Historical Exklusiv Band 55

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GELIEBTE GEFANGENE von CORNICK, NICOLA
Lord Simon Greville hat Annes Landsitz Grafton Manor gestürmt und sie als seine Geisel gefangen genommen. Hassen müsste Anne ihn für diese ruchlose Tat! Stattdessen verspürt sie ein heftiges sehnsüchtiges Verlangen nach dem verwegenen Gentleman. Aber solange sie den Schatz des Königs hütet, darf sie auf keinen Fall schwach werden und ihren verbotenen Gefühlen für den größten Feind des Herrschers nachgeben …

DIE UNWILLIGE BRAUT von LANDON, JULIET
Verkauft an den Höchstbietenden! Lady Rhoese of York ist zweifellos der Hauptgewinn, deshalb sticht Judhael de Brionne alle Konkurrenten um die Hand der schönen Landbesitzerin aus. Wenn seine Braut nur nicht so widerspenstig wäre - glaubt sie doch, er habe sie nur zur Frau genommen, um als normannischer Ritter an englische Ländereien zu gelangen. Kann er das Herz der verführerischen Lady dennoch erobern?


  • Erscheinungstag 06.10.2015
  • Bandnummer 55
  • ISBN / Artikelnummer 9783733760786
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Nicola Cornick, Juliet Landon

HISTORICAL EXKLUSIV BAND 55

PROLOG

Grafton, Oxfordshire, England

Sommer 1641

Es war mitten im Hochsommer, und der kleine Ort Grafton war festlich geschmückt für die Verlobung der einzigen Tochter des Earl of Grafton mit dem ältesten Sohn von Fulwar Greville, dem Earl of Harington. Die Verbindung der Familien hatte niemanden überrascht, denn die beiden Earls waren schon seit Soldatentagen alte Freunde und standen Pate für das Kind des jeweils anderen. Es war ein Tag der Freude für alle.

In Lady Anne Graftons Zimmer im westlichen Flügel des Gutshauses hatten sich die Frauen versammelt, um ihr beim Ankleiden für das Bankett zu helfen.

„Magst du Lord Greville, Nan?“, fragte Annes junge Cousine Muna, während sie ihr vorsichtig die duftigen weißen Unterröcke über den Kopf zog. „Er scheint mir doch sehr ernst und streng zu sein.“

„Wie sein Vater“, bemerkte Annes alte Kinderfrau Edwina mit einem leichten Erschauern und zog Annes Korsett fester. „Sie nennen ihn nicht umsonst den Eisernen Earl.“

Anne lachte. Doch dann raubten ihr Edwinas resolute Hände an den Korsettschnüren beinahe den Atem. „Oh! Edwina, willst du, dass ich ersticke?“ Gehorsam schlüpfte sie in das rote Samtkleid, das ihr die alte Dienerin hinhielt. „Onkel Fulwar ist der liebenswürdigste Mann auf der Welt“, hörte man sie gedämpft durch die Stoffmassen sagen. „Und was Lord Greville angeht …“ Sie hielt inne. Auch wenn ihre Väter zusammen im Krieg auf dem Kontinent gewesen waren, wusste sie doch nicht viel über Simon Greville. Er war acht Jahre älter als sie und ein kampferprobter Offizier, der schon mehrfach wegen seiner Tapferkeit ausgezeichnet worden war. Aber Muna hatte recht. Sein Verhalten schien tatsächlich immer etwas streng und distanziert, als ob all das, was er bisher in seinem Leben gesehen und erlebt hatte, ihn über seine tatsächlichen Jahre hinaus hatte altern lassen.

In der einen Woche, die der Earl of Harington und sein Sohn jetzt in Grafton waren, hatte Anne nicht viel Zeit allein mit Simon verbracht. Zwar wollte er um ihre Hand anhalten, aber es war die Erlaubnis ihres Vaters, die er brauchte, nicht die ihre.

Und doch gab es da diesen Moment, mit dem Anne nicht gerechnet hatte. Es war sehr spät abends gewesen, als Simon auf dem Gut ankam, der Mond stand schon hoch über den sich wiegenden Kornfeldern. Natürlich war Anne neugierig auf ihn. Obwohl es ihre Pflicht war, diesen Mann zu heiraten, hoffte sie doch insgeheim, dass sie ihn auch wirklich mögen würde. Und so lehnte sie sich weit aus ihrem Fenster, als sie die Hufe der Pferde auf der Zugbrücke und dann auf dem Hof hörte.

Sie wusste, dass sie sich züchtig zurückziehen sollte, aber etwas hielt sie an ihrem Platz, und sie beobachtete weiter. Die Luft war noch erfüllt von der Wärme des Tages und dem süßen Duft des Geißblatts. Nur das Flattern der Tauben in ihrem Schlag durchbrach die Stille.

Simon Greville schwang sich aus dem Sattel. Er sah nach oben, direkt zu Annes Fenster. Unwillkürlich wollte sie sich abwenden, doch ihre Neugier war zu groß. Sein hart wirkendes, aber dennoch attraktives Gesicht war sonnengebräunt. Er zog seinen Hut und verbeugte sich tief vor ihr, bis die Federn fast die Erde berührten. Sein Haar war voll und dunkel. Ein wissendes Lächeln umspielte seine Lippen, während er wieder zu ihr hinaufschaute. Sein Blick sandte ihr einen gänzlich überraschenden Schauer über den Rücken. Alle Gedanken an Pflicht verflogen wie Blätter im Wind, und sie hatte das deutliche Gefühl, dass es das reine Vergnügen sein könnte, Simon Greville zu heiraten.

„Seht sie euch an“, sagte Edwina nun mit einem breiten Lächeln und riss Anne aus ihren Gedanken. „Du magst ihn, nicht wahr, meine Kleine? Und das ist nur richtig so. Ich bin mir sicher, dass Lord Greville ganz genau weiß, wie er dich glücklich machen kann.“

Eines der Mädchen verbiss sich ein Kichern.

„Edwina!“ Verlegen presste Anne die Hände gegen ihre glühenden Wangen. Eigentlich war sie mit ihren siebzehn Jahren schon beinahe zu alt, um zu heiraten. Sie war sich nur allzu bewusst, dass sie wegen ihres übervorsichtigen Vaters und seiner langen Weigerung, eine Ehe für sie zu arrangieren, nur sehr wenig von diesen geheimnisvollen Dingen wusste. Es gab Mädchen, die, obwohl viel jünger als sie, schon Mütter waren. „Ich bitte dich, sei still“, sagte sie. „Ich heirate Lord Greville, weil Papa es so will.“

Edwina lächelte. „Und das ist gut und richtig, meine Kleine, und genau, wie es sein soll.“ Sorgfältig steckte sie einen Silberreif in Annes Haar fest. „Aber ich habe an die Hochzeitsnacht gedacht.“

Anne schaute auf. Sie erinnerte sich an Simon Grevilles dunkle Augen und fühlte wieder diesen Schauer.

„Ich habe nachgedacht“, fuhr Edwina fort. „Du hast keine Mutter, mit der du reden kannst. Also werde ich diese Rolle übernehmen.“ Sie winkte Muna heran. „Komm näher, meine Kleine. Du musst auch zuhören, denn du wirst sicher ebenfalls bald verheiratet werden.“

Anne seufzte. „Muss das wirklich sein, Edwina? Vermutlich wird das, was du uns erzählen wirst, sehr peinlich für Muna und mich sein.“

Ihre Cousine kicherte nervös. „Madam Elizabeth aus dem Dorf hat mir gesagt, dass ich nur die Augen schließen und mich ganz ruhig verhalten soll, egal, was mein Ehemann mit mir macht. Dann wäre ich auf jeden Fall eine gute Ehefrau.“

„Der Herr sei uns gnädig“, warf Anne trocken ein. „Ich finde, das hört sich nicht besonders erhebend an, Muna.“

Edwina stemmte die Hände in die Hüften und schnaubte verärgert durch die Nase. „Damit scherzt man nicht, Mylady. Die Forderungen eines Ehemanns können durchaus ein Schock für eine Dame sein. Mein Gatte hat seine eheliche Pflicht bald fünf Mal die Nacht erfüllt.“

Entsetzt schlug Muna die Hände vor den Mund. „Fünf Mal! Jede Nacht?“

„Ich habe gehört, dass er ein sehr munterer Mann war“, sagte Anne mit einem Lächeln. „Allerdings bin mir nicht sicher, ob man dich bemitleiden oder dir gratulieren soll, Edwina. Konntest du überhaupt je schlafen?“

„Ihr nehmt all das überhaupt nicht ernst“, grollte die Dienerin. „Nun gut. Aber wenn ihr in der Hochzeitsnacht einen Schock erleidet, kommt nachher nicht zu mir, um euch zu beschweren!“

„Ich verspreche, ich werde mich nicht beschweren“, entgegnete Anne. „Und wenn es euch nichts ausmacht“, fügte sie mit fester Stimme hinzu, „würde ich jetzt gerne noch einige Zeit allein sein, bevor das Fest beginnt.“

Muna und die anderen jungen Frauen protestierten, aber Edwina scheuchte sie vor sich her aus dem Gemach und schloss die Tür. Endlich war es still im Zimmer, und Anne sank mit einem erleichterten Seufzer auf den Fenstersitz. In ihrem Leben gab es nur wenig Muße. Seit dem Tod ihrer Mutter lag die Führung des Haushalts in ihren Händen. Irgendjemand oder irgendetwas verlangte immer ihre Aufmerksamkeit, seien es die Frauen und Mägde des Hauses, die sie ständig umschwirrten, oder die Dorfbewohner, die mit ihren Problemen und Sorgen zu ihr kamen, wohl wissend, dass sie die Bittgesuche in ihrer sanften und klugen Art an ihren Vater weitergeben würde. Sie liebte die Menschen von Grafton und wusste, dass diese Liebe erwidert wurde. Ihr ganzes Leben hatte sie hier verbracht. Sie wusste auch, dass der Earl of Grafton ihr mit dieser Verlobung eine sichere Zukunft schenken wollte. Seine Gesundheit war nicht mehr die beste, und Grafton, genau wie seine Herrin, brauchte einen starken Herrn, der beides beschützte.

Anne spürte, dass Tränen in ihr aufstiegen. Sie schluckte schwer und versuchte, nicht mehr an die zunehmende Gebrechlichkeit ihres Vaters zu denken. Es war heiß in ihrem Zimmer, und sie fühlte sich beengt. Plötzlich schien es ihr unerträglich zu warten, bis man sie zum Verlobungsbankett rufen würde. Im Garten würde die Luft frischer sein.

Sie eilte an der Küche vorbei und hörte den Koch mit den Küchenjungen schimpfen. Alle schienen darauf bedacht, das prunkvollste Bankett auszurichten, das Grafton je gesehen hatte. Die Dorfbewohner kamen schon in der großen Scheune zusammen, in der sonst der Zehnte eingelagert wurde, um ebenfalls an dem Festmahl teilzuhaben. Aber keiner von ihnen bemerkte Anne, die durch die Tür in der Gartenmauer schlüpfte und langsam zwischen den geometrisch angelegten Beeten hindurch bis zu der Sonnenuhr in ihrem Zentrum wanderte. Die Schatten wurden schon länger, und der Duft des Lavendels hing in der Luft. Ihre Finger glitten über die glatte Oberfläche der Sonnenuhr. In ihrer Erinnerung schien immer die Sonne.

„Lady Anne.“

Anne zuckte zusammen und verbiss sich einen kleinen Schreckensschrei. Sie hatte den Mann, der im Schatten des Durchgangs gestanden hatte, bisher nicht bemerkt. Jetzt trat er heraus und kam auf sie zu. Der Kies knirschte unter seinen Füßen. Dann stand er vor ihr.

„Ich bitte um Verzeihung“, sagte Simon Greville. „Ich wollte Euch nicht erschrecken. Euer Vater sucht Euch, Lady Anne. Alles ist bereit für das Fest.“

Anne nickte. Ihr Herz schlug viel zu schnell, nicht nur wegen des Schrecks, sondern auch, weil ihr bewusst wurde, dass sie zum ersten Mal allein mit Lord Greville war. Während der letzten Woche waren sie zusammen ausgeritten, hatten unter den wohlwollenden Blicken des gesamten Haushalts getanzt und sich über unverfängliche Dinge unterhalten. Aber plötzlich schien ihr das sehr wenig, um eine Ehe darauf aufzubauen. Sie erinnerte sich an ihre Pflicht, aber dennoch erfüllte plötzlich Angst ihr Herz. „Natürlich“, sagte sie. „Entschuldigt mich, Lord Greville.“

Doch Simon blieb stehen. Er streckte eine Hand aus und berührte ihren Arm. „Einen Augenblick Eurer Zeit, Lady Anne.“

Anne schaute zu ihm auf. Die Abendsonne blendete sie, und sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen. Sie wartete mit wild klopfendem Herzen.

Simons Hand glitt ihren Arm hinunter, und seine Finger fanden die ihren. Seine Hand war warm, und seine Berührung sandte einen Schauer über Annes Körper. „Ich habe die Erlaubnis Eures Vaters, Euch zu heiraten, Lady Anne, aber ich habe noch nicht die Eure.“

Fragend starrte Anne ihn an. „Ihr braucht die meine nicht, Mylord.“

Simon lächelte sie an. „Oh doch, die brauche ich. Ich werde keine unwillige Frau zur Braut nehmen. Also sprecht offen, Anne of Grafton, wenn Ihr mich nicht als Ehemann haben wollt, denn schon bald werden wir unser Verlobungsversprechen geben.“

Seine Hände schlossen sich fester um die ihren, während er auf ihre Antwort wartete. Annes Blick glitt über sein ernstes, strenges Gesicht. Sie fühlte ein leichtes Beben in ihrem Magen. „Ich werde meine Pflicht …“, begann sie.

„Ich will nicht Eure Pflicht.“ Verärgerung klang in seiner Stimme mit. „Ich will Euch.“ Er bemühte sich um einen ruhigeren Ton. „Und ich hatte gehofft – vergebt mir –, dass Ihr vielleicht zumindest ein bisschen genauso fühlen würdet …“

Anne erinnerte sich an den Augenblick, als sie ihn zum ersten Mal im Hof gesehen hatte, und sie dachte an Edwinas Worte über ihre Hochzeitsnacht. Unwillkürlich stahl sich ein leichtes Lächeln auf ihre Lippen. „Nun, ich …“

Weiter kam sie nicht. Simon beugte sich zu ihr und küsste sie. Er zog sie eng an sich, sein Mund lag hungrig und heiß auf dem ihren. Annes überraschter Aufschrei verlor sich unter seinen fordernden Lippen. Das Blut pochte in ihren Adern, und ihr drehte sich der Kopf.

Sanft löste er sich von ihr, und sie suchte Halt an dem moosbedeckten Stein der Sonnenuhr. Sie zitterte am ganzen Körper. Ihre Finger pressten sich gegen ihre Lippen. Verwirrung und die erste Ahnung körperlichen Begehrens erfüllten sie.

„Heißt das Ja?“, fragte Simon. Leidenschaft brannte hell und funkelnd in seinen Augen.

Anne sah es und verstand zum ersten Mal in ihrem Leben die beeindruckende Stärke ihrer eigenen Macht. Erregung erfüllte ihren Körper. Solche Macht über so einen Mann zu haben … Sie könnte ihn in die Knie zwingen. Der Gedanke machte sie schwindelig. „Ich denke darüber nach“, antwortete sie ihm mit züchtig niedergeschlagenen Augen. „Es stimmt, Mylord, dass Ihr wohl anzusehen seid …“

Ein Lächeln huschte über seine Lippen, aber er konnte die Ungeduld seines Verlangens nur mühsam unter Kontrolle halten. „Danke“, murmelte er. „Und?“

„Und die Zeit, die wir miteinander verbracht haben, hat mir … Vergnügen bereitet …“

„Und?“

„Und ich denke, dass Ihr ganz ausgezeichnet küsst, Mylord, auch wenn ich keinen wirklichen Vergleich habe.“

Simon trat auf sie zu, doch sie wich ihm aus und ging leichtfüßig den Pfad entlang. Sie lachte jetzt, Aufregung und Glück schienen das Blut schneller durch ihre Adern fließen zu lassen.

„Nachdem ich also über Euren Antrag nachgedacht habe …“

Sie hielt inne und sah ihn an. Er griff nach ihrem Handgelenk, zog sie zu sich heran und hielt sie fest gegen seine Brust gepresst.

„Ja?“, sagte er.

„Ja, ich will Euch heiraten“, flüsterte sie, bevor sich ihre Lippen wieder fanden. „Von ganzem Herzen, ja.“

1. KAPITEL

Grafton, Oxfordshire, England

Februar 1645

Es hatte den ganzen Tag geschneit. Die weißen Flocken hingen wie ein Leichentuch zwischen dem belagerten Landgut und der Armee, die kaum eine halbe Meile entfernt lag und es umzingelt hatte. Nun, da die Kirchenglocke Mitternacht schlug, schimmerte die Dunkelheit in einem überirdischen Licht, das den Männern eine eisige Kälte ins Herz kriechen ließ. Am Morgen würden sie in die Schlacht ziehen, aber heute Nacht drängten sie sich in den Ställen und Scheunen des Dorfes um die flackernden Feuer. Sie tranken den Rest ihres Ales, sprachen leise miteinander und versuchten, nicht an den kommenden Morgen zu denken.

Simon Greville glaubte im ersten Augenblick, dass er sich das Klopfen an der Tür nur eingebildet hatte. Das Treffen mit seinen Captains war schon lange vorbei. Sie hatten die Strategie für den nächsten Tag abgesprochen und sich dann zurückgezogen, um den Morgen zu erwarten und zu versuchen, zumindest ein wenig Schlaf zu finden. Er hatte Befehl gegeben, dass er diese Nacht nicht mehr gestört werden wollte. Und doch hörte er wieder ein leises, aber beharrliches Klopfen an der Stalltür. Simon war eher überrascht als verärgert, weil seine Anweisungen offensichtlich missachtet wurden. Er wusste, dass seine Männer nur im äußersten Notfall einem seiner Befehle zuwiderhandeln würden.

Mit wenigen Schritten durchquerte er den Raum und stieß die Tür auf. Die wackligen Scharniere knarzten, und eine Windbö trieb die Kälte der Nacht und einige verirrte Schneeflocken in den Stall. Die Flammen der Kerzen flackerten, und der scharfe Geruch des brennenden Talgs hing in der Luft.

„Was ist geschehen?“ Er wusste, dass seine Stimme schroff klang, doch am Vorabend einer Schlacht konnte selbst er, der für seine Kaltblütigkeit bekannt war, sich nicht eines gewissen Gefühls der Ruhelosigkeit erwehren.

Vor ihm stand der jüngste seiner Captains. Guy Standish war kaum älter als zwanzig Jahre und starrte ihn aus großen, erschreckten Augen an. „Verzeiht die Störung, Mylord. Es ist ein Bote von Grafton Manor gekommen.“

Simon wandte sich ab. Er hätte sich denken können, dass die königstreue Garnison einen letzten verzweifelten Versuch unternehmen würde, sich zu ergeben und so ein Blutbad zu verhindern. Schon den ganzen Tag hatte er darauf gewartet, dass sie kommen würden, um einen Waffenstillstand auszuhandeln. Jetzt war es also so weit. Der feige General des Königs, Gerard Malvoisier, versuchte, um sein erbärmliches Leben zu feilschen.

Vor zwei Wochen hatte Malvoisier Simons jüngeren Bruder, der das Gut als Abgesandter der Parlamentarier unter weißer Flagge betreten hatte, ermordet. Malvoisier kannte keine Gnade und hatte Henrys Körper zerstückelt zurückgeschickt. Nun erwartete er offensichtlich von Lord Greville, dass er sein wertloses Leben schonte. Wieder fühlte Simon die überwältigende Welle des Schmerzes, die ihn überflutet hatte, als er von Henrys Tod erfuhr. Zwei Wochen waren viel zu kurz, um dieser Trauer die Zeit zur Heilung zu geben. Ihm war auch die schwierige Aufgabe zugefallen, seinem Vater einen Brief mit der Todesnachricht zu senden. Fulwar Greville, der Earl of Harington, unterstützte den König, während seine Söhne loyal auf der Seite der Parlamentarier standen. Und nun war einer seiner Söhne tot, gestorben im Kampf um eine Sache, die die Lehnstreue ihres Vaters verriet.

Simon wusste, dass seine und Henrys Entscheidung ihrem Vater das Herz gebrochen hatte. Trotz ihrer politischen Differenzen empfand er den tiefsten Respekt für den Earl. Und er fühlte eine große Schuld, weil er Henrys Tod nicht hatte verhindern können. Also lenkte er all seinen Hass und seine Wut auf den in Grafton stationierten Gerard Malvoisier. Es würde keine Gnade für die belagerte Armee auf dem Gut geben, weder jetzt noch später. Es machte keinen Unterschied, dass Grafton – und seine Herrin – ihm einst versprochen waren. Der Bürgerkrieg hatte alle Bündnisse zerstört.

Standish wartete noch immer.

„Ich will den Boten nicht sehen“, sagte Simon. „Es gibt nichts mehr zu diskutieren. Die Zeit für Verhandlungen ist lange vorbei. Wir greifen am Morgen an, und nichts und niemand kann das jetzt noch verhindern.“

Seine Stimme war eisiger als die schneeerfüllte Nachtluft, aber Standish blieb trotzdem stehen. Er wirkte angespannt.

„Mylord …“

Nur mit Mühe hielt Simon seine Wut im Zaum und wirbelte herum. „Was ist denn noch?“

„Der Bote ist Lady Anne Grafton, Mylord“, stotterte der junge Mann. „Wir dachten … weil es doch die Herrin selbst ist …“

Simon fluchte leise. Es war geschickt von Malvoisier, Lady Anne zu schicken. Er musste wissen, dass sie der einzige Bote war, den er nicht ohne Weiteres wegschicken würde, und sei es nur aus Höflichkeit. Auch wenn sie jetzt auf verschiedenen Seiten standen, widerstrebte es ihm doch zutiefst, einer Lady – selbst einer Royalistin – mit etwas anderem als Respekt zu begegnen. Außerdem hatte er vor vier Jahren in einer friedlicheren Zeit, bevor dieser blutige Bürgerkrieg sie trennte, um Lady Anne geworben. Es gab Erinnerungen, Versprechen waren gemacht worden, die er selbst jetzt nicht einfach beiseiteschieben konnte.

Aber sie befanden sich nun einmal im Krieg, und ihm stand der Sinn nicht nach Ritterlichkeit. Dafür hatte der brutale Tod seines Bruders unter den Händen von Malvoisier gesorgt. „Ich will sie nicht sehen. Schickt sie fort.“

Gequält sah Standish ihn an. Trotz der Eiseskälte stand Schweiß auf seiner Stirn. „Aber, Mylord …“

„Ich sagte, schickt sie fort.“

Ein Stück entfernt hörte man das Klirren von Waffen und den Klang von aufgeregten Stimmen. Es folgten vom Schnee gedämpfte Schritte, die schnell näher kamen.

„Madam!“, hallte die laute Stimme eines Wachpostens. „Ihr könnt da nicht hineingehen!“

Aber es war schon zu spät. Die Stalltür wurde weit aufgerissen, und Lady Anne Grafton stürmte an Guy Standish vorbei in den Raum. Schnee wirbelte um ihre Füße, und das Feuer flackerte zischend auf.

Anne schlug die Kapuze ihres Mantels zurück und funkelte Simon herausfordernd an. Unter ihrem pelzbesetzten Mantel trug sie ein dunkelblaues Kleid, und ihr Aussehen entsprach von Kopf bis Fuß dem einer hochwohlgeborenen Dame. Ihr Gesicht war blass, und ihr Haar floss nachtschwarz um ihre Schultern. Sie wirkte wie eine aus einem Märchen entsprungene Kreatur aus Feuer und Eis.

Simons Herz tat einen Satz, und er hatte das Gefühl, einen Moment keine Luft mehr zu bekommen. Er hatte Anne Grafton seit vier Jahren nicht mehr gesehen, denn ihre Verlobung war beinahe so schnell wieder gelöst worden, wie sie geschlossen worden war. Neben sich hörte er Standish scharf Luft holen, als ob auch er Schwierigkeiten damit hatte, ruhig und gelassen zu atmen. Jeder Mann, der Grafton belagerte, hatte die Geschichten über die legendäre Schönheit der Herrin des Guts gehört, aber trotzdem war ihr Anblick, jetzt wo sie direkt vor ihnen stand, genug, um ihnen buchstäblich den Atem zu rauben.

Sie war durchaus keine gefällige Schönheit. Anne Grafton war klein und grazil, doch es umgab sie eine aristokratische Aura, die den ganzen Raum erfüllte. Ihr Gesicht war herzförmig geschnitten, mit hohen Wangenknochen und geschwungenen schwarzen Brauen. Ihre Augen waren sehr dunkel, nur wenige Nuancen heller als ihr rabenschwarzes Haar, das über den Rand ihrer Kapuze fiel, und es glühte ein heißes Feuer in ihnen, das Simon an eine Wildkatze erinnerte. Anne war keine Frau, die einem Mann ohne Widerspruch in die Arme fallen würde.

Am Anfang der Belagerung hatte Simon seine Männer scherzen hören, dass sie die wilde Schönheit der Herrin von Grafton zähmen wollten. Sie hatten leise gesprochen, wohl wissend, dass er jede Anzüglichkeit und Andeutung von Liederlichkeit in der Truppe sofort unterdrücken würde. Zudem wussten sie, dass Anne ihm einst versprochen worden war. Jetzt sah er dieselben Soldaten, die zuvor so geprahlt hatten, unruhig mit den Füßen scharren. Sie alle waren gebannt von Annes Schönheit, aber ihre stolze und herausfordernde Haltung verunsicherte sie sichtlich. Keiner der Wachen unternahm irgendwelche Schritte, sie zu ergreifen, und Standish sah so aus, als würde er sich lieber die Zunge abbeißen, als sich ihr entgegenzustellen. Fast stahl sich ein Lächeln auf Simons Lippen. Die Anne Grafton, die er gekannt hatte, war ein unschuldiges Mädchen von siebzehn Jahren gewesen. Die Frau, die jetzt vor ihm stand, war ein vollkommen anderer Mensch – und ein würdiger Gegner.

Aber dann sah er, wie Anne ihre behandschuhten Hände gegeneinanderdrückte, um ihr Zittern zu verbergen. Die Erkenntnis erschütterte ihn tief. Sie zitterte, nicht vor Kälte, sondern vor Aufregung, vielleicht sogar vor Angst. Dieser Anflug von Verletzlichkeit ließ ihn einen Moment zu lange zögern. Er hatte sie ohne ein weiteres Wort wegschicken wollen, doch dazu war es jetzt zu spät.

„Madam.“ Er verbeugte sich leicht vor ihr. „Ich bedaure, dass meine Wachen Euch passieren ließen. Es war keine kluge Entscheidung, heute Nacht hierherzukommen.“

Anne sah ihn aufmerksam und abwägend an, und Simon war sich unter ihrem Blick plötzlich sehr seiner selbst bewusst – und Annes. Nie zuvor hatte eine Frau ihn so angesehen. Die anderen hatten ihn mit Wohlgefallen, Lust oder auch Berechnung betrachtet, aber niemals so kühl gemustert, gleichsam von Soldat zu Soldat. Er fühlte, wie sie versuchte, seinen Mut, seine Kühnheit einzuschätzen. Entschieden straffte er die Schultern und erwiderte ihren Blick, ohne ihm auszuweichen.

Die vier Jahre hatten sie unwiederbringlich verändert. Der Bürgerkrieg hatte ihnen all das Schöne und Neue, das sie einst gemeinsam erlebt hatten, genommen und es wie die Leben und Hoffnungen Tausender anderer zerstört. Als er vor Jahren nach Grafton gekommen war, war es auf Wunsch seines Vater geschehen und um eine dynastische Ehe zu schließen. Er hatte nicht erwartet, sich zu seiner zukünftigen Braut hingezogen zu fühlen. Mit seinen fünfundzwanzig Jahren hatte er sich für einen abgeklärten Mann von Welt gehalten, und dass er Anne so unwiderstehlich gefunden hatte, war überraschend und verwirrend gewesen. Er hatte sie begehrt. Und er war mehr als nur verliebt in sie gewesen.

Dann war der Krieg ausgebrochen, und er hatte sich auf die Seite der Parlamentarier gestellt. Der König hatte die unverzügliche Auflösung der Verbindung angeordnet, und später hatte er Anne mit Gerard Malvoisier verlobt.

Unterdessen war viel Zeit vergangen, aber es hätten ebenso gut nur Monate, nicht Jahre sein können, so deutlich stand ihm noch alles vor Augen. Und nun war sie hier – Anne Grafton –, und das noch schlafende Feuer, dass er vor all den Jahren bei einem Kuss in ihr gespürt hatte, brannte nun heiß und hell genug, um einem Mann den Verstand zu rauben. Er fragte sich, was diese Flamme entfacht hatte, und erinnerte sich dann daran, dass in den Jahren des Bürgerkriegs Verlust und Schmerz jeden Mann, jede Frau, jedes Kind im Königreich getroffen hatten. Im Angesicht dieses Leids hatte sich niemand seine Unschuld bewahren können. Jeder musste kämpfen, um zu überleben.

Anne trat näher an ihn heran, hob das Kinn und sah ihm in die Augen. Er war über sechs Fuß groß, und ihr Kopf reichte nur bis zu seiner Schulter. Dennoch hatte sie nicht das Gefühl, ihm nicht ebenbürtig zu sein, und sie sprach ihn von gleich zu gleich an. „Guten Abend, Lord Greville. Ich bin gekommen, weil ich mit Euch reden wollte.“

Ihre Stimme war sanft, aber mit einem harten Unterton. Sie bettelte nicht, bat nicht um seine Aufmerksamkeit, sondern forderte sie selbstverständlich mit dem Gebaren einer Königin. Als Simon ihr jedoch genauer ins Gesicht sah, entdeckte er die Linien, die die Erschöpfung und die Anspannung um ihre Augen gezeichnet hatten. Es war Verzweiflung, die sie vorwärtstrieb, nicht trotziges Aufbegehren oder Zorn. Sie war kurz davor zusammenzubrechen.

Simon verschloss sein Herz gegen das Mitgefühl, das sich wie ein Verräter in ihm regte. Er wollte nicht mit ihr sprechen und wünschte, sie wären sich nie zuvor begegnet und dass sie in seinen Gedanken nicht immer noch das Mädchen wäre, das sie einmal gewesen war. Denn es war zu spät – zu spät für Bedauern, zu spät für Mitleid. Sie standen jetzt auf entgegengesetzten Seiten. Er wusste, dass sie um die Leben der unschuldigen Bewohner Graftons bitten wollte, doch er konnte es sich nicht leisten, sich deren Geschichten anzuhören. Bei jeder Belagerung gab es hilflose Opfer, Menschen, die ohne ihr Zutun und ohne eigene Entscheidung in den Kampf verwickelt wurden. Es war brutal, aber der Krieg machte keine Unterschiede. Obwohl Simons Ruf auf Recht und Gerechtigkeit beruhte, war er ebenso als harter Soldat bekannt. Und er würde auch jetzt nicht nachgeben.

Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn und sah zu den zwei Wachen hinüber, die bei der Tür stehen geblieben waren und sich bei dem Gedanken, Hand an eine Dame zu legen, offensichtlich unwohl fühlten. Zögernd erwarteten sie seine Befehle. Auch dem im Hintergrund wartenden Guy Standish war deutlich anzusehen, wie unglücklich ihn die Situation machte. „Ich werde nicht mit Euch sprechen“, sagte Simon schließlich und wandte sich zu den Wachen um. „Layton, Carter, begleitet Lady Anne hinaus.“

Niemand rührte sich. Die Soldaten blickten ihn nur gequält an und traten unruhig von einem Fuß auf den anderen.

Ein leichtes Lächeln umspielte Annes Lippen. „Eure Männer wissen, dass es nur eine Möglichkeit gibt, mich loszuwerden. Sie müssten mich hinaustragen“, sagte sie trocken. „Und sie scheinen seltsam abgeneigt, das zu tun.“

„Glücklicherweise habe ich keinerlei Skrupel, genau dies zu tun“, entgegnete Simon schroff. „Wenn Ihr nicht freiwillig geht, Madam, werde ich Euch persönlich hinauswerfen. Und Ihr könnt mir glauben, dass ich nicht davor zurückschrecken werde, euch hochzuheben und hinaus in den Schnee zu setzen.“

Ihre Augen flackerten ob seiner unverblümten Worte ärgerlich auf. „Wie unhöflich“, sagte sie mit sanfter Stimme. „Ihr seid schon zu lange Soldat, Lord Greville, und habt Eure Manieren vergessen.“

Simon nickte mit einem ironischen Lächeln. „Wir befinden uns im Krieg, Madam, und Ihr seid ein Feind, mit dem ich keine Verhandlungen führen will. Geht, bevor ich versucht bin, die Regeln des Waffenstillstands ebenso zu missachten, wie General Malvoisier es getan hat.“

Er machte einen Schritt auf sie zu und stand jetzt nah genug vor ihr, um sie berühren zu können. Ihre Haut schimmerte blass in dem schwachen Feuerschein, und an ihrem Hals erkannte er den schnellen Schlag ihres Herzens, der ihre Aufregung verriet. Ihr Haar trug den kalten Geruch des Schnees und einen süßen Hauch von Jasmin. Unverwandt sah sie ihn mit ihren großen dunklen Augen an. Er streckte die Hand aus und griff nach ihrem Arm, um sie aus der Tür zu schieben. Doch dann erstarrte er.

Es war ein Fehler gewesen, so nah an sie heranzutreten. Und es war ein noch größerer Fehler gewesen, sie zu berühren. Simon nahm sie plötzlich mit allen Sinnen wahr, ohne sich dagegen wehren zu können. Er erinnerte sich in jeder köstlichen Einzelheit daran, wie es gewesen war, sie vor all den Jahren in seinen Armen zu halten. Er fühlte das überwältigende Bedürfnis, sie an sich zu ziehen und all sein Leid und seine Erschöpfung durch die Berührung ihrer weichen Haut zu vergessen. Er brauchte ihre Zärtlichkeit, um sich von der Brutalität und dem Elend des Krieges zu reinigen. Wie sehr sehnte er sich danach, alles zu vergessen. Er fühlte ein geradezu schmerzliches Verlangen, wieder zu ihrer alten Beziehung zurückzukehren und sich in ihrer Umarmung zu verlieren.

Die überwältigende Intensität seines Verlangens war wie ein Schock und lähmte ihn für einen Moment. Er sah, wie sich eine kleine Falte zwischen Annes Brauen bildete, während ihr Blick fragend über sein Gesicht glitt. Ihre Augen weiteten sich, und ein sanfter rosiger Schimmer lag nun auf ihren Wangen. Simon wusste, dass er sie mit dem Blick eines Soldaten betrachtete, mit dem hungrigen Verlangen eines Mannes, der schon zu lange im Krieg war. Er hatte schon seit Monaten nicht mehr bei einer Frau gelegen, und er wollte sie. Aber es ging um mehr als reine Lust. Das wirklich Erschreckende waren die tiefen Gefühle und Erinnerungen, die sich in ihm regten, wenn er sie berührte, und die ihn beinahe sein Ziel aus den Augen verlieren ließen. Sie war eine Royalistin. Sie war sein Feind.

Abrupt ließ er sie los. Er war wütend auf sich selbst und auf sie. „Geht. Sofort.“ Seine Stimme klang schroff. „Captain Standish wird Euch zurück nach Grafton begleiten.“

Er sah Guy Standishs Unwillen, diesen Auftrag auszuführen, aber der Captain erhob keinen Einspruch, sondern trat langsam einen Schritt vor, um seine Bereitschaft zu zeigen, dass er dem Befehl Folge leisten würde.

Aber Anne schüttelte den Kopf. Sie hatte sich ein Stück von ihm entfernt, und Simon spürte, dass sie nur zu gerne gegangen wäre. Es war reine Willenskraft, die sie zurückhielt. Neben dem Ärger machte sich jetzt Unbehagen in ihm breit. War diese Frau so naiv, dass sie nicht verstand, welches Risiko sie einging, allein ins Feindeslager zu kommen? Seine Soldaten waren nicht so rau wie manch andere – seine Führung war zu streng, um etwas anderes zuzulassen –, aber man musste Schwierigkeiten auch nicht unnötig herausfordern. Er konnte nicht für ihre Sicherheit garantieren. Verdammt, er musste sie vor sich selbst mindestens so sehr beschützen wie vor seinen Männern.

Entschieden machte er einen Schritt auf sie zu, um sie ohne weiteres Federlesen hinauszuwerfen, aber ihre Worte ließen ihn innehalten.

„Ihr versteht nicht“, sagte sie. „Ich habe eine wichtige Nachricht für Euch, Mylord. Ich muss dringend mit Euch sprechen …“

Simon war mit seiner Geduld am Ende. „Nichts kann so wichtig sein, dass ich es hören möchte“, erwiderte er. „Ich weiß, dass Ihr gekommen seid, um für Grafton um Gnade zu bitten, doch ich habe nicht den Wunsch, Euer Bittgesuch anzuhören.“ Er ließ seinen Blick mit beleidigender Gründlichkeit über ihren Körper wandern. „Bringt Gerard Malvoisier dies als Antwort zurück, Mylady. Sagt ihm, dass ich kein Interesse daran habe, über Kapitulationsbedingungen mit ihm zu verhandeln, egal, wie … verlockend … er sie auch verpacken mag. Und wenn er es für angemessen hält, Euch zu Verhandlungen mit dem Feind zu schicken, kann ich ihm nicht versprechen, dass Ihr unberührt – oder auch nur lebend – zu ihm zurückkehrt.“

Verächtlich schaute Anne ihn an und hob ihr Kinn. „Weder bin ich es gewohnt, wie eine Marketenderin angesprochen zu werden“, sagte sie kalt, „noch komme ich von General Malvoisier. Ich wünsche in einer persönlichen Sache mit Euch zu sprechen.“ Ihr Blick ruhte für einen kurzen Moment auf Guy Standish und den Wachen. „Allein, sollte dies möglich sein, Mylord.“

Langsam ging Simon zum Tisch hinüber und schenkte sich einen Becher Wein ein. Er zitterte vor Wut und Erbitterung und wandte Anne den Rücken zu, während er mit ihr sprach. „Habt Ihr vor, um Euer eigenes Leben und nicht das Eures Verlobten und der Menschen von Grafton zu bitten, Lady Anne?“, fragte er. „Ich finde Euren Egoismus sehr aufschlussreich.“

„Ich habe nicht vor, überhaupt um irgendetwas zu bitten.“ Annes Stimme verriet jetzt nur noch kalte Abneigung. „Ich bin gekommen, um einen Handel mit Euch abzuschließen. Und ich bin hier, um Euch Nachricht von Eurem Bruder zu bringen, Mylord.“

Simon hörte Guy Standish scharf einatmen, während die Wachen beunruhigt zu ihm hinübersahen, ihre Blicke aber schnell abwandten, als sie sahen, dass sich sein Gesicht in eine steinerne Maske verwandelt hatte. Seine Männer waren alle dabei gewesen, als Henrys blutiger und bis zur Unkenntlichkeit zerschlagener Körper zurückgebracht worden war. Sie hatten seine unkontrollierbare Wut und seinen Schmerz miterlebt, und sie waren sich nicht sicher, wie sie nun, da jemand gewagt hatte, das Thema noch einmal zur Sprache zu bringen, reagieren sollten.

„Mein Bruder ist tot.“ Simons Stimme klang vollkommen ausdruckslos und verriet nichts von den Bildern des Todes, die ihn noch immer bis in den Schlaf verfolgten. „Ich dachte, Ihr wüsstet das, Mylady. Es war General Malvoisier, der ihn zu mir zurückgeschickt hat. In einzelnen Teilen.“

Offen erwiderte Anne seinen verschlossenen Blick. „Es stimmt, dass er einen Körper zu Euch sandte, Mylord, aber es war nicht der Eures Bruders.“

Nach ihren Worten herrschte eine gespenstische Stille. Es schien, als könnte keiner der Männer glauben, was er eben gehört hatte. Zu Simon drangen nur noch winzigste Details: das Knistern des Feuers oder der Schnee, der von Lady Annes Mantel taute und zu ihren Füßen eine Pfütze bildete. Gedankenverloren sah er sich um. Der kleine Stall war unordentlich. Trotz all seiner Versuche, ihn wohnlicher zu gestalten, sah er noch immer nach dem aus, was er war – ein herausgeputzter Kuhstall. Auf dem Holztisch, wo er und seine Captains früher am Abend den Angriff des nächsten Tages geplant hatten, lagen Karten und Pläne ausgebreitet herum. Daneben stand eine Karaffe mit Rotwein – schlechter Wein, der nach Essig schmeckte und Flecken auf dem Pergament hinterlassen hatte. Sein Feldbett war zerwühlt und zeigte deutlich, dass er nicht hatte schlafen können. Dies war kein Ort für eine Dame. Und trotzdem hatte diese Dame ihm ihre Gesellschaft aufgezwungen und wagte es, genau das Thema anzusprechen, das seine Wut und seinen Schmerz nährte.

„Was sagt Ihr da?“ Seine Stimme klang fremd in seinen Ohren, und er räusperte sich. „Dass mein Bruder noch lebt? Es tut mir leid, aber es fällt mir schwer, Euch das zu glauben, Mylady.“

Anne macht einen Schritt auf ihn zu, streckte ihre Hand aus und berührte seinen Arm. Er fragte sich, ob sie seine Gefühle in seinem Gesicht lesen konnte, die verzweifelte Angst und den Funken der Hoffnung, der plötzlich in ihm aufkeimte. Ihre Stimme klang sanft. „Nehmt dies, Mylord, als Zeichen, dass ich die Wahrheit spreche.“

Simon sah auf den Goldring, den sie ihm entgegenhielt. Sein Familienwappen war in das Metall eingearbeitet. Es stimmte, dass Henry diesen Siegelring nicht getragen hatte, als sein Körper zurückgeschickt worden war, aber Simon hatte angenommen, dass Malvoisier bei all seinen Schandtaten auch nicht davor zurückgeschreckt war, einen Toten zu berauben. Jetzt war er sich nicht mehr so sicher. Seine Hand zitterte so sehr, dass der Ring auf den Tisch fiel und mit einem funkelnden Glitzern weiterrollte. Er hörte, dass sich unter den abergläubischen Wachen Unruhe breitmachte. Standish sah angespannt aus, als könnte er nicht recht glauben, was er gehört hatte.

„Verzeihung, Mylady, aber es ist leicht, einem Toten einen Ring zu stehlen.“ Simons Stimme war rau. „Das beweist gar nichts.“

Die Spannung im Raum war nun beinahe mit Händen zu greifen.

„Ihr traut mir nicht“, sagte Anne geradeheraus.

Ihre Blicke trafen sich. „So ist es“, erwiderte Simon. „Ich vertraue niemandem.“ Er spürte, wie der Zorn in ihm brodelte. Er wollte ihr glauben. Sein Herz sehnte sich fast schmerzhaft danach, aber das war genau die Schwäche, die seine Feinde ausnutzen würden. Plötzlich erfasste ihn eine namenlose Wut, die er nicht mehr unterdrücken konnte. In einer hitzigen Bewegung wischte er die Karten und Pläne vom Tisch und wirbelte zu ihr herum. „Hält Malvoisier mich für einen Narren, dass er Euch am Vorabend einer Schlacht zu mir schickt, um mich glauben zu machen, mein Bruder sei noch am Leben? Damit will er doch nur erreichen, dass ich den Angriff abblase! Tot oder lebendig, er will meinen Bruder nur als Verhandlungsmittel benutzen!“

„General Malvoisier weiß nicht einmal, dass ich hier bin.“ Annes Stimme klang ruhig, aber sie war sehr blass geworden. „Ich habe nur Euren Bruder und einige meiner vertrauenswürdigsten Bediensteten in meinen Plan eingeweiht. Aber ich bin tatsächlich gekommen, um Euch zu bitten, den Angriff auf Grafton abzusagen, Mylord. Euer Bruder lebt. Wenn Ihr das Gut angreift, werdet Ihr ihn ganz sicher töten.“

Simon starrte sie an, als hoffte er, in ihrem Gesicht erkennen zu können, ob sie die Wahrheit sagte. Ihr Blick war fest und unerschrocken. Sie sah genauso ehrlich und offen aus wie damals an dem heißen Sommerabend, als sie im Garten von Grafton seinen Antrag angenommen hatte. Aber das war schon einige Jahre her, und der Schein konnte trügen.

Fragend sah er sie an. „Warum kommt Ihr jetzt? Die Nachricht vom Tod meines Bruders ist zwei Wochen alt. Warum habt Ihr so lange gezögert?“

„Es war unmöglich, schneller einen sicheren Weg aus Grafton hierher zu arrangieren. General Malvoisier …“ Anne brach ab und fügte dann vorsichtig hinzu: „Das Haus wird streng bewacht.“

Simon wusste, dass dies stimmte. Er hatte Graftons Verteidigungsanlagen während der ganzen Zeit der Belagerung genau studiert und wusste, dass sie nur wenige Schwachstellen hatten. Das Gut war klein, aber es war wie eine Burg befestigt und von dem flachen Marschland, das es umgab, durch einen tiefen Graben getrennt. Auf der Festungsmauer lauerten Scharfschützen, und im Haus selbst befand sich eine ganze Garnison Fußsoldaten. Er wusste auch, dass Malvoisier trotz seiner Trunksucht dafür bekannt war, seine Männer gut gedrillt zu haben und dass die Angst sie gehorsam machte. Nein, eine Flucht aus Grafton war fast unmöglich.

„Sir Henry prophezeite, dass Ihr mir nicht glauben würdet, Mylord.“ Annes Stimme nahm einen ironischen Tonfall an. „Seine Worte lauteten: ‚Sagt meinem Bruder, diesem starrköpfigen Narren, dass er Euch zuhören muss. Um unser aller willen.‘“

Simon hörte das schnell unterdrückte Lachen einer Wache. Das klang in der Tat nach genau der Art Kommentar, den Henry machen würde. Er war respektlos und unbeschwert, selbst im Antlitz der Gefahr, aber hinter seiner Keckheit verbargen sich ein kühler Kopf und ein schneller Verstand. Andererseits hatte Anne Henry gekannt, als sie beide noch jung waren und wüsste bestimmt noch genug über seinen Bruder, um ihn, Simon, täuschen zu können, falls sie dies vorhatte. „Wenn Henry Euch wirklich geschickt hat, dann hat er Euch sicher noch einen anderen Beweis mitgegeben, um mich zu überzeugen.“

Anne wirkte gelassen. „Wenn es Euch gefällt, mir zu misstrauen, Mylord, wird kein Beweis der Welt Euch umstimmen können, außer Ihr seht Henry mit eigenen Augen. Und das kann ich leider nicht arrangieren.“ Sie hielt kurz inne. „Er erwähnte eine Anekdote, die Euch überzeugen könnte. Es war etwas, das ich vorher noch nicht wusste, auch wenn wir in unserer Kindheit einige Zeit miteinander verbracht haben.“ Sie machte wieder eine kurze Pause, als hätte sie sich gerade daran erinnert, dass diese Vergangenheit nie wiederkommen würde. Dann räusperte sie sich und sprach weiter. „Offensichtlich gab es einen Vorfall, bei dem Ihr Henry, als er etwa acht Jahre alt war, im Wald verloren habt. Er hat mir erzählt, dass Ihr an jenem Tag lieber mit der Milchmagd getändelt habt, als das Kindermädchen für Euren kleinen Bruder zu spielen …“

Simon erstarrte. Sie hatte recht, auch wenn er den Vorfall schon lange vergessen hatte. Er war achtzehn gewesen und hatte es vorgezogen, sich an jenem Sommernachmittag mit einer willigen Magd zu vergnügen. Er hatte Henry für kurze Zeit allein im Wald zurückgelassen und war entsetzt gewesen, als sein Bruder bei seiner Rückkehr verschwunden war. Nur zu deutlich erinnerte er sich an seine Verzweiflung bei der hastigen Suche, an die Angst, die sein Herz ergriffen hatte, bevor er den kleinen Bruder in seinem Versteck in einer Försterhütte gefunden hatte. Doch jene Angst war nur ein schwaches Abbild des Schmerzes gewesen, den er gefühlt hatte, als man ihm mitteilte, dass Henry tot sei. Er hatte immer versucht, auf seinen Bruder aufzupassen.

Simon sah, wie sich auf Guy Standishs Gesicht ein ungläubiges Grinsen breitmachte, bevor der Captain seine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle hatte. In einer Stunde würde jeder im Lager die Geschichte kennen, ohne dass er, Simon, etwas dagegen tun konnte. Widerwillig lachte er auf, und die Atmosphäre im Raum entspannte sich ein wenig. „Verdammt soll er sein. Henry hat mir hoch und heilig geschworen, dass er nie jemandem davon erzählen würde.“

„Sir Henry schwört, dass er sein Wort bis jetzt gehalten hat“, erwiderte Anne. „Aber Zeiten der Verzweiflung erfordern verzweifelte Maßnahmen.“

„In der Tat.“ Simon sah sie an. „Das ist also der Grund, warum Ihr hier seid.“ Sein Ton wurde hart. „Ihr wollt mit dem Leben meines Bruders um die Sicherheit von Grafton handeln.“

Ungeduldig winkte Anne ab. „Ich würde alles tun, um meine Leute zu schützen, Lord Greville.“

Simon nickte wortlos. Er hatte selbst gesehen, wie sehr die Menschen von Grafton ihre Herrin liebten – und er hatte die Ergebenheit gespürt, die sie ihr entgegenbrachten. Er wandte sich wieder zu seinen Männern. „Layton, Carter, zurück auf eure Posten. Guy …“ Standish verbeugte sich, um seine Lippen spielte noch immer ein Lächeln. „Seid so gut und besorgt uns eine Flasche Wein. Vom guten, bitte“, Simon deutete zum Tisch hinüber, „und nicht diese schlechte Entschuldigung für ein Getränk.“ Dann drehte er sich wieder zu Anne um. „Werdet Ihr ein Glas Wein mit mir trinken, Madam?“

Anne schüttelte den Kopf. „Ich kann mich nicht länger aufhalten, Mylord. Ich bin nur gekommen, um Euch mitzuteilen, dass Sir Henry noch lebt, und um Euch das Versprechen abzunehmen, dass Ihr das Gut nicht angreifen werdet.“

Schnell trat Simon zwischen sie und die Tür. Seine Männer waren inzwischen hinaus in den Schnee gegangen und hatten sie in dem Stall allein zurückgelassen, der nur von dem flackernden Feuer erhellt wurde. „Ihr könnt jetzt nicht gehen“, sagte er leise, während sein Blick über ihr Gesicht wanderte. „Ihr habt mir noch nicht einmal ein Viertel der Geschichte erzählt.“ Er schloss die Tür und rückte ihr einen Stuhl zurecht. Es war ein einfacher harter Holzstuhl, da in den Ställen und Scheunen des Dorfes Grafton nichts mehr zu finden gewesen war, was übermäßigen Komfort bot.

Simon war erschüttert gewesen, als er mit seinen Truppen zur Belagerung des Guts angerückt war und das Dorf in Trümmern vorgefunden hatte. Er hatte schnell herausgefunden, dass es Gerard Malvoisiers royalistische Truppen gewesen waren, die plündernd, raubend und brandschatzend durch die Gegend gezogen waren. Sie hatten alles mitgenommen, an dem sie Interesse hatten, und den Rest aus reinem Übermut zerstört. Malvoisiers Verhalten war umso unentschuldbarer, da Grafton stets treu zum König gestanden hatte. Jetzt war die Bevölkerung vertrieben, die Häuser nur noch Ruinen und die wenigen Menschen, die noch da waren, verbittert, auch wenn sie den royalistischen Treueschwur des alten Earls weiter achteten.

Simons Männer hatten das Gut umzingelt und lebten jetzt schon seit drei Monaten mit den verbleibenden Dorfbewohnern in einem vorsichtigen Waffenstillstand. Sie hatten sich durch harte Arbeit den widerwilligen Respekt der Leute verdient, weil sie den Dorfbewohnern höflich begegneten, ihr Essen mit ihnen teilten und ihnen bei allen Arbeiten zur Hand gingen, sei es Bäume zu fällen oder ihre Hütten wieder aufzubauen. Sie kamen zwar mit den Menschen hier zusammen, aber letztendlich waren sie Besatzer, und es war ein spannungsgeladenes und unbequemes Miteinander, das jederzeit in einen heftigen Streit oder Kampf umschlagen konnte.

Simons Meinung nach waren Belagerungen die anstrengendste und gefährlichste Art der Kriegsführung. Nur Zeit, Aushungern und letztendlich rohe Gewalt würde die Garnison im Gut in die Knie zwingen. Während dieser langen Zeit konnte ein Mann aus reiner Langeweile nachlässig werden. Jemand, der nicht genau aufpasste, konnte sehr leicht von einem Scharfschützen erschossen oder von einem Anhänger der Royalisten in einer dunklen Gasse des Dorfes niedergestochen werden. Simon hatte in den letzten drei Monaten schon ein halbes Dutzend Männer verloren, und die ständige gespannte Aufmerksamkeit zehrte an ihnen. Sie alle warteten nur darauf, dass es am nächsten Tag endlich losging. Und nun diese Nachricht, am Vorabend der Schlacht.

Simon ließ Anne nicht aus den Augen, als sie widerstrebend zum Feuer hinüberging und ihren nassen Mantel wie einen Schutzschild eng um sich zog. Unruhe flackerte in ihren Augen, so als wüsste sie, dass sie schon zu lange geblieben war. Er erinnerte sich an die stolze Haltung, mit der sie an den Wachen vorbei und zu ihm gekommen war. Es konnte nicht einfach für eine junge Frau in ihrer Situation sein, die Bevölkerung von Grafton zusammenzuhalten, während ihr Vater im Sterben lag, ihr Zuhause von royalistischen Truppen okkupiert und durch eine Belagerung bedroht wurde, die nur in Blut und Verderben enden konnte. Sie war ja erst einundzwanzig Jahre alt.

Wieder fühlte er, wie sich verräterisch das Mitgefühl in ihm regte. Entschlossen verdrängte er es. Er hatte eine Aufgabe zu erfüllen, und er traute Anne Grafton nicht. Er durfte ihr nicht trauen.

Ohne sie aus den Augen zu lassen, zündete er eine weitere Kerze an. Lady Anne sah zerbrechlich, aber entschlossen aus. Das blaue Samtkleid, das den zarten, weißen Hals freiließ, umfloss ihren Körper mit einer verführerischen Eleganz und ließ Bilder in seinem Kopf entstehen, die nichts mit Krieg zu tun hatten. Dann bewegte sich ihre Hand zu ihrer Tasche und mit dem plötzlichen Gedanken an seine eigene Sicherheit kehrte auch sein klarer Verstand zurück, und sein Verlangen war verschwunden. „Ihr habt einen Dolch bei Euch, nicht wahr?“, fragte er. „Gebt ihn mir.“

Ihr Kopf schoss nach oben. Sie biss sich auf die Unterlippe und straffte die Schultern. „Ich würde mich sicherer fühlen, wenn ich ihn behalten könnte.“

„Das glaube ich gerne“, erwiderte Simon, „aber es ist eine Bedingung unserer Verhandlungen, dass Ihr unbewaffnet seid.“ Er zeigte auf seinen Schwertgürtel, der über einer Stuhllehne hing. „Ich verlange nichts von Euch, das ich nicht auch selbst zu erfüllen bereit bin.“

Noch immer bewegte sich Anne nicht, und Simon wusste, dass sie mehr um ihre Tugend als um ihr Leben bangte. Dann seufzte sie auf und legte den Dolch zögernd auf den Tisch zwischen ihnen.

„Danke. Ihr habt mein Wort, dass Ihr Euch in keinerlei Gefahr befindet.“ Er lächelte kurz. „Sagt mir eins“, fuhr er beinahe beiläufig fort, einen Gedanken aufgreifend, den er schon gehabt hatte, als sie den Raum betrat, „haben alle Männer Angst vor Euch?“

„Nein. Es gibt ein paar Ausnahmen.“

Simon lachte. „Dann nennt sie mir.“

„Mein Vater.“ Ihr Gesicht verlor jeden Ausdruck, als wäre schon allein die Erwähnung des kranken Earl of Grafton kaum zu ertragen für sie. „Und Euer Bruder Sir Henry behandelt mich, als sei ich seine ältere Schwester.“ Sie sah erneut zu ihm hoch und erwiderte seinen Blick. „Und dann seid da noch Ihr, Mylord. Ich habe gehört, dass Ihr vor nichts und niemandem Angst habt.“

„Das ist eine dienliche Annahme, um meinen Männern Mut zu machen“, kam Simons kurze Antwort. Er war überrascht, dass ihre Worte eine so große Wirkung auf ihn hatten. „Nur ein Narr fühlt am Vorabend einer Schlacht keine Angst.“

Sie nickte langsam. „Und das seid Ihr ganz sicher nicht. Vielmehr seid Ihr einer der jüngsten Colonels in der Armee der Parlamentarier, bekannt für Euren kühlen Kopf und Euren Mut, ein Soldat, den die Männer des Königs mehr fürchten als beinahe jeden anderen …“

Für einen langen Moment sahen sie einander an. Dann trat Simon beiseite und schob die Holzscheite mit einem Stiefel tiefer ins Feuer. Sie zerbrachen in einem kleinen Funkenregen. Es zischte, und der Geruch von Apfelbaumholz erfüllte den Raum. Draußen lag hoch der Schnee, und die Männer bereiteten sich auf den Kampf vor. Doch hier drinnen herrschte ein warmes Halbdunkel, das eine trügerische Illusion von Intimität erzeugte.

„Es tut mir sehr leid, dass Euer Vater krank ist“, sagte Simon. „Der Earl of Grafton ist ein guter Mann. Wir mögen nicht auf derselben Seite stehen, aber ich habe ihn immer bewundert.“

„Danke.“ Anne strich sich das dunkle Haar aus der Stirn. Die langsam trocknenden Strähnen bildeten einen dunkel schattigen Rahmen um ihr Gesicht. Sie sah blass und müde aus.

„Wird er sich wieder erholen?“

Anne schüttelte den Kopf. „Er lebt, Mylord, aber es wäre genauso wahr zu sagen, dass er tot ist. Er redet oder bewegt sich nicht, und er isst nur sehr wenig. Zudem erkennt er keinen mehr von uns. Es ist nur noch eine Frage der Zeit.“

Simon nickte. Das entsprach dem, was er schon im Dorf gehört hatte. Der Earl of Grafton war schon seit Jahren leidend, und es war keine Überraschung, dass der König vor Kurzem beschlossen hatte, Grafton mit Truppen aus Oxford unter dem Kommando von General Gerard Malvoisier zu unterstützen. Graftons Lage prädestinierte es dazu, die Straße zwischen den westlichen Landesteilen und Oxford für den König zu schützen, und er hatte es gut mit Männern und Waffen ausgerüstet. Die parlamentarischen Generäle vermuteten auch, dass sich in Grafton eine nicht unbeträchtliche Menge an Geld und Wertgegenständen befand, die die Royalisten aus dem Westen zur Unterstützung des Königs geschickt hatten. Das war auch der Grund, warum General Fairfax Simon mit einem Bataillon Fußsoldaten und einer Division Kavallerie entsandt hatte, um Grafton ein für alle Mal von den Royalisten zurückzuerobern.

König Charles selbst hatte, kurz nachdem 1642 der Krieg erklärt worden war, die Verlobung zwischen Gerard Malvoisier und Anne angeordnet, und Simon hatte so mehr als genug Grund, gegen den royalistischen Feldherrn Groll zu hegen. Denn bevor der König eingegriffen hatte, war Grafton – genau wie seine Erbin – ihm versprochen gewesen. Simon hatte Gerard Malvoisier immer verachtet. Er hielt ihn für einen brutalen Schlächter, der seine Grausamkeit unter dem Mantel des Soldatentums zu verbergen suchte. Dass Malvoisier seiner Meinung nach Henry ermordet hatte, hatte seinen Hass nur noch verstärkt, genauso wie die Tatsache, dass er mit Anne verlobt war. Allein der Gedanke, dass Malvoisier sie für sich beanspruchte, ihren schlanken Körper in sein Bett zerren und sie mit all der Brutalität, zu der er fähig war, zu der Seinen machen würde, ließ Übelkeit in Simon aufsteigen.

Als er jetzt sah, wie ihr Haar vor dem warmen Feuer langsam trocknete und die Kerzen Schatten über die zarte Linie ihrer Wangen warfen, fühlte er, wie tief in ihm etwas zerbarst. Malvoisier würde sie niemals besitzen. Außer … Simon erstarrte. Vielleicht war es schon zu spät. Gerüchte besagten, dass Gerard Malvoisier die Unauflösbarkeit der Verlobung garantiert hatte, indem er sie sofort in sein Bett genommen hatte. Wahrscheinlich war sie schon seine Geliebte.

Es klopfte, die Tür wurde einen Spalt geöffnet, und Standish sah vorsichtig herein. „Der Wein, Mylord.“ Lautlos zog er sich wieder zurück und schloss die Tür mit einem leisen Klicken hinter sich.

Simon goss ihnen beiden ein und reichte Anne ein Glas. Seine Hand berührte die ihre. Ihre Finger waren kalt. Ein seltsames Gefühl, ein Gemisch aus Ärger und dem Wunsch, sie zu beschützen, erfasste ihn und durchbrach die Kälte, die ihn seit Henrys Tod erfasst hatte. „Kommt näher ans Feuer“, sagte er abrupt. „Ihr müsst halb erfroren sein. Die Nacht ist nicht dazu geeignet, draußen herumzulaufen.“

Sie warf ihm einen schnellen Blick zu, zog dann aber gehorsam ihren Stuhl näher an die Flammen. Jetzt, da sie allein waren, schien sie ganz ihren eigenen Gedanken nachzuhängen. Ihr inneres Feuer, das eben noch so hell gelodert hatte, schien beinahe erloschen oder war zumindest nicht mehr sichtbar, und zurück blieb nur die Fassade ihrer Schönheit. Simon setzte sich auf den Stuhl ihr gegenüber und betrachtete sie für einen Moment, bevor sie wieder den Blick zu ihm hob.

„Auf was können wir trinken“, fragte er, „jetzt, wo wir auf verschiedenen Seiten stehen?“

„Dieser Konflikt bringt Unruhe und Verwirrung in die Loyalitäten aller Beteiligten. Das Ganze gerät immer mehr außer Kontrolle. Ich weiß nicht, wie es enden soll.“ Sie zögerte. „Ich habe gehört, dass Euch der Treueschwur, den Ihr abgelegt habt, Eurem Vater entfremdet hat …“ Sie brach ab und errötete leicht.

„Das ist richtig“, erwiderte Simon kurz.

Anne blickte zur Seite. „Das tut mir leid“, flüsterte sie.

Simon fühlte, wie ihr Schmerz auch sein Herz berührte. Der Zwist mit seinem Vater war etwas, das er nicht leicht verdrängen konnte. Es war keine fünf Jahre her, dass er an der Seite von Fulwar Greville im Parlament gesessen hatte. Rückblickend schien es, als ob das Land fast unmerklich in den Bürgerkrieg hineingerutscht wäre. Fulwar hatte die Arroganz des Königs gegenüber seinem Volk nicht gutgeheißen, aber er hatte der Krone vierzig Jahre lang gedient, hatte mit seinem Herrscher das Brot geteilt und würde seinen Treueschwur jetzt nicht brechen. Simon seinerseits hatte einen Monarchen gesehen, der eine Armee aufgestellt hatte, um gegen seine eigenen Untertanen zu kämpfen, und dessen Macht eingeschränkt und kontrolliert werden musste. Als er den Schwur der Milizarmee leistete, das Parlament zu schützen, schien das Gesicht seines Vaters vor seinen Augen um Jahre zu altern. Sie wussten beide, was dieser Schwur bedeutete. Gehörte seine Treue seinem Vater oder seinem Land? Seine Loyalität konnte nur einem gelten.

„Vielleicht gibt es jetzt nur noch eines, auf das wir anstoßen können. Die Treue selbst“, sagte Simon. „Auch wenn das für jeden Menschen etwas anderes bedeuten kann.“ Er stieß sein Glas sanft gegen Annes.

Einen Moment später lächelte sie und hob ihr Glas mit einem Nicken, bevor sie einen kleinen Schluck nahm. „Treue“, sagte sie. „Darauf kann ich trinken.“

Das Feuer und die wärmende Wirkung des Weines malten eine sanfte Röte auf ihre Wangen, und sie sah plötzlich sehr jung aus.

Simon lehnte sich zurück. Es war still geworden, nur noch das leise Knistern des Feuers im Kamin war zu hören. Für einen Moment herrschte Frieden – so weit das in dieser Zeit möglich war.

Es war Anne, die die Stille schließlich brach. „Werdet Ihr also Eure Truppen zurückziehen?“, fragte sie. „Sind wir uns einig, Lord Greville?“

„Nein. Noch nicht.“

Anne sprang auf die Füße. Ihre Hand griff nach dem Dolch, der immer noch auf dem Tisch lag, aber Simon war schneller. Seine Finger schlossen sich um ihr Handgelenk.

„Nicht so hastig.“ Seine sanfte Stimme stand im Gegensatz zu seinem eisernen Griff, mit dem er sie festhielt. „Ich habe noch ein paar Fragen, auf die ich Antworten haben will, bevor wir eine Einigung erreichen können. Bleibt noch ein wenig.“

Er ließ sie los, und Anne setzte sich wieder. Sie rieb sich das Handgelenk, während Simon nach dem Dolch griff. Das Feuer warf glitzernde Reflexe auf den diamantenbesetzten Griff, als er ihn in den Händen drehte. „Das ist eine gute Arbeit“, sagte er.

„Mein Vater hat ihn mir gegeben.“

„Und ohne Zweifel hat er Euch auch beigebracht, ihn zu benutzen.“ Simon ließ den Dolch in seiner Tasche verschwinden. „Ihr werdet verzeihen, dass ich ihn für den Moment behalte. Aber ich habe kein Verlangen, ihn zwischen meinen Schulterblättern zu spüren.“

Anne zuckte die Achseln, doch in ihren Augen blitzte es. Lord Grevilles Ablehnung, schnell zu einer Einigung zu kommen, verärgerte sie, aber sie wollte sich nichts anmerken lassen. „Es scheint, ich habe kaum eine Wahl.“ Herausfordernd sah sie ihn an. „Ihr wollt Antworten, Mylord? Dann stellt Eure Fragen.“

Simon nickte langsam. „Also gut.“ Er wartete noch einen Moment, dann fuhr er fort: „Ist es wahr, dass General Malvoisier nicht weiß, dass Ihr hier seid, und auch nicht in Euren Plan eingeweiht ist, mir von Henry zu erzählen und um die Sicherheit des Gutes zu verhandeln?“ Bei der Nennung von Malvoisiers Namen flackerte Annes Blick auf, aber sie hatte sich zu schnell wieder gefasst, als dass Simon den Ausdruck hätte deuten können.

„Das ist richtig. Malvoisier liegt das Wohl der Menschen von Grafton nicht auf die gleiche Weise am Herzen wie mir. Er hätte niemals einem Verhandlungsversuch mit Euch zugestimmt.“

„Dann habt Ihr also Euren Verbündeten verraten?“

Der Blick, den sie ihm zuwarf, hätte einen schwächeren Mann in die Knie zwingen können. „Meine Loyalität gehört dem König. Ich habe die Sache der Royalisten nicht verraten und werde dies auch niemals tun!“

Simon nahm ihre Worte mit einem Kopfnicken hin. Sie würde um keinen Preis nachgeben und ganz sicher nicht ihren Treueschwur brechen. Er fühlte den Aufruhr in ihr. Zu gerne hätte sie ihn zur Hölle gewünscht, aber es stand zu viel auf dem Spiel. Aber er spürte auch ihre Verzweiflung. Das Schicksal Graftons bedeutete ihr beinahe alles. Und das könnte heißen, dass sie ihm tatsächlich die Wahrheit über Henry gesagt hatte. Entweder das, oder sie war eine verdammt gute Schauspielerin. „Ihr bleibt also bei Eurer Behauptung, dass Henry gesund und munter ist und dass Malvoisier gelogen hat, als er mir von seinem Tod berichtete?“, setzte er nach.

„Es stimmt.“ Sie schlug die Augen nieder. „Das heißt, Sir Henry lebt, aber er wurde verwundet.“

Wut und Hass flammten in Simon auf. „Malvoisier?“ Seine Faust traf den Tisch in einem mächtigen Schlag. „Ich hätte es wissen sollen. Verdammt soll er sein, für alles, was er getan hat!“

„Sir Henry wird sich wieder erholen“, sagte Anne. Sie streckte kurz die Hand nach ihm aus, zog sie dann aber schnell wieder zurück. „Euer Bruder ist jung und kräftig, Mylord, und mit der Zeit …“ Sie hielt inne, und die Stille hing schwer zwischen ihnen. Simon wusste, was dieses Schweigen bedeutete. Henry würde sich erholen, wenn er morgen den Angriff auf das Gut überlebte. Er würde sich erholen, wenn Gerard Malvoisier ihn nicht als Geisel benutzte oder ihn, um ein Exempel zu statuieren, auf den Zinnen aufhängte.

In einem Anflug von Ruhelosigkeit kam er auf die Beine. Er war hin und her gerissen. Wenn Henry wirklich tot gewesen wäre, hätte er selbst auch bei einem Frontalangriff auf Grafton nichts mehr zu verlieren gehabt. Aber jetzt anzugreifen, da er wusste, dass sein Bruder dort gefangen gehalten wurde … Es war gefährlich – vielleicht sogar selbstmörderisch –, doch er würde sich nicht von einem Mann wie Malvoisier erpressen lassen.

Unfähig, ruhig zu bleiben, durchquerte er den Raum mit großen Schritten, um seiner Wut Herr zu werden. „Er hat mir eine Leiche geschickt“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus. „Wie ist das möglich, wenn Henry noch lebt?“

Anne schien im Angesicht seines Zorns nur noch ruhiger zu werden. Sie drehte nicht einmal den Kopf, als sie ihm antwortete, aber ihre Finger, die sie in ihrem Schoß gegeneinanderpresste, zeigten, dass sie lange nicht so gefasst war, wie es den Anschein hatte. „Der Tote war einer von Malvoisiers eigenen Männern. Er starb am Fieber.“

Simon konnte nicht glauben, was er da hörte und wirbelte zu ihr herum. „Er hat einem seiner eigenen Soldaten die Beerdigung verwehrt? Und sein Körper wurde verstümmelt, damit ich ihn auch wirklich für Henry halten würde?“ Seine Finger schlossen sich so hart um sein Weinglas, dass das Kristall beinahe zerbrach. Er hatte nie infrage gestellt, dass der tote Mann Henry war. Der Körper war so entstellt gewesen, dass er unmöglich zu erkennen war, und versunken in Schmerz und Reue hätte er niemals geglaubt, dass Malvoisier ihn bewusst in die Irre geführt hatte. Er hatte den Toten mit allen Ehren begraben, ihrem Vater geschrieben, um ihm mitzuteilen, dass sein jüngerer Sohn gefallen sei, und hatte seine eigenen Pläne für eine eiskalte und brutale Rache geschmiedet. Was machte es schon, dass es ein wahnsinniges Unternehmen war, die Garnison in Grafton anzugreifen. Es war ihm egal. Alles, was er wollte, war, die Familienehre wiederherzustellen und Gerard Malvoisier vollständig und endgültig zu vernichten. „Warum hat er das getan?“, fragte er leise. „Warum wollte er mich glauben machen, dass mein Bruder tot ist?“

„Ihr seid der Stratege, Mylord“, erwiderte Anne. „Warum glaubt Ihr, dass er es getan hat?“

Simon überdachte die Sache. „Er wollte, dass ich Henry für tot halte, um mich zu provozieren“, sagte er langsam. „Er wollte die Belagerung beenden und mich aufs freie Feld zwingen, weil er da eine bessere Chance hat, mich zu besiegen.“

„Ganz genau.“

„Jetzt hat er einen doppelten Vorteil“, dachte Simon laut weiter. „Er hat mich zu einer unüberlegten Handlung getrieben, und er hat immer noch meinen Bruder in seiner Gewalt.“ Er nickte langsam. „Dieser Mann ist sehr gerissen. Beinahe könnte ich seine Taktik bewundern.“ Er trat zu Annes Stuhl hinüber und lehnte sich so dicht neben ihr an den Tisch, dass sie seinen Atem in ihrem Haar spüren konnte. „Das heißt … wenn es denn stimmt, Lady Anne. Ich bin fast versucht, Euch zu glauben.“

Er wusste, dass es gefährlich sein könnte, ihr zu vertrauen. Selbst jetzt konnte sie lügen, um ihn dazu zu bringen, seine Truppen zurückzuziehen und ihm doch noch eine Niederlage abzutricksen. Auch wenn ihm jede Faser seines Körpers sagte, dass sie die Wahrheit sprach, konnte er sich nicht die Schwäche erlauben, Zuneigung für sie zu empfinden. Er war müde. Sein Verstand war vor Erschöpfung und den Gedanken an die bevorstehende Schlacht getrübt, und er wusste, dass dies verhängnisvolle Auswirkungen auf sein Urteilsvermögen haben konnte.

Unvermutet wandte Anne den Kopf. Der Blick ihrer dunklen Augen traf ihn wie die Spitze eines Dolches. Sie wollte aufstehen, aber Simon griff nach ihrem Arm und hielt sie zurück. Sie waren sich sehr nah. Nur eine Haaresbreite trennte sie noch.

„Ich lüge nicht“, sagte Anne verächtlich. „Wenn ich ein Mann wäre, würde ich Euch für diese Beleidigung zur Verantwortung ziehen.“

Simon zog sie so abrupt auf die Füße, dass ihr Stuhl ins Wanken geriet und beinahe umfiel. Ihr Körper war starr unter seinen Händen, und doch konnte er sie vor Ärger und Entrüstung zittern spüren. „Schöne Worte, Mylady. Doch einen von uns müsst Ihr angelogen haben, Malvoisier oder mich. Und er ist jetzt Euer Verbündeter.“

In plötzlicher Wut entwand Anne ihren Arm seinem Griff. „Wagt es nicht, mich des Verrats zu beschuldigen.“ Ihre Stimme schwankte. „Ich diene dem König, und bis er mich von meinem Treueschwur entbindet, ist meine Loyalität ungebrochen. Malvoisier …“ Sie hielt inne, und eine gespannte Stille erfüllte den Raum.

„Ja?“ Simons Stimme klang rau, als er sie zum Weitersprechen aufforderte. Sein Atem kam rasch. „Was ist mit ihm?“

Einen Augenblick zögerte Anne. „Malvoisier und ich stehen beide auf der Seite der Royalisten, aber unsere Loyalität gehört verschiedenen Dingen“, erwiderte sie langsam. „Meine Loyalität gilt zuallererst dem König, aber direkt danach folgen meine Leute. Ich muss Grafton beschützen.“ Beschwörend hob sie die Hände. „Ich kam heute Nacht aus eigenem Antrieb zu Euch, da ich um einen Waffenstillstand bitten wollte, Mylord. Wenn ihr das Gut angreift, werdet Ihr mit großer Wahrscheinlichkeit Euren Bruder und mindestens die Hälfte der Einwohner der Burg töten. Ihr habt Kanonen – solch einen Angriff können wir nicht überstehen. Widerruft Euren Befehl und schont Henrys Leben und das meiner Leute.“

Gespannte Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Simon wusste, dass das alles war, was er von Anne an Bitten erwarten konnte. Sie war sehr stolz, und sie hatte sich trotzdem so weit erniedrigt, in dieser Nacht zu ihm zu kommen, um ihn zu bitten, die Leben der Menschen, die ihr nahestanden, zu schonen. Und er musste es ihr abschlagen. Langsam schüttelte er den Kopf. „Nein. Ich werde den Angriffsbefehl nicht widerrufen.“

Schock und Entsetzen standen in ihrem Gesicht, und ihm wurde klar, dass sie fest damit gerechnet hatte, ihn umstimmen zu können. Sie richtete sich gerade auf und sah ihn unverwandt an. „Wollt Ihr mich nicht verstehen, Mylord?“, fragte sie aufgebracht. „Sir Henry ist zu schwach, um aufzustehen, geschweige denn zu kämpfen! Wenn Ihr angreift, wird er im Kampf getötet werden, oder schlimmer noch: Malvoisier wird ihn auf den Zinnen der Burg aufhängen! Er ist eine Geisel, und Malvoisier wird ihn benutzen, um seine eigene Freiheit zu garantieren oder Eure einzufordern! Wie auch immer Ihr es betrachtet, Euer Bruder ist ein toter Mann!“

„Und das kümmert Euch?“, fragte Simon schroff.

„Natürlich tut es das!“, erwiderte Anne scharf. „Euer Vater ist mein Taufpate, Lord Greville. Henry steht meinem Herzen so nahe wie …“ Sie brach ab und fuhr dann leise fort: „… so nahe wie ein Bruder.“

„Und doch wollt Ihr ihn benutzen, um Sicherheit für Grafton zu erkaufen“, sagte Simon bitter. „Doch ich werde mich nicht so erpressen lassen.“

Anne starrte ihn an, Ärger und Unglaube in ihrem Blick. „Ihr werdet tatsächlich nichts unternehmen, um ihm zu helfen?“, fragte sie fassungslos. „Mir scheint, Ihr seid wahnsinnig geworden. Ihr würdet Euren Bruder für nichts und wieder nichts opfern?“ Ärger schwang in ihrer Stimme. „Warum sagt Ihr mir nicht die Wahrheit, Mylord? Ihr wollt Eure Truppen nicht zurückziehen, weil Ihr einen Angriff auf Grafton angekündigt habt und es Euch jetzt nicht erlauben könnt, schwach zu erscheinen. Henry ist Euch dabei völlig egal! Es geht nur um Euer Ansehen. Das ist alles, was Euch kümmert!“

Sie starrten sich für einen langen Moment an, die Blicke ihrer dunklen Augen unverwandt aufeinander gerichtet.

„Selbst wenn ich die Attacke abblasen würde, könnte ich Henry nicht befreien“, sagte Simon schließlich und versuchte, ihre Beschuldigungen und den Ärger, den sie in ihm hervorgerufen hatten, zu ignorieren. „Ihr habt recht – er ist Malvoisiers Geisel. Die einzige Möglichkeit, ihn zu retten, ist, die Burg einzunehmen.“

Anne griff nach ihrem Mantel. „Dann verschwende ich hier meine Zeit. Henry sagte, dass ihr Vernunft zeigen würdet. Offensichtlich hat er Euch überschätzt.“

Mit zwei schnellen Schritten war Simon an der Tür und versperrte Anne den Weg. Er lehnte sich mit einer Schulter gegen das Holz und verschränkte die Arme vor der Brust. Anne war vor ihm stehen geblieben und wartete ungeduldig, dass er sie vorbeilassen würde, doch er bewegte sich keinen Zentimeter zur Seite. „Ihr habt mir allerdings die Möglichkeit gegeben, General Malvoisiers Plan zu durchkreuzen“, sagte er ruhig.

Verwirrt schaute Anne ihn an. „Wie meint Ihr das?“

Simon schloss den ganzen Raum in seine Geste ein. „Ich glaube Euch, dass Malvoisier Henry gefangen hält, aber nun seid Ihr in meiner Gewalt. Eine Geisel für eine Geisel, ein Leben für ein Leben.“ Sein Blick hielt den ihren. „Ich werde Euch benutzen, um Henry zu befreien. Lady Anne, betrachtet Euch als meine Gefangene.“

2. KAPITEL

Unglaube und bittere Ernüchterung trafen Anne mit doppeltem Schlag. Sie hatte noch die Worte Henry Grevilles im Ohr: ‚Mein Bruder ist ein Mann von Ehre. Er wird Euch für Euer Eingreifen danken. Er wird Euch mit allem Euch zustehenden Respekt behandeln …‘

Und sie hatte ihm geglaubt, in Erinnerung an den Simon Greville, den sie vor Jahren gekannt hatte. Daher hatte sie Henrys Worte keinen Augenblick infrage gestellt. Wie unglaublich dumm sie gewesen war. In ihrem Verlangen, das Richtige zu tun und Simon Greville die Wahrheit über seinen Bruder zu sagen und sowohl Henry als auch ihre eigenen Leute zu retten, war sie direkt in die Höhle des Löwen gelaufen und hatte sich in die Hände eines Mannes begeben, der mindestens so gefährlich und skrupellos wie Gerard Malvoisier war. Sie hatte alles für die Gerechtigkeit riskiert, und Simon Greville, ihr früherer Verlobter, dankte es ihr, indem er sie benutzte.

Sie wirbelte so schnell herum, dass der Weinpokal auf dem Tisch neben ihr ins Wanken geriet und beinahe umfiel. „Das werdet Ihr nicht tun!“ Ihre Stimme brach und verriet ihre Verzweiflung. „Ich habe Euch vertraut! Ich bin in gutem Glauben zu Euch gekommen, um einen Waffenstillstand zu verhandeln.“

Simons Gesichtsausdruck wurde hart. „Wie ich schon sagte – es ist am besten, niemandem zu vertrauen.“

Für einen kurzen Moment herrschte Stille. Anne sah Lord Greville an. Es war nur allzu offensichtlich, dass die schönen Erinnerungen an ihre frühere Bekanntschaft sie in die Irre geleitet hatten. Immer noch stand ihr der lange heiße Sommer vor vier Jahren vor Augen, als Simon Greville in Grafton um sie geworben und sie mit solcher Zärtlichkeit und Leidenschaft geküsst hatte, dass sie sich sofort in ihn verliebt hatte. In all den Jahren, die darauf folgten, hatte sie keinen anderen Mann getroffen, der mit ihren Erinnerungen an ihn konkurrieren konnte. Ob bewusst oder unbewusst hatte sie alle Männer immer an ihm gemessen – und hatte stets Fehl an ihnen gefunden. Aber nun schien es, dass ihr eigenes Urteilsvermögen sie im Stich gelassen hatte. Simon Greville hatte keine Ehre und keinen Anstand und würde sie für seine eigenen Zwecke benutzen.

Äußerlich hatte er sich kaum verändert. Er war in den vergangenen Jahren lediglich ein wenig breiter geworden, sodass er nun nicht mehr nur groß, sondern auch massiv wirkte. Er war sehr dunkel, mit den aufmerksamen Augen und den gemeißelten, aristokratischen Zügen eines Kirchenheiligen. Anders als sein Bruder lächelte er kaum. Aber Henry Greville war kaum mehr als ein charmanter Junge. Simon hingegen war ein Mann, der beeindruckte. Er war mächtig, kalt, berechnend – und kannte keine Gnade. Sie hätte es wissen müssen und weglaufen sollen, als sie noch die Gelegenheit dazu hatte. Stattdessen hatten ihre Erinnerungen und ihr Vertrauen in Simons Worte ihr ein falsches Gefühl der Sicherheit gegeben. Sie hatte ihr Leben in seine Hände gelegt. Nun fühlte sie sich verraten. All ihre Verachtung, die sie vor sich selbst und auch vor ihm empfand, brach hervor. „Ich dachte, Ihr wärt ein Mann von Ehre. Es scheint, ich habe mich geirrt.“

Ungerührt lehnte Simon mit vor der Brust verschränkten Armen und einer Lässigkeit, die sie nur noch mehr aufbrachte, an der Tür. Seine ausdruckslose Miene verriet nicht, ob ihre Worte ihn verletzt hatten. „Vielleicht hat Ehre keinen Platz im Krieg“, sagte er. „Ihr habt mir mit Eurem Kommen in die Hände gespielt, Madam. Es wäre dumm von mir, diesen Vorteil nicht zu nutzen.“

Anne gab einen verächtlichen Laut von sich. „Ich hatte geglaubt, Ihr wärt anders.“ Wütend ballte sie die Hände zu Fäusten. „Sir Henry hat mir geschworen, dass es so sei. Offenbar war es ein Fehler, ihm zu vertrauen.“

Simon richtete sich auf und musterte sie von der anderen Seite des Raumes aus. Seine Ausstrahlung hatte etwas Einschüchterndes, aber Anne war entschlossen, keine Angst zu zeigen.

„Ihr dachtet, ich wäre anders? Anders als wer?“, fragte er ruhig. „Malvoisier?“

„Vielleicht. Anders als die meisten Männer …“ Anne biss sich auf die Lippen und hielt die verräterischen Worte gerade noch zurück. Sie hatte nicht vor, ihren ganzen Hass gegen Malvoisier hier und jetzt vor diesem Mann auszubreiten, der sich als ihr Feind erwiesen hatte. Sie hatte Gerard Malvoisier mit seiner tyrannischen Grausamkeit und seiner Gewohnheit, jeden zu vernichten, der sich ihm in den Weg stellte, vom ersten Moment, als er nach Grafton gekommen war, verachtet. Ihre politische Allianz hing nur noch an einem seidenen Faden. Sie hatte seinen Heiratsantrag abgelehnt und war mehr als erzürnt, dass er das Gerücht ihrer Verlobung in die Welt gesetzt hatte. Sie sah Simon an, dessen dunkle Augen ihren Blick ungerührt erwiderten. Er war nicht wie Malvoisier – er tobte nicht oder schrie oder drohte –, aber er war doppelt so gefährlich. „Ich habe mich in Euch getäuscht“, sagte sie schroff. „Ihr seid genau wie alle anderen.“

„Ich kann es mir nicht leisten, so einen Vorteil nicht zu nutzen“, entgegnete er immer noch ruhig, auch wenn in seinen Augen Ärger aufflackerte. „Ich bin mir sicher, Ihr versteht das. Auf diese Weise kann ich Euch gegen Henry austauschen, und niemand kommt zu Schaden.“

Anne fühlte, wie sich neue Hoffnung in ihr breitmachte. „Soll das heißen, dass Ihr, wenn die Geiseln ausgetauscht sind, Eure Attacke auf das Gut abblasen werdet?“

„Nein!“ Simon schüttelte den Kopf. „Ich werde Eure Freiheit gegen die meines Bruders tauschen, aber Grafton muss trotzdem an die Parlamentarier fallen.“

Ungläubig sah Anne ihn an. „Also wollt Ihr mit mir nur das Leben Eures Bruders erkaufen und dann mein Heim und meine Leute trotzdem angreifen?“ Sie hob die Hände in einer Geste der Verzweiflung an die Wangen. „Eure Kaltherzigkeit ekelt mich an, Lord Greville! Einst verspracht Ihr meinem Vater, dieses Land unter Euren Schutz zu stellen!“

Dieses Mal konnte Simon seinen Ärger nicht mehr zurückhalten. „Es tut mir leid, dass Ihr die Sache so betrachtet, Madam. Wir sind im Krieg …“

Verachtung schwang in Annes Stimme. „Diese Phrase kommt Euch schnell über die Lippen, um Eure Taten zu entschuldigen!“ Ihre Hände schlossen sich um die Rückenlehne des Stuhls, über der auch Simons Schwertgurt hing. Sie konnte das glatte Leder unter ihren Fingern spüren. „Hoffen wir also, dass Malvoisier es als Vorteil sieht, diesen Handel abzuschließen“, sagte sie. „Ich bin mir allerdings nicht sicher, dass er zustimmen wird.“

„Natürlich wird er das“, erwiderte Simon. „Ihr seid das Patenkind des Königs.“

„Ah, natürlich.“ Anne konnte die Bitterkeit nicht ganz aus ihrer Stimme verbannen. „Immerhin ein Grund für ihn, mich zu retten.“

Dann herrschte Stille, nur unterbrochen vom Zischen des Feuers. Es war warm im Raum geworden, der erfüllt schien von den widersprüchlichen Gefühlen zwischen ihnen. Plötzlich riss Anne die Arme hoch und umfasste mit ihrer Geste den ganzen Tisch und die Pergamente, die darauf verteilt waren. Krampfhaft versuchte sie, ihren Ärger unter Kontrolle zu halten, obwohl sie ihre Verzweiflung und ihren Schmerz am liebsten laut herausgebrüllt hätte. „Dann sendet ihm Nachricht! Was zögert Ihr noch? Teilt ihm mit, dass Ihr mich als Geisel genommen habt. Mein Vater liegt im Sterben, und ich wäre lieber an seiner Seite, als hier von Euch gefangen gehalten zu werden.“

Simon leerte sein zweites Glas Wein und stellte den Pokal vorsichtig auf den Tisch zurück. Er spürte, dass seine Gelassenheit Anne verärgerte, die selbst kurz davor war, die Kontrolle zu verlieren. „Ich habe nicht vor, jetzt mit Malvoisier zu sprechen. Ich werde bis zum Morgen warten, wenn er Henry auf die Zinnen bringt, um zu verhandeln. Dann werde ich Euch mitnehmen und den Handel mit ihm abschließen.“

Anne wurde blass. „Verdammt sollt Ihr sein! Morgen könnte mein Vater schon tot sein, und Ihr haltet mich hier fest.“ Sie ging auf die Tür zu. „Also gut. Wenn Ihr mich hierbehalten wollt, müsst Ihr es mit Gewalt tun. Ich werde mich nicht wehrlos Euren Plänen fügen!“

Simon trat zwischen sie und die Tür. Seine Stimme war ganz ruhig. „Widersetzt Euch mir nicht, Lady Anne. Wenn Ihr mir vor meinen Männern eine Szene macht, wird es schlecht für Euch ausgehen. Sie haben Euch vielleicht auf dem Hinweg nicht aufgehalten, aber sie werden Euch nicht ohne meinen Befehl gehen lassen.“

In Annes Blick lag eine deutliche Herausforderung. „Wenn Ihr auch nur einen Finger an mich legt, Lord Greville, werde ich beißen.“

„Das wäre ein Fehler.“ Bevor Anne noch etwas sagen konnte, trat er zu ihr und ergriff ihre Oberarme. Er zog sie an sich und hielt sie mit einem Arm um ihre Taille an sich gepresst. Sein Griff war hart und unnachgiebig. Sie versuchte, sich ihm zu entwinden, aber er hielt sie fest. „Ergebt Euch“, sagte er an ihrem Ohr.

„Niemals!“ Anne versuchte, ihn zu treten. „Schert Euch zum Teufel!“

Simon lachte. „Ohne Zweifel werde ich das tun, wenn meine Zeit gekommen ist. Aber jetzt ergebt Euch.“

Als Antwort drehte Anne ihren Kopf und biss ihm in die Hand. Sie wusste, dass sie ihm wehgetan hatte, und fühlte ein wildes Gefühl der Befriedigung.

Simon fluchte leise, während er mit der Hand in ihr seidiges schwarzes Haar fuhr und ihren Kopf zurückzog. Es tat nicht weh, aber wenn sie weiterkämpfen würde, würde es schmerzhaft werden. „Kleine Wildkatze! Ergebt Euch.“

Anne zögerte. Sie wusste, dass sie nichts tun konnte. Auch wenn sie den Gedanken hasste, musste sie doch nachgeben. Sie entspannte sich ein wenig und fühlte, wie sich sein Griff in ihrem Haar leicht lockerte. Die Gedanken wirbelten durch ihren Kopf. Sie konnte sich ihm nicht ergeben, das würde sie bei niemandem tun. Es musste einen anderen Weg geben … „Ich verspreche, nicht wegzulaufen. Aber Ihr müsst mich loslassen. Dann können wir reden.“ Seine Finger glitten durch ihr Haar, als er sie freiließ. Sie fühlte sich seltsam, beinahe schwindelig. Seine Berührung war jetzt federleicht, sanft, fast ein Streicheln. Sie wollte sich in seine Arme schmiegen, nicht ihm entkommen. Die Erinnerung an seinen muskulösen Körper, der sich an sie presste, und seine Lippen nah an ihrem Ohr sandten einen kleinen Schauer über ihren Rücken.

Seine Hände fuhren an ihren Armen hinunter. Er hielt sie jetzt nur noch ganz leicht. Sein Blick fand den ihren. „Nun gut“, sagte er. „Aber versprecht mir, dass ihr nicht versucht zu fliehen.“

Anne zögerte. Die Berührung seiner Hände und die Festigkeit seines Blickes verwirrten sie. Für einen kurzen Moment erinnerte sie sich an das Verlangen, das sie früher am Abend in seinen Augen gesehen hatte. Es hatte eine Antwort in ihr hervorgerufen, mit der sie nicht gerechnet hatte, die sie nicht fühlen wollte. Es erinnerte sie zu sehr an die Schmerzen der ersten Verliebtheit, die sie mit siebzehn erlebt hatte. Sie hatte gewusst, dass es keine Zukunft für sie gab, und hatte sich gesagt, dass ihre Gefühle für Simon Greville nicht mehr als eine kindliche Schwärmerei gewesen waren. Doch es war ihr nie gelungen, dies wirklich zu glauben.

„Nun?“, fragte Simon.

Anne nickte kaum merklich und unterdrückte die Welle von verräterischen Gefühlen, die durch ihren Körper lief. „Also gut. Ich verspreche, nicht wegzulaufen.“ Sie hatte erwartet, dass er sie sofort loslassen würde, aber Simon zögerte. Er hielt sie noch immer an sich gepresst, auch wenn sein Griff jetzt sanft war. Anne konnte die Wärme seiner Hände und seines Körpers spüren und damit auch ein Gefühl der Sicherheit und Stärke. Sie wollte sich näher an ihn pressen und in seiner Stärke Trost finden, doch sie fing an zu zittern, weil ihr eigener Körper ihr nicht gehorchte und ihre Gedanken in eine unberechenbare Richtung abschweiften. Dies war Simon Greville, ihr Feind, der Mann, der sie als Geisel hielt. Sie durfte vor ihm keine Schwäche zeigen.

Aber es war zu spät. Der Ausdruck in seinen Augen veränderte sich, und er zog sie an sich, nicht hastig, sondern langsam, bis ihre Lippen sich beinahe berührten. Und dann hielt er inne. Sie konnte die dunklen Stoppeln seines Barts sehen, wo er sich nicht rasiert hatte, und die Schatten, die seine Wimpern auf seine Wangen warfen.

Annes Kehle wurde trocken. „Lasst mich los“, flüsterte sie. „Ich vertraue Euch nicht.“

„Ich weiß.“ Simons Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln. „Ihr seid klug, niemandem zu vertrauen.“

Langsam ließ er sie los, und Anne trat einen Schritt zurück. Ihr Herz schlug bis zum Hals, und ihre Beine zitterten. Sie griff nach einer Stuhllehne, um sich abzustützen, und hoffte, dass Simon glaubte, ihre Schwäche würde von Angst herrühren und nicht eine Reaktion auf seine Berührung sein. Sie blickte zu ihm hoch und sah den spöttischen Ausdruck in seinen Augen.

„Worüber würdet Ihr gerne reden?“, fragte er. Sein Blick wanderte über ihren Körper, wie er es schon zuvor getan hatte. „Ihr wisst, dass Ihr nichts habt, was Ihr mir anbieten könnt.“ Er machte eine kleine Pause. „Zumindest gehe ich davon aus, dass Ihr nicht vorhabt, mich mit dem Versprechen Eures Körpers zu bestechen …“

Anne warf ihm einen verächtlichen Blick zu. Ihre Finger schlossen sich fester um den Stuhl. Dort, unter ihrer Hand, fühlte sie den Schwertgurt. In ihrem Kopf formte sich ein Plan. Sie betete, dass sie es schaffen würde. Sie musste ihn am Reden halten, ihn ablenken … „Ihr seid verachtenswert.“

„Und Ihr seid hilflos.“ Er sah amüsiert aus.

Wütend funkelte Anne ihn an. „Ihr täuscht Euch“, erwiderte sie. „Ich habe viele Vorteile auf meiner Seite. Ich kenne die Lage und die Umgebung von Grafton. Ich kenne die Schwachstellen und Malvoisiers Pläne. Ich könnte Euch sogar sicher in die Burg bringen, wenn ich es denn wollte.“

Simon sah sie durchdringend an. „Aber Ihr würdet es nicht tun. Ihr würdet nie Eure Sache verraten.“

„Nein“, stimmte Anne ihm bitter zu. „Alles, was ich heute Nacht getan habe, hatte nur ein Ziel: Grafton zu retten. Mir bedeutet Ehre nämlich noch etwas.“

Mit spöttisch verzogenen Lippen schaute Simon sie an. „Touché, Mylady.“ Lässig hob er die Hand. „Aber da Ihr nicht bereit seid, Euch oder Eure Prinzipien zu verkaufen, habt Ihr nichts, mit dem Ihr handeln könnt.“

„Ich habe nicht vor zu handeln“, betonte Anne. „Ich habe vor, Euch dazu zu bringen, mich gehen zu lassen.“

Lächelnd verschränkte Simon die Arme vor der Brust. „Und wie wollt Ihr das anstellen?“, fragte er herablassend und stachelte damit ihren Zorn noch mehr an.

Als Antwort griff Anne nach dem Schwert. Mit dem befriedigenden Zischen von Metall glitt es aus der Scheide. Sie wirbelte herum. Simon war schon fast bei ihr, aber es war zu spät. Als er den letzten Schritt tat, berührte die Schwertspitze seine Kehle, leicht wie die Finger einer Geliebten. Simon erstarrte. „Genau so“, sagte Anne atemlos.

Das Lächeln auf Simons Lippen zeigte nun fast so etwas wie Bewunderung. „Ich kann nicht glauben, dass ich so unvorsichtig war.“

„Das wart Ihr aber.“

„Seid bitte vorsichtig. Ich habe das Schwert gerade heute Abend geschliffen. Es ist sehr scharf.“

„Gut so“, erwiderte Anne. Sie wusste, dass er jetzt ihre eigene Taktik anwandte, sie zum Sprechen zu bringen, um sie abzulenken. Es war sehr riskant, ein Schwert auf einen ausgebildeten Soldaten zu richten, besonders auf einen so erfahrenen wie Simon Greville. Wenn sie auch nur für einen Augenblick in ihrer Aufmerksamkeit nachließe, würde er sie entwaffnen, schnell und gnadenlos. Sie hielt ihren Blick fest auf das Schwert gerichtet und sah nicht in Lord Grevilles Augen. „Jetzt habe ich Euer Leben, um damit zu handeln, Mylord. Meins gegen das Eure. Das ist ein fairer Tausch. Kommt weg von der Tür. Aber langsam.“

Simon gehorchte ihrem Befehl. Anne bewegte sich vorsichtig in Richtung Tür, die gefährliche Waffe noch immer auf ihn gerichtet. Sie wollte ihn nicht töten, aber sie wusste genau, wie man ein Schwert benutzte. Der Earl of Grafton hatte keinen Sohn; stattdessen hatte er seiner Tochter beigebracht, wie man sich verteidigte.

„Ihr könnt die Klinge senken“, sagte Simon. „Ich werde Euch gehen lassen.“

Anne lachte. „Ihr werdet mich gehen lassen? Denkt Ihr wirklich, dass ich Euch das nach allem, was ihr getan habt, glaube? Außerdem brauche ich nicht Eure Erlaubnis, Mylord. Ich bin diejenige, die das Schwert in der Hand hat.“

Simon nickte. „Zugegeben. Aber ihr würdet keine fünf Schritt weit kommen, bis meine Männer Euch wieder eingefangen hätten. Ich verlange, mit Euch zu verhandeln. Senkt das Schwert und erklärt einen Waffenstillstand.“

Annes Blick traf kurz den seinen. Ein Fehler, wie sie sich eingestehen musste. Denn sie sah eine solch gnadenlose Entschlossenheit in seinen Augen, dass sie beinahe aller Mut verließ. Schnell richtete sie ihren Blick wieder auf die schimmernde Klinge. „Malvoisier hat die Regeln des Waffenstillstands nicht geachtet“, sagte sie. „Warum solltet Ihr es tun – oder ich?“

Simon rührte keinen Muskel. „Ihr seid nicht Malvoisier, genauso wenig wie ich, Lady Anne. Senkt das Schwert und redet mit mir.“

Selbst im Krieg gab es Regeln. Das wussten sie beide. Und dass Gerard Malvoisier keine Ehre hatte, bedeutete nicht, dass sie sich auf sein Niveau begeben musste, das war Anne deutlich bewusst. Sie wollte zwar nicht bleiben und mit Simon Greville sprechen, aber sie hatte einen Ehrenkodex, und an den hatte er appelliert.

„Wenn ich mich bereit erkläre zu verhandeln und Ihr mich dann verratet“, stellte sie klar, „werde ich Euch töten.“

Simon nickte. Er lächelte nicht mehr. „Das versteht sich von selbst.“

Anne trat zurück, bis ihr Rücken die Tür berührte, und ließ die Spitze des Schwerts zu Boden sinken. Sie drehte die Waffe nachdenklich in den Händen, um sie zu prüfen. Sie hatte eine lange Klinge und einen kunstvoll gearbeiteten Griff. „Das ist eine schöne Waffe. Das Schwert eines Kavalleristen.“

„Es gehörte meinem Vater.“ Simon rieb sich über die Stirn. „Er schenkte es mir, und nun benutze ich es, um auf der Seite seiner Feinde zu kämpfen.“

Annes Herz zog sich zusammen, als sie den Schmerz in seiner Stimme hörte. Sie ahnte, dass so mancher Simon Greville unterstellen würde, er hätte keine Moral, weil er die royalistische Sache seines Vaters verraten hatte. Aber sie wusste, dass zahllose Männer die Entscheidung hatten treffen müssen, ihre Ehre und Prinzipien über ihre Familie zu stellen. Sie kämpften für das, was sie für richtig hielten. Der König hatte eine Armee gegen sein eigenes Parlament aufgestellt, und wenn sie selbst ihm auch die Treue geschworen hatte, wusste sie doch, dass es einige gab, die dachten, Charles habe sein Volk verraten. „Es tut mir leid“, sagte sie leise.

Beinahe unmerklich verlagerte Simon sein Gewicht. „Es mag sentimental sein, aber ich würde das Schwert gerne wieder in meiner eigenen Hand haben, Lady Anne.“

Anne nickte. „Das kann ich mir gut vorstellen.“ Sie sah, dass Simons Hand zu der Tasche in seinem Mantel wanderte, und erinnerte sich plötzlich, dass er dort einen Dolch verborgen hatte. Schnell hob sie die Schwertspitze wieder gegen seine Brust, und er hielt inne. „Nicht doch, Lord Greville.“

„Ich bitte um Vergebung. Ich wollte Euch nur den Dolch zurückgeben, für den Fall, dass Ihr ihn ebenso wertschätzt.“

Anne fühlte verräterische Tränen in ihren Augen brennen. Für sie war alles, was ihr Vater ihr gegeben hatte, sei es materieller oder ideeller Natur, von höchstem Wert, und je schwächer er wurde, desto mehr wuchs ihre Verzweiflung. Bald schon würde er tot sein, und es würde nichts von ihm bleiben, außer seine beispielhafte Treue gegenüber dem König und seine Loyalität für die Menschen von Grafton. Sie war heute Nacht in Simons Lager gekommen, weil sie wusste, dass es das war, was ihr Vater getan hätte. Er hätte das Wohl seiner Leute über den Ruhm eines militärischen Sieges gestellt.

Sie blinzelte sich die Tränen aus den Augen. „Legt den Dolch auf den Tisch“, sagte sie mit rauer Stimme. „Aber tut es langsam. Und kommt nicht näher.“

„Diesen Fehler werde ich ganz sicher nicht machen“, versicherte Simon.

Anne beobachtete, wie er die Hand in die Tasche gleiten ließ, den Dolch herauszog und ihn vorsichtig auf den Tisch zwischen ihre beiden leeren Weingläser legte. Sie bemerkte erst, dass sie die Luft angehalten hatte, als er die Hand zurückzog und sich wieder einige Schritte entfernte und sie endlich aufatmen konnte.

„Sehr gut. Also …“ Ihr Tonfall glich dem seinen, den er früher am Abend angeschlagen hatte. „Ihr habt um Unterhandlungen gebeten. Über was wollt Ihr reden?“

Wieder fuhr sich Simon mit der Hand über die Stirn. „Es gibt nichts zu bereden. Ich habe versprochen, kein falsches Spiel mit Euch zu treiben. Ihr könnt gehen.“

Wieder flackerte Hoffnung in Anne auf, aber diesmal blieb sie vorsichtiger. „Was genau meint Ihr?“, flüsterte sie.

Ungeduldig deutete Simon Richtung Tür. „Ich sagte, dass Ihr gehen könnt. Kehrt zurück nach Grafton. Ihr seid gekommen, um zu verhandeln, und ich habe Eure Konditionen nicht akzeptiert. Ich habe meine Meinung geändert. Ich werde Euch nicht gegen Henry austauschen. Es ist meiner Sache nicht dienlich. Also gibt es nichts weiter zu sagen.“

Anne verharrte einen Augenblick. Sie war verwundert über diesen plötzlichen Gesinnungswandel. Wenn Lord Greville sie jetzt gehen ließ, was würde dann aus Henry werden? Malvoisier hätte ihn noch immer als Geisel, und Simon hätte nichts mehr, mit dem er verhandeln könnte. „Aber was geschieht dann mit Eurem Bruder?“, fragte sie.

Simon lachte, aber es klang bitter. „Es ist ein gewagtes Spiel, Lady Anne“, antwortete er. „Ich riskiere das Leben meines Bruders, um Grafton einzunehmen. Das Haus muss an die Parlamentarier fallen. Der Angriff ist unausweichlich. Jetzt über Geiseln zu verhandeln, würde die Sache nur unnötig in die Länge ziehen.“

Verwirrt schüttelte Anne den Kopf. „Aber wenn Malvoisier Henry tötet …“

Nur eine kleine Bewegung zeigte Simons Unbehagen. „Malvoisier wird zu dem Schluss kommen, dass eine lebende Geisel mehr wert ist als ein toter Mann. Er wird Henry am Leben halten wollen, um im Notfall mit ihm als Druckmittel seinen eigenen wertlosen Hals retten zu können.“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung und wandte sich ab.

Doch Anne hatte das kurze Aufblitzen echten Schmerzes in seinen Augen gesehen und wusste, dass er nicht so kaltblütig war, wie es den Anschein hatte. Vielmehr hoffte er, dass seine Worte sich als wahr erweisen würden. „Ich glaube Euch nicht, dass Ihr die Sache so leicht nehmt“, stellte sie fest. „Ihr wisst, dass es eine verzweifelt kleine Chance ist, auf die Ihr setzt.“

„Ja, ich weiß es nur allzu gut!“, erwiderte Simon heftig. „Und wenn Henry deswegen stirbt, habe ich Jahre der Trauer vor mir, in denen ich meine Entscheidung bereuen kann.“

Anne blickte ihn ruhig an. Sie fühlte, dass er seine harten Worte bewusst einsetzte, um sie auf Abstand zu halten. Er wollte weder ihr Mitgefühl noch ihre Dankbarkeit. Er wollte nichts von ihr, was sie einander näherbringen oder ihm irgendwelche Emotionen abzwingen würde. „Ihr habt tiefe Gefühle für Euren Bruder“, sagte sie. „Genau wie für Euren Vater. Ich glaube, dass Ihr mich gehen lasst, weil Ihr nicht wollt, dass mein Vater allein und ohne Trost stirbt. Ihr respektiert ihn. Und Ihr wisst, was es bedeutet, der eigenen Familie entfremdet zu sein und alles zu verlieren, was einem wichtig ist.“

Simons dunkle Augen sandten tödliche Blitze in ihre Richtung, die sie erzittern ließen. „Genug!“, fuhr er sie unbeherrscht an und hatte seine Stimme im nächsten Augenblick schon wieder unter Kontrolle. „Ihr habt mehr als genug gesagt, Madam. Ihr denkt, dass Ihr mich kennt, aber Ihr wisst überhaupt nichts.“ Er richtete sich gerade auf. „Verabschiedet Euch bitte von dem Gedanken, dass ich Euch aus einem Gefühl der Ritterlichkeit oder aus Mitleid oder Großzügigkeit oder irgendeinem anderen hehren Gefühl gehen lasse.“ In seiner Stimme klang eine gehörige Portion Selbstironie mit. „Falls ich je so empfunden haben sollte, sind mir solche Gefühle inzwischen vollkommen fremd. Die einfache Wahrheit ist, dass ich keine Geisel brauche. Ich kann Grafton auch so einnehmen.“

Die Kälte, die in seiner Stimme gelegen hatte, raubte Anne den Atem. „Wie leicht Ihr darüber sprecht, mein Heim zu zerstören“, flüsterte sie. „Ihr werdet das Leben all meiner Leute vernichten, und ich kann Euch nicht daran hindern.“

Für einen Moment glaubte sie, eine Regung hinter Simons hartem Gesichtsausdruck zu erspähen. Vielleicht war es Mitgefühl oder Trauer oder Bedauern. Sie hatte ihm eine Hand bittend entgegengestreckt, während sie sprach, aber seine Stimme blieb erbarmungslos.

„Nein, Ihr könnt mich nicht aufhalten“, bestätigte er, „aber ich bewundere Euch für den Versuch.“ Sein Ton wurde noch härter und kalt wie eine Winternacht. „Und nun geht.“

Vorsichtig legte Anne das Schwert auf den Tisch und griff nach ihrem Mantel. Tränen schnürten ihr die Kehle zu. Auch wenn sie seinen grausamen Worten nicht glaubte, war ihr bewusst, dass sie ihn nie dazu bringen würde, die Wahrheit zuzugeben. Sie wusste, dass er Henry verzweifelt liebte. Sie hatte es in dem Moment in seinem Gesicht gesehen, als sie ihm erzählt hatte, dass sein Bruder noch lebte. Er hatte seine Freude und Erleichterung und Dankbarkeit nicht verbergen können. Aber es stand zu viel auf dem Spiel, als dass sie es wagen konnten, sich voreinander eine Blöße zu geben. Es war zu gefährlich, in diesem Konflikt auch nur den kleinsten Funken von Sympathie füreinander zu zeigen, denn einer von ihnen stand auf der Seite des Königs und der andere auf der Seite des Volkes.

Und doch spürte sie, dass Simon sie mit seinen nachtdunklen Augen ansah, und das Bewusstsein seines Blickes jagte ihr einen heißen Schauer über die Haut. Sie konnte diesen Blick in jeder Faser ihres Wesens spüren, ohne sich dagegen wehren zu können. Gegen alle Wahrscheinlichkeit und auch gegen jede Vernunft war immer noch etwas zwischen ihnen, etwas erschreckend Mächtiges. Aber es durfte nicht sein. Es war unmöglich. Sie waren Todfeinde, und ein Teil von ihr hasste ihn auch. Doch ein anderer Teil fühlte sich zu ihrem Erschrecken noch genauso sehr zu ihm hingezogen wie vor vier Jahren.

Sie legte sich den Mantel um die Schultern. Simon stand neben der Tür, und sie würde an ihm vorbeigehen müssen, wenn sie den Raum verlassen wollte. Sie wünschte sich nichts mehr, als endlich zu gehen, doch als sie an der Tür angekommen war, zögerte sie und sah zu ihm auf. Aber sie wusste nicht, was sie ihm sagen sollte.

Überraschend nahm er ihre Hände in die seinen. Sein Blick war von einer brennenden Intensität. „Ihr seid mit meinem Todfeind verlobt“, sagte er leise. „Ich werde Euer Heim stürmen und Euren Leuten ihre Lebensgrundlage nehmen. Wenn ich sage, dass es mir leidtut, werdet Ihr mich einen Lügner nennen. Aber glaubt mir, dass ich alles tun werde, um die Folgen des Schlags gegen Grafton abzumildern.“

Anne zitterte und bewegte sich unwillkürlich. Doch seine Hände schlossen sich nur noch fester um die ihren. „Ich verstehe.“ Ein leichtes, bitteres Lächeln lag auf ihren Lippen. „Wie Ihr schon sagtet, wir sind im Krieg. Und in einem Krieg kommen Menschen zu Schaden.“

„Seid morgen vorsichtig“, sagte Simon. Sein Blick glitt zu ihren verschlungenen Händen hinunter und wanderte dann zurück zu ihrem Gesicht. „Befolgt diesen Rat, selbst wenn Ihr mir nicht vertraut: Schließt Euch mit den Euch am nächsten stehenden Personen im sichersten Raum der Burg ein, wenn der Angriff beginnt. Ich werde Euch, so schnell ich kann, Nachricht schicken.“

Annes Blick hing an seinem Gesicht. „Glaubt Ihr wirklich, dass Ihr siegen werdet?“, flüsterte sie.

„Ja.“

Verzweifelt biss Anne sich auf die Lippen. „Ich habe Angst um Euch.“ Die Worte waren ihr herausgerutscht, bevor sie es noch verhindern konnte. Überrascht zog Simon die Luft ein. So nah, wie sie vor ihm stand, wie sie die Wärme seiner Berührung und die Spannung in seinem Körper spürte, konnte es keine Geheimnisse mehr zwischen ihnen geben. Verlangen glitzerte in Simons dunklen Augen, und Anne wusste, dass er sie in seine Arme ziehen und bis zur Besinnungslosigkeit küssen wollte. Und sie wollte es auch. Der Wunsch, seinem Verlangen mit gleicher Leidenschaft zu begegnen, Feuer mit Feuer zu nähren, brannte fast schmerzhaft in ihrem Körper. Sie wusste nicht, warum oder wie es überhaupt möglich war, wo sie ihn doch für das, was er tun würde, hasste, aber der Drang war beinahe unwiderstehlich.

Autor

Juliet Landon
Juliet Landon hat Anleitungen für Stickarbeiten veröffentlicht. Die Umstellung ins Romangenre war für sie kein großer Wechsel, die Anforderungen sind ähnlich: große Fantasie, einen Sinn für Design, ein Auge fürs Detail, genauso wie Liebe zu Farben, Szenen und Recherche. Und ganz wichtig, bei beidem muss man bereit sein, innere Gedanken...
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Nicola Cornick
<p>Nicola Cornick liebt viele Dinge: Ihr Cottage und ihren Garten, ihre zwei kleinen Katzen, ihren Ehemann und das Schreiben. Schon während ihres Studiums hat Geschichte sie interessiert, weshalb sie sich auch in ihren Romanen historischen Themen widmet. Wenn Nicola gerade nicht an einer neuen Buchidee arbeitet, genießt sie es, durch...
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