAPITEL

Unten auf der Straße blieb Flynn verwirrt stehen, um sich zu sammeln. In Verhandlungen, bei denen es um hohe Summen in schwierigen Geschäftsabschlüssen ging, hatte er eine bessere Figur gemacht. Aber heute war ihm alles aus dem Ruder gelaufen. Schlimmer noch, in ihm tobte ein wirrer Aufruhr. Ein Blick auf das Mädchen hatte genügt, um seinen Verstand zu benebeln, und er hatte sich benommen wie ein erbärmlicher Einfaltspinsel.

Ohne zu wissen, welche Erklärung er Tanner für sein Unvermögen geben sollte, rückte er sich den Hut gerade und machte sich auf den Weg nach Covent Garden, um eine Mietdroschke zu nehmen.

„Mr Flynn!“, rief eine Stimme hinter ihm.

Er drehte sich um und entdeckte O’Keefe, der hinter ihm herlief. Flynn blieb stehen.

„Letty meint“, keuchte er atemlos, „… das heißt, ich möchte Sie kurz sprechen.“

Flynn wartete schweigend.

„Sagen Sie … dem Marquess bitte, wie geschmeichelt wir uns fühlen … also meine Tochter … über sein wohlwollendes Interesse.“

„Das werde ich ihm gern bestellen.“ Allerdings war es eine glatte Lüge. Die Tochter schien keineswegs geschmeichelt zu sein.

O’Keefe verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. „Meine Rose ist im Grunde ein vernünftiges Mädchen“, sagte er, und seine Augen leuchteten liebevoll. „Sie braucht nur etwas Bedenkzeit. Ich werde ihr gut zureden.“

Flynn betrachtete den hageren alten Mann, den ein heftiger Windstoß fortgeweht hätte, und hatte erhebliche Zweifel daran, dass er seine Tochter zu irgendetwas überreden könnte. Der unerträglichen Miss Dawes hingegen traute er in dieser Hinsicht erheblich mehr Durchsetzungskraft zu.

„Ich muss gehen.“ Flynn setzte sich in Bewegung.

„Versuchen Sie es noch einmal, Sir“, rief O’Keefe ihm nach.

„Ich werde den Marquess davon unterrichten“, warf Flynn ihm über die Schulter zu und eilte im Laufschritt zu den wartenden Mietdroschken.

Kurz darauf betrat er Tanners Stadthaus in der Audley Street und tauchte ein in die Pracht des Herrenhauses eines englischen Hocharistokraten.

„Seine Lordschaft erwartet Sie im Billardzimmer“, ließ der Diener, der ihm die Haustür öffnete, ihn wissen.

Es blieb ihm also keine Zeit, sich zu sammeln und sich eine plausible Erklärung für diese haarsträubende Begegnung mit Miss O’Keefe zurechtzulegen.

„Danke, Smythe.“ Flynn reichte ihm Hut und Handschuhe und begab sich den Flur entlang zum Billardzimmer.

Tanner stand über den Tisch gebeugt und bereitete sich auf einen Stoß vor. Flynn blieb auf der Schwelle stehen, bis der weiße Ball gegen einen roten stieß, der über die grüne Filzbespannung rollte und zielgenau in der linken Tasche am anderen Ende verschwand.

„Flynn!“ Tanner winkte ihn zu sich. „Erzählen Sie! Ich platze vor Neugier. Konnte kaum einen anderen Gedanken fassen.“

Tanner machte es sich in einem Ledersessel vor dem Fenster bequem und wies Flynn mit einer Handbewegung an, zwei Gläser aus der Karaffe auf der Anrichte einzuschenken.

„Und? Haben Sie mit ihr gesprochen?“, fragte er, als Flynn ihm ein Glas Rotwein reichte. „Dumme Frage, natürlich, sonst wären Sie längst zurück. Was hat sie gesagt? Hat ihr das Geschenk gefallen? Was haben Sie eigentlich für sie gekauft?“

Flynn schenkte sich selbst ein Glas ein, ohne sich zu setzen. „Ein goldenes Armband.“

„Und?“

Flynn hob das Glas, bevor er antwortete. „Sie lehnte es ab.“

Neugierig beugte Tanner sich vor. „Sie lehnte es ab?“

„Ich fürchte ja, Mylord“, bestätigte Flynn.

Tanner machte eine wegwerfende Handbewegung. „War wohl das falsche Geschenk. Aber Sie haben ihr hoffentlich versichert, dass weitere Geschenke folgen. Und wie sieht es mit einer Verabredung aus?“

Flynn wandte den Blick ab.

Der Marquess lehnte sich zurück. „Sagen Sie bloß nicht, sie weigert sich, mich kennenzulernen.“

„Sie hat sich eigentlich nicht direkt geweigert, aber auch nicht zugestimmt.“

Flynns diplomatisches Geschick, das ihn bei Miss O’Keefe so gründlich im Stich gelassen hatte, stellte sich im Gespräch mit seinem Dienstherrn allmählich wieder ein.

Ungeduldig zog Tanner die Brauen hoch. „Was, zum Teufel, ist dann passiert? Worüber haben Sie mit ihr gesprochen?“

Über unser Zuhause. Über Irland. Flynn hütete sich allerdings, ihm diese Antwort zu geben. „Ich legte ihr die Vorzüge Ihrer Freundschaft dar, und sie hörte mir zu.“

„Ist das alles?“ Verständnislos zog der Marquess die Stirn kraus.

„Das ist alles.“

Tanner nahm einen Schluck Wein und noch einen und leerte das Glas, bevor Flynn daran genippt hatte. Er griff nach der Karaffe. „Darf ich nachschenken, Sir?“

Tanner schüttelte zunächst den Kopf, dannjedoch hielt er seinem Sekretär das leere Glas hin. „Die Dame spielt um hohe Einsätze. Ein Goldarmband? Sie waren zu geizig, mein Guter. Sie will mehr und weiß, dass sie es bekommt!“ Er lachte. „Bringen Sie ihr ein wertvolles Geschenk.“

Flynn füllte Tanners Glas, scheute sich aber, ihm zu erklären, dass es nicht so einfach sei, Miss O’Keefe ein Geschenk zu überreichen.

„Bringen Sie ihr beim nächsten Besuch Smaragdschmuck, passend zu ihren Augen. Einen Smaragdring!“ Tanners Augen blitzten vergnügt. „Ach, zum Teufel, bieten Sie ihr eine Apanage an – eine großzügige Summe. Machen Sie ihr klar, dass ich bereit bin, ihren Preis zu bezahlen.“

In einer normalen Geschäftsverhandlung hätte Flynn ihm geraten, kein überhöhtes Angebot zu machen und in kleinen Schritten vorzugehen. In Gedanken an Rose O’Keefes Situation wünschte er sich freilich, das junge Mädchen möglichst schnell aus den Klauen dieser tyrannischen Miss Dawes zu befreien.

Flynn nickte. Sein Herz klopfte schneller bei der Aussicht, sie wiederzusehen, wenn auch nur als Vermittler. Er konnte ihr Bild nicht aus seinem Gedächtnis verbannen, die sinnliche Anmut ihrer schlanken Figur, ihren verführerischen Kirschmund, ihre strahlend grünen Augen; alles an ihr hatte ihn in ihren Bann gezogen.

Kurz darauf zog er sich zurück. Es gab viel zu tun, um den nächsten Schritt der Werbung des Marquess um die schöne Sängerin vorzubereiten.

Bereits am nächsten Abend stand Flynn wieder in der Rotunde in Vauxhall Gardens und lauschte dem süßen Klang von Rose O’Keefes Sopran. Er hatte einen Tisch für drei Personen in einem Separee reserviert und ihrem Vater ein Billet zukommen lassen mit der Bitte, seine Tochter nach ihrem Auftritt in die Loge zu begleiten, wenn Signor Rivolta, ein Künstler, der sechs oder acht Instrumente gleichzeitig spielte, an der Reihe war. Flynn zweifelte nicht daran, dass Mr O’Keefe dem Treffen zustimmen würde.

Sie trug wieder das burgunderfarbene Kleid, rot wie die Glut der Leidenschaft, das ihren hellen Teint rosig schimmern ließ. Flynn redete sich ein, er bewundere ihre Schönheit auf die gleiche Weise, wie er die Schönheit einer Blume oder eines Gemäldes bewundern würde. Ja, er verstieg sich sogar zu der poetischen Schwärmerei, ihre Schönheit erinnere ihn an das goldene Licht eines Sonnenuntergangs in Ballynahinch.

Er blieb, bis sie sich ein letztes Mal verneigt hatte und hinter der Bühne verschwunden war. Erst dann begab er sich in den Arkadengang, um zu prüfen, ob alles im Separee seinen Wünschen gemäß angerichtet war – ein leichtes Souper erlesener Delikatessen, Früchte, Süßigkeiten und Champagner. Anschließend wanderte er ruhelos in den Arkaden auf und ab, und jedes Mal, wenn das Orchester eine Pause machte, stockte ihm der Atem.

Schließlich verstummte das Orchester endgültig. Das Konzert war zu Ende. Flynn begab sich in die Loge, und bald kündigte sich die Ankunft der O’Keefes an. Zu seinem Schrecken hörte er als Erstes Miss Dawes’ aufdringliche Stimme, bei deren schrillem Klang sich ihm die Nackenhaare sträubten. Er hätte wissen müssen, dass sie sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen würde.

„Benimm dich gefälligst, mein Fräulein. Ich lasse nicht zu, dass du deinem Vater Kummer machst …“ Als sie Flynn entdeckte, schlug ihr Gezeter in honigsüße Flötentöne um. „Mr Flynn! Wie reizend, Sie zu sehen“, säuselte sie.

„Guten Abend“, grüßte Flynn in die Runde. Als er sich an die schlanke, in ein bodenlanges Cape gehüllte Gestalt wandte, klang seine Stimme belegt. „Miss O’Keefe.“

Sie nickte. „Mr Flynn.“

„Sehr freundlich von Ihnen, Sir.“ O’Keefe betrat die Loge in vorgebeugter Haltung und zögerte, bevor er Flynns ausgestreckte Hand ergriff. O’Keefes Finger waren knochig, aber sein Händedruck war fest und warm.

„Sehr freundlich“, murmelte er noch einmal und wandte sich an seine Tochter. „Nicht wahr, Mary Rose?“

Sie bedachte ihren Vater mit einem stummen Blick und wandte sich an Flynn. „Ist der Marquess auch anwesend?“

Dem Vater und Miss Dawes war die hoffnungsvolle Erwartung deutlich anzusehen, während Miss O’Keefe immer noch keine Spur von Begeisterung zeigte.

„Der Marquess ist leider durch anderweitige Verpflichtungen verhindert“, schwindelte Flynn in diplomatischer Höflichkeit. „Setzen wir uns zu einem kleinen Souper.“

O’Keefe näherte sich dem runden Tisch, vornehm gedeckt mit Damasttuch, feinem Porzellan, Silber und Kristallgläsern. Flynn rückte Miss O’Keefe einen Stuhl zurecht, winkte einen Diener herbei und bat um ein viertes Gedeck. Dann wurde das Essen serviert. Zarter Kapaun, gefolgt von einer Auswahl würziger Käse und Früchte. Der Diener entkorkte eine Flasche Champagner und füllte vier Gläser.

„Oh, Perlwein!“, rief Miss Dawes entzückt. „Ich liebe Perlwein. Der kitzelt so schön in der Nase.“

Rose nippte an ihrem Glas und beobachtete peinlich berührt, wie Letty sich den Teller aufhäufte und tüchtig zulangte, als habe sie noch nicht zu Abend gegessen. Mr Flynn hat eine gute Wahl getroffen, dachte Rose. Alles schmeckte ausgezeichnet, und die Kirschen und Erdbeeren waren süß und saftig.

Flynn saß neben ihr, und Rose spürte, dass ihr seine Nähe sehr bewusst war. Irgendwie war sie froh, seine Augen nicht sehen zu können, denn wenn sie ihm in die Augen sah, fiel ihr das Denken schwer.

Signor Rivoltas virtuose musikalische Darbietungen drangen bis zu den Arkaden herüber, doch seine fröhlichen Melodien auf verschiedenen Instrumenten vermochten die verkrampfte Stimmung in der kleinen Loge nicht aufzuheitern.

„Wann macht der Marquess unserer Rose einen Antrag?“, fragte Letty unverblümt.

Rose erstarrte. Sie schämte sich entsetzlich, dass Flynn sie mit dieser taktlosen Frau in Verbindung bringen musste.

Flynn zögerte kurz, bevor er die Antwort an ihren Vater richtete. „Von einem Antrag zu sprechen wäre verfrüht, Sir. Aber ich würde gerne mit Miss O’Keefe über ein mögliches Treffen sprechen.“

„Er wird ihr einen Antrag machen, da bin ich mir ganz sicher“, mischte Letty sich wieder ein und deutete mit der Gabel auf Rose. „Sehen Sie sich das Mädchen doch an! Welcher Mann könnte unserer hübschen Rose widerstehen?“

Und dann griff sie auch noch über den Tisch und tätschelte Roses Wange, die sich zwingen musste, nicht unter der Berührung zurückzuweichen.

„Mir liegt das Wohl meiner Tochter am Herzen“, ergriff O’Keefe das Wort, den die anbiedernde Art seiner Lebensgefährtin nicht zu stören schien. „Und ich lege großen Wert auf ernsthafte Absichten eines Bewerbers.“

Rose verabscheute es, dass über sie geredet wurde, als sei sie eine Handelsware.

Flynn legte die Gabel beiseite. „Ich habe den Auftrag, Ihnen, Mr O’Keefe, mitzuteilen, dass der Marquess mit Ihrer Tochter persönlich zu sprechen wünscht, um sicherzustellen, dass sein Interesse erwidert wird, bevor er weitere Verhandlungen führt. Dafür haben Sie sicher Verständnis.“

Roses Vater furchte die Stirn. „Aber ich muss meine Zustimmung zu etwaigen Abmachungen geben. Ich bin schließlich für sie verantwortlich, Sir.“

„Sie weiß, was wir von ihr erwarten“, fügte Letty hinzu.

Rose wusste genau, was Letty erwartete, nämlich möglichst viel Geld in ihrer eigenen Tasche. Die Motive ihres Vaters waren zwar weniger selbstsüchtig, aber genauso geschmacklos.

„Wir sprechen später darüber“, sagte Flynn, an O’Keefe gerichtet.

Rose gefiel die Art, wie er einfach über Lettys Kopf hinweg redete, als habe sie in dieser Angelegenheit nichts zu sagen, was im Grunde ja auch stimmte.

„Rose ist noch sehr jung“, gab ihr Vater zu bedenken und klang aufrichtig besorgt.

Flynn warf ihr einen fragenden Blick zu, den sie nicht zu deuten wusste. „Ich sorge dafür, dass Ihre Tochter nicht zu Schaden kommt.“ In seinen Augen lag ein seltsamer Ausdruck, der ihr die Hitze in die Wangen trieb.

Sie senkte den Blick auf ihren Teller, verwirrt, dass dieser Mann sie, ohne ein Wort zu sagen, aus der Fassung bringen konnte.

Nach Signor Rivoltas virtuosen Darbietungen setzte Applaus ein. Bald würde das Orchester zum Tanz aufspielen.

„Ich muss wieder auf die Bühne.“ O’Keefe erhob sich.

Flynn stand gleichfalls auf. „Miss Dawes möchte Sie gewiss begleiten.“ Er trat hinter ihren Stuhl und war ihr beim Aufstehen behilflich, ohne ihr Gelegenheit zum Widerspruch zu geben. „Ich werde Ihnen Miss O’Keefe am Ende des Abends wohlbehalten bringen.“

Flynn begleitete das Paar aus der Loge, kehrte an den Tisch zurück und setzte sich diesmal Rose gegenüber.

Erstaunt sah sie ihn an. „Sie haben eine große Überzeugungsgabe und eine silberne Zunge, Mr Flynn. Letty wäre lieber geblieben, das war ihr deutlich anzusehen.“

Er runzelte die Stirn. „Das ist nur eines meiner Talente“, entgegnete er zerstreut.

Wieder brachte er sie aus der Fassung, und sie fragte sich, wieso er plötzlich so finster dreinblickte. Sie biss in eine Erdbeere und leckte den Saft von den Lippen.

Flynns Augen verdunkelten sich, und seine Miene wurde noch ernster.

Rose stutzte. Hatte sie sein Interesse geweckt? Ein beunruhigender Gedanke.

Sie trank einen Schluck Champagner und beobachtete ihr Gegenüber unter halb verhangenen Lidern. Hastig griff er nach seinem Glas und trank es in einem Zug aus.

Rose fühlte sich benommen.

Durchdringend sah er sie an. „Wir müssen reden, Miss O’Keefe.“

Sie aber wollte lieber ein wenig mit ihm flirten, beugte sich vor im Wissen, dass sie ihm einen tiefen Einblick in ihren Ausschnitt gewährte. „Wollen Sie mich nicht Rose nennen?“

Sein dunkler Blick ruhte auf ihr. „Rose“, wiederholte er mit tiefer Stimme, bei deren Klang sie ein Prickeln durchrieselte.

Seine Augen waren tiefblau wie die irische See, und die Luft schien zu knistern, als ihre Gesichter einander noch näher kamen.

Ein offenbar angetrunkener Nachtschwärmer torkelte in die Loge und stieß beinahe den Tisch um. Er wurde zwar schleunigst von dem Diener hinausbefördert, doch die knisternde Spannung zwischen den beiden war gebrochen.

Entschuldigend zog Flynn die Braue hoch. „Verzeihen Sie diesen lästigen Zwischenfall.“

Rose hoffte, er meinte den Betrunkenen. „Dafür können Sie doch nichts.“

Er sah sie wieder mit diesem verwirrend dunklen Blick an. „Nein, dafür kann ich nichts.“ Unvermutet schlug er einen sachlichen Ton an. „Zurück zum Marquess …“

Rose aber wollte diese neue, berauschende Stimmung festhalten. Sie fasste Mut und legte ihm die Hand auf den Arm. „Lassen Sie uns jetzt nicht über den Marquess sprechen und lieber die wunderschöne Nacht genießen.“

Er starrte auf ihre Hand, dann hob er langsam den Kopf. „Ihr Vater …“

„Ich sage meinem Vater einfach, ich hätte Sie mit meiner Antwort auf einen späteren Zeitpunkt vertröstet.“ Sie drückte seinen Arm. „Was meinen Sie? Wollen wir einen Spaziergang durch den Park machen? Ich habe noch kaum etwas von Vauxhall gesehen. Eigentlich kenne ich nur den Musikpavillon und die Rotunde.“

Wieder sah er sie in seiner seltsamen Art an und atmete hörbar aus. „Wie Sie wünschen.“

Mit klopfendem Herzen leerte sie ihr Champagnerglas, nahm ihn bei der Hand und zog ihn aus der Loge. Unter den Arkaden bot er ihr seinen Arm. „Haken Sie sich bei mir unter, Rose. Ich muss Sie beschützen.“

Seine Vorsicht war nicht unbegründet. Bei Nacht war der Vergnügungspark für Frauen ohne männliche Begleitung ein gefährlicher Ort. Rose nahm gern seinen Arm, nicht weil sie sich ängstigte, sondern weil sie es genoss, das Spiel seiner Muskeln unter dem Stoff zu spüren.

Sie tauchten in den Strom der Flaneure ein, die in dieser lauen Sommernacht Erholung und Zerstreuung suchten. Die Klänge des unermüdlich spielenden Orchesters wehten leise im Abendwind herüber. Die bunten Lampions und Gaslaternen leuchteten wie Sterne. Flynn führte sie durch einen weiteren Arkadengang, dessen bemalte Holzwände die Ruinen von Palmyra darstellten, und zeigte ihr einen Tempel mit allegorischen Figuren aus Gips. Sie spazierten einen Kiesweg entlang, vorbei an dem großen Springbrunnen, dessen Fontänen im Licht der bunten Lampions glitzerten wie Kristallregen. Alles, was Flynn noch vor zwei Abenden als billige Jahrmarktskulisse erschienen war, übte nun einen magischen Zauber auf ihn aus. Er stand wieder unter dem Bann dieser jungen Frau, wobei ihm die letzten Worte ihres Vaters zu denken gaben, der sie behandelte, als habe sie noch bis vor Kurzem die Schulbank gedrückt.

Als sei sie eine Unschuld.

Sollte sie tatsächlich noch unberührt sein, wären die Verhandlungen am Ende. Selbst wenn Tanner ein unberührtes Mädchen akzeptierte – was auszuschließen war –, würde Flynn sich weigern, den Vermittler zu spielen. Der Gedanke war irgendwie erleichternd. Es wäre das Ende seiner Schwärmerei, die ohnehin zu nichts geführt hätte.

Sie blieben am Springbrunnen stehen, und Rose tauchte die Finger ins kühle Wasser, in einer spielerisch lasziven Geste, die Flynn den Gedanken an ihre Unschuld verwerfen ließ.

„Rose! Rose!“ Eine junge Frau, deren wogender Busen aus dem tiefen Ausschnitt zu springen drohte, eilte ihr entgegen. Unter ihrem bunten Blumenhut quoll eine flammend rote Lockenfülle hervor. Ein Herr reiferen Alters versuchte, Schritt mit ihr zu halten. „Rose, wie schön, dich endlich zu sehen!“ Die beiden jungen Frauen umarmten einander. „Ich hörte dir jeden Abend zu, seit du hier singst. Doch ich habe es nie geschafft, mit dir zu sprechen.“

„Katy.“ Rose presste ihre Wange an die ihrer Freundin. „Du hast mir gefehlt.“

Katy löste sich aus ihren Armen und musterte Flynn, der sich vorkam wie eine Sahnetorte in einer Konditorei, von Kopf bis Fuß. „Und wer ist dein Begleiter?“

„Das ist Mr Flynn.“ Rose wandte sich ihm zu. „Meine beste Freundin, Katy Green.“

Flynn schaffte es irgendwie, sich seinen Schreck nicht anmerken zu lassen. Auf ihre Freundin passte keine treffendere Bezeichnung als ein Mädchen von der Straße – eine Dirne. Kein unberührtes Mädchen würde eine Frau wie Katy Green mit solcher Herzlichkeit begrüßen.

Er verneigte sich. „Ich bin entzückt, Miss Green.“

Die junge Frau lachte kehlig und wandte sich wieder an Rose. „Wo hast du den denn aufgegabelt? Ein richtig feiner Pinkel, darauf wette ich.“

„Oh, Mr Flynn ist ein sehr bedeutender Mann.“ Rose warf ihm einen amüsierten Seitenblick zu. „Aber es ist nicht so, wie du denkst, Katy.“

„Ist es nicht?“ Die Dirne machte ein skeptisches Gesicht. „Wie schade …“

Während die Freundinnen über Bekannte plauderten, stand Flynn verlegen neben dem älteren Herrn. Er kannte den leicht verlotterten Aristokraten, über den gemunkelt wurde, er stecke in finanziellen Schwierigkeiten. „Guten Abend, Sir Reginald.“

Der Herr war immer noch ein wenig atemlos von der großen Eile. „Flynn, nicht wahr? Tannertons Sekretär, wenn ich nicht irre.“

„Ganz recht, Sir.“

Sir Reginald knuffte ihn in die Rippen. „Na, Sie sind wohl auch kein Kostverächter, mein Junge? Rose ist ein wahrer Leckerbissen.“

Flynn blieb eine Antwort schuldig. Er war völlig konfus. Rose O’Keefe war gewiss kein Unschuldslamm, wenn Sir Reginald, der kein hohes Ansehen in der vornehmen Welt genoss, sie kannte. Und außerdem nannte sie eine Dirne ihre beste Freundin. Das also war ihre Welt. Und diese zeigte sich in mancher Hinsicht – in der Art, wie sie sich bewegte, wie sie die Hüften schwang, in ihren koketten Blicken, dem Timbre ihrer Stimme. Sie strahlte eine Sinnlichkeit aus, die das Verlangen eines Mannes weckte, ihn verhexte; das verspürte Flynn am eigenen Leib. Aber sie weckte in ihm auch eine schmerzliche Sehnsucht nach den grünen Hügeln von Irland, nach der Liebe seiner Familie, nach unbeschwerten Kindertagen in Ballynahinch. Wie sollte er sich diese zwiespältigen Gefühle erklären?

Trugbilder, nichts als Illusion, sagte er sich, und das nicht zum ersten Mal. Wie dem auch sei, das alles durfte keine Bedeutung für ihn haben. Rose O’Keefe durfte ihn nicht interessieren.

„Ich vertrete lediglich Lord Tannerton“, erklärte er Sir Reginald.

„Aha!“ Der ältere Mann zwinkerte ihm vertraulich zu.

Flynn beschlich das Gefühl, als zertrete der abgehalfterte Lebemann mit dieser anzüglichen Geste eine frisch erblühte Blume. Eine Rose.

Eine Glocke kündigte den baldigen Beginn des Feuerwerks an.

„Kommt“, rief die rothaarige Katy. „Wir wollen uns einen guten Platz sichern!“ Sie nahm Sir Reginalds Arm und schleppte ihren Begleiter mit sich.

Flynn wartete, bis die beiden von der Menge verschluckt wurden. Er wollte mit Rose allein sein, wollte sich die Illusion noch eine Weile bewahren, auch wenn Rose ihm nichts bedeuten durfte.

Rose hakte sich wieder bei ihm unter, und sie schlenderten den Kiesweg entlang, ohne sich von dem Drängen der Neugierigen beirren zu lassen, die versuchten, einen möglichst guten Platz zu ergattern. Flynn fand es beinahe selbstverständlich, den Arm um sie zu legen und sie nahe an seine Seite zu ziehen, um sie im Gewühl nicht zu verlieren.

Die erste Leuchtrakete fuhr fauchend himmelwärts, zerbarst in einem glitzernden Funkenregen, der in weiten funkelnden Bögen zur Erde rieselte und verglühte. Und dann folgten die Explosionen der Feuerwerkskörper dicht aufeinander. Knallende Böllerschüsse übergossen den Nachthimmel unaufhörlich mit bunten Sternenfontänen, die sich ineinander woben wie Verspiegelungen eines Kaleidoskops.

„Ahhh!“ Voller Begeisterung hob Rose das Gesicht dem Wunderwerk des glitzernden Lichtermeeres entgegen.

Die Kapuze war ihr in den Nacken gerutscht, und ihre Blicke begegneten einander. Das Funkeln des Sternenregens spiegelte sich in ihren Augen. Flynn war verzaubert, verloren. Er fürchtete, im Glanz ihrer Augen zu ertrinken. Er neigte den Kopf, sie hob ihm ihr Gesicht entgegen, bis sie einander ganz nahe waren. Flynn verzehrte sich danach, ihre vollen Lippen zu berühren, von ihrem Mund zu kosten, sie an sich zu pressen. Sein Körper verlangte nach ihr, wollte sie besitzen.

Er zwang sich, den Blick von ihr zu lösen.

Was dachte er sich eigentlich dabei? Diese Frau gehörte Tanner, er hatte ihr bereits sein Siegel eingebrannt. Wenn Flynn sich weiterhin erdreistete, sie so begehrlich anzusehen, konnte er gleich sein Todesurteil unterschreiben.

Tanner mochte zwar ein liebenswürdiges Wesen an den Tag legen – er war schließlich ein wohlerzogener Aristokrat –, fühlte er sich allerdings angegriffen oder hintergangen, verwandelte er sich in einen gnadenlosen Gegner. Würde Flynn es wagen, sich Freiheiten bei einer Frau herauszunehmen, die Tanner für sich beanspruchte, riskierte er nicht nur seine Stellung als Sekretär, sondern würde damit seine Zukunft gründlich ruinieren.

Ihr Lächeln schwand, und sie wandte sich wieder dem Feuerwerk zu. Trotz aller Bedenken brachte Flynn es nicht über sich, seinen Arm von ihrer Mitte zu nehmen. Sie fühlte sich weich und warm an. Am liebsten hätte er sie für immer so gehalten.

Doch dann erloschen die letzten Funken des Feuerwerks. Vereinzelte Rauchschwaden durchzogen die Nacht und verpesteten die Luft, während die Zuschauer sich langsam zerstreuten. In der Ferne entdeckte Flynn ihre rothaarige Freundin, die Sir Reginald hinter sich her zog.

„Ich muss Sie zu Ihrem Vater bringen.“ Widerstrebend löste er sich von ihr.

Rose – nein, für ihn war und musste sie Miss O’Keefe bleiben – nickte und legte sittsam ihre Hand in seine Armbeuge. Dennoch zögerte er, sie zum Bühneneingang der Rotunde zu bringen. Er wollte den Abschied hinauszögern.

An der Tür blieb sie stehen und wandte sich ihm zu. „Vielen Dank, Mr Flynn, für den Rundgang und das herrliche Feuerwerk. Das werde ich nie vergessen.“

Nein, er konnte sie noch nicht gehen lassen. Es war zu früh.

Er hatte ihr den Smaragdring nicht überreicht. Und er hatte an diesem Abend kein Wort darüber verloren, dass Tanner den Wunsch hatte, ihr Gönner zu werden. Nichts von dem, was sein Dienstherr ihm aufgetragen hatte, hatte er gesagt oder getan.

Aber nicht einmal Tanners Enttäuschung über seine Pflichtvergessenheit vermochte Flynn in diesem Moment zur Vernunft zu bringen.

„Miss O’Keefe, darf ich Sie morgen wiedersehen?“ Morgen würde er den Auftrag seines Dienstherrn pflichtgemäß erledigen.

Sie blickte ihm in die Augen, ohne zu antworten. Dann holte sie tief Atem, als habe sie einen Entschluss gefasst. „Nicht in unserer Wohnung. Was halten Sie von einem Ausflug in den Park?“

Er nickte. „Zwei Uhr?“ Sie und er gehörten einer Gesellschaftsschicht an, die in den späten Nachmittagsstunden nichts im Park verloren hatten, wenn die elegante Welt sich dort einfand.

„Zwei Uhr“, wiederholte sie.

„Da ist sie ja!“, rief eine dunkle Stimme, und andere Stimmen fielen ein.

Eine Gruppe Männer steuerte auf die beiden zu. Flynn klopfte laut an die Tür, die augenblicklich geöffnet wurde, und Rose huschte hinein.

Dann trat er den Männern entgegen, unangemessen gereizt über deren Aufdringlichkeit, unangemessen besitzergreifend. Wäre er am ersten Abend nicht in Tanners Begleitung gewesen, hätte er sich jetzt wohl im Kreis dieser Bewunderer befunden. „Belästigen Sie Miss O’Keefe nicht länger. Die Dame ist bereits vergeben.“

Unter mürrischen Unmutsbekundungen zerstreuten sich die Verehrer, bis auf einen Herrn im eleganten Frack, der nur in Westons Atelier maßgeschneidert sein konnte. Flynn erkannte in ihm den Earl of Greythorne.

„Sie stehen in Tannertons Diensten, habe ich recht?“, fragte der Earl.

„Ja, das stimmt“, antwortete Flynn und entfernte sich in Richtung Grand Walk.

Der Earl begleitete ihn unaufgefordert. „Erhebt Lord Tannerton Ansprüche auf die entzückende Rose O’Keefe?“

„Auch das stimmt.“

Flynn versuchte, sich zu entsinnen, welche Gerüchte er über den Aristokraten gehört hatte, abgesehen von der Tatsache, dass Tanner ihn einen ‚blasierten Lackaffen‘ nannte. Greythorne hatte große Besitzungen in Kent, außerdem Ländereien in Sussex und irgendwo im Norden des Königreiches. Er war ein häufiger Gast bei vornehmen Abendgesellschaften und Mitglied bei White’s, dem exklusivsten Herrenclub der Stadt. Aber da gab es noch etwas, woran Flynn sich partout nicht erinnern konnte. Irgendein hässliches Gerücht über den Mann.

Greythorne lachte leise. „Zu dumm. Ich habe nämlich gleichfalls ein Auge auf die Kleine geworfen.“ Er machte eine ausholende Armbewegung. „Tannerton muss sich auf Konkurrenz gefasst machen.“

Der begüterte Greythorne könnte tatsächlich eine ernsthafte Konkurrenz darstellen. Wenn er eine ausreichend hohe Geldsumme bot, würde Miss Dawes den alten O’Keefe gewiss drängen, das Angebot anzunehmen. Diese Frau hätte keinerlei Bedenken, Rose an den höchsten Bieter zu verschachern.

Flynn warf ihm einen Seitenblick zu. „Als Gentleman würden Sie gewiss einem anderen nicht etwas streitig machen, das dieser bereits für sich beansprucht.“

Greythornes künstliches Lächeln blieb auf seinem Gesicht kleben. „Der Vater der jungen Dame scheint anderer Meinung zu sein. Auf mich machte er den Eindruck, als sei das Spiel noch offen.“

Flynn hatte plötzlich das Gefühl, dunkle Wolken brauten sich über ihm zusammen. „Der Vertrag steht kurz vor dem Abschluss“, sagte er schroff.

Unbeirrt ging Greythorne neben ihm her. „Ich wäre der Letzte, der unberechtigte Forderungen stellen würde“, versicherte er. „Falls der Vertrag aber noch nicht unter Dach und Fach ist, unterbreite auch ich mein Angebot.“

4. KAPITEL

Am nächsten Tag, einem strahlenden Sommertag, wie er London nicht allzu häufig beschieden war, lenkte Flynn die Karriole durch die Straßen von Covent Garden zur Wohnung der O’Keefes. Tanner hatte den Ausflug mit allem Nachdruck befürwortet, nachdem er von Greythornes Interesse erfahren hatte.

„Irgendetwas stimmt mit dem Kerl nicht“, hatte der Marquess gesagt. „Ich konnte ihn nie leiden. Er ist so verdammt penibel. Nie ein Stäubchen am Ärmel, nie zerknitterte Hosen. Jedes einzelne Härchen sorgsam frisiert. Höchst suspekt.“ Tanner hatte sich angewidert geschüttelt. „Mit dem Kerl ist etwas nicht in Ordnung. Und ich werde herausfinden, was es ist.“

Tanner hatte darauf bestanden, dass Flynn die zweirädrige Karriole mit den beiden Fuchsstuten nahm, für die er kürzlich ein kleines Vermögen hingeblättert hatte.

Flynn zügelte die Braunen, warf einem Straßenjungen, der auf das Gespann aufpassen sollte, eine Münze zu und betrat das Haus. Auf der dunklen Stiege wuchs seine Aufregung, zu der er nicht das geringste Recht hatte.

Auf sein Klopfen wurde die Wohnungstür geöffnet, und sie stand vor ihm, ausgehbereit in Hut und Handschuhen, einen grün gemusterten Paisleyschal um die Schultern gelegt. Selbst in ihrem schlichten Kleid sah sie bezaubernd aus, und er wagte sich kaum vorzustellen, wie atemberaubend sie in den eleganten Toiletten aussähe, mit denen Tanner sie ausstatten würde.

Mit einer anmutigen Drehung zog sie die Tür hinter sich zu, und Flynn mahnte sich zur Zurückhaltung. Er durfte den Marquess nicht vergessen, durfte nicht die Beherrschung verlieren und wieder in ihren Bann geraten.

Aber seine Vorsätze verpufften, als er die Hände um ihre schmale Taille legte und sie in den offenen Wagen hob.

Er nahm neben ihr auf der schmalen Lederbank Platz, und der Junge reichte ihm die Zügel herauf. „Hyde Park, ist das korrekt?“, fragte er.

Sie nickte. Ihr Teint schimmerte wie feines Porzellan. Er sehnte sich danach, ihre Wange zu streicheln.

Flynn ließ die Zügel schnalzen, die Pferde zogen an. Mit sicherer Hand lenkte er die sportliche Karriole durch das Gedränge von Reitern, Fuhrwerken, Karossen und Mietdroschken in Richtung Piccadilly. „Ihr Vater hatte wohl keinen Einwand gegen diesen Ausflug, wie ich annehme.“

„Er ist mit Letty ausgegangen“, antwortete sie.

Damit hatte sie seine Frage eigentlich nicht beantwortet, und er hätte sie um eine nähere Erklärung bitten müssen. Einerseits schien ihr Vater sie sorgsam zu behüten, andererseits nannte Rose eine flatterhafte Person wie Katy Green ihre Freundin.

„Ein herrlicher Tag“, sagte er stattdessen.

„Ja, wunderschön.“ Sie verlagerte das Gewicht, glättete ihre Röcke und streifte dabei seinen Schenkel.

Er spürte die Berührung noch lange, obwohl sie sich mit ihren behandschuhten Fingern schon am Eisengestänge der Bank festhielt.

Flynn gab sich innerlich einen Ruck. Er musste ihr Tanners Geschenk überreichen, den schönsten Smaragdring, den er bei Rundell & Bridge hatte finden können. Er musste ihr Tanners Schutz anbieten und Ort und Zeit für eine erste Begegnung vorschlagen.

Und er musste dafür sorgen, dass sie Greythornes Angebot ablehnte.

Als die Karriole Hyde Park Gate passierte, hatte Flynn sich wieder gefasst. „Sind Sie schon früher im Park ausgefahren, Rose?“

„Oh ja“, antwortete sie ohne Scheu.

Damit bewies sie ihm erneut, dass sie kein unerfahrenes Mädchen war, und er fragte sich, wer wohl ihre früheren Begleiter gewesen sein mochten.

Der strahlende Sommertag hatte viele Erholungssuchende in die Natur gelockt. Gouvernanten mit ihren Zöglingen, Bedienstete, Botengänger und Handwerksgesellen, die in ihrer Mittagspause die Sonne genießen wollten. Vornehme Herren lenkten offene Kutschen in Begleitung junger Damen in duftigen Sommerkleidern – zweifellos ihre Mätressen. Flynn kannte einige der Herren, hütete sich allerdings, sie zu grüßen. Später am Nachmittag würden dieselben Herren in Begleitung ihrer Gemahlinnen oder Verlobten durch den Park kutschieren.

Und demnächst würde Tanner mit Rose in dieser sportlichen Karriole sitzen. Verstimmt furchte Flynn die Stirn.

„Was macht Sie traurig?“, fragte Rose besorgt.

Erschrocken wandte er sich seiner Begleiterin zu. „Ich bin nicht traurig“, versicherte er.

Sie zog eine Braue hoch. „Ich finde aber, Sie sehen traurig aus.“

Er setzte eine unbeteiligte Miene auf. „Ich konzentriere mich lediglich darauf, den Wagen zu lenken.“

Erneut blickte er nach vorne auf die breite Kiesstraße, auf der ihnen ein paar Kutschen im gemächlichen Tempo entgegenkamen. „Ja, die Straße ist gefährlich.“

Er achtete nicht auf ihren ironischen Ton und wechselte das Thema. „Genießen Sie Kutschfahrten im Park?“

„Ja, sehr“, antwortete sie begeistert.

„Der Marquess besitzt viele Kutschen“, erklärte er, um die Rede behutsam auf Tanner zu bringen. „Außer dieser Karriole einen Phaeton, einen Landauer, eine große Reisekarosse …“

„Interessant“, fiel sie ihm ohne rechte Begeisterung ins Wort.

Flynn warf ihr einen Seitenblick zu. Die meisten Frauen würden alles daran setzen, mit einem reichen Mann befreundet zu sein. „Er ist ein großzügiger Mensch, Rose. Ich kann Ihnen Beispiele nennen, wenn Sie wünschen.“

Beschwörend sah sie ihn an. „Bitte nicht.“

Er schwieg und konzentrierte sich wieder auf das Lenken der Pferde. Schließlich wagte er einen kühnen Vorstoß. „Was ist mit Ihnen, Rose? Jedes Mal, wenn ich auf den Marquess zu sprechen komme, fallen Sie mir ins Wort. Können Sie mir einen Grund dafür nennen?“

Auf ihren Wangen hatten sich zwei rosige Flecken gebildet. „Ich habe nichts gegen den Marquess, verstehen Sie mich nicht falsch.“

Flynn wartete auf eine nähere Erklärung. Auch die Pferde schienen darauf zu warten und gingen mittlerweile gemächlich im Schritt. Er ließ die Zügel schnalzen, und sie zogen wieder an. Zu ihrer Linken erstreckte sich die Serpentine, deren Wellen in der Nachmittagssonne glitzerten.

„Es ist so schön hier“, sagte Rose nach einer Weile.

Er holte tief Atem und straffte die Schultern. „Ich möchte von Lord Tannerton sprechen, wenn Sie gestatten.“

Ein wenig enttäuscht strich Rose strich sich eine vorwitzige Locke aus der Stirn. Sie hätte sich gewünscht, Mr Flynn würde um sie werben. Welch törichter Gedanke. Er wollte lediglich mit ihr über den Marquess sprechen.

Wie sollte sie ihm erklären, dass sie nicht am Geld eines Marquess interessiert war? Vielmehr wünschte sie sich, was sich jedes junge Mädchen wünschte.

Liebe.

Entschlossen reckte Rose ihr zartes Kinn vor. „Vielleicht können wir später über den Marquess sprechen.“

„Aber ich sollte …“, begann Flynn, stockte jedoch und atmete tief aus, ehe er resigniert fortfuhr: „Worüber wollen Sie denn sprechen, Rose?“

Der Knoten in ihrer Magengegend begann, sich zu lösen. Er gewährte ihr einen kleinen Aufschub. „Ach, ich weiß nicht, über irgendetwas …“ Sie lächelte ihn an, fühlte sich plötzlich beschwingt und heiter. „Worüber man eben so redet.“

Über Dinge, die sie gerne über ihn wissen wollte.

Sie schluckte. „Leben Sie … schon … lange in England, Flynn?“

Es dauerte eine Weile, bevor er antwortete. „Seit ich achtzehn bin.“

„Und wie lange ist das her?“, hakte sie nach.

„Zehn Jahre.“

Nun wusste sie, wie alt er war. Achtundzwanzig. „Und was hat Sie nach England geführt?“

„Ich habe in Oxford studiert.“

„In Oxford? Dort studieren die Söhne vornehmer Familien, nicht wahr? Um Vikar oder Ähnliches zu werden?“

Er lachte. „Ja, und Ähnliches.“

„Ist Ihre Familie angesehen genug für Oxford?“

Er straffte die Schultern. „Ja.“

Rose spürte, dass sie ihn gekränkt hatte. „Verzeihen Sie, das war taktlos von mir.“ Sie blinzelte.

Seine Stirn glättete sich. „Mein Vater ist ein Gutsbesitzer, Rose. Er konnte es sich leisten, mich in Oxford studieren zu lassen.“

„Und nach dem Studium in Oxford?“

„Ging ich nach London, um mir eine Stellung zu suchen. Lord Tannerton nahm das Risiko auf sich, mich in seine Dienste zu nehmen.“

„Sie haben gewiss einen guten Eindruck auf ihn gemacht.“

Flynn lächelte dünn. „Ich glaube eher, er hatte Mitleid mit mir. Wie dem auch sei, ich habe viel bei ihm gelernt.“

Sie fühlte sich ermutigt, weitere Fragen zu stellen. „Haben Sie Irland wieder einmal besucht?“

Er schüttelte den Kopf.

Sie räusperte sich. „Ich bin erst seit ein paar Monaten hier in England.“

„Und warum sind Sie nach London gekommen, Miss O’Keefe?“ Seine Gegenfrage klang eher teilnahmslos, als interessiere er sich gar nicht für sie.

„Die Schule wollte mich als Musiklehrerin behalten. Die Schule in der Nähe von Killyleagh, wissen Sie. Aber mein größter Wunsch war es, zu singen.“ Sie machte eine Pause. „Wie meine Mutter.“

„Ihre Mutter?“

Sie nickte. „In ihrer Jugend sang meine Mutter in London. Sie ist schon lange tot.“

Sein Blick riss eine Wunde in ihr auf, die sie längst verheilt geglaubt hatte. Sie schluckte. „Nun ja, ich kam nach London, weil mein Vater als Musiker hier arbeitet.“ Sie wandte den Blick ab. „Anfangs konnte er es sich nicht leisten, mich bei sich aufzunehmen, aber dann verschaffte mir Mr Hook das Engagement in Vauxhall.“ Das war eine knappe Kurzfassung ihrer Geschichte, das Wichtigste ließ sie unerwähnt. „Und im Herbst, wenn die Saison in Vauxhall zu Ende ist, suche ich mir ein neues Engagement als Sängerin.“

„Und wo?“, fragte er.

„Ach, irgendwo. Es gibt viele Theater in London.“

„Es gibt auch in Irland Theater“, gab er zu bedenken.

Rose zuckte die Schultern. „Die sind aber nicht mit London zu vergleichen. Hier gibt es das King’s Theatre und Drury Lane und im Sommer Vauxhall. Ich kann überall singen. Meine Mutter ist einmal in King’s Theatre aufgetreten.“

„Wie eindrucksvoll“, meinte er anerkennend.

„So eindrucksvoll war es auch wieder nicht. Sie sang im Chor, aber immerhin stand sie auf der Bühne des King’s Theatre.“

„Haben auch Sie den Wunsch, in King’s Theatre aufzutreten?“

Sie seufzte. „Oh ja, mehr als alles andere. Es muss das schönste Theater auf der ganzen Welt sein.“

Er lächelte. „Ja, es ist sehr schön.“

„Waren Sie schon einmal dort?“, fragte sie aufgeregt.

„Gelegentlich habe ich Lord Tannerton zu einer Vorstellung begleitet.“

„Tatsächlich?“ Sie hätte sich zu gerne den Theatersaal einmal angesehen, die Logen, den Samtvorhang und die Bühne. Sie seufzte wieder.

Flynn lächelte sie immer noch an.

Sie erwiderte sein Lächeln und dachte, wie jungenhaft er doch aussah, wenn er sich entspannte.

Eine Kutsche kam ihnen entgegen, und er konzentrierte sich wieder darauf, die Pferde zu lenken. Beide schwiegen eine Weile.

Schließlich suchte Rose nach einem unverfänglichen Gesprächsthema. „Worin besteht Ihre Arbeit bei Lord Tannerton, wenn ich fragen darf?“

„Ich kümmere mich um viele Dinge.“ Er räusperte sich. „Geschäftliche Angelegenheiten. Ich erledige seine Korrespondenz, treffe Verabredungen, bezahle Rechnungen, mache Besorgungen und Ähnliches.“

„Aha, verstehe.“ In Wahrheit aber wusste sie nicht, welche Geschäfte ein Marquess zu erledigen hatte.

Flynn fuhr fort: „Man könnte sagen, ich kümmere mich um lästige Belanglosigkeiten, damit der Marquess den Kopf frei hat für wichtige Dinge.“

Eine solche Arbeit würde Rose Kopfschmerzen bereiten. „Gefällt Ihnen das, was Sie tun?“

Er nickte. „Durch meine Arbeit habe ich mir einiges Wissen angeeignet. Über politische Zusammenhänge. Über Finanzen. Macht …“

Solche Dinge waren ihr ein Mysterium.

„Durch Lord Tannerton habe ich Wien, Brüssel und Paris kennengelernt.“

Bewundernd sah sie ihn an. „Sie sind weit in der Welt herumgekommen, nicht wahr?“

„Der Marquess ist der Berater bedeutender Diplomaten, und ich helfe ihm dabei.“ Er klang stolz.

Und sein Stolz gefiel ihr. „Waren Sie während der großen Schlacht in Brüssel?“

„Ja, in Brüssel, aber nicht in Waterloo.“ Seine Miene wurde ernst. „Der Marquess war in den Wirren nach der großen Schlacht behilflich, kümmerte sich um Lazarettzelte für die Verwundeten, um die Beschaffung von Medikamenten und Verbandsmaterial und um andere logistische Einzelheiten.“

Rose konnte sich unter logistischen Einzelheiten zwar nichts vorstellen, aber sie wusste, dass es bei der Schlacht furchtbar viele Verwundete gegeben hatte. Auch viele irische Soldaten hatten in Waterloo gekämpft und ihr Leben auf dem Schlachtfeld verloren. Sie war froh, dass Flynn nicht an der Schlacht teilgenommen hatte.

Er lachte trocken. „Aber ich langweile Sie mit solchen Geschichten.“

„Nein, nein“, versicherte sie. „Ich gestehe, dass ich nicht alles begreife, aber Sie waren an wichtigen Orten und haben bedeutende Dinge geleistet.“

„So könnte man es nennen. Ich war mitten im Geschehen, sozusagen ein Teil davon.“

„Ich stelle mir das ein bisschen vor, wie auf der Bühne zu singen. Als einzelner Sänger ist man zwar nicht so wichtig, aber man ist zumindest Teil eines Ganzen. Ich meine, ein Sänger leistet nur einen Beitrag zum Gelingen der Vorstellung. Da sind ja auch noch die Musiker und der Dirigent und das ganze Drumherum. Alles zusammen ergibt ein Ganzes, eine Aufführung, ein Kunstwerk.“

Er sah sie so eindringlich an, dass sie innerlich zu flattern begann. „Ja, genau so ist es. Und es ist ein gutes Gefühl, Teil eines Ganzen zu sein.“

Ein Lächeln flog über sein Gesicht und schwand, als er ihr wieder in die Augen schaute. „Ja, ich glaube, Sie haben recht.“

Ihr Atem beschleunigte sich, wie am Abend zuvor, als er sie unter dem glitzernden Funkenregen des Feuerwerks beinahe geküsst hätte. „Und was ist Ihr King’s Theatre?“, fragte sie, um die Spannung zwischen ihnen zu lösen. „Oder sind Sie bereits am Ziel Ihrer Wünsche?“

„Mein King’s Theatre?“

„Das, was Sie sich mehr als alles andere wünschen.“

Seine Augen verdunkelten sich, und ihr war wieder, als schmelze ihr Inneres wie Bienenwachs.

„Was ich mir mehr als alles andere auf der Welt wünsche …“, wiederholte er versonnen. „Ich will an etwas Bedeutendem teilhaben“, antwortete er schließlich. „Ja, das ist es.“ Er furchte die Stirn. „Lord Tannerton ist ein guter Dienstherr, aber …“ Seine Stimme verlor sich.

„Aber Sie wollen höher hinaus?“, vermutete sie.

Er nickte. „Ich will einen Posten in der Regierung. Vielleicht für einen Diplomaten arbeiten. Oder für den Premierminister. Oder für eine Königliche Hoheit.“

„Eine Königliche Hoheit?“, entfuhr es ihr erstaunt.

Er ließ die Zügel schnalzen und schüttelte den Kopf. „Es ist verrückt, ich weiß.“

Sie legte ihre Hand an seinen Ärmel. „Es ist nicht verrückt. Auch nicht verrückter, als in King’s Theatre singen zu wollen.“ Aber es schien so unerreichbar zu sein, und das stimmte sie irgendwie traurig. „Das wäre Ihnen sehr wichtig, nicht wahr? So wichtig, dass Sie mit einer wie mir keinen Umgang pflegen würden.“

Er legte seine Hand auf die ihre und neigte sich ihr zu. Wieder blieben die Pferde beinahe stehen.

„Fahren Sie doch weiter, Herrgott noch mal!“, erklang in diesem Moment eine verärgerte Stimme.

Ein junger Mann in einem schnittigen Phaeton näherte sich von hinten. Flynn ließ die Fuchsstuten antraben, und der Phaeton zog an ihnen vorbei, sobald die Straße breiter wurde.

Während des restlichen Ausflugs redeten sie nicht mehr viel miteinander, und all die ungesprochenen Worte erhöhten die Spannung, doch Rose hätte noch stundenlang neben ihm in der Kutsche sitzen können. Allmählich füllte der Park sich mit eleganten Wagen, die Stunde nahte, in der die vornehme Welt sich in Hyde Park erging. Für das einfache Volk wurde es Zeit, das Feld zu räumen.

Als die Karriole in die Straße einbog, verfinsterte sich Flynns Gesicht. „Was ist mit Ihnen, Flynn?“, fragte sie besorgt.

„Ich habe wieder nicht mit Ihnen über Tannerton gesprochen“, entgegnete er gereizt. „Den eigentlichen Grund dieses Ausflugs. Und dann gibt es noch etwas, Rose.“

Die Mahnung an den eigentlichen Zweck dieses Wiedersehens versetzte ihr einen Stich. „Und das wäre?“, fragte sie spitz.

Er blickte ihr direkt ins Gesicht. „Es gibt noch einen Bewerber um Ihre Gunst. Lord Greythorne. Er ist wohlhabend, allerdings sind üble Gerüchte über ihn im Umlauf.“

„Welche Gerüchte?“ Rose hatte nicht die Absicht, ihre Gunst irgendeinem Bewerber zu schenken, wer immer es sein mochte.

„Das weiß ich eben nicht genau“, antwortete er wahrheitsgemäß.

Sie zuckte die Achseln. „Jedenfalls danke ich Ihnen für die Warnung, Flynn.“

„Es ist sehr wichtig, dass Sie sich nicht mit Greythorne einlassen.“

Rose wollte sich mit keinem Mann einlassen, nicht für Geld oder kostbare Geschenke. Am liebsten hätte sie Flynn gesagt, er könne sämtlichen Bewerbern ausrichten, sie sollten sie gefälligst in Frieden lassen. Sie wollte singen. Das war ihr einziger Wunsch.

Auch wenn ihr Vater ihr ständig damit in den Ohren lag, sie brauche einen wohlhabenden Gönner, wenn sie auf Londons Bühnen Erfolg haben wollte. Das schienen alle von ihr zu erwarten – Papa, Letty, der Marquess, dieser Greythorne.

Flynn.

Er redete immer noch, aber sie hatte ihm nicht zugehört. „Lord Tannerton wird gut zu Ihnen sein, Rose.“

Aber sie liebte Lord Tannerton nicht. Das war der springende Punkt.

Bei einem so vornehmen Mann könnte sie nie das finden, was Miss Hart mit ihrem Mr Sloane gefunden hatte.

„Ich brauche noch etwas Bedenkzeit, Flynn.“

Er zügelte das Gespann vor dem Haus in der stillen Langley Street, sprang ab und hob Rose aus dem Wagen.

Ihre Hände ruhten einen Moment länger als nötig an seinen Schultern. Sie wollte ihn wiedersehen. „Ich … ich singe heute in Vauxhall. Wenn Sie Lust haben …“

Sein Blick schien etwas in ihren Augen zu suchen. „Ich werde da sein.“

„Klopfen Sie am Bühneneingang. Ich sorge dafür, dass Sie eingelassen werden.“ Ihre Stimmung hob sich wieder, und jetzt hätte sie jauchzen mögen vor Glück.

Flynn nahm ihre Hand und hielt sie einen verwirrend langen Moment fest. „Bis heute Abend.“

Beschwingt eilte sie die Holzstiege hinauf und riss die Wohnungstür auf.

Im Flur stand Letty, die Hände in die Hüften gestemmt, und blickte ihr mürrisch entgegen. „Warst du wieder mit diesem Flynn zusammen? Hat er dir endlich einen Treffpunkt mit dem Marquess genannt?“

„Es gibt noch keine feste Vereinbarung, Letty. Aber Mr Flynn wird mich rechtzeitig davon unterrichten.“

„Wo bist du mit ihm gewesen, Mary Rose?“ Ihr Vater saß im Lehnstuhl vor dem Kamin.

Rose trat zu ihm und drückte ihm einen Kuss auf den kahlen Kopf. „Wir machten eine harmlose Kutschfahrt im Park, Papa, das war alles.“ Sie wollte in ihre Kammer.

Doch Letty versperrte ihr den Weg. „Dieser Flynn. Hat er dir endlich gesagt, wie viel der Marquess bezahlt?“

Rose blickte ihr unverwandt in die Augen. „Ich finde, du kannst stolz auf mich sein, Letty. Ich habe ihn hingehalten. Hast du nicht gesagt, ich soll ihn zappeln lassen, das treibe meinen Preis in die Höhe?“

„Nun ja, ich …“, stammelte Letty, aber Rose rauschte an ihr vorbei und verschwand in ihrer Kammer.

Auf dem Rückweg von den Stallungen, wo er Tanners Karriole und die Fuchsstuten abgeliefert hatte, begegnete Flynn seinem Dienstherrn.

Tanner schlug ihm auf die Schulter. „Welch ein Zufall! Ich denke den ganzen Nachmittag an Sie. Haben Sie Fortschritte gemacht? Reden Sie schon, Mann!“

Doch Flynn hatte ihm nichts zu sagen.

„Heraus mit der Sprache. Was, zum Teufel, ist geschehen?“

Während sie gemeinsam die Straße entlangschlenderten, erprobte Flynn seine Redegewandtheit. „Sie müssen mir in dieser Angelegenheit vertrauen, Mylord. Die Dame ist ein Sonderfall. Sie hatten völlig recht. Bei ihr ist großes diplomatisches Geschick erforderlich.“

Tanner hielt ihn am Arm zurück. „Sagen Sie bloß nicht, der Smaragdring hat ihr nicht gefallen!“

Flynn hatte völlig vergessen, dass er den Schmuck in der Tasche trug. „Ich habe ihn ihr nicht überreicht, Sir.“

„Wieso nicht?“ Tanner machte ein verdutztes Gesicht.

Flynn musste sich zwingen, ihn anzusehen. „Sie hätte ihn abgelehnt.“

Tanner setzte sich wieder in Bewegung. „Mein Gott, sie ist wirklich seltsam. Welche Frau würde ein solches Geschenk zurückweisen?“

Eine, die über Zauberkräfte verfügt, dachte Flynn. „Ja, sie ist rätselhaft“, antwortete er, „Das muss ich zugeben.“

Autor

Diane Gaston
<p>Schon immer war Diane Gaston eine große Romantikerin. Als kleines Mädchen lernte sie die Texte der beliebtesten Lovesongs auswendig. Ihr Puppen ließ sie tragische Liebesaffären mit populären TV- und Filmstars spielen. Damals war es für sie keine Frage, dass sich alle Menschen vor dem Schlafengehen Geschichten ausdachten. In ihrer Kindheit...
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Juliet Landon
Juliet Landon hat Anleitungen für Stickarbeiten veröffentlicht. Die Umstellung ins Romangenre war für sie kein großer Wechsel, die Anforderungen sind ähnlich: große Fantasie, einen Sinn für Design, ein Auge fürs Detail, genauso wie Liebe zu Farben, Szenen und Recherche. Und ganz wichtig, bei beidem muss man bereit sein, innere Gedanken...
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