Historical Exklusiv Band 76

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KÜSSE IM GOLDENEN SALON von CORNICK, NICOLA
Küsse im Goldenen Salon "Mein ganzer Gewinn für eine Nacht mit Ihnen … Sally Bowes, schöne Betreiberin eines eleganten Spielsalons in London, glaubt, sich verhört zu haben! Aber das Funkeln in Jack Kestrels Augen verrät: Der vermögende Geschäftsmann und zukünftige Duke meint jedes Wort ernst! Seit sie sich das erste Mal gesehen haben, prickelt es heiß zwischen ihnen. Soll Sally alles auf die verführerische Karte der Leidenschaft setzen? "

VERBOTENE LIEBE von JAMES, SOPHIA
Verbotene Liebe Um sich gegen die Avancen eines aufdringlichen Adligen zu wehren, greift Caroline zu einer Notlüge: Sie behauptet, Thornton Lindsey, der Duke of Penborne, sei ihr Liebhaber. Doch als sie dem Duke auf einem Ball begegnet, deckt er den Schwindel nicht auf, sondern bestätigt sogar ihre Geschichte. Caroline schwebt im siebten Himmel. Doch ein düsteres Geheimnis aus ihrer Vergangenheit droht, alles zu zerstören ...


  • Erscheinungstag 09.04.2019
  • Bandnummer 76
  • ISBN / Artikelnummer 9783733737122
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Nicola Cornick, Sophia James

HISTORICAL EXKLUSIV BAND 76

PROLOG

Juni 1908

Jack Kestrel suchte eine Frau.

Nicht irgendeine Frau, sondern eine, die so skrupellos, habgierig und leicht zu manipulieren war, dass sie einen sterbenden Mann erpresste.

Man hatte ihm versichert, dass sie an diesem Abend in der Kunstausstellung der Wallace Collection sein würde, aber er hatte keine Ahnung, wie sie aussah. Während er Ausschau nach dem Kurator der Sammlung hielt, der ihn mit ihr bekannt machen sollte, stand Jack ganz oben auf der Treppe und ließ den Blick über die Menge schweifen, die in Scharen in die Gemälde- und Miniaturenausstellung geströmt war. Die meisten Leute standen in kleinen Gruppen im Wintergarten und im Saal; sie plauderten, tranken Champagner und waren weniger darauf erpicht, die Gemälde zu betrachten, als vielmehr zu sehen und gesehen zu werden. Die Herren trugen Abendanzüge, die Damen in allen Farben des Regenbogens schimmernde Abendkleider und Florentinerhüte. Ihre Diamanten glitzerten im Wettstreit mit den funkelnden Kronleuchtern.

Jack drehte sich um und schlenderte langsam den Flur hinunter, der zur Grand Gallery führte. Sein Cousin, der Duke of Greenwood, hatte der Ausstellung für diesen Abend eine Reihe von Gemälden zur Verfügung gestellt, darunter zwei sehr schöne, von George Romney gemalte Porträts von Jacks Urgroßeltern, Justin Kestrel, Duke of Greenwood, und seiner Gemahlin. Jack war neugierig auf die Bilder, denn als er sie das letzte Mal gesehen hatte, waren sie in einer dunklen Ecke des Familiensitzes, Kestrel Court in Suffolk, verstaut gewesen und hatten dringend einer Säuberung bedurft. Buffy, der gegenwärtige Duke, war ein schamloser Kunstbanause. Für ihn war seine Sammlung nichts weiter als etwas, das man zu Geld machen konnte, besonders jetzt, wo seine Einkünfte aus seinen Ländereien beträchtlich schrumpften. Erst in der vergangenen Woche hatte Jack seinem Cousin tausend Pfund geliehen, um ihn davon abzuhalten, seine komplette Sammlung wertvoller Pferdegemälde von George Stubbs bei Sotheby’s versteigern zu lassen.

Nur eine Person betrachtete die in einem kleinen Salon ausgestellten Porträts der Kestrels. Sie waren äußerst wirkungsvoll aufgehängt worden und wurden raffiniert von unten mit Öllampen ausgeleuchtet. Dasselbe weiche Licht, das die Gemälde von Jacks Vorfahren beschien, fiel auch auf die davor stehende Frau; es ließ ihr Gesicht unter der breiten Hutkrempe leuchten und verlieh ihrem Teint einen rosig zarten Schimmer, während die Augen geheimnisvoll im Schatten blieben. Sie trug ein wunderschönes Abendkleid aus pfirsichfarbener Seide, das sich geschmeidig an ihren Körper schmiegte, und dazu einen großen schwarzen Florentiner, dessen Krempe mit pfirsichfarbenen Bändern und Rosen besetzt war.

Jack blieb in der Tür stehen und ließ den Blick auf ihrem Gesicht ruhen. Einen Moment lang verspürte er ein seltsames Gefühl in der Brust, fast als hätte die Unbekannte die Hand ausgestreckt und ihn körperlich berührt. So etwas hatte er noch nie erlebt. Abgesehen von einer verhängnisvollen Verstrickung in seiner Jugend hatte er seine Beziehungen zu Frauen stets unkompliziert gehalten, wie geschäftliche Übereinkünfte, die beiden Seiten körperliche Annehmlichkeiten versprachen. Bei keiner dieser Frauen war ihm der Atem gestockt oder das Herz stehen geblieben. Er beschloss, diesen plötzlichen und beunruhigenden Aufruhr seiner Gefühle zu ignorieren und ging auf die Unbekannte zu.

Sie drehte sich nicht um. Wie gebannt betrachtete sie das Porträt von Justin Kestrel; seine für das Regency typische dunkle Schönheit, das verwegene Lächeln auf seinen Lippen und den Anflug von Humor in seinen gefährlichen Augen.

„Gefällt Ihnen das Porträt?“

Auf Jacks leise Frage hin drehte sie sich endlich um, und ihre schönen haselnussbraunen Augen weiteten sich, als ihr Blick zwischen ihm und dem Bild hin und her wanderte. Er sah, wie sie den Mund widerstrebend zu einem Lächeln verzog.

„Er sah sehr gut aus“, sagte sie trocken. „Die Ähnlichkeit ist verblüffend, wie Ihnen wohl zweifelsohne bewusst ist.“

Jack verneigte sich. „Er war mein Urgroßvater. Jack Kestrel, ganz zu Ihren Diensten, Madam.“

Sie zogen leicht die dunklen Brauen hoch, verriet ihm jedoch ihren Namen nicht. Jack ahnte, dass sie das ganz bewusst nicht tat. Wie ungewöhnlich! Nur sehr wenige Frauen weigerten sich, Jack Kestrels Bekanntschaft zu machen. Im Allgemeinen weckte sein Aussehen ihr Interesse, noch ehe sie überhaupt erfuhren, wie reich er war.

„Und das hier …“ Sie wandte sich dem Porträt der Duchess zu, einer lebhaft wirkenden, mit Juwelen behängten Frau in einem smaragdgrünen Satinkleid, die herrliches rotbraunes Haar hatte. „Das muss dann Ihre Urgroßmutter sein.“

„In der Tat“, bestätigte Jack. „Vormalige Lady Sally Saltire. Es heißt, sie sei ebenso klug wie schön gewesen. Die Hälfte der Londoner Gesellschaft lag ihr zu Füßen. In der Zeit des Regency nannte man sie die Unvergleichliche.“

„Wie wunderbar.“ Die Unbekannte wirkte amüsiert. „Man hört so selten von einer klugen Frau, die sich nicht bemüht, ihre Intelligenz zu verbergen. Ich bewundere sie deswegen.“

„Ich glaube nicht, dass sie sich viel daraus machte, was andere von ihr hielten“, meinte Jack. „Und mein Urgroßvater betete sie an. Er sagte, dass sie in jeder Hinsicht die perfekte Frau für ihn wäre.“ Er lachte. „Sie konnte auf jeden Fall besser schießen als er.“

„Eine äußerst nützliche Fähigkeit“, stimmte sie zu. Jetzt trat sie näher an ein kleines rechteckiges Gemälde heran, das ein kleines Mädchen in einem weißen Kleid zeigte. Das Licht der Öllampen fiel auf das lohfarbene Haar und verlieh ihm goldene Reflexe. „Ist das die Tochter der beiden?“, fragte sie.

Jack nickte. „Meine Großtante Ottoline.“

„Lebt sie noch?“

„Oh ja, sehr sogar“, erwiderte er gefühlvoll.

Ihre Augen funkelten spitzbübisch. „Sie ist eine ziemliche Persönlichkeit, könnte ich mir vorstellen.“ Sie drehte sich zu ihm um, und wieder spürte er die Schockwirkung, die diese klaren haselnussbraunen Augen auf ihn hatten. Irgendetwas regte sich in ihm, etwas Ergreifendes, Unerwartetes, so als legte sich eine Hand um sein Herz.

„Nun“, sagte sie, „es war mir ein Vergnügen, die Bekanntschaft Ihrer aufregenden Vorfahren gemacht zu haben, Mr. Kestrel.“

Sie wollte gehen, und Jack war fest entschlossen, das zu verhindern. Er wollte noch viel, viel mehr über sie wissen. Noch war er nicht gewillt, sie gehen zu lassen.

„Ist die Kunst eine Leidenschaft von Ihnen?“, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich interessiere mich nur ein wenig dafür, wie für die Musik. Meine Leidenschaft gilt meiner Arbeit.“

Jack sah sie überrascht an. Sie wirkte nicht wie eine dieser „neuen“ Frauen, die unabhängig waren und ihren Lebensunterhalt als Verkäuferinnen oder Fabrikarbeiterinnen selbst verdienten. Dazu sah sie zu schillernd aus, zu verwöhnt, zu reich. Er wollte sie gerade fragen, womit sie ihr Geld verdiente, als sie ihn anlächelte, strahlend, aber ohne irgendwelche Versprechungen.

„Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, Mr. Kestrel, ich möchte mir gern noch die Cosway-Miniaturen ansehen. Sie sollen außergewöhnlich hübsch sein.“

„Dann darf ich Sie vielleicht in die Grand Gallery begleiten?“, bot er ihr an.

Nach kurzem Zögern schüttelte sie den Kopf. „Nein, vielen Dank. Ich bin mit einem Freund hier. Ich sollte mich jetzt auf die Suche nach ihm machen.“

„Was fällt ihm ein, Sie allein zu lassen?“

Wieder schenkte sie ihm ein Lächeln. „Ich komme sehr gut allein zurecht. Und er ist wirklich nur ein Freund, nichts weiter.“

„Ich bin erfreut, das zu hören.“

Sie seufzte. „Das sollten Sie nicht sein. Ich möchte unsere Bekanntschaft nicht weiter vertiefen, Mr. Kestrel. Ich bin zu alt dafür, mir wegen eines hübschen Gesichts den Kopf verdrehen zu lassen.“

Sie sah nicht einen Tag älter aus als fünfundzwanzig, aber Jack fand, sie hörte sich des Lebens überdrüssig an. Abgesehen davon war er zu erfahren, um sie noch weiter zu drängen. Auf die Art würde er nur das Wenige wieder verlieren, was er bereits erreicht hatte. „Dann verraten Sie mir wenigstens Ihren Namen“, bat er und nahm ihre Hand. Die Unbekannte trug lange schwarze Abendhandschuhe, die bis zu ihren Ellenbogen reichten. Die Seide fühlte sich verführerisch zart unter seinen Fingern an, und einen Moment lang glaubte er, die Hand der Frau zitterte ein wenig. Sie senkte die Lider mit den langen schwarzen Wimpern und verbarg den Ausdruck ihrer Augen.

„Ich bin Sally Bowes“, sagte sie. „Guten Abend, Mr. Kestrel.“ Lächelnd entzog sie ihm die Hand und eilte davon, den Flur hinunter zur Grand Gallery. Das Licht fing sich schimmernd auf dem pfirsichfarbenen Kleid, das die ansprechenden Rundungen darunter ahnen ließ.

Sally Bowes. Ihm war, als hätte man ihm einen Schlag in die Magengrube versetzt, so groß war der Schock für ihn. Skrupellos, habgierig und leicht zu manipulieren … eine Frau, die einen sterbenden Mann erpresste … Jetzt wusste er, womit sie ihren Lebensunterhalt verdiente. Sie war die Besitzerin eines Spielclubs, der die Schwäche der Männer ausnutzte, um ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen.

Dennoch passte diese Neuigkeit so ganz und gar nicht zu dem spontanen Bild, das er sich von ihr während ihrer kurzen Unterhaltung gemacht hatte. Sie hatten zwar nicht lange miteinander gesprochen, trotzdem hatte sie ihn verzaubert. Normalerweise neigte er nicht zu so groben Fehleinschätzungen. Neben dem Schock empfand er plötzlich noch ein anderes, tiefer gehendes Gefühl, beinahe so etwas wie Enttäuschung.

Aus einem Impuls heraus wollte er ihr nacheilen, doch dann bemerkte er, wie sich ein Herr zu ihr gesellte und ihr seinen Arm bot, während sie ihn lächelnd ansah. Jähe Eifersucht durchzuckte Jack, schmerzhaft und völlig unerwartet. Er erkannte den Mann; Gregory, Lord Holt, war ein guter alter Freund von ihm. Er fragte sich, ob Holt wohl Miss Bowes’ nächstes Opfer sein würde.

Jack straffte die Schultern. Schon am nächsten Tag würde er Miss Bowes aufsuchen und ihr unmissverständlich klarmachen, dass sie ihre Versuche, Geld von seinem Onkel zu erpressen, unverzüglich zu unterlassen hatte. Er würde sie warnen, dass es sehr gefährlich war, wenn sie sich ihn zum Feind machte.

1. KAPITEL

Miss Bowes?“

Die Stimme klang leise, sanft und vertraut. Sie ertönte ganz dicht neben Sallys Ohr, sodass sie schlagartig erwachte. Einen Moment lang wusste sie nicht, wo sie sich befand. Ihr Nacken war ein wenig steif, und etwas Kühles drückte gegen ihre Wange.

Papier.

Sie war schon wieder in ihrem Büro eingeschlafen. Ihr Kopf ruhte auf dem Stapel von Rechnungen und Aufträgen auf ihrem Schreibtisch. Sally öffnete die Augen, aber nur halb. Es war fast dunkel. Die Lampe verbreitete ein warmes Licht, und hinter der Tür waren leise Musik und Stimmengewirr zu hören. Der Geruch nach Zigarrenrauch und Wein lag schwach in der Luft. Das bedeutete, dass es schon spät sein musste; das abendliche Amüsement im „Blue Parrot Club“ hatte bereits begonnen.

„Miss Bowes?“

Dieses Mal klang die Stimme deutlich weniger freundlich und zudem mehr als nur ungeduldig. Sally richtete sich auf und verzog das Gesicht, als ihre schmerzenden Muskeln gegen diese Bewegung protestierten. Sie rieb sich die Augen und schlug sie dann ganz auf. Sie erstarrte und rieb sich die Augen erneut, um sicherzugehen, dass sie nicht träumte.

Nein, sie träumte nicht. Er war immer noch da.

Jack Kestrel stand vor ihr, die Hände auf die Schreibtischplatte gestützt und den Oberkörper nach vorn gebeugt, sodass sich seine und ihre Augen auf ungefähr der gleichen Höhe befanden. Aus dieser geringen Entfernung konnte Sally sich nicht gleichzeitig auf alle seine Gesichtszüge konzentrieren, aber sie hatte sie von der vergangenen Nacht her noch allzu gut in Erinnerung. Er war kein Mann, den man schnell wieder vergaß, sah er doch auffallend gut aus. Er hatte dunkelbraunes Haar, das sehr weich und vom Sommerwind ein wenig zerzaust aussah, eine gerade Nase und einen sündhaft sinnlichen Mund. Im Allgemeinen ließ Sally sich nicht von gutem Aussehen allein beeindrucken. Sie war keine naive Debütantin mehr, die sich von einem attraktiven Mann den Kopf verdrehen ließ. Jack Kestrel jedoch hatte einen atemberaubenden Charme, und sie hatte es in der vergangenen Nacht sehr genossen, sich mit ihm zu unterhalten. Sie hatte es sogar fast zu sehr genossen. Seine Gesellschaft war gefährlich verführerisch gewesen. Wie leicht es ihr gefallen wäre, seine Begleitung zu akzeptieren und dann vielleicht auch noch eine Einladung zum Essen …

Schon lange hatte sie sich nicht mehr so versucht gefühlt und dabei gewusst, dass sie es sich nicht erlauben konnte, Jack Kestrel besser kennenzulernen. Sobald er ihr seinen Namen genannt hatte, war ihr Misstrauen erwacht, denn jedes Mitglied der vornehmen Gesellschaft kannte ihn. Aus der Ahnenreihe der Dukes of Greenwood waren im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert viele, viele Lebemänner und Filous hervorgegangen, und manche sagten, dass dieser Mann der Letzte seiner Art war, aus demselben Holz geschnitzt wie seine Vorfahren. Er war ein Cousin des derzeitigen Dukes und der mögliche Erbe des Herzogtums. Als junger Mann war er nach einem unerhörten Skandal, in den eine verheiratete Frau verwickelt gewesen war, ins Ausland verbannt worden. Zehn Jahre später war er zurückgekehrt und hatte es zwischenzeitlich zu einem eigenen Vermögen gebracht.

Sally verstand, wie er zu seinem Ruf gekommen war. Er hatte in der Tat eine unglaublich maskuline Ausstrahlung. Die Frauen lagen ihm scharenweise zu Füßen, aber Sally hatte nicht vor, sich ihren Reihen anzuschließen.

Ihr wurde bewusst, dass sie ihn immer noch anstarrte. Ihre Wangen begannen zu glühen, und sie wandte den Blick von seinem Mund, um ihm in die Augen zu sehen. Sein Blick war ausgesprochen unfreundlich. Ohne nachzudenken, wich sie zurück und merkte, dass ihm ihre Reaktion nicht entging. Er richtete sich auf und entfernte sich ein paar Schritte vom Schreibtisch.

Dieses Mal trug er keine Abendkleidung, und Sally fand, dass man ihn in seiner jetzigen Aufmachung kaum für einen der üblichen Kunden des Blue Parrot Club halten konnte. Der Club sprach eigentlich die unverschämt reichen Mitglieder der Gesellschaft um König Edward an, die vom müßigen Leben gezeichnet waren, oder mondäne amerikanische Besucher, deren Geld und Einfluss in London mehr und mehr eine Rolle spielten. Gelegentlich wurde der Club auch von den Soldatensöhnen des alten Adels besucht, die lautstark ihren Fronturlaub feierten. Von seinem Aussehen her hätte Jack Kestrel früher auch beim Militär gewesen sein können – er hatte eine lange Narbe auf einer Wange – und machte durchaus den Eindruck, dass er sich an irgendeiner Front oder in Südafrika wohler gefühlt hatte als in einem Club in der Nähe des Strands. Er war sehr groß, breitschultrig und braungebrannt, und Sally schätzte ihn auf ungefähr dreißig. Statt Abendgarderobe trug er einen langen dunkelbraunen Ledermantel über einem Anzug, der so lässig elegant wirkte, dass er nur aus der Savile Row stammen konnte. Trotz seiner Größe bewegte er sich mit einer geschmeidigen Anmut, die alle Blicke auf sich zog. Als er sich jetzt zu Sally umdrehte, fiel ihr plötzlich das Atmen schwer. Von Jack Kestrel ging unbestritten eine gefährlich männliche Ausstrahlung aus, seine Züge waren hart und kompromisslos.

„Ich bitte um Verzeihung, dass ich Sie geweckt habe“, sagte er gedehnt. „Ich vermute, in Ihrem Beruf müssen Sie zusehen, dass Sie Ihren Schlaf bekommen, wann immer Sie eine Gelegenheit dazu finden.“

Darauf konnte Sally sich keinen rechten Reim machen. Die Buchhaltung machte ihr zwar Spaß, aber sie fand sie nicht so fesselnd, dass sie sich davon vom Schlafen abhalten ließ. Sie war nur deswegen so müde, weil sie in der vergangenen Nacht noch spät in der Wallace Collection gewesen war und früh wieder hatte aufstehen müssen, um die letzten Renovierungsarbeiten am Purpursalon zu überwachen. Die Arbeiten hatten sechs Monate gedauert und sollten – wenn alles gut ging – in einer Woche abgeschlossen sein. Die Veränderungen würden sicher das Stadtgespräch in London werden, und selbst der König hatte versprochen, an der Feier zur Wiedereröffnung teilzunehmen.

„Sie sind doch Miss Bowes?“, fragte Jack Kestrel nach, als Sally immer noch nichts sagte. Jetzt hörte er sich an, als wäre er allmählich mit seiner Geduld am Ende.

„Ich … Ja, natürlich. Das sagte ich Ihnen bereits gestern Abend.“ Sally räusperte sich. Sie merkte selbst, dass sie ein wenig unsicher klang. Ganz gewiss nicht wie die energische Eigentümerin des erfolgreichsten und modernsten Clubs in ganz London. Einst, vor langer Zeit, in den eleganten Salons von Oxford war sie tatsächlich Miss Bowes gewesen, die älteste Tochter der Familie und Schwester von Miss Petronella und Miss Constance. Doch seitdem war viel geschehen.

Unter Jack Kestrels unbeirrbarem Blick fühlte sie sich jünger als ihre siebenundzwanzig Jahre, viel jünger und seltsam verwundbar. Sie setzte sich gerade hin, strich sich das wirre Haar aus dem Gesicht und hoffte inständig, dass die Tintenflecken, die sie an ihren Fingern entdeckte, nicht auf ihre Stirn abgefärbt hatten. Es machte sie wütend, derart überrumpelt worden zu sein. Normalerweise zog sie ein Abendkleid an, ehe der Club öffnete, aber dazu war sie nicht gekommen, weil sie eingeschlafen war und niemand sie geweckt hatte.

„Was kann ich für Sie tun, Mr. Kestrel?“ Sie schlug einen betont geschäftsmäßigen Ton an. Ihr war längst klar geworden, dass dies kein gesellschaftlicher Besuch war, gedacht als Fortsetzung ihrer Begegnung in der letzten Nacht. Wie kurz und reizvoll ihr diese Begegnung auch erschienen war – inzwischen hatte sich etwas Grundlegendes geändert. Jetzt war er zornig.

„Ich denke, Sie wissen ganz genau, weshalb ich hier bin, Miss Bowes“, erwiderte Jack knapp. „Wäre mir gestern Nacht schon bewusst gewesen, wer Sie sind, hätte ich die Angelegenheit gleich an Ort und Stelle zur Sprache gebracht. Nun, ich habe zu spät reagiert. Aber Sie müssen doch bestimmt gewusst haben, dass ich Sie aufsuchen würde.“

Sally stand auf, dadurch fühlte sie sich größer und mutiger. „Ich bedauere“, erwiderte sie höflich, „aber ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen, Mr. Kestrel, oder warum Sie hier sind. Es sei denn, Sie möchten die berühmte Gastfreundschaft des Blue Parrot genießen.“

Sie hatte gehört, dass Jack Kestrel einmal tausend Pfund für Champagner ausgegeben hatte – bei einem einzigen Besuch des Casinos von Monte Carlo. Sally wünschte, er würde dasselbe im Blue Parrot tun, aber seinem feindseligen Gesichtsausdruck nach war das eher unwahrscheinlich.

Bei ihren Worten verzog Jack spöttisch den Mund. „So legendär die Gastfreundschaft des Blue Parrot auch sein mag, Miss Bowes, das ist nicht der Grund für mein Kommen“, antwortete er gedehnt.

Sally zuckte die Achseln. „Wenn Sie mich dann vielleicht aufklären könnten?“ Sie zeigte auf die Papiere auf ihrem Schreibtisch. „So anregend Ihre Gesellschaft auch ist, Mr. Kestrel, aber ich habe keine Zeit für Ratespielchen. Wie ich gestern Nacht bereits erwähnte, ist meine Arbeit meine große Leidenschaft, und ich möchte mich ihr gern wieder zuwenden.“

Irgendein unbestimmtes Gefühl flackerte in seinen Augen auf, und Sally konnte seinen Zorn und seine Feindseligkeit jetzt deutlicher spüren, zwar eisern beherrscht, aber doch fast greifbar. Sie wünschte, die Lampen würden brennen, denn im Halbdunkel fühlte sie sich entschieden im Nachteil.

„Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie Ihrer Tätigkeit mit großer Leidenschaft nachgehen“, gab Jack gepresst zurück. „Sie müssen darüber hinaus auch äußerst nervenstark sein, so zu tun, als hätten Sie keine Ahnung, weswegen ich hier bin.“

Sally antwortete nicht gleich. Sie wagte sich hinter dem schützenden Schreibtisch hervor, zündete ein Streichholz an und entflammte erst eine Gaslampe, dann noch eine zweite und dritte. Erfreut stellte sie fest, dass ihre Hände dabei nicht zitterten und nichts von ihrer Nervosität verrieten. Sie fühlte deutlich, wie Jack Kestrel sie beobachtete und den Blick seiner dunklen Augen nicht von ihrem Gesicht wendete. Wenn der Raum doch nur ein wenig größer wäre! Jack Kestrels körperliche Präsenz wirkte beinahe erdrückend.

Sie drehte sich um und merkte, dass er plötzlich genau hinter ihr stand. So etwas wie ein Lächeln blitzte in seinen Augen auf, aber es war kein sonderlich beruhigendes Lächeln. Im Stehen fiel ihr auf, dass sie ihm mit dem Kopf nur bis zur Schulter reichte, obwohl sie eine recht große Frau war. Sie war es nicht gewohnt, nach oben blicken zu müssen, um einem Mann in die Augen sehen zu können.

„Nun?“, fragte er sanft. „Haben Sie Ihre Meinung geändert in Bezug auf dieses wenig überzeugende Spielchen der Verstellung?“ Er betrachtete sie prüfend. „Ich muss gestehen, dass ich Sie mir etwas anders vorgestellt hatte“, fügte er langsam hinzu. Er hob die Hand und drehte ihr Gesicht dem Licht zu. „Als wir uns letzte Nacht kennengelernt haben, fand ich Ihr Aussehen ungewöhnlich, doch als ich herausfand, wer Sie sind, war ich überrascht. Ich hatte mit jemandem gerechnet, der eher im herkömmlichen Sinn hübsch ist. Immerhin werden Sie doch die ‚schöne Miss Bowes‘ genannt, nicht wahr …“

Sally schlug seine Hand fort. Trotz ihres Zorns hatte sie von seiner Berührung eine Gänsehaut bekommen. Bei seinem Blick wurde sie sich plötzlich überdeutlich ihres Körpers unter der schlichten braunen Bluse und dem Rock bewusst. Es war ein sehr seltsames Gefühl, und sie versuchte es sich zu erklären. Es war wie ein Brennen, ein Dahinschmelzen, so als würde ihr plötzlich ihre Kleidung zu eng. Kein einziger der Herren, die den Blue Parrot Club besuchten, hatte je so eine Empfindung in ihr ausgelöst, obwohl viele es durchaus versucht hatten.

„Mr. Kestrel“, sagte sie so gelassen wie möglich, „Sie sprechen in Rätseln. Schlimmer noch, Sie langweilen mich. Mein Aussehen, ob schön oder nicht, geht nur mich ganz allein etwas an. Wenn Sie mich also nicht weiter aufklären wollen, werde ich mein Personal herbeirufen müssen, damit man Sie hinausbegleitet.“

Er ließ lachend die Hand sinken. „Das würde ich gern mit ansehen! Aber ich komme mit dem größten Vergnügen zur Sache, Miss Bowes.“ Er sprach mit trügerischer Freundlichkeit. „Ich bin gekommen, um die Briefe abzuholen, die Ihnen mein törichter Cousin Bertie Basset geschrieben hat. Die Briefe, die Sie zu veröffentlichen drohen, sollte sein sterbender Vater Sie nicht ausbezahlen.“

Seine Worte ergaben für Sally keinerlei Sinn. Natürlich kannte sie Bertie Basset. Er war ein junger Adelsspross, charmant, aber nicht sonderlich mit Verstand gesegnet, der oft in den Club kam, um mit den Mädchen zu trinken und um hohe Einsätze zu spielen. Als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, hatte ihre Schwester Connie auf seinem Schoß gesessen, während er im Grünen Zimmer Poker spielte.

Connie … natürlich …

Sally überlegte. Jack hatte die „schöne Miss Bowes“ erwähnt, aber es war ihre jüngste Schwester Connie, die man so nannte. Wenn Jack Kestrels Berührung sie nicht so verwirrt hätte, wäre ihr schon früher klar geworden, dass er sie mit Connie verwechselt haben musste. Miss Constance Bowes war in der Tat so schön, dass die Herren Sonette über ihre Augenbrauen schrieben und sich zu extravaganten Versprechungen hinreißen ließen, aus denen Connie geschickt Kapital schlug. Sally hatte ihre Schwester jedoch nie um ihr Aussehen beneidet, dazu war sie schlichtweg zu intelligent.

Jack Kestrel beobachtete die vielen Emotionen, die über ihr Gesicht huschten. „Nun“, begann er nachdenklich, „als ich die Angelegenheit das erste Mal erwähnte, hatten Sie nicht die geringste Ahnung, wovon ich redete oder, Miss Bowes? Und dann haben Sie ganz plötzlich verstanden.“

„Woher wollen Sie das wissen?“, brauste Sally auf. Sie ärgerte sich über sich selbst, dass sie so viel von sich preisgegeben hatte.

„Sie haben ein sehr ausdrucksstarkes Gesicht.“ Jack ließ sich auf der Kante ihres Schreibtischs nieder. „Sie sind also nicht Berties Geliebte. Das hätte ich mir eigentlich denken können. Er wäre ein viel zu junger und unbeholfener Partner für Sie, Miss Bowes.“

„Während Sie, Mr. Kestrel“, gab Sally kühl zurück, „ohne Zweifel und wahrscheinlich zu Recht von sich behaupten, weitaus erfahrener zu sein.“

Jack bedachte sie mit einem sündhaft durchtriebenen Grinsen. Für eine Sekunde fühlte Sally sich an die vergangene Nacht erinnert, und ihre Knie drohten nachzugeben. „Selbstverständlich“, stimmte er zu. „Und bitte, nennen Sie mich Jack. Ich denke, Formalitäten sind in diesem Hause fehl am Platz.“

Das stimmte sogar, aber Sally hatte nicht vor, sich von Jack Kestrel sagen zu lassen, wie sie sich in ihrem eigenen Club verhalten sollte. „Mr. Kestrel, wir schweifen vom Thema ab. Wie Sie so scharfsinnig bemerkt haben, bin ich nicht die Geliebte Ihres Cousins. Diese Angelegenheit ist vollkommen neu für mich. Ich denke, hier liegt ein Missverständnis vor.“

Jack seufzte, und seine Gesichtszüge verhärteten sich wieder. „In Fällen wie diesen ist das meistens so, Miss Bowes. Das Missverständnis in diesem Fall besteht darin, dass mein Onkel eine große Summe Geld zahlen soll.“

Zornesröte schoss Sally in die Wangen. „Ich versuche nicht, jemanden zu erpressen!“

„Vielleicht nicht.“ Mit einer fließenden Bewegung stellte Jack sich wieder hin. „Ich glaube aber, dass Sie wissen, wer das tut.“

Sally starrte ihn an und dachte fieberhaft nach. Wenn sie richtig vermutete, hatte ihre Schwester Connie, der Liebling der Londoner, eine monumentale Torheit begangen und versucht, ein Mitglied des Hochadels zu erpressen. Leider war das gar nicht so unwahrscheinlich, denn Connie mochte zwar unglaublich hübsch sein, aber übermäßig intelligent war sie nicht. Und sie war verwöhnt. Wenn sie nicht das bekam, was sie wollte, stampfte sie mit dem Fuß auf. Und wenn sie es auf Bertie abgesehen hatte und die Affäre unglücklich verlaufen war, dann war es sehr gut möglich, dass sie versuchte, sich dafür zu entschädigen. Die Folge dieses ganzen Irrsinns war, dass Jack Kestrel jetzt wütend und unnachgiebig in Sally Büro stand.

„Vielleicht ist Ihre Schwester ja die Schuldige“, meinte Jack sanft, und Sally zuckte zusammen. Konnte er so leicht ihre Gedanken lesen? „Ich bin ihr noch nie begegnet, aber ich habe von ihr gehört. Sie arbeitet auch hier, nicht wahr?“

Sally presste die Finger an die Schläfen, um die sich anbahnenden Kopfschmerzen in Schach zu halten. Sie konnte Connie nicht verraten, das wäre Treuebruch gewesen. Sie musste zuerst mit ihrer Schwester sprechen. Nur leider vertraute Connie sich ihr in letzter Zeit nie an. Sie standen sich nicht nahe – nicht mehr – seit Connies letzter, grausam gescheiterter Liebesbeziehung. Danach hatte ihre Schwester sich in sich selbst zurückgezogen und kaum noch mit Sally gesprochen. Doch nun würde Sally sie zum Reden bringen müssen.

„Bitte, überlassen Sie die Angelegenheit mir, Mr. Kestrel“, sagte sie. „Ich werde mich darum kümmern.“ Sie sah ihn an. „Ich gebe Ihnen mein Wort, dass Ihr Onkel nicht länger belästigt werden wird.“

Jack seufzte erneut. „Ich würde Ihnen ja gern vertrauen, Miss Bowes, aber das tue ich nicht. Ich bin ja schließlich nicht von gestern.“ Er schüttelte leicht den Kopf. „Sie könnten ohne Weiteres an dieser Sache beteiligt sein, und es wäre sehr leichtsinnig von mir, mich einfach auf Ihr Wort zu verlassen.“ Er ließ den Blick verächtlich über sie schweifen, und Sally glühte vor Zorn und vor Gekränktheit. „Sie sollten wissen, dass mein Onkel alt und seit Jahren zunehmend gebrechlicher wird“, fügte Jack hinzu. „Erst kürzlich wurde uns mitgeteilt, dass er nicht mehr lange zu leben hat. Eine solche Angelegenheit wird sein Ende beschleunigt herbeiführen. Aber vielleicht ist Ihnen das gleichgültig.“

„Vielleicht sollten Sie einmal mit Ihrem Cousin reden“, fuhr Sally ihn an, „und ihn davon abbringen, unüberlegte Liebesbriefe zu schreiben. Jede Affäre hat nun mal zwei Seiten!“

Jack lächelte. „Das ist allerdings richtig, Miss Bowes, und ich werde mit Bertie sprechen und ihm raten, sich künftig nicht mehr mit leichten Mädchen einzulassen, die nur auf sein Geld aus sind.“

„Sie werden beleidigend, Mr. Kestrel“, sagte Sally. Ihre Stimme bebte vor Zorn und vor Anstrengung, beherrscht zu bleiben.

„Ich bitte um Verzeihung.“ Er klang nicht im Entferntesten reumütig. „Ich hasse nun mal Erpressung und Nötigung, Miss Bowes. So etwas bringt meine dunkelsten Seiten zum Vorschein.“

Sally schüttelte gereizt den Kopf. „Ich glaube nicht, dass uns das jetzt weiterbringt, Mr. Kestrel.“

„Nein, da haben Sie recht“, stimmte Jack zu. „Und ich werde nicht ruhen, bis ich meinem Onkel sagen kann, dass ich diese Briefe eigenhändig vernichtet habe. Etwas anderes würden Sie von mir doch auch nicht erwarten, oder, Miss Bowes?“

Sally hätte nichts anderes von ihm erwartet. Ein so konsequenter, energischer Mann wie Jack Kestrel gab in einer solchen Angelegenheit nicht nach. Und das wiederum stellte sie vor ein großes Problem. Wie konnte sie Connie schützen und gleichzeitig zuverlässig dafür sorgen, dass die Briefe entweder zurückgegeben oder zerstört wurden? Sie hatte Connie immer verteidigt, das war ihr zur festen Gewohnheit geworden, obwohl sie in letzter Zeit geglaubt hatte, ihre Schwester wäre inzwischen hart wie Stahl und brauchte ihren Schutz nicht mehr.

„Miss Bowes?“ Jacks Stimme unterbrach ihre Gedanken. „Sie scheinen einige Schwierigkeiten zu haben, einen Entschluss zu fassen. Vielleicht hilft es Ihrer Konzentration, wenn ich Ihnen sage, dass ich die Polizei rufen lasse, sollten Sie mir die Briefe nicht aushändigen.“

Sie fuhr herum, und ihre Augen funkelten. „Das würden Sie nicht wagen!“

„Oh doch.“ Sein Blick wirkte zwar leicht belustigt, aber seine Stimme klang kalt. „Wie ich bereits sagte, ich mag keine Erpresser, Miss Bowes. Nur aus Rücksicht auf meinen Onkel habe ich mich nicht direkt an die Behörden gewandt.“ Seine Miene wurde noch eisiger. „Außerdem werde ich alles tun, um den Ruf des Blue Parrot zu ruinieren und Ihnen das Geschäft zu verderben. Seien Sie versichert, mein Einfluss ist weitreichend.“

Sally starrte ihn an, und auf ihren Wangen zeichneten sich rote Flecken des Zorns ab. Sie bezweifelte nicht, dass er seine Drohung in die Tat umsetzen konnte. Er war reich und verfügte über gute Beziehungen; ein Mitglied des exklusiven, ausschweifenden Freundeskreises von König Edward und jederzeit in der Lage, die Aufmerksamkeit des wankelmütigen Monarchen in eine andere Richtung zu lenken. Momentan war der Blue Parrot Club in Mode, aber wie lange mochte es noch dauern, bis die erlauchten Gäste, die durch seine Pforten strömten, beschlossen, sich anderweitig zu vergnügen? Und sie hatte gerade einen großen Kredit bei der Bank aufgenommen, um ihr Geschäft weiter anzukurbeln. Sie war von ihren Investoren abhängig. Wie leicht konnte man sie finanziell ruinieren …

Sie schloss die Augen, atmete einmal tief durch und schlug die Augen wieder auf. Jack Kestrel betrachtete sie mit dem gleichen rätselhaften Gesichtsausdruck, den sie schon einmal an ihm wahrgenommen hatte. Ihr Herzschlag stockte kurz und normalisierte sich dann wieder.

„Ihre Drohungen sind sehr heftig, Mr. Kestrel“, sagte sie so ruhig wie möglich. „Das alles hat nichts mit mir zu tun, und doch wollen Sie, dass ich dafür büße. Das ist nicht das Verhalten eines Gentlemans.“

Jack zuckte die Achseln. „Ich spiele das Spiel nach den Regeln, die man mir gesetzt hat, Miss Bowes. Es war Ihre Schwester, die den Einsatz erhöht hat.“

Sally presste die Hände zusammen. Sie sah keinen Sinn darin, weiter zu streiten; er würde keine Zugeständnisse machen. „Nun gut“, antwortete sie. „Wenn Sie mir ein paar Stunden Zeit geben, mich um die Angelegenheit zu kümmern …“

„Eine Stunde. Ich gebe Ihnen genau eine Stunde.“

„Aber ich brauche mehr Zeit! Ich weiß nicht, wo Connie …“, entfuhr es ihr unbedacht.

„Also ist Connie die ‚schöne Miss Bowes‘?“ Jack zog die Brauen hoch. „Aber natürlich.“ Er zog einen Brief aus seiner Manteltasche und faltete ihn auseinander. „Die Unterschrift beginnt mit einem C. Das hätte mir früher auffallen müssen.“

„Wirklich, Sie hätten sich besser vorbereiten sollen, ehe Sie mit wilden Anschuldigungen um sich werfen!“, beschwerte Sally sich. „Sie sind äußerst unhöflich, Mr. Kestrel.“

Jack lachte, faltete den Brief zusammen und steckte ihn wieder ein. „Ich bin eben direkt, Sally. Das ist einer meiner Vorzüge.“

Sein warmer Tonfall und die Art, wie er ihren Namen aussprach, ließen ihr Herz schneller schlagen, trotzdem konnte sie sich diese Vertraulichkeit nicht gefallen lassen. „Ich habe Ihnen nicht gestattet, mich mit dem Vornamen anzusprechen, Mr. Kestrel!“, fuhr sie ihn an.

„Nein?“ Er warf ihr einen spöttischen Blick zu. „Ich räume ein, Sie scheinen doch Wert auf Formalitäten zu legen. Müssen Ihre Gäste Sie auch mit Miss Bowes anreden?“ Er machte ein nachdenkliches Gesicht. „Aber ich vermute, ein Hauch Strenge ist für einige von ihnen sogar ganz reizvoll, wenn damit noch ein Rohrstock und leichte Züchtigungen einhergehen.“

Wieder spürte Sally, wie ihr die flammende Röte in die Wangen schoss. Jack Kestrel war nicht allein mit seiner Annahme, der Blue Parrot Club wäre ein Freudenhaus der gehobenen Kategorie. Selbst Sally hatte öfter den Verdacht, dass ein paar der Mädchen eigene Wege mit ihren Gästen beschritten. In der Anfangszeit hatte sie aus Sorge um ihre Sicherheit versucht, die Mädchen davon abzuhalten, nicht nur ihre Gesellschaft, sondern auch ihre Körper zu verkaufen, aber schließlich hatte sie begriffen, dass sie nur wenig dagegen tun konnte. Daraufhin hatte sie es zur Bedingung gemacht, dass so etwas wenigstens nicht in ihrem Haus geschah. Trotzdem machte sie sich Sorgen um die Mädchen und wusste, dass diese zwar gerührt waren von ihrer Anteilnahme, sie aber doch für naiv hielten. Sally glaubte das manchmal selbst von sich. Sie lebte in einer glitzernden, aufregenden Welt, aber ihre Schwester behauptete, sie hätte die Moralvorstellungen einer viktorianischen Jungfer.

„Sie ziehen da einige falsche Schlüsse, Mr. Kestrel“, erwiderte sie kalt. „Die einzige teure Ware, die unsere Gäste hier im Haus kaufen können, ist Champagner. Ich muss schließlich an meine Lizenz denken. Ich bin die Eigentümerin des Blue Parrot, Mr. Kestrel, und das bedeutet, dass ich nicht mehr bin als eine bessere Buchhalterin.“ Wieder zeigte sie auf den Stapel Rechnungen und Aufträge auf ihrem Schreibtisch. „Wie Sie sehen können.“

Jack lachte leicht verbittert. „Ich nehme die Beteuerung Ihrer Tugendhaftigkeit zur Kenntnis, Miss Bowes.“

„Sie verstehen nicht ganz“, fauchte Sally. „Ich brauche mich vor Ihnen nicht zu rechtfertigen, Mr. Kestrel, ich wollte nur etwas klarstellen.“

Er neigte den Kopf zur Seite. „Und Ihre Schwester? Sie arbeitet doch gewiss nicht ebenfalls hier im Büro?“

„Sie ist eine unserer Animierdamen“, erklärte Sally. „Deren Aufgabe ist es, mit den Gästen zu plaudern und sie zu ermuntern, Geld auszugeben.“

„Eine Aufgabe, auf die Ihre Schwester sich meisterhaft zu verstehen scheint, dem Brief an meinen Onkel nach zu urteilen.“

Sally knirschte insgeheim mit den Zähnen, dem hatte sie nicht viel entgegenzusetzen.

„Arbeitet Ihre Schwester heute Abend?“, wollte Jack wissen. „Ich will augenblicklich mit ihr sprechen.“ Er bewegte sich auf die Tür zu.

Sally geriet in Panik. Sie wusste, er würde von Connie vor aller Augen Antworten verlangen, und er war so selbstherrlich, dass es ihm gleichgültig war, ob er dadurch den gesamten Betrieb ihres Clubs durcheinanderbrachte. Ein öffentlicher Tumult war genau das, was sie sich nicht leisten konnte. „Warten Sie!“, rief sie und eilte ihm nach. Zu ihrer Erleichterung blieb er stehen. „Ich weiß es nicht! Ich weiß nicht, ob Conie heute Abend arbeitet oder nicht. Ich sehe selbst nach.“

Sie war sich Jacks Nähe sehr bewusst, als er hinter ihr die Treppe vom Untergeschoss hinaufstieg. Einer der Kellner kam an ihnen vorbei; er balancierte ein mit leeren Tellern vollgestelltes Tablett auf seinem Arm. Der Blue Parrot Club verfügte über ein Restaurant, das mit jedem Herrenclub Schritt halten konnte; der französische Koch war so launenhaft wie viele seiner Kollegen in den großen Herrenhäusern auf dem Land. An diesem Abend jedoch schien Monsieur Claydon einigermaßen friedlich zu sein, und Sally schickte insgeheim ein Dankgebet zu Himmel. Eine Krise in der Küche war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte.

Jack hielt ihr die mit grünem Stoff bespannte Tür mit formvollendeter Höflichkeit auf, und Sally trat in die Eingangshalle. Dieser Bereich war wie der Eingang eines Privathauses gestaltet worden, mit einem schwarzweißen Marmorfußboden, Topfpflanzen und geschmackvollen Skulpturen. Am Haupteingang standen zwei Männer in Livree, die man auf den ersten Blick für Lakaien hätte halten können. Bei genauerem Hinsehen jedoch merkte man, dass sie die Statur von Berufsboxern hatten; ihre Mienen waren entsprechend misstrauisch. Der ältere der beiden war Sallys Geschäftsführer, Dan O’Neill, der früher tatsächlich irischer Meister im Boxen gewesen war und nun das Blue Parrot leitete. Zu seinen Aufgaben gehörte auch die Überwachung des Spielbetriebes, wenn der Club geöffnet war. Seine boxerischen Fähigkeiten waren dabei äußerst nützlich, denn es kam durchaus vor, dass ein paar der Gäste etwas zu tief ins Champagnerglas geschaut oder sich beim Baccara ein wenig übernommen hatten, sodass sie sanft ermuntert werden mussten, das Haus unauffällig zu verlassen.

Als sie Sally erblickten, strafften sich beide Männer unwillkürlich.

„Guten Abend, Miss Bowes“, grüßte Dan respektvoll.

„Guten Abend, Dan“, gab Sally lächelnd zurück. „Guten Abend, Alfred.“

„Miss Sally.“ Alfred trat verlegen von einem Fuß auf den anderen und errötete wie ein verliebter Schuljunge.

„Weiß einer von Ihnen vielleicht, ob Miss Connie heute Abend arbeitet?“, erkundigte Sally sich.

Die beiden Männer tauschten einen Blick. „Sie ist vor einiger Zeit ausgegangen“, berichtete Alfred. „Ich habe eine Droschke für sie gerufen.“

„Sie meinte, es wäre ihr freier Abend“, ergänzte Dan.

„Wissen Sie, wohin sie wollte?“, fragte Jack Kestrel.

Wieder war Sally sich seiner Präsenz deutlich bewusst; sie konnte seine Anspannung spüren, während er die beiden Männer genau im Auge behielt.

Dan sah Sally hilfesuchend an und räusperte sich, als sie nickte. „Ich glaube, sie wollte mit Mr. Basset zu Abend essen“, gab er Auskunft.

Sally hörte, wie Jack geräuschvoll den Atem einsog. „Soso“, sagte er erfreut, „wie interessant. Vielleicht will sie sich ja nach allen Seiten absichern, für den Fall, dass es mit der Erpressung nicht klappt?“

Sally biss auf ihre Unterlippe und versuchte, die Andeutung zu überhören. „Es tut mir leid, Mr. Kestrel, aber es hat den Anschein, als müssten Sie sich noch etwas gedulden, bis Sie mit meiner Schwester sprechen können – es sei denn, Sie wissen, wohin Ihr Cousin eine Dame zum Essen ausführen würde.“

„Ich bin gern bereit zu warten“, erwiderte Jack gedehnt und sah sie an. „Solange Sie sicher sind, dass Ihre Schwester heute Nacht wieder nach Hause kommt, Miss Bowes.“

Bei dieser kaum verschleierten Anspielung auf Connies Tugendhaftigkeit errötete Sally. Sie sah, wie Dan mit vor Zorn verzerrtem Gesicht einen Schritt nach vorn tat und Jack die Schultern straffte, als bereitete er sich auf einen Kampf vor. Eilig winkte sie ihren Geschäftsführer zurück. Sie wollte kein Handgemenge, schon gar nicht eins, das Dan möglicherweise nicht für sich entscheiden würde. Jack Kestrel sah aus, als wäre er ein guter Kämpfer. Außerdem konnte sie tatsächlich nicht sicher davon ausgehen, dass Connie nach Hause kam. Schon öfter war ihre Schwester die ganze Nacht fortgeblieben, aber nach der ersten schrecklichen Szene, als Connie sie angebrüllt hatte, sie wäre schließlich nicht ihre Mutter, hatte Sally sich nicht mehr eingemischt. Es tat ihr in der Seele weh, dass sie Connie nicht mehr zu erreichen schien und diese ihre eigenen, unberechenbaren Wege ging.

„Dann möchten Sie vielleicht gern bei uns zu Abend essen, während Sie warten, Mr. Kestrel?“, bot Sally ihm an. „Auf Kosten des Hauses natürlich.“

Jack lächelte herausfordernd. „Es wäre mir ein Vergnügen, aber nur, wenn Sie mir dabei Gesellschaft leisten, Miss Bowes.“

Sally war schockiert. Wenn er sie am vergangenen Abend darum gebeten hätte, wäre sie nicht überrascht gewesen, aber nun konnte sie sich nicht vorstellen, warum Jack Wert auf ihre Gesellschaft legen sollte. Dann jedoch erkannte sie, unbegreiflicherweise leicht enttäuscht, dass er sie wahrscheinlich nur im Auge behalten wollte, damit sie ihm nicht heimlich entwischte und Connie vorwarnte. Er vertraute ihr nicht.

Und sie war nicht gewillt, ihm nachzugeben.

„Ich esse nie mit den Gästen, Mr. Kestrel“, teilte sie ihm kalt mit.

Jack hielt ihrem Blick stand. „Tun Sie mir den Gefallen.“

Zwischen ihnen schien die Luft zu knistern.

Sally zögerte. Sie speiste niemals mit den Gästen des Blue Parrot, damit es zu keinen Missverständnissen bezüglich ihrer Rolle im Club kam. Es war Aufgabe der Animierdamen, den Gästen Gesellschaft zu leisten und sie zu unterhalten. Die Eigentümerin konnte sich bisweilen unter die Gäste mischen, aber sie blieb stets distanziert. Wenn Jack Kestrel allerdings nicht bekam, was er wollte, konnte er ihr womöglich viele Unannehmlichkeiten bereiten. Ein einziges Abendessen mit ihm war ein vergleichsweise geringer Preis, den sie bezahlen musste, während sie auf Connies Rückkehr warteten. Und dann, so hoffte sie wider alle Vernunft, konnte sie die leidige Angelegenheit vielleicht aus der Welt schaffen und die unerwartete und höchst unwillkommene Bedrohung für ihr Geschäft abwenden, die Jack Kestrel darstellte.

„Also gut“, gab sie widerstrebend nach. „Aber Sie werden mir Zeit lassen müssen, mich umzuziehen.“

Jack verneigte sich. „Es ist mir ein Vergnügen, auf Sie zu warten.“

Sally sah, wie Alfred die Brauen hochzog. Das Personal hatte noch nie erlebt, dass sie gegen ihre eigenen Regeln verstieß.

„Dan, bitte führen Sie Mr. Kestrel an meinen Tisch im blauen Speisesaal.“ Sie zögerte und betrachtete Jack prüfend. Er trug zwar keine Abendgarderobe, aber sie konnte nicht bestreiten, dass er unverschämt gut aussah. Viele Männer hätten alles gegeben für so eine Figur, und an der Eleganz seines Anzugs war nichts auszusetzen. „Wir haben hier zwar eine Kleiderordnung, Mr. Kestrel“, teilte sie ihm mit, „aber ich denke, wir können in diesem Fall eine Ausnahme machen. Dan, sorgen Sie bitte dafür, dass Mr. Kestrel alles bekommt, was er wünscht.“

Jack verneigte sich erneut. „Vielen Dank, Miss Bowes.“

„Gern geschehen.“ Ihre Blicke trafen sich, und plötzlich spürte Sally, dass zwischen ihnen etwas vor sich ging, etwas Starkes, Berauschendes wie ein Schluck edlen Champagners. Ihr wurde ein wenig schwindelig. Dann lächelte er, und das atemlose Gefühl in ihrer Brust verstärkte sich. Verdammt. Sie wollte nicht an die vergangene Nacht erinnert werden, genauso wenig wie an die Tatsache, dass er den legendären Charme der Kestrels besaß. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Sie hatte sich noch nie auch nur im Entferntesten zu einem der Gäste des Blue Parrot hingezogen gefühlt. Warum ihr das jetzt passierte, ausgerechnet bei Jack Kestrel, dessen Ruf gefährlich und furchteinflößend war und dessen Wort sie geschäftlich ruinieren konnte, war nicht nur zutiefst verstörend, sondern schlichtweg unmöglich.

„Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen“, sagte sie und verbarg ihren inneren Aufruhr hinter der kühlen, beherrschten Maske, die sie sich für ihre Rolle als Geschäftsfrau zugelegt hatte. „Ich werde Sie nicht lange warten lassen.“

Damit drehte sie sich um und eilte davon, ehe sie zu viel von ihren Empfindungen preisgeben konnte.

2. KAPITEL

Er wollte sie.

Er wollte die unterkühlte Eigentümerin des Blue Parrot in seinen Armen und in seinem Bett, und Jack Kestrel war es gewohnt, das zu bekommen, was er haben wollte. Eigentlich war es ein Ding der Unmöglichkeit, da das erpresserische Treiben ihrer Schwester zwischen ihnen stand, aber Jack war entschlossen, einen Weg zu finden, wie er Miss Sally Bowes dennoch für sich gewinnen konnte.

Er war erleichtert gewesen, nachdem er herausgefunden hatte, dass ihn seine Instinkte am vergangenen Abend doch nicht getrogen hatten. Jack hasste die wenigen Gelegenheiten, bei denen er sein Urteilsvermögen in Zweifel ziehen musste. Aber was für Sünden Miss Connie Bowes auch begehen mochte, er war sich sicher, dass ihre Schwester so ehrlich war, wie sie behauptete. Sally war keine Erpresserin.

Er sah ihr nach, als sie die elegante Treppe zur zweiten Etage hinaufstieg. Sie war hochgewachsen und hielt sich sehr aufrecht, mit der unbewussten Anmut eines Menschen, der schon von Kindheit an Haltung gelernt hatte. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, wie wohl ihr familiärer Hintergrund sein mochte. Er war lange nicht in London gewesen, zu lange, um irgendetwas über die Eigentümerin des beliebtesten Clubs der Stadt wissen zu können. Aber er war entschlossen, mehr über sie in Erfahrung zu bringen.

Obwohl er wusste, dass der Angestellte hinter ihm wartete, um ihn zu Tisch zu führen, rührte Jack sich nicht, bis Sally außer Sichtweite war. Oben auf der Treppe zögerte sie und drehte sich langsam um, und ihn erfüllte ein wildes Triumphgefühl, dass sie sich seiner Beobachtung die ganze Zeit bewusst gewesen war. Ihre Blicke trafen sich, und er spürte die Wirkung am ganzen Körper, bis sie schließlich verschwand und er sich wieder auf den wartenden Angestellten besann.

„Hier entlang, wenn es recht ist, Sir“, sagte der Mann. Trotz seiner tadellosen Höflichkeit war seine Feindseligkeit zu spüren. Jack verkniff sich ein amüsiertes Lächeln. Von Anfang an hatte er gemerkt, dass Sally Bowes’ Angestellte sehr beschützerisch wirkten, was sie betraf. Sie ahnten, dass er eine Art Bedrohung darstellte, daher mochten sie ihn nicht. Er fand ihre Loyalität Sally gegenüber bemerkenswert und fragte sich, was sie wohl getan hatte, um sie sich zu verdienen.

Der Geschäftsführer führte ihn aus dem beeindruckend großzügigen Eingangsbereich in einen mit einem dicken roten Teppich ausgelegten Flur, vorbei an Türen, hinter denen all die Vergnügen warteten, die das Blue Parrot zu bieten hatte. Und all die Laster, dachte Jack. Der Rauchersalon, die Blaue Bar und der Goldene Salon, wo zweifelsohne Spieltische unter hell leuchtenden Kronleuchtern genauso aufgestellt waren wie in Monte Carlo. Hier gab es nichts so Vulgäres wie im Cabaret des „Moulin Rouge“, keine tanzenden Mädchen oder als grell geschminkte Teufel Verkleidete, die die Getränke servierten. Jack fand, dass es wahrscheinlich ein guter Entschluss von Sally gewesen war, den eher ordinären Stil von Paris nicht am Londoner Strand nachzuahmen. Das Blue Parrot bot den eleganten Komfort eines Herrenclubs und eines Landsitzes in sich vereint, aber gleichzeitig herrschte hier auch eine aufregende, schillernde Stimmung, die ihn so viel reizvoller machte als die verstaubten alten Clubs von St. James.

Der Geschäftsführer trat zurück, um ihn in den Speisesaal eintreten zu lassen, doch in dem Moment öffnete sich die Tür zum Goldenen Salon, und Jack sah das Glitzern der Kronleuchter darin und die Croupiers, die am Baccaratisch die Karten gaben. Er zögerte.

„Sir …“ Die Stimme des Geschäftsführers klang nun ein wenig beunruhigt. „Miss Bowes hat mir aufgetragen, Sie in den Speisesaal zu führen.“

Jack lächelte. Er glaubte, in dieser Nacht eine Glückssträhne zu haben. „Seien Sie unbesorgt“, beschwichtigte er. „Ich werde ein paar Runden spielen, während ich auf Miss Bowes warte.“

An einem der Baccaratische nahm er Platz, und sofort erschien ein Kellner mit einem Glas Champagner. Eine der eleganten blonden Animierdamen machte sich auch bereits auf den Weg zu ihm, aber Dan hielt sie mit einem Wort zurück. Jack sah, wie sie den Kopf zur Seite neigte und große Augen machte. Was ihr der Geschäftsführer wohl gesagt haben mochte? Mit einem letzten bedauernden Blick auf Jack zog sie sich wieder zurück.

Jack nahm seine Karten, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis Sally Bowes sich wieder zu ihm gesellte. Die meisten Frauen, mit denen er in Monte Carlo, Biarritz und Paris ausgegangen war, hatten ihn immer mindestens eine Stunde warten lassen. Dieses Warten hatte sich seiner Meinung nach nie gelohnt. Spröde, mondäne Frauen der Gesellschaft langweilten ihn mittlerweile; sie schienen alle aus demselben Holz geschnitzt zu sein, die eine so oberflächlich und nichtssagend wie die andere. Er hatte kein Interesse an Affären mit diesen blasierten Geschöpfen, und den Gedanken, sich eine unschuldige Braut zu suchen, wie sein Vater es verlangte, ertrug er auch nicht. Er wusste, dass er übersättigt war; niemand konnte ihn in Versuchung führen.

Niemand interessierte ihn, außer Sally Bowes mit ihren kühlen haselnussbraunen Augen und ihrer zurückgenommenen Eleganz.

Als er sie an diesem Nachmittag gesehen hatte, war sie ihm farblos, spröde und zurückhaltend vorgekommen, also genau das Gegenteil von dem, was er sich unter einer der berüchtigten Animierdamen des Blue Parrot vorgestellt hatte. Doch da war noch die Erinnerung an die vergangene Nacht und an die faszinierend sinnliche Erscheinung in dem pfirsichfarbenen Kleid. Er hatte ihre Gesellschaft sehr genossen und sie besser kennenlernen wollen. Und der fast erschrockene Ausdruck vorhin in ihren Augen ließ ahnen, dass auch er ihr nicht gleichgültig war. Das unerwartete Knistern zwischen ihnen überraschte und faszinierte ihn. Als er dann herausgefunden hatte, dass sie sogar die Eigentümerin des Clubs war, hatte das sein Interesse noch weiter angestachelt. Das war eine Frau, die über beträchtliche Charakterstärke, Intellekt und Erfolgswillen verfügen musste; dazu strahlte sie einen Reiz aus, den er umwerfend attraktiv fand. Sie war eine Herausforderung, ein Rätsel; kühl und beherrscht, doch gleichzeitig ließ sie ein feuriges Temperament unter der Oberfläche erkennen. Er hatte fast vergessen, wie es war, sich stark zu einer Frau hingezogen zu fühlen, doch jetzt drohte ihn das Verlangen zu überwältigen. Er musste sie einfach haben.

Frauen. In seiner Jugend waren sie seine große Schwäche gewesen. Er war genauso verantwortungslos gewesen wie sein Cousin Bertie – sogar noch schlimmer, wenn man ehrlich sein wollte. Er hatte sich den unglaublichsten Exzessen hingegeben. Und dann hatte er sich verliebt, und das war die mit Abstand vernichtendste Erfahrung seines Lebens gewesen, eine, die sich niemals wiederholen durfte.

Jack schüttelte den Kopf, um diese Erinnerungen zu vertreiben, und trank einen Schluck von dem kühlen Champagner. Als er vor sechs Monaten vom Kontinent nach England zurückgekehrt war, hatte ihn sein Vater beiseitegenommen und mürrisch zu ihm gesagt: „Nachdem du jetzt selbst zu Geld gekommen bist und alles versucht hast, dich umbringen zu lassen, Junge, versuch wenigstens deinen Fehltritt wiedergutzumachen, indem du eine passende Ehe eingehst.“

Seinen Fehltritt. Bei dieser Untertreibung seines Vaters verzog Jack spöttisch die Mundwinkel. Nur Lord Robert Kestrel konnte Jacks skandalöses Durchbrennen vor zehn Jahren und den anschließenden Tod seiner verheirateten Geliebten wie einen Schulbubenstreich aussehen lassen.

Ein Jahrzehnt früher, als sich der Skandal zugetragen hatte, war das noch etwas ganz anderes gewesen. Jack, gerade einundzwanzig Jahre alt, hatte kürzlich erst seinen Abschluss in Cambridge gemacht und war voller hochgesteckter Ideale und ausgefallener Pläne gewesen, Pläne, die in sich zusammengestürzt waren, als Merle ums Leben gekommen war. Die Angelegenheit war natürlich vertuscht worden, doch in der Familie hatten sich die schrecklichsten Szenen abgespielt – sein Vater in grenzenlosem Zorn, seine Mutter gramverzehrt und entsetzt. Die Enttäuschung, die er in den Augen seiner Mutter gesehen hatte, hatte ihm den Rest gegeben. Den Zorn seines Vaters hätte er vermutlich ertragen können, da er wusste, dass er berechtigt war, aber die stummen Vorwürfe seiner Mutter trafen ihn bis ins Mark. Er war der einzige Sohn, aber er hatte ihre Achtung zusammen mit dem Respekt seines Vaters verloren. Seine Mutter hatte auf der Treppe von Kestrel Court gestanden und ihm nachgeblickt, als er sein Zuhause in Schande verlassen musste. Er hatte sie nie wiedergesehen; sie war gestorben, während er im Ausland war.

Jahrelang war er den Frauen gänzlich aus dem Weg gegangen. Er hatte sich zuerst in den Kampf gegen die Buren in Südafrika gestürzt und sich später der französischen Fremdenlegion in Marokko angeschlossen. Worum es bei den Kämpfen ging, war ihm eigentlich gleichgültig gewesen; er hatte es allein darauf abgesehen, auf eine Art zu sterben, die seinen Vater stolz machen konnte. Aber sein Draufgängertum wurde mit dem Leben und nicht mit dem Tod belohnt, und einen glorreichen Ruf wollte er nicht. Er trat aus der Fremdenlegion aus und stieg mit einem seiner ehemaligen Kameraden ins Fluggeschäft ein, eine kluge Entscheidung, die ihn rasch zu Wohlstand brachte. Doch noch immer, selbst nach zehn Jahren, kam es ihm nicht richtig vor, dass er reich und am Leben sein sollte, während Merle tot und begraben war. Die Beziehungen, die er seither eingegangen war, waren flüchtige, oberflächliche Affären gewesen. Sein Herz war zu keinem Zeitpunkt in Gefahr gewesen, und so zog er es auch weiterhin vor.

Und nun war er Sally Bowes begegnet und wollte sie. Die Vorstellung, sie zu verführen, erregte ihn über alle Maßen. Ihm fiel ein, dass sie gesagt hatte, das Blue Parrot wäre nicht eine solche Art von Club. Vielleicht stimmte das, vielleicht auch nicht. Jack war das ziemlich gleichgültig. Er hatte nur Interesse an ihr. Ihm ging es nur darum, zu gewinnen – die Frau, das Spiel, das Geld.

Er wandte seine Aufmerksamkeit den Spielkarten zu.

„Matty! Matty!“ Sally riss die Tür zu ihrem Schlafzimmer im zweiten Stock auf und eilte hinein. Sie war völlig außer Atem. Das hatte weniger damit zu tun, dass sie zwei Treppen hinaufgestiegen war, als vielmehr damit, dass Jack Kestrel ihr die ganze Zeit nachgesehen hatte. Noch nie hatte sie so bewusst die Blicke eines Mannes wahrgenommen, noch war sie sich überhaupt der Präsenz eines Mannes so bewusst gewesen. Viele Männer strömten durch die Türen des Blue Parrot, reiche Männer, mächtige Männer, charismatische Männer und gelegentlich auch mal einer, der alle diese Eigenschaften in sich vereinte. Niemand hatte je eine solche Wirkung auf sie gehabt wie Jack Kestrel. Keiner war so gefährlich, direkt und gut aussehend, und keiner verfügte über solch einen kühlen Charme.

Und keiner hatte je damit gedroht, ihr Geschäft und damit auch ihr Leben zu ruinieren. Daran musste sie denken, wenn Gefühle für Jack Kestrel ihren Verstand zu umnebeln schienen.

„Da bis du ja, Matty“, stellte Sally atemlos fest, als sie ihre Zofe und einstige Kinderfrau friedlich strickend am Kamin vorfand. „Ich muss mich zum Essen umziehen. Ein Herr wartet unten auf mich. Bitte, hilf mir.“

Mrs. Matson wickelte ihr Wollknäuel geradezu qualvoll langsam auf, spießte die Stricknadeln hinein und stand mühevoll auf. „Was soll die ganze Aufregung?“, fragte sie. „Ein Herr wartet auf Sie, sagten Sie? Lassen Sie ihn doch warten!“

Sally lief zum Kleiderschrank und zog die Tür auf. Matty war schon seit ewigen Zeiten in ihrer Familie; sie hatte alle drei Bowes-Mädchen großgezogen, und als Sally wegen ihrer Heirat das Elternhaus verlassen hatte, war sie mitgekommen und ihre Zofe geworden. Sie hatte Sally durch dick und dünn, in guten wie in schlechten Zeiten begleitet. Nachdem Sally beschlossen hatte, den Club zu eröffnen, hatte sie Matty taktvoll vorgeschlagen, ob sie vielleicht lieber in den Ruhestand gehen würde, als in einem dekadenten Londoner Club zu leben. Daraufhin hatte Matty resolut erklärt, dass sie sich das um nichts in der Welt entgehen lassen wollte. Sie hatte sich ein kleines Haus in Pinner an der Strecke der neuen Metropolitan Railway gekauft, aber die meiste Zeit verbrachte sie im Club.

„Immer mit der Ruhe“, sagte sie jetzt, als Sally anfing, verschiedene Kleider von den Bügeln zu nehmen und auf das Bett zu werfen. „Was ist heute Abend bloß in Sie gefahren?“

„Nichts“, erwiderte Sally. „Alles.“ Sie wirbelte herum und ergriff Mattys Hände. „Weißt du, wo Connie hingegangen ist, Matty? Es gibt Ärger. Großen Ärger sogar. Sie hat versucht, jemanden zu erpressen …“

Die Linien um Mattys Mund wurden noch tiefer, als sie die Lippen schürzte; sie sah aus, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. „Dieses Mädchen ist durch und durch schlecht. Und das wissen Sie auch, Miss Sally, selbst wenn Sie das Gegenteil behaupten. Gott weiß, ich habe sie selbst großgezogen, und sie war ein süßes kleines Kind, aber die Sache mit John Pettifer hat sie verändert …“ Sie schüttelte den Kopf. „Jetzt macht sie nichts als Ärger.“

Sally ließ ihre Hände los und begann, ihre braungemusterte Bluse aufzuknöpfen. Unbeholfen vor Eile nestelte sie an den Knöpfen herum. Im hellen Licht des Eingangsbereichs und erst recht unter Jack Kestrels abschätzenden Blicken hatte sie sich in ihrer Bürokleidung sehr unansehnlich gefühlt.

„Connie ist unglücklich“, erklärte sie und stieg aus ihrem braunen Glockenrock. „Sie hat John geliebt und ist seitdem nie wieder glücklich gewesen. Aber die Ursache liegt noch weiter zurück, Matty. Es fing an, als unser Vater starb. Es ist alles meine Schuld.“

„Reden Sie nicht so.“ Mrs. Matsons Mundwinkel bogen sich nach unten. „Ich habe es Ihnen nicht einmal, sondern schon hundertmal gesagt, Miss Sally. Sie tragen keine Schuld am Tod Ihres Vaters.“

Sally schwieg. Es stimmte, sie hatten diese Diskussion schon oft geführt, und ihr Verstand sagte ihr, dass sie wirklich nicht unmittelbar für Sir Peter Bowes’ Tod verantwortlich war. Trotzdem machte sie sich täglich neue Vorwürfe, weil sie ihn vielleicht hätte verhindern können. Vielleicht hätte sie ihren Vater retten können …

„Ich weiß nicht, was ich mit Connie machen soll“, meinte sie nach einer Weile. „Ich finde keinen Zugang mehr zu ihr.“

„Sie haben es versucht.“ Matty bückte sich ächzend, um den Rock vom Boden aufzuheben. „Sie versuchen es pausenlos. Es wird Zeit, dass Sie zur Abwechslung mal an sich selbst denken, Miss Sally, wenn ich das so sagen darf. So, und wer ist nun der Herr, mit dem Sie zu Abend essen werden?“

Sally seufzte. „Mr. Kestrel. Er ist gekommen, um sich die Briefe aushändigen zu lassen, mit denen Connie offenbar seinen Onkel erpresst.“

Mrs. Matson gab ein Geräusch von sich, das an eine Dampf ausstoßende Maschine erinnerte. „Mr. Jack Kestrel? Derjenige, der mit irgendeiner Frau durchgebrannt ist und seiner Mutter das Herz gebrochen hat?“

„Höchstwahrscheinlich.“

Wenn je ein Mann dazu geboren war, Schande über eine Frau zu bringen, dann war es Jack Kestrel.

Matty schnalzte mit der Zunge. „Ich weiß noch, die Sache stand in allen Zeitungen. Seine Geliebte war verheiratet, als sie mit Mr. Kestrel durchbrannte. Ihr Ehemann nahm die Verfolgung auf. Sie wurde erschossen, und es gab einen schrecklichen Skandal.“

„Wie furchtbar“, meinte Sally und erschauerte. Sie fragte sich, welche Auswirkungen eine solche Tragödie wohl auf den jungen Jack Kestrel gehabt haben mochte.

„Alter Adel, diese Familie“, fuhr Matty fort. „Ihr Mr. Kestrel hat eine vornehme Ahnenreihe, die Hunderte von Jahren zurückreicht. Es heißt, er habe sämtliche ausschweifenden Laster seiner Vorfahren geerbt, und die Geschichte mit seiner Geliebten ist wahrscheinlich der Beweis dafür.“

„Hatten die Kestrels auch irgendwelche Tugenden?“, wollte Sally wissen.

Darüber musste Matty angestrengt nachdenken. „Viele von ihnen waren bei der Armee, also waren sie vermutlich sehr mutig. Mr. Kestrel hat sich der Fremdenlegion angeschlossen, nachdem er verbannt worden war. Ich habe gehört, man hat ihm viele Tapferkeitsmedaillen verliehen.“

„Ich glaube eher, er hat versucht, dabei den Tod zu finden“, sagte Sally. „Woher weißt du nur all diese Dinge, Matty?“

„Ich weiß alles“, gab Matty selbstzufrieden zurück. „Er ist gefährlich, Miss Sally. Nehmen Sie sich vor ihm in Acht. Mit seinem Charme lockt er die Vögel von den Bäumen und die Damen in sein Bett, oh ja.“

„Matty!“, rief Sally entsetzt und wurde rot. „Bei mir gelingt ihm das nicht.“

„Das wäre auch besser so“, meinte Matty. „Was Sie nach Ihrem schrecklichen Ehemann brauchen, ist ein netter junger Mann, Miss Sally, keinen Schürzenjäger. So, und wie wäre es nun mit dem goldfarbenen Abendkleid von Fortuny für heute Abend?“

„Nein, danke.“ Sally betrachtete nachdenklich die Kleider auf ihrem Bett. „Ich glaube, heute Abend nehme ich das gerade geschnittene Poiretkleid. In dem fühle ich mich mutiger.“

„Dann werden wir ein anderes Korsett wählen müssen“, erwiderte Matty missbilligend. „Ich mag diese neumodischen Unterkleider nicht. Wenn das so weitergeht, gibt es bald gar keine Korsetts mehr, und wo kommen wir dann hin? Was ist denn so schlecht an den alten, bewährten Dingen, frage ich mich?“

„Man kann in ihnen nicht atmen.“

„Ich kann nun schon seit fast siebzig Jahren ausgezeichnet atmen“, empörte sich Matty. „Es schadet nicht, sich ein wenig fester zu schnüren. Setzen Sie sich, ich frisiere jetzt Ihr Haar.“

Sally nahm gehorsam vor dem großen Spiegel Platz, und Matty löste die Nadeln aus ihrem Haar, um es gründlich zu bürsten. Es war lang und schwer, von satter kastanienbrauner Farbe mit golden schimmernden Strähnen darin. Matty schimpfte immer, es wäre eine Schande, dass Sally so strenge Frisuren wählte, weil auf die Art niemand sehen konnte, wie schön es war. Sally erinnerte sie dann stets daran, dass es nicht ihre Aufgabe war, schön auszusehen, sondern das Blue Parrot erfolgreich in Betrieb zu halten.

„Und heute Abend tragen Sie das zum Kleid passende Stirnband und die Diamantnadeln, Miss Sally“, verkündete Matty jetzt. „Keine Widerrede!“

Sally hatte gar nicht vor zu widersprechen. Jack Kestrel war, dessen war sie sich sicher, ein Kenner, was weibliche Schönheit betraf. Und obwohl sie vom Aussehen her nicht mit einigen der hübschesten Damen im Blue Parrot konkurrieren konnte – von ihrer eigenen Schwester ganz zu schweigen –, so wusste sie doch, dass sie ganz passabel aussah. Das gerade geschnittene Kleid von Poiret verlieh ihr noch zusätzlich Selbstvertrauen. Lang, seidig und schwer glitt es über ihren Kopf und umspielte ihren Körper in leuchtendem Fuchsia.

„Gar nicht so schlecht“, gab Matty widerstrebend zu. „Sie haben zweifellos genau die richtige Figur dafür, Miss Sally. Bestimmt kann Ihr junger Mann sich heute Abend kaum an Ihnen sattsehen.“

„Er ist hier, um mit mir über seinen Cousin zu sprechen, nicht, um mir den Hof zu machen“, widersprach Sally und unterdrückte das verräterische Gefühl von Aufregung bei dem Gedanken an Jack Kestrels bewundernde Blicke. „Seinen Cousin Mr. Basset meine ich, nicht den Duke of Greenwood.“

Matty hob den Kopf. „Mr. Basset, der junge Mann von Miss Connie?“

„Ja“, bestätigte Sally. „Du weißt davon? Mag Connie ihn wirklich gern?“

Matty machte ein etwas grimmiges Gesicht. „Das weiß man bei Miss Connie nie so genau, nicht wahr? Obwohl sie heute Abend, glaube ich, mit ihm ausgegangen ist. Sie hat mir gesagt, sie wolle mit ihm essen gehen.“

Sally runzelte die Stirn und griff nach ihrer fuchsiafarbenen Abendhandtasche. Albert am Eingang hatte genau das Gleiche gesagt. Nur ergab das wenig Sinn, wenn Connie wirklich versuchte, Lord Basset wegen der Indiskretion seines Sohns zu erpressen. Sie würde doch gewiss abwarten, bis die Affäre beendet war, ehe sie mit der Erpressung anfing. Nein, irgendetwas anderes ging hier vor, dessen war Sally sich sicher. Ihre kleine Schwester führte etwas im Schilde, und das gefiel Sally gar nicht.

Nicht, dass sie über ihre Zweifel mit Jack Kestrel sprechen würde. Sie aß nur mit ihm zu Abend, um die Zeit zu überbrücken, bis Connie zurückkam. Das musste sie sich immer wieder vor Augen halten, und sie durfte sich auch nicht von Jacks unbestrittenem Charme und der Anziehungskraft ablenken lassen, die er ausstrahlte. Sie hatte vor, kühl und würdevoll aufzutreten und nicht einen Augenblick lang zu vergessen, dass er in vieler Hinsicht gefährlich für sie war.

Sie betrachtete sich im Spiegel. Das Poiretkleid schmiegte sich verführerisch an ihren Körper, die Diamanten funkelten in ihrem Haar. Sie straffte die Schultern. Das hier war eine geschäftliche Angelegenheit, kein Vergnügen, und daran sollte sie sich lieber halten.

Dan kam sofort auf sie zu, als sie die Eingangshalle betrat. Bei seinem Gesichtsausdruck zog sie fragend die Brauen hoch.

„Schwierigkeiten?“

„Ja.“ Dan runzelte die breite Stirn. „Mr. Kestrel ist im Goldenen Salon. Er sagte, er wolle ein paar Runden Baccara spielen.“

„Und?“ Sally lächelte angestrengt weiter, als eine lärmende Gruppe von Gästen vorbeikam und bei ihr stehen blieb, um ihr Komplimente über den exzellenten Service im Blue Parrot zu machen.

„Und jetzt ist die Spielbank bereits schon um fünftausend Pfund ärmer.“

„Um Gottes willen!“ Sally war ehrlich erschrocken. Vor Kurzem hatte Jack Kestrel damit gedroht, ihr Geschäft zu ruinieren, aber sie hätte nie gedacht, dass er das noch an diesem Abend tun würde, indem er an ihren eigenen Spieltischen die Bank sprengte.

„Es kommt noch schlimmer“, sagte Dan leise, nahm ihren Arm und führte sie den Flur entlang. „Der König ist hier.“

„Wie bitte?“ Einen Moment lang wurde ihr schwindelig. „König Edward?“

„Genau der.“ Dan nickte bedrückt. „Er spielt am selben Tisch wie Mr. Kestrel. Und verliert gegen ihn wie alle anderen auch.“

„Das darf doch nicht wahr sein.“ Sally beschleunigte ihre Schritte. Dieser verdammte Jack Kestrel. Sie hatte geglaubt, die Bedrohung, die er darstellte, in Schranken halten zu können. Sie hatte sich vorgestellt, wie er harmlos bei Tisch saß und ihren Champagner trank; stattdessen schlug er den König beim Baccara und ruinierte sie nebenbei gleich mit. Matty hatte recht. Er war gefährlich. Sie hätte ihn niemals aus den Augen lassen dürfen.

„Ich würde ja nur ungern sagen, dass er betrügt“, sagte Dan mit seinem breiten irischen Akzent, „aber …“ In seinen blauen Augen stand Verwirrung. „Ich hab ihn beobachtet, und er hat entweder unverschämtes Glück, oder aber …“ Er ließ das Ende offen.

Sally blieb so diskret in der Tür stehen, dass sie Jack Kestrel am Baccaratisch beobachten konnte, ohne von ihm selbst gesehen zu werden. Er saß lässig auf seinem Stuhl zurückgelehnt, eine dunkle Haarsträhne fiel ihm in die Stirn, die Karten hielt er locker in einer Hand. Sein Jackett hatte er abgelegt, und das blütenweiße Hemd bildete einen starken Kontrast zu seiner dunklen, sonnengebräunten Haut. Unwillkürlich musste Sally wieder an seine verwegenen Vorfahren denken. Seine Ausstrahlung träger Arroganz, seine perfekt geschneiderte Garderobe, die lässige Anmut, mit der er sie trug – all das erinnerte an die Spieler eines vergangenen Jahrhunderts, an die tollkühnen Draufgänger, die im London des Regency Vermögen machten und wieder verloren. In einer Zeit, die genau wie die jetzige schillernd und glamourös war und in der man dem Lockruf des Geldes leicht erlag.

„Miss Bowes?“, drängte Dan flüsternd, und Sally kehrte in die Gegenwart zurück.

„Ich denke gerade nach, was ich tun soll.“

„Dann denken Sie lieber schneller, denn inzwischen hat die Bank schon zehntausend verloren.“

Sally ließ den Blick über die anderen Spieler am Tisch schweifen. Sie wollte sich nicht drängen lassen, denn von dem, was sie als Nächstes tat, konnte ihr ganzes Unternehmen abhängen. Es stand auf Messers Schneide. Wenn Jack Kestrel weiterspielte und gewann …

Die meisten anderen Leute im Raum waren ihr bekannt. In letzter Zeit suchte der König das Blue Parrot regelmäßig auf und brachte seine Spießgesellen mit. Obwohl er gerade eine Pechsträhne hatte, schien er guter Laune zu sein. Neben seinem Ellenbogen stand ein volles Glas Champagner. Der Rauch seiner Zigarre stieg nach oben und waberte um den Kronleuchter. Unter schweren, halb gesenkten Lidern hervor verfolgte er das Spiel und strich sich von Zeit zu Zeit nachdenklich über seinen akkurat geschnittenen Bart.

„Sie haben wirklich verteufeltes Glück“, hörte Sally ihn jetzt sagen. „Glück im Spiel, Pech in der Liebe, wie? Wodurch Sie zwar reich werden, aber niemanden haben, für den Sie Ihr Geld ausgeben können!“

Seine Entourage lachte pflichtschuldig, und Sally sah den Anflug eines Lächelns auf Jack Kestrels Gesicht. Er hatte bestimmt keine Schwierigkeiten, eine bereitwillige Frau zu finden, die er mit Geld überschütten konnte, denn er war ohne Zweifel der bestaussehende Mann, den sie je im Blue Parrot gesehen hatte. Auch war sie nicht die einzige Frau, die das fand. Die Mätresse des Königs, Mrs. Alice Keppler, sah geradezu königlich aus in ihrem goldfarbenen Abendkleid und mit den glitzernden Diamanten auf ihrem beeindruckenden Dekolleté, und sie betrachtete Jack mit mehr Interesse, als der König es für angebracht halten mochte. Eine blonde Frau in einem engen roten Seidenkleid und mit passendem roten Lippenstift hatte sich auf den Stuhl neben Jack drapiert, aber der schien sie gar nicht zu bemerken, denn er hielt den Blick konzentriert auf die Karten gerichtet, und seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Spiel. Ungeduldig tappte die Frau mit dem Fuß auf den Boden, weil Jack sie nicht beachtete, und schnippte die Asche von ihrer Zigarette.

„Was soll ich tun, Miss Bowes?“ Dan wartete auf ihre Anweisungen. „Soll ich ihn vielleicht hinauswerfen?“

Sally lachte. Ein verlockender Gedanke, aber sie war sich nicht sicher, ob sie Dan an diesem Abend ein so striktes Vorgehen erlauben konnte – jedenfalls nicht in Anwesenheit des Königs. „Nein. Lassen Sie mehr Champagner, Kaviar und geräucherten Lachs bringen.“

„Noch mehr?“, rief Dan entsetzt. „Gott bewahre, sie haben schon ein halbes Dutzend Flaschen gelehrt und sind erst seit einer halben Stunde hier!“

„Sie klingen wie mein altes Kindermädchen“, tadelte Sally. „Wir sind nicht hier, um auf ihre Gesundheit zu achten, sondern um dafür zu sorgen, dass sie sich gut amüsieren und wir ihnen ihr Geld abnehmen. Ich werde Mr. Kestrel erinnern, dass er mit mir eine Verabredung zum Abendessen hat.“

Jack sah auf, als Sally auf den Baccaratisch zukam. Die Frau in Rot legte ihm eine Hand auf den Arm und wollte ihm etwas sagen, doch er schüttelte ihre Hand ab, und die roten Lippen verzogen sich enttäuscht. Jacks dunkler, eindringlicher Blick ruhte auf Sallys Gesicht. Prompt fühlte sie sich etwas atemlos.

Die Augen des Königs leuchteten auf, als er sie sah. „Sally, altes Mädchen! Wie geht es Ihnen? Meiner Berechnung nach sind Sie gerade zehntausend Pfund ärmer geworden, dank dieses Burschen hier!“ Er nickte in Jacks Richtung. „Verdammt unangenehme Angewohnheit von ihm, immer die Bank zu sprengen. Ich habe ihm gesagt, er soll jetzt aufhören, denn das hier ist schließlich mein Lieblingsclub und ich möchte gern wieder eingeladen werden!“

„Ich danke Ihnen, Eure Majestät“, erwiderte Sally lächelnd.

Jack streckte sich, und das weiße Hemd straffte sich über seiner muskulösen Brust. „Hat Ihr Geschäftsführer angenommen, ich betrüge?“, fragte er gedehnt. „Normalerweise wird der Eigentümer nur dann herbeigerufen, wenn man mich hinauswerfen will.“

Sally sah ihm in die Augen. „Ganz im Gegenteil, Mr. Kestrel, ich bin hier, weil ich glaubte, wir hätten eine Verabredung zum Abendessen. Wenn Sie natürlich lieber weiter Karten spielen wollen, ist das ganz Ihre Entscheidung.“

Jack lachte auf. „Ich schlage vor, wir spielen eine Runde Bézique, Miss Bowes.“ Er hielt ihrem Blick stand. „Mein ganzer Gewinn von heute Abend gegen eine Nacht mit Ihnen.“

Sally war so schockiert, dass es ihr den Atem verschlug. Jacks Augen funkelten immer noch durchtrieben, aber dahinter verbarg sich etwas anderes, eine unbarmherzige Herausforderung. Trotz ihres Entsetzens spürte Sally, wie ihr Körper auf diese sehr maskuline Forderung reagierte.

Ein empörtes Aufraunen ertönte rund um den Tisch, dann setzte Totenstille ein. Die Augen der Frau in Rot wurden ganz schmal. Sie sah aus wie eine wütende, zum Angriff bereite Schlange. Sally glaubte ihr Gift schon zu spüren. Einige der Männer tauschten Blicke.

„Schlechter Stil, Kestrel“, sagte der König gereizt. „Miss Bowes ist für solche Spiele nicht zu haben.“

„Ich bitte um Verzeihung, Eure Majestät“, gab Jack sanft zurück. Sein Blick ruhte immer noch auf Sally, dunkel und geheimnisvoll, und sie erschauerte. Es war, als wären sie ganz allein im Raum. „Wenn ich etwas sehe, das ich haben will, dann mache ich mich daran, es zu bekommen“, fuhr er fort. „Durch den Einsatz wird das Spiel noch aufregender.“ Er zog eine Braue hoch. „Miss Bowes?“

„Mr. Kestrel.“ Sallys Stimme war zwar ruhig, aber schneidend. „Seine Majestät hat vollkommen recht. Ich habe Ihnen heute schon einmal gesagt, dass ich nicht diese Art von Frau bin, und das hier ist nicht diese Art von Club.“

„Alles hat seinen Preis, Miss Bowes.“ Seine Jetons klickten leise, als er sie aufeinanderstapelte.

„Ich bin unbezahlbar“, konterte Sally liebenswürdig. Der König lachte, und die Spannung ließ etwas nach. „Ihr Preis hingegen beläuft sich auf zehntausend Pfund Gewinn und ein Abendessen mit mir, falls Sie das annehmen wollen.“

„Ich würde annehmen, Kestrel“, meinte einer der Männer. „Das ist mehr, als uns anderen je angeboten worden ist.“

Jack stand auf und zog sein Jackett an. „Ich akzeptiere das Essen gern“, sagte er, „und den Rest überlasse ich dem Zufall.“

Dan war mit Champagner und Kaviar zurückgekehrt. Der König küsste Sally galant die Hand und sagte, sie wäre eine ganz besondere Frau. Sally war grenzenlos erleichtert – Jacks Glückssträhne war unterbrochen worden, wenn auch zu einem hohen Preis, und die Gunst des Königs war ihr weiterhin gewiss.

Jack legte die Hand unter ihren Ellenbogen, und gemeinsam verließen sie den Spielsalon.

„Sind Sie böse auf mich?“, fragte er leise, und sein Atem streifte ihr Haar.

„Spielt das eine Rolle?“, entgegnete Sally knapp. „Ich habe den Eindruck, als wäre die Missbilligung anderer für Sie völlig bedeutungslos.“

Er lachte, und sie sah, wie seine Augen belustigt funkelten. „Sie haben mich gut durchschaut“, stellte er fest. „Übrigens können Sie die zehntausend Pfund immer noch zurückgewinnen.“

Sally bedachte ihn mit einem flüchtigen Blick. „Und Sie haben mich schlecht durchschaut, Mr. Kestrel, wenn Sie glauben, ich hätte das, was ich vorhin gesagt habe, nicht ernst gemeint.“ Sie blieb stehen und drehte sich zu ihm um. Im Moment waren sie ganz allein im Flur. „Sie wollen sich wegen Connies Verhalten an mir rächen, also erwägen Sie, die Spielbank zu sprengen und mich in den Ruin zu treiben. Das ist alles, was Sie wollen.“

„Sie irren.“ Jack hob die Hand und strich ihr leicht über die Wange. „Alles, was ich will, sind Sie, Sally Bowes. Ich habe Sie begehrt, seit ich Ihnen gestern Nacht zum ersten Mal begegnet bin.“

Plötzlich kam ihr die Luft stickig vor. Sally trat einen Schritt zurück und fühlte den glatten, kühlen Putz der Wand unter ihren Handflächen. Die Tatsache, dass sie sich in der Öffentlichkeit befanden, würde ihn nicht im Geringsten stören, das wusste sie. Wenn Jack Kestrel einer Frau vor dem König einen unsittlichen Antrag machen konnte, dann war er auch durchaus imstande, sie mitten auf dem Flur zu küssen, ohne sich darum zu scheren, wer ihnen dabei zusah. Ihr war heiß und schwindelig.

„Sie können nicht alles …“, begann sie, doch er ließ ihr keine Gelegenheit, den Satz zu beenden. Er beugte sich zu ihr und küsste sie. Sanft biss er in ihre Unterlippe, und glühendes Verlangen durchzuckte sie, sodass sie ihm leise aufstöhnend ihre Lippen öffnete. Da nahm er vollständig Besitz von ihrem Mund, und ihr war, als stände ihr ganzer Körper in hellen Flammen. Etwas Derartiges hatte sie noch nie zuvor erlebt.

Sie fuhren auseinander, als ein Paar den Flur entlangkam und ihnen einen neugierigen Blick zuwarf. Sally wandte das Gesicht ab. Sie hatte keine Ahnung, welche Gefühle und Emotionen sich in ihren Zügen widerspiegelten, aber sie befürchtete, man könnte ihr ihren inneren Aufruhr nur allzu deutlich ansehen. Ihr Herz klopfte stark und schnell, und sie wusste, dass sie zitterte. Jack legte ihr die Hand unter das Kinn, wie er es schon früher in ihrem Büro getan hatte, und drehte ihr Gesicht wieder dem Licht zu. Mit dem Daumen strich er über ihre Lippen, wo er sie eben noch geküsst hatte, und ihre Lust wurde so übermächtig, dass sie beinahe laut aufgestöhnt hätte.

„Sally“, murmelte er rau, „wo können wir hingehen?“

Sie verstand, was er meinte, aber der Gedanke ließ sie wieder zu Verstand kommen. „Ich kann nicht.“ Sie runzelte leicht die Stirn. Es hatte keinen Sinn, so zu tun, als reagierte sie nicht auf ihn, als begehrte sie ihn nicht ebenfalls. Das hatte ja schon ihr Verhalten bewiesen. Sie versuchte, ganz ehrlich zu sein. „Das geht mir zu schnell“, erklärte sie leise. „Ich bin solche Empfindungen nicht gewohnt. Ich kann noch gar nicht glauben, dass wir …“

Sie sah, wie seine angespannte Miene sich ein wenig erhellte. „Es tut mir leid“, sagte er. „Ich habe mich hinreißen lassen …“

„Ja.“ Sally strich glättend über ihr Kleid. Ihre Bewegungen waren ruckartig, ihre Hände zitterten immer noch. „Entschuldigen Sie mich“, flüsterte sie. „Sie müssen mich jetzt bitte entschuldigen, Mr. Kestrel.“

Er hielt sie am Handgelenk fest. „Sie haben mir ein gemeinsames Abendessen versprochen“, erinnerte er sie, und der Anflug eines Lächelns spielte um seine Mundwinkel. „Das war mein Preis. Sie können sich nicht davor drücken.“

Sally sah ihn an, es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. „Das muss dann aber auch alles sein.“

Er neigte kurz den Kopf. „Natürlich.“

„Und Sie müssen mir ein paar Minuten Zeit geben.“

Er nickte. „So können Sie mit Sicherheit nicht in den Speisesaal gehen.“ Ein teils zärtliches, teils befriedigtes Lächeln brachte seine Augen zum Leuchten, und Sallys Herzschlag stockte. „Sie sehen etwas … mitgenommen aus.“

Da war es wieder, dieses überwältigende Verlangen, und sie sah, dass seine Augen vor Leidenschaft ganz dunkel wurden, als er merkte, in welchem Zustand sie sich befand. Erneut streckte er die Hand nach ihr aus, doch sie riss sich los und eilte den Flur entlang zur Damentoilette. Zum Glück war niemand dort. Sally schloss die Tür sorgfältig hinter sich ab und lehnte sich schwer atmend und mit geschlossenen Augen dagegen.

Was, um alles in der Welt, war nur in sie gefahren? Welche Entschuldigung konnte es dafür geben, dass sie vergessen hatte, was für eine Gefahr Jack Kestrel sowohl für ihre Tugend als auch für ihre Existenz darstellte? Dafür, dass sie sich von ihm hatte küssen lassen und darauf auch noch so lustvoll reagiert hatte? Sie musste verrückt gewesen sein. Sie hatte nicht einmal Champagner getrunken, ganz offenbar hatte sie nur vollkommen den Verstand verloren.

Sie musste ihn genauso begehrt haben wie er sie.

Sally schlug die Augen auf. Selbst jetzt konnte sie noch Jacks Körper an ihrem spüren, dazu diese unfassbare, fließende und nicht zu unterdrückende Wärme, die durch ihre Adern geströmt war, als er sie geküsst hatte. Sie legte die Hand an ihre Lippen. Bisher war sie selten geküsst worden – und noch nie auf diese Art. Als sie verlobt gewesen waren, hatte Jonathan, ihr späterer Ehemann, sie ein- oder zweimal geküsst; nichts weiter als respektvolle, flüchtige Küsse auf die Lippen, was Sally vor künftigen Problemen hätte warnen müssen, wäre sie damals nur etwas erfahrener gewesen. Diese Küsse waren niemals so wie der von Jack gewesen, voller Glut, Leidenschaft und Verlangen. Und genau dadurch hatte sie sich verraten. Sie hatte sich noch nie so unglaublich begehrt gefühlt, noch nie auf eine solche Art, dass ihr ganzer Körper vor sinnlicher Lust gebebt hatte.

Sie ließ sich auf den kleinen roten Plüschhocker sinken und betrachtete sich hilflos im Spiegel. Jack hatte recht, sie sah mitgenommen aus. Sie wollte so aussehen, sie wollte verführt werden. Jack war in ihr Leben gestürmt und hatte nach nur zwei kurzen Begegnungen alle ihre sorgfältig errichteten Schutzzäune eingerissen. Zum ersten Mal die körperliche Liebe mit Jack Kestrel zu erleben, der ihr das Gefühl geben würde, sinnlich, lüstern und begehrenswert zu sein … Allein bei dem Gedanken wurde ihr glühend heiß.

Seufzend begann sie, ihr Haar zu ordnen; sie korrigierte den Sitz ihres Stirnbands und steckte die lockeren Diamantnadeln fest, ehe sie ihr Kleid glatt strich. Nun sah sie wieder ordentlich aus, die tadellose Eigentümerin des Blue Parrot, gepflegt und gefasst wie immer. Nur in ihrem Gesicht hatte sich etwas verändert. Ihre Lippen waren rosig und voll von Jacks Kuss, und in ihren Augen entdeckte sie ein neues, staunendes Wissen. Ihre Bedürfnisse, ihre Empfindungen und ihre Sehnsüchte waren erwacht und forderten Erfüllung.

Sie sah auf die kleine goldene Uhr an der Wand. Noch ein paar Stunden, dann war sie Jack Kestrels gefährliche Gegenwart los. Dann konnte sie mit Connie sprechen, die Briefe einfordern, sie Jack schicken – und die Sache war erledigt. Sie brauchte ihn nie wiederzusehen. Sie konnte den Wahnsinn vergessen, der von ihr Besitz ergriffen hatte. Dieser Drang, alle Regeln außer Acht zu lassen, nach denen sie so lange gelebt hatte, war zu furchteinflößend. Sie war nicht sicher, wohin das führen konnte.

Autor

Sophia James
Romane von Georgette Heyer prägten Sophias Lesegewohnheiten. Als Teenager lag sie schmökernd in der Sonne auf der Veranda ihrer Großmutter mit Ausblick auf die stürmische Küste. Ihre Karriere als Autorin nahm jedoch in Bilbao, Spanien, ihren Anfang. Nachdem ihr drei Weißheitszähne gezogen wurden, lag sie aufgrund starker Schmerzmittel tagelang flach....
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Nicola Cornick
<p>Nicola Cornick liebt viele Dinge: Ihr Cottage und ihren Garten, ihre zwei kleinen Katzen, ihren Ehemann und das Schreiben. Schon während ihres Studiums hat Geschichte sie interessiert, weshalb sie sich auch in ihren Romanen historischen Themen widmet. Wenn Nicola gerade nicht an einer neuen Buchidee arbeitet, genießt sie es, durch...
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