Historical Exklusiv Band 85

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

VENEZIANISCHE VERSUCHUNG von MIRANDA JARRETT

Wach ich, oder träum ich? Richard Farren, Duke of Aston, traut seinen Augen nicht. Denn die Schönheit mit dem offenen Haar und dem verführerischen Nachtgewand, die in sein Schlafgemach stürmt, ist Miss Wood! Was ist nur in die stille Gouvernante gefahren, die seine Töchter nach Venedig begleitet hat? Doch Jane Woods entfesseltes Temperament ist längst nicht die einzige Überraschung, die den Duke in der Lagunenstadt erwartet …

SIEG DER LIEBE von MIRANDA JARRETT

So verführerisch und betörend wie die Rosen in ihrem Garten wirkt die junge Braut Jerusa Sparhawk im Sommer 1771 kurz vor ihrer Hochzeit. Der Mann, der ihr im Schatten der Bäume auflauert, hat jedoch keine Augen für ihre Schönheit. Mit einem finsteren Racheplan im Herzen entführt Michel Géricault die ahnungslose Jerusa nach Martinique. Doch bald spürt er, dass die Liebe heißer als jede Rache brennen kann …


  • Erscheinungstag 15.09.2020
  • Bandnummer 85
  • ISBN / Artikelnummer 9783733749019
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Miranda Jarrett

HISTORICAL EXKLUSIV BAND 85

1. KAPITEL

„Wenn eine Frau sich dem leichtfertigen Leben hingeben möchte, ist ein Aufenthalt in Venedig bestimmt nicht dazu geeignet, sie auf den rechten Weg zu bringen“, soll einst eine junge Frau zu dem Schauspieler Thomas Hull gesagt haben. Eine Äußerung, die so manchen englischen Gentleman dazu gebracht haben mag, nach Venedig zu reisen, um sich dort zu vergnügen.

Venedig, Januar 1785

Jahrhundertelang gab es in Venedig reichlich Gelegenheit sich zu vergnügen, und zwar zu allen Jahreszeiten. So auch in den Jahren 1784/85: Man kam nach Venedig, um die herrschaftlichen Paläste, die antiken Gemälde und andere Kunstschätze zu bewundern, um den berühmten Karneval zu erleben oder auch, um sich an lauen Tagen in einer überdachten Gondel mit einer Kurtisane zu amüsieren.

Im Januar allerdings trafen nur wenige Besucher ein. Richard Farren beispielsweise, der 5. Duke of Aston, hatte die im Winter sehr beschwerliche Überfahrt von England nach Italien auf sich genommen. Jedoch nicht, um sich den vielfältigen Zerstreuungen hinzugeben, die eine Stadt wie Venedig zu bieten hatte. Die Liebe hatte ihn dazu gebracht, seine Heimat zu verlassen.

Aston stellte den Kragen des warmen Reisemantels hoch, um sich gegen den scharfen Wind zu schützen. Er hasste diese kalten Windstöße, die so unerwartet über das Wasser fegten und ihn erschauern ließen. Doch obwohl er fröstelte, erheiterte es ihn, sich vorzustellen, was seine Freunde in London wohl über ihn dachten. Zweifellos hielten sie ihn für einen sentimentalen Dummkopf. Manche mochten sogar befürchten, er habe den Verstand verloren. Niemand außer ihm selbst glaubte, dass er für all die Mühen, die er auf sich genommen hatte, belohnt werden würde. Wahrscheinlich hatte man in den Klubs der englischen Metropole sogar Wetten abgeschlossen, die sich damit beschäftigten, wie groß seine Enttäuschung sein und wie rasch er die Heimfahrt antreten würde.

Während er gespannt dem Hafen entgegenblickte, den sie bald erreichen sollten, genoss der Duke das Gefühl der Vorfreude in vollen Zügen. Es war ihm unmöglich gewesen, die Einsamkeit mehr als ein paar Monate lang zu ertragen. Weder in London noch auf seinem Landsitz Aston Hall war es ihm gelungen, sich von seinem Kummer abzulenken. So hatte er sich schließlich entschlossen, einfach zu tun, wonach ihm der Sinn stand. Gewiss war es unvernünftig, eine solche Reise anzutreten, wenn es stürmte und schneite. Aber wann wäre er je besonders vernünftig oder gar vorsichtig gewesen? Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Das war schon immer sein Motto gewesen, und er beabsichtigte nicht, sich ein anderes zu suchen.

Er legte die Arme auf die Reling der kleinen Schaluppe und betrachtete die dunkle Linie am Horizont, die – wie er wusste – die Küste Italiens war. Mehrfach hatte man ihm versichert, es sei nun nicht mehr weit bis Venedig. Er sehnte sich danach, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben und sein beschwerliches Unternehmen zu einem guten Ende zu bringen. Ungeduld erfüllte ihn. Deshalb hatte er es auch vorgezogen, sich der feuchten Kälte an Deck auszusetzen, statt in seiner kleinen, ein wenig nach Fisch riechenden Kabine zu bleiben. Er war erschöpft, spürte jedoch deutlich, dass es ihm unmöglich gewesen wäre, unter Deck Ruhe und Entspannung zu finden.

Nach all diesen Wochen, die er zu Lande und auf dem Meer unterwegs gewesen war, brannte er darauf, endlich an seinem Ziel anzukommen. Ein paar Stunden noch, dann war es geschafft! Seine Sorgen würden aufhören, ihn zu quälen. In der nächsten Nacht würde er endlich wieder ruhig schlafen können. Das hoffte er jedenfalls inständig. Denn wenn sich das Schicksal gegen ihn verschworen hatte, würde bald eine noch viel sorgenvollere Zeit für ihn beginnen.

„Euer Gnaden wollen möglichst schnell in Venedig ankommen?“ Der Kapitän der Schaluppe war unaufgefordert zu ihm getreten. „Es gefällt Ihnen, dass wir so gute Fahrt machen, nicht wahr?“

„Ja“, meinte Aston kurz angebunden. Er verspürte keine Lust auf ein Gespräch mit dem Kapitän. Das musste dieser doch an seinem abweisenden Tonfall merken.

Doch der Mann warf nur einen kurzen Blick auf das Gesicht des Dukes, schob eine fettige Haarsträhne, die der Wind ihm ins Gesicht geblasen hatte, hinters Ohr und sagte: „Euer Gnaden haben großen Mut bewiesen, als Sie sich im Winter aufs Meer wagten.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust, so als wolle er sich warm halten. „Der Wind ist eisig.“

Aston nickte nur. Er wusste sehr wohl um die Gefahren, die eine Reise zu dieser Jahreszeit mit sich brachte. Er war so spät im Herbst aufgebrochen, dass man ihm schon in London erklärt hatte, es sei unmöglich, die Alpen zu überqueren. Also hatte er sich entschließen müssen, fast den gesamten Weg per Schiff zurückzulegen, erst über den Atlantik bis Spanien, dann durch die Meerenge von Gibraltar und über das Mittelmeer. Die lange gefährliche Reise hatte genügt, um eine nahezu unüberwindliche Abneigung gegen Schiffe und gegen Seeleute wie diesen Kapitän bei ihm zu wecken.

„Wenn Sie erst einmal in Venedig sind, Euer Gnaden, dann werden Sie bis zum Frühjahr dort bleiben müssen. Im Winter ist es zu beschwerlich, nach Rom, Neapel oder Florenz zu gelangen.“

„Hm …“ Seine Ungeduld wuchs. Er brauchte keine guten Ratschläge von einem Mann wie dem Kapitän! Im Übrigen beabsichtigte er sowieso nicht, Venedig in den nächsten Wochen den Rücken zu kehren. Im Gegenteil, er freute sich auf die weibliche Gesellschaft, die ihn dort erwartete.

„Natürlich werden Sie sich nicht langweilen“, fuhr der Seemann unbeeindruckt von der ablehnenden Haltung seines Passagiers fort. „Ein so gut aussehender Gentleman wie Sie wird schnell Freunde und natürlich vor allem Freundinnen an seiner Seite haben.“

Richard schwieg. Die aufgezwungene Unterhaltung war ihm äußerst unangenehm. Und die schmutzige Fantasie des Kapitäns fand er widerlich. Ihm lag nichts an leichten Mädchen. Seine Gedanken wanderten zu seiner verstorbenen Gattin. Anne war viel mehr für ihn gewesen als die ihm rechtmäßig angetraute Duchess. Er hatte sie als seine beste Freundin betrachtet. Ja, er hatte sie mehr als alles auf der Welt geliebt. Daher war es auch keiner anderen Frau bisher gelungen, Anne zu ersetzen. Tatsächlich schmerzte der Verlust, den er vor so vielen Jahren erlitten hatte, noch immer.

„Ich kann Ihnen sagen, in welchen Häusern es die besten Kurtisanen gibt, Euer Gnaden. Sie können mir vertrauen. Ich weiß, was den englischen Gentlemen gefällt. Die Venezianerinnen sind etwas ganz Besonderes. Sie werden Ihnen so viel Wonne, so viel Lust, so viel …“

„Genug!“, unterbrach Aston den Kapitän in eben jenem Ton, den er sonst anschlug, um widerspenstige Bedienstete, dickköpfige Kinder oder ungehorsame Hunde zur Vernunft zu bringen. Warum schien jeder außerhalb Englands zu glauben, die Mitglieder des englischen Adels seien an nichts anderem interessiert als an willigen Frauen vom Kontinent?

Nach kurzem Zögern zog der Kapitän sich mit einer Verbeugung zurück, und Richard konnte seine Aufmerksamkeit wieder dem Horizont zuwenden. Dunkle Silhouetten von Häusern und Türmen zeichneten sich gegen den grauen Himmel ab. Nun konnte es wirklich nicht mehr weit sein bis Venedig.

Wenig später gesellte sich sein Kammerdiener Wilson zu ihm. Er wollte seinen Herrn daran erinnern, sich umzukleiden, ehe er an Land ging. Aston schüttelte nur den Kopf. Auch der Kapitän tauchte noch einmal auf und versuchte, ihn dazu zu bewegen, sich unter Deck zu begeben. Doch Richard weigerte sich, seinen Platz an der Reling zu verlassen. Während er beobachtete, wie die Besatzung der Schaluppe alles für das Ankermanöver vorbereitete, stellte er sich vor, was ihn in Venedig erwartete. Ah, die Freuden des Wiedersehens! Unwillkürlich huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Er rief sich das fröhliche Lachen in Erinnerung, das ihn so glücklich machte, die weichen Mädchenarme, die sich um seinen Nacken legten, die rosigen Wangen, die leuchtenden Augen. Wie hatte er dies alles während der letzten Monate vermisst!

Kaum lag die Schaluppe vor Anker, als eine Menge kleinerer Boote sich ihr näherte. Die meisten von ihnen hatten eine, wie Richard fand, sehr seltsame Form, lang, schmal und mit weit aufgebogenen Enden, dabei waren sie irgendwie asymmetrisch. Auch schien es jeweils nur einen Mann zu geben, der sie im Stehen mithilfe einer einzelnen langen Ruderstange bewegte.

„Wie nennt man diese Boote, Potter?“, fragte Aston seinen Privatsekretär, der jetzt schon seit einiger Zeit neben ihm an der Reling stand, während das übrige Personal damit beschäftigt war, unter Deck alles für das endgültige Ende der Schiffsreise vorzubereiten.

„Gondeln, Euer Gnaden“, gab Potter, gut informiert und hilfsbereit wie immer, zurück. „Sie sind das für Venedig typische Fortbewegungsmittel, so wie bei uns in London die Droschken. Die Männer, die sie lenken, werden Gondolieri genannt.“

„Rufen Sie uns eine herbei“, befahl Aston. „Ich möchte keinen Moment länger auf dieser scheußlichen Schaluppe bleiben als nötig.“

Der Sekretär nickte, wandte aber ein, dass sie erst den Zoll passieren mussten. „Man wird uns sonst nicht gestatten, die Stadt zu betreten.“

„Der verfluchte Zoll!“, rief Richard zornig aus. „Nein, ich werde mich nicht länger aufhalten lassen! Ich will endlich von diesem Schiff herunter!“

„Dort drüben in dem großen Gebäude ist die Zollstation untergebracht“, erklärte Potter. „Wenn wir uns dorthin übersetzen lassen …“

„Nein!“, unterbrach Richard ihn. „Nein, habe ich gesagt! Ich will mich sofort zu den Damen begeben. Wenn Sie glauben, dass es unumgänglich ist, mit den Zöllnern zu reden, dann erledigen Sie das.“

„Aber, Euer Gnaden …“ Das Gesicht des Sekretärs hatte einen besorgten Ausdruck angenommen.

„Sie können mich nicht umstimmen, Potter. Wenn die Zöllner unbedingt mit mir persönlich sprechen wollen, sollen Sie mich morgen aufsuchen in dieser Ca… Wie heißt das Haus, das wir gemietet haben?“

„Casa Battista, Euer Gnaden. Oder abgekürzt Ca’ Battista. Allerdings …“

„Ca’ Battista“, wiederholte Aston, um sich den Namen einzuprägen. „Gut. Wie gesagt: Die Leute sollen morgen dorthin kommen, wenn sie es wirklich für nötig halten.“

„Die Venezianer sind sehr stolz“, versuchte Potter es noch einmal. „Es heißt sogar, dass sie für Engländer und andere vornehme Besucher, insbesondere Mitglieder des Adels, nur wenig Achtung übrig haben. Es scheint damit zusammenzuhängen, dass Venedig eine Republik ist. Jedenfalls wird es den Zöllnern nicht gefallen, dass ein Ausländer …“

„Ich bin kein Ausländer“, fiel Aston ihm ins Wort, „sondern ein englischer Peer, ein Mann von Rang und hohem Ansehen. Und jetzt besorgen Sie mir ein Boot, Potter!“

Wenig später saß Richard, begleitete von seinem Kammerdiener, tatsächlich in einer Gondel. Der Gondoliere steuerte das Boot mit großem Geschick. Der Duke konnte nicht umhin, darüber zu staunen, mit welcher Geschwindigkeit die Gondel sich vorwärtsbewegte. Bald schon hatten sie den Hafenbereich hinter sich gelassen und bogen in einen der vielen Kanäle ein, die in Venedig die Straßen zu ersetzen schienen.

„Ca’ Battista“, verkündete der Gondoliere gleich darauf und steuerte auf den Anlegesteg vor einem herrschaftlichen Haus zu.

Es handelte sich um ein beeindruckendes Gebäude aus hellem Stein, dessen Front durch Spitzbögen, mehrere kleine Balkons und verschiedene dekorative Verzierungen geprägt wurde.

Mit einem dumpfen Laut stieß die Gondel gegen den Landungssteg, woraufhin ein müde aussehender Mann das Portal der Ca’ Battista öffnete. Er hielt eine Laterne in der Hand, denn es dämmerte bereits. Mit unbewegtem Gesicht musterte er die Gondel und ihre Insassen.

„Starren Sie uns nicht an, Mann!“, rief Wilson, „sondern sagen Sie Ihrer Herrin, dass Seine Gnaden, der Duke of Aston, da ist.“

Der Venezianer zögerte. Vermutlich verstand er kein Englisch und wunderte sich darüber, dass unangemeldete Gäste kamen. Doch da war Richard schon ungeduldig aus der Gondel geklettert und drängte sich an ihm vorbei ins Haus.

Die Eingangshalle war ein achteckiger von Säulen getragener Raum, von dem aus eine breite Treppe ins Obergeschoss führte. Die Pfosten am unteren Ende des Geländers wurden von vergoldeten Engeln gekrönt, die – wie Richard fand – ein wenig überheblich schauten. Glänzende Fliesen bedeckten den Boden, und die Wände wurden – so weit man das im Dämmerlicht erkennen konnte – von verblassten Gemälden verziert.

Wenn Aston angenommen hatte, irgendwer würde ihn höflich oder gar begeistert willkommen heißen, so hatte er sich getäuscht. Niemand war zu sehen, nichts war zu hören. Vor Zorn hätte er am liebsten laut geflucht. Er war müde, er fror, er hatte gehofft, endlich am Ziel zu sein und sich entspannen zu können. Aber hier war nichts so, wie er es sich vorgestellt hatte.

Waren seine Briefe womöglich nie angekommen? Die italienische Post war bekannt für ihre Unzuverlässigkeit. Trug sie die Schuld daran, dass niemand hier war, um ihn angemessen zu empfangen? Verflixt, warum lief niemand ihm entgegen und schlang ihm jubelnd die Arme um den Nacken? Warum gab es keine Freudentränen und keine Küsse zur Begrüßung? Ihm war klar, dass es ein Risiko gewesen war, sich auf die Reise nach Venedig zu machen. Aber da er die Miete für dieses Stadtpalais bezahlte, konnte er doch zumindest damit rechnen, dass man ihm ein wenig Dankbarkeit entgegenbrachte.

„Hochwohlgeborener Herr …“

Er fuhr herum.

Der Diener mit der Laterne stand an der Tür und fuhr ein wenig atemlos, aber in durchaus verständlichem Englisch fort: „Sie möchten die englische Lady sehen?“

Richard nickte. Der starke italienische Akzent des Mannes ärgerte ihn, obwohl er wusste, dass er von Glück sagen konnte, überhaupt auf jemanden zu treffen, der seine Sprache beherrschte. Im Übrigen wollte er beide englischen Ladys sehen, nicht nur eine. Also forderte er den Bediensteten auf: „Teilen Sie den Damen mit, dass …“

Der Mann hob die Laterne und deutete mit dem Kinn in Richtung der Treppe. „Sie wartet schon.“

Leicht verwirrt wandte Aston sich wieder den beiden Engeln zu. Dann ließ er den Blick langsam nach oben gleiten. Und tatsächlich! Am oberen Ende der Treppe konnte er im Dämmerlicht den Umriss einer weiblichen Gestalt ausmachen. Er stieg einige Stufen hinauf und kniff die Augen ein wenig zusammen, um besser sehen zu können. Eine Frau, ja. Aber es handelte sich ganz offensichtlich um keine der Damen, die er zu treffen wünschte. Immerhin erkannte er sie jetzt. Es war die Gouvernante seiner Töchter, eine kleine Frau, deren weit aufgerissene Augen riesig wirkten in dem blassen Gesicht. Sie trug ein einfach geschnittenes Kleid aus brauner Wolle. Das Haar hatte sie streng zurückgekämmt und unter einer schmucklosen Haube verborgen. Mit beiden Händen umklammerte sie das Treppengeländer, so als könne sie sich nur mit Mühe aufrecht halten. Sie wirkte zutiefst aufgewühlt.

„Euer Gnaden …“, stammelte sie und knickste, ohne das Geländer loszulassen. „Guten Abend, Euer Gnaden. Ich hatte Sie nicht erwartet.“

„Das ist offensichtlich“, entgegnete er leicht gereizt. „Ich bin müde, Miss Wood. Und ungeduldig. Ich will meine Töchter sehen. Bitte, bringen Sie mich sofort zu ihnen.“

„Zu Lady Mary?“, fragte sie in einem Ton, der Astons Zorn aufs Neue entfachte. „Und zu Lady Diana?“

„Allerdings. Andere Töchter habe ich nicht!“ Mit wenigen Schritten hatte er die Treppe erreicht, hielt abrupt inne und starrte zu Jane Wood hinauf. „Also?“ Seine Stimme verriet, dass seine Geduld zu Ende ging. Nichts außer der Sehnsucht nach den Mädchen hätte ihn jemals bewegen können, die beschwerliche Reise auf sich zu nehmen. Nun wollte er seine geliebten Kinder endlich in die Arme schließen! Er sehnte sich nach der ernsten dunkelhaarigen Mary, die ihn so sehr an seine verstorbene Gattin erinnerte, und nach der ein Jahr jüngeren Diana, die sein eigenes aufbrausendes Temperament ebenso geerbt hatte wie sein helles Haar. Kein Vater hätte seine Töchter schmerzlicher vermissen können als er.

Aus dem Dunkel tauchte eine zweite Frau auf und stellte sich neben die Gouvernante. Es schien sich um eine Venezianerin zu handeln, eine Witwe vermutlich, denn sie war ganz in Schwarz gekleidet. Sie machte einen eleganten, vornehmen Eindruck.

„Ich war lange unterwegs“, stellte Richard fest, „und ich verbitte mir jede weitere Verzögerung.“

„Ihre Töchter …“, murmelte Miss Wood, und sie klang so traurig, dass Aston erschrak.

Tröstend legte die andere Frau der Gouvernante die Hand auf den Arm. Dabei sprach sie in leisem Italienisch auf sie ein. Doch Miss Wood schüttelte nur betrübt den Kopf, ehe sie sich wieder dem Duke zuwandte und sagte: „Dann haben Sie wohl meine Nachrichten nicht erhalten, Euer Gnaden? Und auch nicht die Briefe der beiden jungen Damen? Sie wissen gar nicht, was geschehen ist?“

„Was sollte ich wissen?“, fragte er lauter als beabsichtigt. „Verflucht, ich war wochenlang per Schiff unterwegs! Die letzten Nachrichten, die mich erreicht haben, kamen aus Paris. Bringen Sie mich jetzt endlich zu meinen Töchtern!“

„Das ist leider nicht möglich, Euer Gnaden. Ich wünschte von ganzem Herzen, es wäre anders.“ Sie löste die Finger vom Treppengeländer und ließ sich langsam auf die oberste Stufe sinken. Es sah aus, als habe alle Kraft sie verlassen. „Die jungen Damen sind nicht hier. Bei Gott, wenn Sie doch nur Lady Marys und Lady Dianas Briefe gelesen hätten!“

Aston erbleichte. Was war mit seinen Töchtern geschehen? Eine Vielzahl furchtbarer Möglichkeiten schoss ihm durch den Kopf. Ein Unfall mit der Kutsche, ein Schiffsunglück, ein Überfall durch Wegelagerer, ein gefährliches Fieber, eine entzündete Wunde … Damals, als er seine Gattin verloren hatte, wäre er ihr vor Kummer beinahe in den Tod gefolgt. Wenn seine Töchter gestorben waren … Er würde es nicht ertragen!

Seine Stimme klang heiser, als er Miss Wood befahl, ihm sofort zu erklären, was den Mädchen zugestoßen war.

„Sie haben geheiratet, Euer Gnaden.“ Die Gouvernante senkte den Kopf und starrte auf ihre ineinander verschränkten Hände. „Sie sind beide in den Stand der Ehe getreten.“

2. KAPITEL

Verheiratet?“, brüllte Aston. „Meine Töchter? Verheiratet?“

„Ja, Euer Gnaden.“ Jane Wood holte tief Luft und sagte sich, das Schlimmste sei überstanden. Sie kannte den Vater ihrer Schützlinge seit Langem und wusste um sein aufbrausendes Wesen. Schon früher hatte sie seine Wutausbrüche erlebt. Diesmal verstand sie seinen Zorn sogar. Natürlich hoffte sie trotzdem von ganzem Herzen, dass er sich rasch beruhigen würde. „Lady Mary und Lady Diana haben eine gute Wahl getroffen. Sie sind mit echten Gentlemen verheiratet.“

„Ha! Mit echten Schurken wohl eher!“

Das im Allgemeinen anziehende Gesicht des Dukes hatte einen so finsteren Ausdruck angenommen, dass Miss Wood sich innerlich auf einen weiteren Ausbruch gefasst machte. Doch Astons Stimme klang sehr beherrscht, als er fragte: „Warum haben Sie diesen Wahnsinn nicht verhindert? Warum haben Sie diese Verbrechen zugelassen, Miss Wood?“

Da begriff sie, dass er nicht nur wütend, sondern auch zutiefst enttäuscht und sehr besorgt um seine Töchter war.

„Euer Gnaden …“ Sie zwang sich aufzustehen. Irgendwie musste es ihr gelingen, ihn zu beruhigen. In seinem jetzigen Zustand würde er versuchen, alles, was sie tat und sagte, zu ihrem Nachteil auszulegen. Er würde ihr Schwäche und Unfähigkeit vorwerfen, sofern sie nicht überzeugend und gelassen auftrat. Von jeher hatte er es gehasst, wenn etwas nicht nach seinem Willen ging. Er war es nicht gewohnt, dass man ihm widersprach oder seinen Anweisungen nicht Folge leistete. Er geriet in Wut, wenn man sich ihm widersetzte. Und er bemühte sich nicht im Geringsten, seinen Zorn und seinen Ärger zu beherrschen. In London war er geradezu berüchtigt für sein heftiges Temperament. Wenn er sich aufregte, dann half – wie Jane Wood in den zehn Jahren, die sie für den Duke of Aston arbeitete, gelernt hatte – nur eines: Man musste ihm alle Fakten so vernünftig wie möglich erläutern.

Noch einmal atmete sie tief durch. Dann legte sie die Hände vor der Brust zusammen, so wie sie es häufig tat. Sie war unzufrieden mit sich. Eigentlich hätte sie sich ihr Erschrecken über das unerwartete Auftauchen des Dukes nicht anmerken lassen sollen. Schließlich war sie kein unerfahrenes junges Mädchen mehr. Sie war eine kluge und fähige Frau von fast dreißig Jahren. Deshalb würde sie sich jetzt genau so verhalten, wie es am besten war: vernünftig und besonnen. Sie würde sich nicht verteidigen, denn sie hatte keinen Fehler gemacht, zumindest keinen schwerwiegenden. Mit wohlgesetzten Worten würde sie dem Duke erklären, was sich in den letzten Wochen und Monaten zugetragen hatte.

Tatsächlich hatte sie in den vergangenen Wochen bereits viel Zeit darauf verwendet, sich ihre Rede zurechtzulegen. Allerdings hatte sie immer angenommen, sie würde dem Duke in seiner sonnendurchfluteten Bibliothek in Aston Hall gegenübertreten, um ihn über alles zu informieren. Zudem hatte sie geglaubt, er würde dann bereits aus den Briefen seiner Töchter von deren Hochzeit erfahren haben. Dann hätte sie selbst nur ein paar Einzelheiten beisteuern müssen. Und es wäre nicht allzu schwer gewesen, ihm begreiflich zu machen, dass die Mädchen ihr Glück gefunden hatten. Nie wäre es ihr in den Sinn gekommen, er könne sich mitten im Winter auf die Reise nach Venedig machen, um dann außer sich vor Wut im kalten, düsteren Treppenhaus der Ca’ Battista herumzubrüllen.

„Ich fürchte, ich muss die Wache rufen lassen“, verkündete Signora della Battista in diesem Moment auf Italienisch. Sie betrachtete den Duke voller Abneigung.

Jane schüttelte den Kopf und setzte zu einer Entgegnung an.

„Zumindest sollte ich den Dienern befehlen, diesen Mann hinauszuwerfen“, fuhr die Signora fort. „Es gibt keinen Grund, sich das Geschrei eines verrückten Engländers anzuhören.“

„Oh, für mich gibt es einen sehr wichtigen Grund“, antwortete Jane rasch, wobei sie sich ebenfalls der italienischen Sprache bediente, die sie inzwischen recht gut beherrschte. Seit sie ihren Pflichten als Gouvernante nicht mehr nachkommen musste, hatte sie eifrig gelernt. „Ich arbeite für ihn. Er ist es, der mir meinen Lohn zahlt und so meinen Lebensunterhalt sichert.“

Signora della Battista sah entsetzt drein. „Was für ein Leben! Wie können Sie es nur im Haushalt eines so unbeherrschten Mannes aushalten?“

Erneut schüttelte Jane den Kopf, länger und heftiger diesmal. Sie war froh, dass der Duke es aus purem Stolz auf seine englische Herkunft nie für nötig gehalten hatte, eine Fremdsprache zu erlernen. Jane wandte sich ihm zu und sagte in ruhigem Ton und natürlich auf Englisch: „Euer Gnaden, darf ich Ihnen Signora della Battista, die Besitzerin dieses Hauses, vorstellen.“

Er runzelte nur die Stirn.

„Signora, dies ist der Duke of Aston.“

Die Venezianerin nickte kaum merklich kurz zu. Es war eine Geste, die keinen Zweifel daran ließ, dass sie den Neuankömmling für einen Menschen hielt, der gesellschaftlich weit unter ihr stand. Schließlich gehörte ihre eigene Familie schon seit einer halben Ewigkeit zu den wichtigsten in Venedig, während Astons Ahnentafel nicht mehr als zwei Jahrhunderte zurückreichen konnte. Signora della Battista empfand es als himmelschreiende Ungerechtigkeit, dass sie aus finanziellen Gründen gezwungen war, die Ca’ Battista an ausländische Gäste zu vermieten.

„Madam!“ Jetzt verbeugte sich Richard. Zu sehr war er mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, als dass ihm die Überheblichkeit der Signora auch nur aufgefallen wäre. Seine Aufmerksamkeit galt Miss Wood. „Kommen Sie endlich zu mir herunter, damit ich Sie richtig sehen kann!“

Sie raffte die Röcke und stieg würdevoll die Treppe hinab. Vor dem Duke hielt sie inne. Nun musste sie den Kopf in den Nacken legen, wenn sie ihm ins Gesicht schauen wollte.

Während der letzten Monate hatte sie fast vergessen, wie groß er war. Mit einem Mal kam sie sich klein, schwach und hilflos vor. Aber es waren nicht nur Astons breite Schultern oder seine stolze Haltung, die ihn überall aus der Menge der anderen heraushoben. Es war seine Ausstrahlung, seine männliche Vitalität, die ihn zu etwas Besonderem machte. Während die meisten Gentlemen seines Alters ihre Gefühle hinter einer Miene vorgespielter Langeweile verbargen, zeigte er stets deutlich, was in ihm vorging. Wenn er gut gelaunt war, sprühte er vor Charme und Lebensfreude. Wenn er sich über etwas ärgerte, fürchteten die Menschen in seiner Umgebung seine Wutausbrüche. Das galt für seine Töchter ebenso wie für seine Bediensteten, seine Freunde oder seine Nachbarn.

Es galt auch für Jane Wood.

„Ich erwarte eine Erklärung!“

„Ja, Euer Gnaden.“ Sie nahm all ihren Mut zusammen, und es gelang ihr tatsächlich, dem Blick des Dukes standzuhalten. „Ich konnte und wollte Lady Marys und Lady Dianas Glück nicht im Wege stehen. Die Damen haben achtbare Gentlemen geheiratet, Ehrenmänner, die auch Ihnen gefallen werden, wenn Sie sie erst kennengelernt haben. Davon bin ich überzeugt.“

„Warum, zum Teufel, haben sie dann mit der Hochzeit nicht gewartet, bis ich mein Einverständnis geben konnte? Warum? Nun, ich werde es Ihnen sagen: Weil diese Kerle keine Gentlemen sind, sondern Gauner, die es niemals gewagt hätten, mich um die Hand einer meiner Töchter zu bitten.“

„Das ist nicht wahr“, widersprach Jane. „Unter anderen Umständen hätten die Gentlemen alles getan, um Ihnen zu versichern, dass Sie ihnen Ihre Töchter anvertrauen können. Aber Sie waren weit weg, Euer Gnaden, und …“ Die Gouvernante errötete. „Wenn zwei Menschen sich so lieben, ist es am besten, wenn sie möglichst schnell heiraten.“

„Ha!“, brüllte Aston. Er sah plötzlich regelrecht krank aus. „Die Schurken haben meine Mädchen ruiniert!“

„Nein“, versuchte Jane ihn zu beruhigen. „Nein, keine der beiden ist ruiniert. Es war nur so, dass … Also … Wahre Liebe kann nicht warten, nicht wahr?“

„Unsinn!“, rief Richard. „Wenn ich nur da gewesen wäre, dann hätte ich dafür gesorgt, dass …“ Er ließ den Satz unvollendet, weil ihm ein neuer Gedanke gekommen war. „Wie heißen diese Kerle?“

„Lady Mary hat in Paris Lord John Fitzgerald ihr Jawort gegeben.“

„Fitzgerald? Ein Ire? Meine Tochter hat sich von einem verfluchten Iren verführen lassen?“

„Lord John ist ein Mann von edler Herkunft.“ Jane war entschlossen, ihre Schützlinge zu verteidigen. „Sein Bruder ist ein Marquis. Außerdem …“

„Ein irischer Adelstitel ist überhaupt nichts wert!“, beharrte Aston. „Und dann ist dieser Fitzgerald auch noch ein jüngerer Sohn und vermutlich Katholik! Oh Gott, hat meine Mary etwa in einer katholischen Kirche geheiratet?“

„Nein, Euer Gnaden. Das Paar wurde, wie es sich gehört, von einem anglikanischen Pastor getraut. Lady Mary selbst hatte darum gebeten.“

Gequält verzog Richard das Gesicht. „Mein armes Kind“, murmelte er. „Meine kleine Mary … Sie hat sich an einen Iren fortgeworfen! Und wer hat Diana den Verstand geraubt?“

„Lady Diana hat in Rom Lord Anthony Randolph geheiratet, den Bruder des Earl of Markham.“

„Oh Gott, noch ein jüngerer Sohn!“ Aston machte jetzt einen zutiefst verzweifelten Eindruck. „Nun, zumindest ist dieser Randolph kein Ire, sondern ein Engländer.“

„Er ist zur Hälfte Engländer“, klärte Jane ihn auf. „Seine Mutter entstammt einer alten römischen Familie, weshalb Lord Anthony auch in Rom lebt.“

„Zum Teufel mit ihm!“ Richards Kummer war in Verbitterung umgeschlagen. „Ich habe also einen Iren und einen Italiener zum Schwiegersohn. Wunderbar.“

„Verzeihen Sie, Euer Gnaden.“ Jane liebte ihre ehemaligen Schutzbefohlenen und hatte deshalb das Gefühl, sie müsse sich noch einmal bemühen, dem Duke klarzumachen, dass seine Töchter glücklich waren. „Sie tun den Gentlemen Unrecht. Lord John und Lord Anthony sind durchaus ehrenwerte …“

„Genug, Miss Wood!“, unterbrach er sie. „Ich habe meine Töchter, die mir mehr als mein Leben bedeuten, in Ihre Obhut gegeben. Und Sie haben zugelassen, dass Mary und Diana …“ Einen Moment lang versagte ihm die Stimme.

„Bitte, Euer Gnaden, wenn Sie mir nur zuhören würden!“

„Nein!“ Er wandte sich an Signora della Battista, die noch immer oben an der Treppe stand. „Signora, bitte, zeigen Sie mir mein Schlafzimmer. Und lassen Sie mir ein Tablett mit Essen dorthin bringen. Ich beabsichtige, allein zu Abend zu speisen.“

Die Signora wusste, wann es an der Zeit war, einen freundlichen Ton anzuschlagen. Als Venezianerin verfügte sie über einen ausgeprägten Geschäftssinn. Sie hatte nicht vergessen, dass dieser Mann – so sehr sie ihn auch verachten mochte – schon vor Wochen die Miete für die Ca’ Battista bezahlt hatte. Er hatte das gesamte Haus für mehrere Monate gemietet, und das im Winter, wenn es kaum ausländische Besucher in der Lagunenstadt gab. Also sagte sie in flüssigem Englisch: „Ich fühle mich geehrt durch Ihren Besuch, Euer Gnaden. Sie sollen das schönste Schlafzimmer erhalten. Und mein Koch wird sein Bestes tun, um Ihnen ein schmackhaftes Abendessen zuzubereiten.“

Jane beobachtete, wie der Duke die Treppe hinaufstieg. Er machte den Eindruck eines gebrochenen Mannes. Seine breiten Schultern waren nach vorn gesunken. Den Kopf hielt er gesenkt. Nur mit Mühe schien er die Füße heben zu können. Plötzlich tat er ihr leid. „Euer Gnaden“, rief sie ihm nach, „bitte, gestatten Sie mir, Ihnen später noch ein paar Erklärungen zu geben!“

Er wandte sich nicht einmal nach ihr um. „Für heute habe ich mehr als genug gehört“, sagte er müde.

Sie machte keinen Versuch, ihn umzustimmen. Nachdenklich blieb sie stehen und lauschte auf die sich entfernenden Schritte. Sie konnte nicht fassen, wie wenig sie in dieser Unterredung mit dem Duke erreicht hatte. Kaum vorstellbar, dass ein Gespräch noch weniger zufriedenstellend verlaufen könnte. Obwohl … Es war Aston durchaus zuzutrauen, dass er vor Wut jemanden in einen der Kanäle warf. Vielleicht würde er das am nächsten Tag nachholen.

Ich habe wahrhaftig Strafe verdient, gestand Jane sich ein. Sicher, Mary und Diana hatten ihr immer wieder gesagt, ihr Papa würde Verständnis dafür aufbringen, dass sie sich so begeistert in das Abenteuer Ehe gestürzt hatten. Aber als Gouvernante hätte sie die Wünsche ihrer Zöglinge nicht über die Anweisungen stellen dürfen, die der Vater der Mädchen ihr erteilt hatte. Dass sie im Interesse der beiden gehandelt hatte, war keine akzeptable Entschuldigung. Würde der Duke sie deshalb hinauswerfen? Würde sie plötzlich ohne Referenzen in einem fremden Land ganz auf sich allein gestellt sein? Sie musste mit dem Schlimmsten rechnen.

Langsam stieg sie die Treppe hinauf und folgte dem langen Flur bis zu dem Raum, in dem sie schlief. Aston hatte mehr als deutlich gemacht, dass er sie nicht mehr zu sehen wünschte. Und da sie kurz vor seinem Eintreffen bereits gemeinsam mit Signora della Battista zu Abend gegessen hatte, war sie für den Rest des Tages frei von gesellschaftlichen oder sonstigen Verpflichtungen. Sie konnte die nächsten Stunden darauf verwenden, alles für ihre Abreise vorzubereiten. Denn es war wohl ziemlich sicher, dass der Duke sie am nächsten Tag vor die Tür setzen würde.

Sie betrat ihr bescheidenes Zimmer, das – wie in venezianischen Palästen üblich – zwischen zwei vornehmen, den Herrschaften vorbehaltenen Schlafräumen lag. Es war eindeutig für jemanden gedacht, der zum Personal gehörte. Das bewiesen die kleinen Fenster und das Fehlen eines Kamins. Stattdessen gab es einen Ofen, um den sich das Personal der Signora kümmerte. Doch die darin glühenden Holzscheite reichten nicht aus, um die feuchte Kälte des Winters zu vertreiben.

Bisher war Jane dennoch zufrieden gewesen. Sie war von Natur aus genügsam. Als sie jetzt eintrat, schaute sie sich flüchtig um, ging dann zum Nachttisch, auf dem eine einzelne Kerze stand, und zündete diese an. Sie unterdrückte ein Seufzen, holte ihre beiden Reisekoffer herbei, legte sie geöffnet aufs Bett und begann zu packen. Da sie nicht viel besaß, ließ sich die Arbeit rasch erledigen. Bald waren Kommode und Kleiderschrank so gut wie leer. Neben der Waschschüssel lag noch die Bürste. Zögernd griff Jane danach. Sollte sie sich schon für die Nacht fertig machen? Ja, es würde wohl das Vernünftigste sein.

Wenig später hatte sie sich gewaschen und gebürstet. Das Haar, das sie tagsüber zu einem strengen Knoten schlang, fiel ihr in weichen Locken über die Schultern, wodurch ihr Gesicht weicher und weiblicher wirkte.

Jane schaute zum Bett hin. Sie war viel zu aufgeregt, um schlafen zu können. Daher beschloss sie, die Zeit zu nutzen und sich ihrer Korrespondenz und ihrem Tagebuch zu widmen. Sie wollte Erinnerungen auffrischen und vor allem lesen, was Lady Mary und Lady Diana ihr geschrieben hatten, seit sie glücklich verheiratet waren.

Es war kühl im Raum, und im Nachbarzimmer, das gar nicht geheizt wurde, würde es noch kälter sein. Dennoch wollte Jane mit den Briefen dorthin gehen. Sie liebte die hohen Fenster, die auf den Canal Grande hinausführten, ebenso wie die luxuriöse Einrichtung des Raums, der eigentlich für Lady Mary bestimmt gewesen war. Als Signora della Battista gehört hatte, dass die junge Dame nicht nach Venedig kommen würde, hatte sie Jane gestattet, das Zimmer zu benutzen. Schließlich hatte der Duke die Miete für das gesamte Haus gezahlt.

Da sie in ihrem schon ein wenig abgetragenen Nachthemd fröstelte, hüllte Jane sich in ein warmes Schultertuch und öffnete die Verbindungstür. Wie jedes Mal ließ sie den Blick zunächst über die Wände mit den alten Gemälden gleiten. Viel sehen konnte sie im Licht ihrer einen Kerze natürlich nicht. Doch längst kannte sie die Einzelheiten auswendig. Da war zum Beispiel das Bild von der heidnischen Göttin, die umgeben von Fabelwesen einen fröhlichen Tanz aufführte. Die Gestalten schienen sich im flackernden Kerzenschein zu bewegen.

Lächelnd wandte Jane den Kopf ab. An einem großen, wunderbar bequem wirkenden Bett vorbei trat sie zu einem zierlichen Schreibtisch und nahm in dem davor stehenden Lehnstuhl mit den vergoldeten Beinen Platz. Dann schlug sie das Tagebuch auf, in dem sie während der vergangenen Monate alle wichtigen Ereignisse festgehalten hatte.

Die Reise nach Frankreich und Italien war ursprünglich geplant worden, um die Erziehung der Töchter des Dukes zu vervollständigen und auch, um einen kleinen Skandal vergessen zu machen, in den Lady Diana verwickelt gewesen war. Ein halbes Jahr – hatte Aston gemeint – müsse reichen, damit Gras über die Sache wuchs. Wenn seine Töchter schließlich nach England zurückkamen, würde niemand mehr daran denken, dass Dianas guter Ruf in Gefahr gewesen war. Einer vorteilhaften Ehe stünde dann nichts mehr im Wege.

Für Jane war es aufregend gewesen, alles vorzubereiten und sich schließlich auf die große Reise zu begeben. Sie hatte es als Herausforderung empfunden, die Bildung der jungen Damen zu vervollkommnen und gleichzeitig selbst so viel Neues kennenzulernen. Um nur ja nichts zu vergessen, hatte sie beschlossen, ihre Eindrücke und Erlebnisse niederzuschreiben. Anfangs hatte sie nur kurze Eintragungen vorgenommen. Die Überquerung des Ärmelkanals, die lange beschwerliche Kutschfahrt nach Paris, die ersten der vielen Sehenswürdigkeiten, die es dort zu bewundern gab – dies alles war nicht besonders ausführlich geschildert worden. Auch die interessanten Menschen, denen sie begegnet war, hatte sie nur kurz erwähnt.

Irgendwann allerdings war sie vom Zauber des Neuen und Ungewöhnlichen so hingerissen gewesen, dass Jane begonnen hatte, Skizzen von Bau- oder Kunstwerken anzufertigen und zu allen möglichen Zeiten sowie an den verschiedensten Orten ihre Eindrücke auf Zetteln zu notieren. Diese losen Blätter hatte sie zusammen mit Eintrittskarten, Rechnungen und gepressten Blumen in das Tagebuch gelegt, das dadurch beinahe doppelt so dick geworden war.

Als sie nun Seite für Seite umblätterte und verschiedene der kleinen Andenken betrachtete, war ihr fast, als erlebe sie alles noch einmal. Dies waren Erinnerungen, die ihr immer bleiben würden. Selbst der Duke konnte sie ihr nicht nehmen, nicht einmal, wenn er sie fristlos entließ.

Sie dachte an die alten Kathedralen, die ruhmreichen Burgen und die herrlichen Kunstschätze zurück, die sie gesehen hatte, und musste unwillkürlich lächeln. Das alles hatte sie zutiefst beeindruckt. Aber am schönsten war doch das, was in den Briefen stand, die Lady Mary und Lady Diana ihr geschrieben hatten, seit sie verheiratet waren. Aus jeder Zeile sprach die Freude darüber, so viel Liebe und Glück gefunden zu haben.

Solange sie mit den Mädchen zusammenlebte, hatte Jane geglaubt, sie sei auf die unaufhaltsam näher rückende Trennung von ihnen vorbereitet. Mussten nicht alle Gouvernanten irgendwann von ihren Zöglingen Abschied nehmen? Mussten nicht alle sich dann eine neue Stellung suchen?

Wie wunderbar, wenn man sich damit ein wenig Zeit lassen konnte! Jane betrachtete es als großes Glück, dass sie ein paar Wochen in Venedig bleiben und all das genießen konnte, was die Stadt zu bieten hatte. Lady Mary und Lady Diana hatten darauf bestanden. Die jungen Damen hatten erklärt, es sei viel zu gefährlich für Miss Wood, mitten im Winter nach England zurückzukehren. Außerdem wollten die frischgebackenen Ehefrauen mitsamt ihren Gatten während des Karnevals für ein paar Tage nach Venedig kommen. Wer hätte ihnen die Sehenswürdigkeiten zeigen sollen, wenn ihre ehemalige Gouvernante nicht mehr dort war?

Trotz der Aussicht auf das Wiedersehen und trotz der vielen liebevollen Briefe fehlten Jane die Mädchen sehr. Manchmal fühlte sie sich so einsam, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen. Wie viel schöner wäre es gewesen, die Lagunenstadt nicht allein, sondern gemeinsam mit ihren früheren Schützlingen zu erforschen! Aber das war natürlich ein selbstsüchtiger Gedanke. Für Lady Mary und Lady Diana konnte es nichts Besseres geben als das Zusammensein mit ihren wundervollen Gatten.

Mit jenen Gentlemen, die der Duke für ausgemachte Schurken hielt …

Jane hatte nicht im Entferntesten damit gerechnet, dass Aston unangekündigt in Venedig auftauchen würde. Sie hatte zwar immer gewusst, dass er seine Töchter liebte. Dennoch hatte sie sich nicht vorstellen können, dass er England aus Sehnsucht nach ihnen verlassen würde. Nun, offenbar war er ohne die Mädchen unglücklich gewesen. Er musste sehr unter dem Alleinsein gelitten haben.

Seltsam … Solche Gefühle scheinen gar nicht zu ihm zu passen, dachte Jane. In Aston Hall war er ihr immer so stark vorgekommen, beinahe wie ein unverwundbarer Gott. Sie hatte ihn kaum je als Mann mit menschlichen Gefühlen und Schwächen wahrgenommen.

Himmel, wurde sie jetzt sentimental?

Entschlossen band sie erst Marys und dann Dianas Briefe mit einem Bändchen zusammen, griff nach Tagebuch und Kerze und kehrte in ihr eigenes Zimmer zurück. Sie schlüpfte unter die Bettdecke, löschte das Licht und schloss die Augen. Zeit zu schlafen!

Doch der Schlaf wollte nicht kommen. Jane drehte sich von einer Seite auf die andere, machte sich Gedanken über dieses und jenes. Und irgendwann verwandelte sich ihr Mitgefühl mit dem Duke in Zorn darüber, dass er sich so gar nicht bemühte, seine Töchter zu verstehen. Wie selbstgerecht er war! Gewiss lag er in seinem bequemen Bett, schnarchte womöglich ein wenig und machte den Mädchen noch im Traum Vorwürfe, weil sie geheiratet hatten, ohne ihn um Erlaubnis zu fragen. Zweifellos traute er ihnen nicht zu, selbst eine gute Wahl treffen zu können. Deshalb hatte er auch nicht das geringste Interesse daran, sich mit den Gründen für die Eheschließungen auseinanderzusetzen. Er war von vornherein davon überzeugt, dass nur er wusste, was Mary und Diana glücklich machte.

Verflixt, er war nicht einfach nur ein Duke, der es gewöhnt war, Verantwortung zu tragen und Entscheidungen zu treffen! Er war ein Tyrann! Und es war höchste Zeit, dass jemand ihm klarmachte, wie ungerecht er sich gegenüber seinen Töchtern und deren Gatten verhielt!

Jane warf die Decke zurück, schwang die Beine aus dem Bett, wickelte sich in ihr Umschlagtuch und tastete nach den beiden säuberlich verschnürten Briefbündeln. Sie wollte dem Duke ihre Vorwürfe entgegenschleudern, ehe ihre Entschlossenheit nachließ. Also hastete sie durch das dunkle stille Haus, bis sie vor dem Zimmer stand, in das Signora della Battista den Neuankömmling geführt hatte. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, hob sie die Hand und klopfte.

Nichts rührte sich. Plötzlich spürte Jane, wie kalt der Marmorboden unter ihren nackten Füßen war. Ehe sie allen Mut verlor – das begriff sie in diesem Augenblick –, musste sie noch einmal klopfen, und zwar so laut wie möglich. Selbst wenn es ihr lediglich gelang, Wilson oder Potter zu wecken, so konnte sie doch mit etwas Glück ihr Ziel erreichen. Sie würde laut und deutlich vorbringen, was sie zu sagen hatte, und hoffen, dass man es dem Duke am nächsten Tag mitteilte.

Noch einmal wallte heißer Zorn in ihr auf. War es nicht typisch für den überheblichen, anmaßenden Aristokraten, dass er seine Schwiegersöhne verdammte, ohne sie auch nur kennengelernt zu haben?

Sie klopfte.

Beinahe im gleichen Moment wurde die Tür aufgerissen. „Ja? Was, zum Teufel, soll … Miss Wood!“

Sie zuckte zusammen und presste die Briefe an die Brust. Direkt vor ihr stand nicht etwa der Kammerdiener oder Sekretär des Dukes. Nein, es war Aston selbst. Er sah aus, als wolle er seinen Augen nicht trauen. Offensichtlich hatte sie ihn aus dem Schlaf gerissen. Er trug nichts außer einem ein wenig zerknitterten Nachthemd, das sehr weit geschnitten war und dennoch von seinem männlichen Körper mehr verriet, als Jane je für möglich gehalten hätte. Sie errötete. Unter dem weißen Leinengewand war er zweifellos nackt. Unübersehbar zeichneten sich seine breiten Schultern, die schmalen Hüften, die muskulösen Schenkel unter dem Stoff ab.

Es war schrecklich! Jane schluckte. Da Astons Nachtgewand nicht bis zum Hals zugeknöpft war, konnte sie die Härchen sehen, die seine Brust bedeckten. Rasch senkte sie den Blick. Aber die nackten Füße des Dukes zu betrachten, war auch nicht besser. Es war wohl am sichersten, ihm ins Gesicht zu schauen!

Die Entscheidung wäre vielleicht richtig gewesen, wenn nicht Bartstoppeln sein Kinn bedeckt hätten. Zudem war seine Miene nicht so … aristokratisch wie sonst. Auch das zerzauste Haar trug dazu bei, einen anderen Menschen aus ihm zu machen. Jetzt, mitten in der Nacht, erinnerte er nur entfernt an den arroganten unnahbaren Adligen, als den sie ihn kannte. Er hätte irgendein Mann sein können.

Ein erstaunlich gut aussehender und kaum bekleideter Mann.

Oh Gott, was habe ich nur getan, dachte Jane.

3. KAPITEL

Aston war ganz und gar nicht begeistert darüber, dass die Gouvernante seiner Töchter – eine Bedienstete! – ihn mitten in der Nacht aus dem Bett geholt hatte. Er wischte sich den Schlaf aus den Augen, fuhr sich dann mit dem Handrücken über das mit Bartstoppeln bedeckte Kinn. „Miss Wood, was soll das? Wir waren uns doch einig, dass wir morgen …“

„Verzeihen Sie, Euer Gnaden, aber das, was ich zu sagen habe, konnte nicht warten.“ Jane war selbst erstaunt darüber, wie fest ihre Stimme klang. „Es ist außerordentlich wichtig.“

„So wichtig, dass Sie mich um Mitternacht stören müssen?“ Er wirkte nicht so zornig, wie Jane befürchtet hatte. Sein Gesicht trug einen eher erstaunten als ärgerlichen Ausdruck. Man hätte sogar meinen können, er sei ein wenig verwirrt.

In diesem Augenblick wurde Jane klar, woran das vermutlich lag: Der Duke hatte bemerkt, dass sie unter ihrem Nachtgewand nackt war. Ja, sonst hätte er sie gewiss nicht so angestarrt! Sie errötete, allerdings weniger aus Scham als aus Wut. Was ging nur in diesem Mann vor? Sie musste etwas von größter Bedeutung mit ihm besprechen, und er interessierte sich stattdessen für ihre weiblichen Formen!

„Es tut mir leid, dass ich Sie geweckt habe, Euer Gnaden“, erklärte sie, schob kampflustig das Kinn vor und strich sich das Haar aus der Stirn. „Doch ich bin es Lady Mary und Lady Diana sowie deren Ehegatten schuldig, einiges klarzustellen. Ich würde es mir nie vergeben, wenn …“

„Ich will nichts davon hören!“, unterbrach Aston sie. Seine Augen blitzten zornig auf. „Kein ehrbarer Mann würde einem anderen die Tochter stehlen. Meine Mädchen sind auf zwei Schurken hereingefallen. Und ich werde dafür sorgen, dass alle ihre gerechte Strafe erhalten!“

„Euer Gnaden, bitte, Sie sollten zumindest …“

„Ich sollte nur eines: Meine Töchter so schnell wie möglich für ihren Ungehorsam zur Rechenschaft ziehen!“

„Verzeihen Sie, Euer Gnaden“, versuchte Jane es erneut, „aber Lady Mary und Lady Diana sind erwachsene Frauen. Wer hätte sie daran hindern können, ihr Herz an zwei Gentlemen zu verschenken, die …“

„… die vermutlich Mitgiftjäger der schlimmsten Sorte sind? Sie, Miss Wood, hätten die Mädchen daran hindern müssen! Verflucht, mindestens die Hälfte aller menschlichen Probleme ist darauf zurückzuführen, dass dumme Frauen irgendwem ihr Herz schenken. Wenn ich daran denke, wie viel Kummer auf diesem Wege in die Welt kommt …“

„Nun, Sie müssen es ja wissen“, stieß Jane außer sich vor Entrüstung hervor. „Schließlich heißt es, Sie selbst wären allein Ihrem Herzen gefolgt, als Sie damals mit Lady Anne vor den Altar traten.“

Er erstarrte. Mit einem Mal schien eine eisige Kälte von ihm auszugehen.

Alles Blut wich aus Janes Wangen. Ihr wurde erst kalt und dann glühend heiß. Sie begriff, dass sie etwas Unerhörtes getan hatte. Über die Duchess of Aston hatten die Bediensteten im Haushalt des Dukes oft gesprochen, und zwar stets mit Achtung und Zuneigung. Alle machten den Eindruck, traurig darüber zu sein, dass sie so früh gestorben war. Man lobte ihre Schönheit, ihre Güte und ihr sanftes Wesen. Sie schien keinen einzigen Fehler gehabt zu haben. Ja, man hätte meinen können, sie sei eine Heilige gewesen. Allerdings wurde nie in Anwesenheit Seiner Gnaden über sie geredet. Offenbar gab es ein ungeschriebenes Gesetz, das dem Personal verbot, den Duke an die Frau zu erinnern, die er geliebt hatte.

Dieses in Aston Hall unumstößliche Gesetz, das Jane bisher sehr romantisch vorgekommen war, hatte sie gerade eben gebrochen. Angst vor den Folgen ihres Tuns erfüllte sie. Doch sie versuchte, sich selbst zu beruhigen, indem sie sich sagte, dass sie sich nicht in England, sondern in Venedig befand. Hier war alles anders. Zudem gehörte sie im Grunde ja schon nicht mehr zu Astons Haushalt. Nachdem sie ihn aus dem Schlaf gerissen und ihm mehrmals widersprochen hatte, würde er ihr bestimmt kündigen. Eine schlimmere Strafe konnte er sich kaum ausdenken, ganz gleich, welche seiner Gesetze man brach.

„Verzeihen Sie mir meine offenen Worte, Euer Gnaden“, begann sie noch einmal, denn jetzt gab es kein Zurück mehr. „Sie werden doch Ihren Töchtern das Glück nicht verwehren wollen, das Sie selbst an der Seite der Duchess …“

„Sie wissen ja nicht, wovon Sie sprechen!“, fiel er ihr ins Wort.

„Ich weiß, das Lady Mary und Lady Diana sich kein größeres Glück vorstellen können, als …“

„Unsinn, ich weiß besser als jeder andere, was für meine Töchter gut ist!“

„Aber Sie haben doch die Gatten der jungen Damen noch gar nicht kennengelernt. Wie können Sie da …“

Der Duke sah sie so wütend an, dass sie mitten im Satz abbrach. „Es geht hier doch um die Liebe“, sagte sie schwach.

„Meine Töchter haben keine Ahnung, was Liebe ist. Und Sie auch nicht.“

„Gerade habe ich noch einmal gelesen, was Lady Mary und Lady Diana mir über die Liebe zu ihren Ehemännern geschrieben haben. Hier!“ Sie hielt Aston die beiden Briefbündel hin. „Für mich kann kein Zweifel daran bestehen, dass die jungen Damen sehr viel über die Liebe wissen und dass sie glücklich sind.“

Als Aston nach den Briefen griff, knickste Jane und zog sich eilig zurück.

Er ließ sie gehen. Und je weiter sie sich von ihm entfernte, desto schneller wurden ihre Schritte. Sie lief die Treppe hinunter, eilte den Flur entlang, riss die Tür zu ihrem Zimmer auf, warf sie hinter sich ins Schloss und dachte sogar daran, den Riegel vorzuschieben. Dann blieb sie einen Moment lang heftig atmend stehen.

Dies würde wohl die letzte Nacht sein, die sie in der Ca’ Battista verbrachte. Eine bedrückende Vorstellung.

Doch jetzt wollte sie sich keine Sorgen um die Zukunft machen. Sie beschloss, noch einmal – ein letztes Mal – den Blick auf den nächtlichen Canal Grande zu genießen. Entschlossen begab sie sich nach nebenan. Auf nackten Füßen trat sie ans Fenster und legte die Stirn an das kühle Glas.

Nebel waberte über dem Wasser. Und während Jane versuchte, ihn mit Blicken zu durchdringen, normalisierte ihr Herzschlag sich nach und nach. Wie still die Nacht war! Nicht einmal das Plätschern des in Venedig allgegenwärtigen Wassers war zu hören. Auch aus dem Stockwerk, in dem der Duke sich aufhielt, drang kein einziger Laut. Vermutlich war Aston inzwischen ins Bett zurückgekehrt. Ob er jetzt die Briefe seiner Töchter las? Nein, aufbrausend wie er war, hatte er sie wahrscheinlich auf den Nachttisch geworfen.

Gleich morgen wird er mich vor die Tür setzen, dachte Jane erneut.

Seufzend ließ sie sich in den Lehnstuhl vor dem Schreibtisch sinken und nahm Papier und Feder, um ein Schreiben an ihren Arbeitgeber zu verfassen, ihre Kündigung.

„Euer Gnaden!“ Verschlafen näherte Wilson sich aus dem Nachbarzimmer seinem Herrn. Er trug eine gestreifte Nachtmütze, die ein wenig verrutscht war, ein Nachthemd und dazu eine Kniehose. „Verzeihen Sie, Euer Gnaden, ich habe Sie nicht rufen hören.“

„Ich habe nicht gerufen.“ Richard Farren, Duke of Aston, stand in der geöffneten Tür und starrte in den dunklen Flur hinaus. Soeben war Miss Wood seinen Blicken entschwunden. Ihr Auftauchen kam ihm vor wie ein schlechter Traum. Im Nachtgewand mit zerzaustem, offenem Haar und funkelnden Augen hatte sie vor ihm gestanden wie eine Rachegöttin. Eine verflucht kleine Rachegöttin, aber dennoch irgendwie … einschüchternd. Himmel, es musste ein Traum gewesen sein! Er ließ sich von nichts und niemandem einschüchtern!

„Euer Gnaden“, sagte der Kammerdiener, der verzweifelt versuchte zu begreifen, was vorging, „ich dachte, ich hätte Stimmen gehört.“

„Ich hatte unerwarteten Besuch.“

„Sie haben selbst die Tür geöffnet? Das hätten Sie nicht tun sollen, Euer Gnaden. Dies ist ein fremdes Land. Sie sind hier nicht sicher.“

„Keine Sorge, es bestand keine Gefahr für mich. Es war kein Räuber, der mich zu sprechen wünschte, sondern Miss Wood.“

„Miss Wood?“, wiederholte Wilson erstaunt. „Unsere Miss Wood? Sie hat mitten in der Nacht an Ihre Tür geklopft, Euer Gnaden? Das ist merkwürdig.“

„Allerdings. Ich wollte es selbst kaum glauben. Aber sie war tatsächlich hier, um mir … etwas zu bringen.“ Er hob die Hände, in denen er die beiden ordentlich mit Bändchen verschnürten Briefsammlungen hielt.

Natürlich waren die Bündel ordentlich verschnürt. Und selbstverständlich hatte die Gouvernante jedes Schreiben sorgfältig in den dazugehörenden Umschlag zurückgesteckt. Zweifellos waren die Briefe auch nach Datum sortiert. Etwas anderes war von Miss Wood nicht zu erwarten. Stets hatte sie sich als gewissenhaft, zuverlässig und ordentlich erwiesen. Bis zu dieser Nacht hatte sie niemals etwas getan, das gegen die Regeln verstieß. Ihr Auftritt im Nachthemd war einfach unfassbar! Noch unglaublicher war, dass sie es gewagt hatte, ohne Umschweife ihre Meinung zu sagen.

„Miss Wood war hier?“, vergewisserte der Kammerdiener sich noch einmal. „Jetzt um Mitternacht? Und ohne, dass Sie sie gerufen hätten, Euer Gnaden? Dafür muss sie einen wirklich wichtigen Grund gehabt haben.“

„Hm …“, murmelte Richard, der sich das seltsame Verhalten der Gouvernante nicht erklären konnte. Sicher, sie war ihm ungewöhnlich erregt vorgekommen, als sie ihm bei seiner Ankunft gebeichtet hatte, dass seine Töchter nicht da waren. Gewiss hatte ihr schlechtes Gewissen sie geplagt. Sie hätte eben nicht zulassen dürfen, dass Mary und Diana ohne väterliche Einwilligung heirateten. Sonst allerdings war ihm nichts an ihr aufgefallen. Sie hatte ausgesehen wie immer – na ja, vielleicht hatte sie etwas abgenommen –, und sie hatte sich verhalten wie immer. Wie eine Gouvernante eben.

Wahrhaftig, dachte Aston, nichts an ihrem Benehmen vor ein paar Stunden hat auf diesen mitternächtlichen Besuch hingedeutet, und nichts darauf, dass ich … dass ich …

Es fiel ihm schwer, sich das einzugestehen. Die Frau mit dem offenen Haar, den funkelnden Augen und dem verräterischen Nachthemd hatte den Mann in ihm geweckt. Dabei war Miss Wood bisher ein geschlechtsloses Wesen für ihn gewesen, jemand, der zu seinem Personal zählte, sonst aber nicht weiter beachtet wurde.

Er runzelte die Stirn und dachte über sie nach. In all den Jahren, die sie für seine Töchter gesorgt hatte, war sie ihm streng und ganz und gar nicht hübsch erschienen. Sie hatte langweilige Hauben und sackartige Kleider getragen. Plötzlich jedoch – kaum dass sie Kleid und Haube abgelegt hatte – war eine wundersame Veränderung mit ihr vorgegangen. Sie hatte sich in eine junge Frau mit wunderschönem dunklen Haar, rosigen Wangen und glänzenden Augen verwandelt. Ihr Nachthemd, das an den Schultern ein bisschen verrutscht war, hatte den Blick freigegeben auf eine runde Schulter. Auch hatte es nicht verbergen können, wie wohlgeformt Miss Woods Brüste waren. Richard schluckte. Er hatte sogar erahnen können, dass die Brustspitzen in der kalten Nachtluft hart geworden waren und sich aufgerichtet hatten.

Verflucht! Er warf die Tür ins Schloss und machte sich auf den Rückweg zu seinem Bett. Oft genug hatte er erlebt, dass Dienstmädchen ihre Verführungskünste an ihm erprobten, um sich irgendwelche Vergünstigungen zu verschaffen. Ihre Bemühungen waren nie von Erfolg gekrönt gewesen, denn er gehörte nicht zu den Männern, die sich etwas daraus machten, sich mit Mägden zu vergnügen. Genauso wie Miss Wood nicht zu den Bediensteten gehörte, die es auf ihren Herrn abgesehen hatten! Stets war sie wie eine vertrocknete alte Jungfer aufgetreten. Wie eine Frau, die keine Ahnung hatte von der Liebe.

Doch nun hatte sie ihm zu seiner Verwirrung einen glühenden Vortrag über die Liebe gehalten!

Es war wirklich unglaublich: Miss Wood hatte ihn mitten in der Nacht aus dem Bett geholt, um ihm eine Lektion zu erteilen. Nur mit ihrem Nachthemd bekleidet, hatte sie mit ihm über die Liebe gesprochen.

Es musste mit diesem verrückten italienischen Klima zusammenhängen.

„Euer Gnaden!“ Wilson hielt Aston seinen Morgenmantel hin. „Bitte, ziehen Sie das an. Es ist so feucht hier, überall diese Kanäle. Sie wollen sich doch nicht erkälten! Und geben Sie mir bitte die Papiere. Ich lege sie auf den Schreibtisch.“

„Nein, nein“, wehrte Richard ab. Ohne den Morgenmantel auch nur eines Blickes zu würdigen und ohne die Briefe loszulassen, begab er sich zum Bett. Er mochte diese Schlafstatt nicht, sie war so … unenglisch. Aber er hatte nun mal keine Wahl. Mit leichtem Abscheu musterte er das reich verzierte Fußende. Vergoldete Schwäne, bei Jupiter! Und dann war da auch noch dieser rote Vorhang aus Samt, der mit einer goldenen Kordel geschlossen werden konnte. Außerdem – und das war wirklich ungehörig – ein Spiegel an der Decke! Kein ehrbarer Engländer würde sich jemals ein solches Bett anschaffen! Es passte eher in ein kostspieliges Freudenhaus als in das Schlafzimmer eines Gentleman!

Der Kammerdiener beeilte sich, seinem Herrn die Kissen aufzuschütteln. Aston beachtete ihn nicht. Er legte das eine Briefbündel auf den Nachttisch und öffnete das andere. Stirnrunzelnd zog er das erste Schreiben aus dem Umschlag. Kaum hatte er einen Blick auf die noch immer ein wenig kindliche Schrift seiner älteren Tochter geworfen, als er Miss Wood auch schon vollständig vergaß.

Wie konnte Mary mir das antun? Wie konnte sie heiraten, ohne meine Einwilligung abzuwarten? Wie konnte sie mich so enttäuschen, so im Stich lassen?

Er erinnerte sich daran, wie sie als kleines Kind auf ihn zugelaufen war, um auf den Arm genommen zu werden. Meist hatte sie weiße Kleidchen mit rosa Schleifen getragen. Und nun sollte seine Mary plötzlich eine erwachsene Frau sein, die einem anderen Mann gehörte?

„Ah“, sagte Wilson in diesem Moment, „Briefe von den jungen Damen, Euer Gnaden?“

„Gehen Sie zu Bett! Ich brauche Sie nicht mehr, Wilson“, gab er harsch zurück.

Und meine Töchter brauchen mich nicht mehr, schoss es ihm durch den Kopf. Sie hatten sich von ihm abgewandt, während er diese lange anstrengende Reise auf sich genommen hatte, um sie wiederzusehen.

Erst als der Kammerdiener den Raum verlassen hatte, setzte er sich auf das Bett und begann zu lesen.

Es war seltsam, sich mit Briefen zu beschäftigen, die nicht an ihn gerichtet waren. So ähnlich musste es sein, Menschen heimlich zu beobachten oder an einer Tür zu lauschen.

Bald jedoch vergaß Richard, dass Mary ihre Zeilen für Miss Wood geschrieben hatte. Ihm war, als höre er die Stimme seiner Tochter. Das Herz wollte ihm überfließen vor Liebe, und gleichzeitig fühlte er schmerzhaft den Verlust, den er erlitten hatte. Mary hatte in Paris geheiratet und war natürlich bei ihrem Gatten geblieben, als Miss Wood mit Diana nach Italien weiterreiste. Kurz nachdem die beiden aufgebrochen waren, hatte sie den ersten der Briefe verfasst.

Ach Mary, meine liebe Mary, dachte Richard. Es war immer so leicht gewesen, sie zu mögen. Im Gegensatz zu ihrer Schwester war sie ausgeglichen und vernünftig. Er hatte sie deshalb nicht mehr geliebt als Diana, die aufbrausend und manchmal ungerecht war. Tatsächlich kam seine jüngere Tochter im Charakter nach ihm, während die ältere eher ihrer Mutter ähnelte. Ruhig und überlegt, wie sie war, hatte Mary schon früh viele der Aufgaben übernommen, die zuvor die verstorbene Duchess erledigt hatte.

Richard stieß einen tiefen Seufzer aus. Vor Jahren schon hatte er begonnen, Marys Rat einzuholen, ehe er Entscheidungen traf, die mit der Führung des Haushalts zu tun hatten. Und als die Köchin ein paar Wochen zuvor verschiedene Neuerungen in der Küche vorgeschlagen hatte, hatte er darauf bestanden, alle Veränderungen aufzuschieben, bis seine Tochter wieder daheim sei.

Nur, dass sie nicht heimkommen würde, wie er jetzt wusste! Nein, schlimmer noch: Sie betrachtete Aston Hall gar nicht mehr als ihr Zuhause. Sie hatte sich für das Leben an der Seite eines irischen Gauners entschieden. Eines Gauners, der ihr nicht einmal ein richtiges Heim bieten konnte. John Fitzgerald verfügte zwar, wie es schien, über ein eigenes Einkommen, besaß jedoch nur eine Junggesellenwohnung in London, wohin das junge Paar sich offensichtlich vorerst nicht begeben wollte. Die Brautleute zogen es vor, in Paris in einer angemieteten Unterkunft zu leben. Immerhin verriet der Brief, dass sie keinen Mangel litten und genug Personal hatten, um als respektabel zu gelten.

Bedrückt, aber doch nicht mehr ganz so zornig und besorgt wie zuvor, legte Richard den ersten Brief zur Seite und nahm den zweiten zur Hand. Aus ihm erfuhr er, dass Mary in ihrem Ehemann überraschenderweise jemanden gefunden hatte, der ihr Interesse an alten Bildern und verstaubten Büchern teilte. Voller Begeisterung schrieb sie, wie anregend sie es fand, sich mit John über lang zurückliegende geschichtliche Ereignisse zu unterhalten.

Diesem Iren war es offenbar gelungen, Mary glücklich zu machen.

Daran konnte kein Zweifel bestehen. Das wurde Richard klar, als er sich dem nächsten Brief und dann dem übernächsten widmete. Jedes Wort, jede Zeile, jede Seite drückte Marys Freude darüber aus, einen Mann wie Fitzgerald geheiratet zu haben. Aston musste sich eingestehen, dass er seine Älteste zum letzten Mal so glücklich und unbeschwert erlebt hatte, ehe ihre Mutter starb.

Schließlich hatte er alle Briefe von Mary gelesen und wandte sich den Briefen seiner jüngeren Tochter zu. Sie waren kürzer, zeugten davon, dass Diana sich weniger Gedanken machte als ihre Schwester. Auch waren sie ein wenig wirr, manche Sätze brachen mitten im Wort ab, verschiedene Themen wurden angerissen, aber nicht zu Ende geführt. Eines allerdings wiederholte Diana klar und deutlich immer wieder: Lord Anthony Randolph war ein wunderbarer Mensch, ein Gentleman, mit dem sie sich nie langweilte, ein Mann, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen.

Die beiden schienen ein aufregendes Leben zu führen. Sie hatten viele Freunde in Rom, besuchten Musikveranstaltungen und vornehme Gesellschaften, tanzten und amüsierten sich.

Kopfschüttelnd nahm Richard zur Kenntnis, dass Randolph entzückt über die neuen gelben Seidenstrümpfe seiner Ehefrau gewesen war und dass er ihr einen sprechenden Vogel aus irgendeinem fernen Land mitgebracht hatte.

Diesem Halbitaliener war es offenbar gelungen, Diana glücklich zu machen – und sie in kürzester Zeit zu schwängern. In ihrem letzten Brief schrieb sie, dass sie ein Kind erwartete.

Himmel, er würde ein Enkelkind bekommen!

Aston stöhnte laut auf. Plötzlich war er so müde, dass die Buchstaben vor seinen Augen verschwammen. Er fühlte sich alt. So, als sei er mindestens achtzig, dabei hatte er noch nicht einmal seinen vierzigsten Geburtstag gefeiert. Erschöpft schloss er die Lider.

Aus den Briefen seiner Töchter hatte er manches gelernt. Zum Beispiel, dass er sie, trotz all seiner Bemühungen, nie hätte so glücklich machen können wie die jungen Männer, mit denen sie jetzt verheiratet waren. Oder auch, dass er sie nie wirklich gekannt hatte, obwohl sie doch so viele Jahre lang im Mittelpunkt seines Lebens gestanden hatten. Nun, vielleicht hatte er sie ja einst gekannt und nur versäumt, sich mit all den Veränderungen auseinanderzusetzen, die in den letzten Jahren in ihnen vorgegangen waren? Auf jeden Fall war ihm nun eins gewiss geworden: dass aus den süßen Mädchen, die sich in seine Arme geworfen hatten und auf seinen Schoß geklettert waren, inzwischen junge Damen geworden waren, die ihr eigenes Leben führten, ein Leben, das mit dem seinen nur noch lose verbunden war.

Es war genau so, wie Miss Wood gesagt hatte: Mary und Diana waren erwachsene Frauen, die niemand daran hindern konnte, ihr Herz zu verschenken, an wen sie wollten.

Die beiden genossen die Zweisamkeit mit ihren Gatten, während er, ihr Vater, allein zurückblieb.

Es war nur ein geringer Trost, dass beide Mädchen sich, wie aus den letzten Briefen hervorging, bald gemeinsam mit ihren Ehemännern auf den Weg nach Venedig machen wollten, um sich von ihrer ehemaligen Gouvernante zu verabschieden, ehe diese nach England zurückreiste.

4. KAPITEL

Giovanni Rinaldini di Rossi achtete sorgfältig darauf, dass man ihn von draußen nicht bemerkte. Vor allen Blicken geschützt, stand er am Schlafzimmerfenster und beobachtete die englische Gouvernante, die mit raschen Schritten und gesenktem Kopf über die Brücke gegenüber seines Palazzo lief. Was, um Himmels willen, wollte sie um diese Zeit? Es war viel zu früh für Besuche, wie jeder gebildete Mensch wusste. Dennoch war es unverkennbar Miss Wood, die mit der für sie typischen Entschlossenheit auf den Palast der Familie Rossi zusteuerte. Wie üblich war sie dunkel gekleidet, der schwarze Rock schwang um ihre Fußknöchel. Giovanni di Rossi kannte verwitwete alte Frauen, deren Kleidung modischer und fröhlicher wirkte. Miss Wood erinnerte ihn immer ein wenig an eine Nonne.

Der Gedanke entlockte ihm ein Lächeln. Tugendhaft und streng wie eine Nonne! Kein Wunder, dass er sie so begehrenswert fand.

Ohne den Blick von ihr abzuwenden, fuhr di Rossi mit dem Finger durch den Milchschaum, der seinen Kaffee krönte. In der Küche verwandte man große Mühe darauf, das Getränk so zuzubereiten, wie er es sich wünschte. Genüsslich leckte er den Finger ab.

Er liebte seinen Kaffee, und er liebte dieses Fenster, das – wie viele andere in Venedig auch – absichtlich so angelegt war, dass man hinaus-, aber nicht hineinschauen konnte. Es gab keine glatte Glasscheibe, sondern viele kleine, runde, in Blei gefasste und leicht getönte Scheiben. Kaum jemand wusste, wie oft er dort stand und beobachtete, was draußen vorging. Miss Wood ahnte nicht einmal, dass er sie schon bemerkt hatte, als sie vorhin aus der Gondel stieg. Ah, er liebte seine kleinen Geheimnisse!

Jetzt hatte sie die Eingangstür erreicht, und er musste sich ein wenig zur Seite lehnen, um sie weiterhin sehen zu können. Sie betätigte den Klopfer und schob sich, während sie wartete, die Kapuze vom Kopf. Ihre Wangen waren von der frischen Morgenluft leicht gerötet.

Nie bediente sie sich der kleinen Hilfsmittel, die andere Frauen benutzten, um Männer anzulocken. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, irgendwem ein falsches Bild von ihren weiblichen Reizen zu vermitteln. Kein Puder, kein Rouge, einfach gar nichts! Das war einer der Gründe, warum sie ihm so rein erschien. Er wäre jede Wette eingegangen, dass sie noch jungfräulich war. Er spürte so etwas. Kein Mann hatte sie je auf diese Art berührt. Auch darin ähnelte sie einer Nonne. Und er hatte seit jeher eine besondere Vorliebe für unberührtes Fleisch. Ja, Miss Wood war einfach unwiderstehlich.

Von Anfang an war er von ihrem vollständigen Mangel an Eitelkeit fasziniert gewesen. Eines Morgens war sie, ein Empfehlungsschreiben in den behandschuhten Händen haltend, in seinem Salon aufgetaucht. Schon damals war in ihm der Wunsch erwacht, sie zu verführen, sie zu kompromittieren oder – um es anders auszudrücken –, sie in die Freuden der körperlichen Liebe einzuführen. Wie passend, dass sie eine Gouvernante war, eine Frau ohne gesellschaftliche Bedeutung und ohne Familie, und zudem eine Ausländerin. Er könnte mit ihr machen, was auch immer er wollte, ohne irgendwelche Konsequenzen befürchten zu müssen.

Jetzt betrat sie sein Haus. Er hörte, wie die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. Er lächelte, während er sich ausmalte, wie es sein würde, wenn seine Wünsche endlich in Erfüllung gingen. Unter ihrem sackartigen Kleid verbarg Miss Wood zweifellos den reizvollen Körper einer attraktiven Frau. Es würde leicht sein, eine Situation herbeizuführen, in der er sie ihrer Kleidung berauben konnte. Denn in ihrer Unerfahrenheit glaubte sie gewiss fest an das Gute im Menschen.

Sie hält mich für einen edelmütigen Freund, dachte er zufrieden, es wird erregend sein, sie vom Gegenteil zu überzeugen.

Jane hatte sich auf dem äußersten Rand des Stuhls niedergelassen. So sehr sie sich auch bemühte, es wollte ihr einfach nicht gelingen, entspannt auf einem der zierlichen vergoldeten Stühle in Signor di Rossis Salon zu sitzen. Einen dieser kunstvoll verzierten Stühle zu beschädigen wäre schrecklich. Sie waren zweifellos sehr alt und wertvoll. Und sie sahen so aus, als müssten sie unter dem Gewicht einer erwachsenen Person zusammenbrechen.

Ungeduldig holte sie ihre Uhr hervor und warf einen kurzen Blick auf das Zifferblatt. Sie hätte wissen müssen, dass ein Besuch zu so früher Stunde in Venedig unüblich war. Vornehme Venezianer pflegten erst gegen Mittag aufzustehen. Und Signor di Rossi war sehr vornehm, sehr kultiviert, ein echter Gentleman eben. Ihr gegenüber hatte er sich immer überaus liebenswürdig verhalten. Deshalb würde er ihr – wie sie hoffte – ihr Erscheinen zu so unpassender Zeit wohl verzeihen. Sie hatte keine Wahl gehabt: Später hätte sie keine Möglichkeit mehr gefunden, ihm zu danken und sich von ihm zu verabschieden. Es war ihr sehr wichtig, noch einmal mit ihm zu sprechen. Denn in den vergangenen Wochen war er der beste Freund geworden, den sie sich nur hätte wünschen können. Er hatte ihr viele wundervolle Kunstwerke gezeigt, und die Gespräche mit ihm waren sehr interessant gewesen. Ja, sie hatte die Stunden mit ihm wirklich genossen.

Von Unruhe geplagt, strich sie ihren Rock glatt. Sie hatte an diesem Morgen schon viel von dem geschafft, was sie sich vorgenommen hatte. Vor allem war sie sich darüber klar geworden, wie ihr Leben aussehen sollte, wenn sie nicht mehr für Seine Gnaden arbeitete. Sie würde in Venedig bleiben und versuchen, hier eine Stellung zu finden. Vermutlich war das einfacher, als sich in der Heimat um eine neue Position zu kümmern, denn gewiss würde der Duke ihr kein gutes Zeugnis ausstellen nach allem, was vorgefallen war. Im Übrigen fehlte ihr das Geld für die teure Reise nach England.

Es war klüger, die Hilfe des britischen Gesandten in Venedig in Anspruch zu nehmen. Also hatte sie das als Erstes getan. Er hatte versprochen, sich umzuhören, wer eine Gouvernante oder eventuell eine Gesellschafterin suchte. Auch hatte er ihr die Adresse einer verwitweten Dame aus Schottland gegeben, die saubere und dabei preisgünstige Zimmer vermietete.

„Buon giorno, Miss Wood.“ Signor di Rossi hatte den Salon betreten. Seine Haltung vermittelte das unaufdringliche Selbstbewusstsein, das so typisch für Mitglieder alter vornehmer Familien war. „Sie ahnen ja nicht, welche Freude Sie mir mit Ihrem Besuch machen.“

An englischen Maßstäben gemessen, sah er mit seinem dunklen Teint und den exotischen Gesichtszügen nicht besonders gut aus. Doch Jane fand, dass er für einen Italiener nahezu perfekt war. Er mochte etwas über dreißig sein und kleidete sich am liebsten ganz in Schwarz. Auch jetzt trug er einen dunklen mit goldenen und roten Seidenfäden bestickten Morgenmantel über einer schwarzen Hose. Im blassen Licht der Wintersonne leuchtete die goldene Stickerei.

Der Anblick des Venezianers erinnerte Jane eher an einen sagenumwobenen König als an einen Gentleman, der noch nicht vollständig angekleidet war. Auch di Rossis Gesichtszüge hatten etwas Majestätisches. Die vorspringende schmale Nase, die tief liegenden dunklen Augen, die hohen Wangenknochen, die fein geschwungenen Lippen ließen ihn irgendwie edel wirken. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass er sein schwarzes Haar im Nacken einfach mit einem Bändchen zusammengebunden hatte.

Jane erhob sich und knickste. Doch schon hatte Signor di Rossi nach ihrer Hand gefasst. Sanft zog er sie an die Lippen.

„Sie sind sehr liebenswürdig, Signore“, sagte Jane und errötete ein wenig, weil er ihre Hand noch immer festhielt. In England hätte man das als aufdringlich empfunden. Doch in Italien galten andere Regeln. „Sie waren stets so überaus freundlich.“

Endlich gab er ihre Finger frei und bedeutete ihr, dass sie Platz nehmen solle. „Es ist doch selbstverständlich, dass Freunde einander mit der größten Liebenswürdigkeit begegnen.“

Jane wollte sich nicht setzen. Das hätte bedeutet, dass sie länger bleiben musste, als sie beabsichtigte. „Ich fühle mich geehrt, von einem so vornehmen Herrn wie Ihnen als Freundin betrachtet zu werden.“

„Ich bitte Sie, Miss Wood!“ Er machte eine so überschwängliche Geste, dass der Ärmel seines Morgenmantels zurückfiel und ein sehniger Arm zum Vorschein kam. „Sie sprechen wie eine Engländerin. Ja, wie eine Frau, die das Unglück hatte, in einem Land aufzuwachsen, das von einem arroganten König regiert wird und in dem man Standesunterschieden eine viel zu große Bedeutung beimisst. Vergessen Sie nicht: Venedig ist eine Republik. Hier steht es mir frei, mich mit einem Gondoliere, einem Fischer oder einer englischen Gouvernante anzufreunden.“

Obwohl sie sich jahrelang darin geübt hatte, ihre Gefühle zu verbergen, konnte Jane nun einen Seufzer nicht unterdrücken. Sie würde Signor di Rossi vermissen. Sie hatte es als so anregend empfunden, sich mit ihm über die Gemälde zu unterhalten, die die Wände seines Palazzo schmückten. Seit Generationen hatten Mitglieder seiner Familie ihr Geld dazu verwendet, Kunstgegenstände zu kaufen. So war eine wertvolle Sammlung entstanden, über die der Signore viel Interessantes zu berichten wusste. Genau wie seine Vorfahren besaß er ein erstaunliches Kunstverständnis.

Jane hatte ihn durch ein Empfehlungsschreiben kennengelernt, das ihr und ihren Schützlingen ermöglichen sollte, einige der schönsten Gemälde Venedigs zu betrachten. Sie hatte erst daran gezweifelt, ob sie es überhaupt benutzen durfte, da Lady Mary und Lady Diana geheiratet hatten und sie ganz allein in die Lagunenstadt gekommen war. Es war ihre Liebe zur Kunst, die sie bewogen hatte, das Wagnis einzugehen und an die Tür des Palazzo zu klopfen. Als sie den Brief vorzeigte, hatte sie damit gerechnet, abgewiesen zu werden, denn schließlich war sie nur eine Bedienstete. Mit etwas Glück, so hatte sie gedacht, würde die Haushälterin oder einer der Diener sie kurz herumführen. Doch stattdessen hatte der Hausherr selbst sie willkommen geheißen, ihr ein paar wundervolle Meisterwerke gezeigt und sie aufgefordert, recht bald wiederzukommen.

Die Erinnerung zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht. Signor di Rossi hatte sie vom ersten Moment an wie eine Freundin behandelt. Nie war er unfreundlich gewesen. Nie hatte er sich herablassend über irgendetwas geäußert, das sie gesagt hatte. Im Gegenteil, er schien ihre Ansichten sehr zu schätzen. Nie zuvor hatte jemand ihr so aufmerksam zugehört. Es war also nicht erstaunlich, dass die Besuche bei ihm zu den Höhepunkten ihres Venedigaufenthalts gehörten.

Doch nun würden sie ein abruptes Ende finden.

„Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten?“ Di Rossi, der aus Höflichkeit ebenfalls stehen geblieben war, eilte zur Tür, wo sich die Klingelschnur befand. Er wollte nach einem der Dienstboten läuten. „Ein bisschen Gebäck? Und natürlich etwas zu trinken. Kaffee? Heiße Schokolade? Oder vielleicht eine Tasse Tee, wie die Engländer ihn lieben?“

„Danke, nein, Signore.“ Eigentlich hätte Jane gern eine heiße Schokolade getrunken, denn die schmeckte ihrer Meinung nach in Venedig besser als irgendwo sonst auf der Welt. Aber ihr fehlte die Zeit. „Leider kann ich nicht bleiben.“

Er wandte sich zu ihr um und hob die dunklen Augenbrauen. „Ich verstehe nicht, Miss Wood. Sie haben mich aufgesucht, um mir mitzuteilen, dass Sie keine Zeit haben?“

„So ist es, Signore. Leider. Ich bin nur hier, um Ihnen Lebewohl zu sagen.“

Er schüttelte den Kopf. „Das werde ich nicht zulassen. Ich beabsichtige, Ihnen heute etwas ganz Besonderes zu zeigen. Es handelt sich um ein handgeschriebenes Buch. Vor etwa vierhundert Jahren wurde es von Mönchen in einem byzantinischen Kloster erschaffen. Die Malereien werden Ihnen den Atem rauben, Miss Wood. Nie habe ich etwas Schöneres gesehen. Ihnen wird es auch gefallen. Deshalb …“

„Verzeihen Sie, ich kann wirklich nicht bleiben.“ Sie musste ihm die Wahrheit sagen, so schwer es ihr auch fiel. „Mein Herr, der Duke of Aston, ist gestern in Venedig eingetroffen. Und er ist sehr unzufrieden mit mir. Daher habe ich mich entschlossen zu kündigen. Nun muss ich mich so schnell wie möglich nach einer neuen Stellung umsehen.“

„Oh nein, bitte, sprechen Sie nicht so! Ihre Worte erschrecken mich.“ Er eilte auf sie zu, so rasch, dass sein Morgenmantel flatterte. „Was für ein Unmensch muss dieser Duke sein, um Sie zu tadeln!“

Jane seufzte, als ihr klar wurde, wie sehr Seine Gnaden sich von Signor di Rossi unterschied. Der eine hatte breite Schultern, ein aufbrausendes Temperament und Umgangsformen, die man häufig nur als arrogant oder sogar rücksichtslos bezeichnen konnte. Der andere war ebenfalls temperamentvoll, dabei jedoch höflich, zuvorkommend und im Übrigen eher schmal. Vielleicht hätte man Aston mit einem Löwen und den Venezianer mit einem Geparden vergleichen können.

„Der Duke hat allen Grund, mit mir unzufrieden zu sein. Er ist nach Venedig gekommen, um seine Töchter zu sehen. Ich jedoch habe es versäumt, meine Schützlinge herzubringen.“

„Wir wissen beide, dass es die Entscheidung der jungen Damen war. Sie, Miss Wood, trifft keine Schuld. Dieser Engländer hat keinen Grund, Sie hinauszuwerfen.“

„Noch hat er mich nicht vor die Tür gesetzt. Ich selbst habe gekündigt. Das war unumgänglich, da ich der Aufgabe, die er mir gestellt hatte, nicht gerecht geworden bin.“

Signor di Rossi starrte sie sichtlich verwirrt an. „Haben die beiden Damen es nicht Ihnen zu verdanken, dass sie jetzt glücklich verheiratet sind? Welch edlere Aufgabe hätten Sie erfüllen sollen, Miss Wood?“

Traurig zuckte sie die Schultern. Sie liebte ihre ehemaligen Schützlinge und hätte es niemals mit ihrem Gewissen vereinbaren können, sich ihrem Glück in den Weg zu stellen. Doch Seine Gnaden liebte die beiden auch. Und als ihr Vater hatte er natürlich andere Rechte als eine einfache Gouvernante. Also sagte sie: „Ich bin sehr froh, dass es Lady Mary und Lady Diana gut geht. Aber ich habe nie in ihren Diensten gestanden. Mein Herr war stets der Duke. Er entscheidet darüber, was ich zu tun habe. Leider habe ich seinen Befehlen zuwidergehandelt.“

„Mir erscheint das alles überaus ungerecht“, stellte Signor di Rossi fest. „Wie kann dieser Engländer Sie für etwas bestrafen, das seinen Töchtern nur zum Vorteil gereicht?“

„Er sieht das anders. Er hat mir die Mädchen anvertraut, und ich habe sein Vertrauen enttäuscht. Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass sie ohne die Zustimmung ihres Vaters vor den Altar traten.“

„Es ist keine Sünde, jemanden zu heiraten, den man liebt!“

Jane seufzte. „Für die Töchter eines englischen Adligen gehört es sich nicht, sich über die Wünsche ihres Vaters hinwegzusetzen, nicht einmal der Liebe wegen.“

„Welch merkwürdige Einstellung! Sie erinnert mich an eine Geschichte aus dem alten Rom. Einer der Herrscher ließ einen Boten töten, weil er schlechte Nachrichten brachte.“

„Das hat sich in Sparta zugetragen, nicht in Rom“, entfuhr es Jane. Sie errötete und meinte entschuldigend: „Verzeihen Sie, ich kann nicht anders. Als Gouvernante bin ich so daran gewöhnt, Fehler zu korrigieren …“

„Cara mia!“ Er schenkte ihr ein warmes Lächeln. „Sie sind in erster Linie eine Frau und dann erst eine Gouvernante.“

Janes Wangen färbten sich noch ein wenig dunkler. Signor Rossi hatte sie cara mia, meine Liebe, genannt. Natürlich hatte sie schon vor Monaten begriffen, dass die meisten Gentlemen in Frankreich oder Italien mit Kosenamen viel großzügiger umgingen als die Engländer. Doch dieses ‚cara mia‘ schien mehr zu bedeuten. Im ersten Moment wurde ihr warm ums Herz, aber natürlich durfte sie sich keinen unsinnigen Hoffnungen hingeben. Dann allerdings wurde ihr bewusst, wie unpassend es war, von einem venezianischen Gentleman mit Kosenamen bedacht zu werden.

Freundlich erklärte sie: „Die letzten Wochen waren sehr schön für mich, Signore. Ich habe es sehr genossen, Zeit für Gespräche mit Ihnen zu haben. Doch jetzt muss ich mein normales Leben wieder aufnehmen. Das bedeutet, dass ich mir so schnell wie möglich eine neue Stellung suchen muss.“

„Ah, Sie machen einen Fehler, wenn Sie es für unwichtig halten, sich mit den Kunstwerken zu beschäftigen, die die größten Maler und Bildhauer uns hinterlassen haben. Die Empfindungen, die diese Werke in uns wecken, zählen mehr als alles Bücherwissen. Gelehrsamkeit ist gut, aber wem nützt es letztendlich, ob man sich an einzelne geschichtliche Begebenheit erinnern kann?“

„Kunst ist etwas Wunderbares, darin stimme ich mit Ihnen überein. Aber ich muss eine Arbeit finden, wenn ich nicht hungern will.“ Jane schaute den reichen, von weltlichen Sorgen unberührten Venezianer an, und eine tiefe Traurigkeit überkam sie. Wie sollte er die Sorgen und Ängste einer Gouvernante verstehen können? „Ich habe keine Wahl. Ich muss mir meinen Lebensunterhalt verdienen. Und als Gouvernante beschäftigt zu sein ist sicher vielen anderen Tätigkeiten vorzuziehen.“

„Wohl wahr, eine Gouvernante ist keine Sklavin. Sie hat gewisse Rechte.“ Ein Lächeln huschte über di Rossis Gesicht. „Es steht Ihnen ein freier Tag pro Woche zu, nicht wahr? Es wird sich Ihnen also Gelegenheit bieten, mich regelmäßig zu besuchen.“

Sie zögerte, stellte dann jedoch entschieden fest: „Von einer Gouvernante erwartet man, dass sie sich vorbildlich benimmt, zumal wenn ihre Schützlinge noch sehr jung sind. Besuche bei einem unverheirateten Mann würde man ihr zum Vorwurf machen.“

„Gut, dann besuchen Sie mich eben nicht. Wir werden uns in der Stadt treffen. Sie können sich verschleiern oder eine Maske tragen. Niemand wird Sie erkennen. Es wäre doch zu schade, wenn wir auf unsere inspirierenden Gespräche verzichten müssten. Glauben Sie mir, Miss Wood, in Venedig ist alles möglich!“

„Es tut mir leid, Signore, aber ich muss Ihnen widersprechen. Ich bin, um meine Zukunft zu sichern, auf meinen guten Ruf angewiesen. Ich kann nichts tun, was ihn gefährden würde.“

Di Rossi schaute ihr tief in die Augen und nahm ihre Hand. Dies war keine Geste der Höflichkeit, wie Jane sogleich begriff. „Bitte, Signore“, protestierte sie, „bitte, Sie müssen mich loslassen!“

Er gehorchte, wandte jedoch den Blick nicht ab. „Denken Sie immer daran, Miss Wood, dass Sie einen Freund in Venedig haben. Fürchten Sie sich nicht vor der Zukunft. Sie sind nicht allein.“

Ist dies ein … ein unmoralisches Angebot? Oder will er mir nur zu verstehen geben, dass er mir in unschuldiger Freundschaft zugetan ist?

Ein Schauer überlief Jane. Es war ein beunruhigendes Gefühl, so von Signor di Rossi angeschaut zu werden. „Auf Wiedersehen“, flüsterte sie, straffte die Schultern und floh.

5. KAPITEL

Ich hasse diese verteufelten Ausländer“, schimpfte Richard.

Er hatte gerade erst am Frühstückstisch Platz genommen, als mehrere Zöllner in der Ca’ Battista erschienen waren und ihn zu sprechen verlangt hatten. Beinahe den ganzen Vormittag über bestürmten sie ihn und seinen Sekretär mit Fragen, und er hatte bereits befürchtet, sie nie wieder loszuwerden.

„Wie können ein paar dumme Männer sich nur für so wichtig halten?“, stieß er, noch immer erzürnt, hervor. „Sie tun gerade so, als wären sie Könige. Verflucht, sie können doch nicht allen Ernstes geglaubt haben, wir hätten irgendetwas von England nach Venedig geschmuggelt.“

Mr. Potter deutete eine Verbeugung an. „Wie ich bereits erwähnte, Euer Gnaden: Die Venezianer sind stolze Menschen. Als Händler können sie auf eine lange Tradition zurückblicken. Es ist daher verständlich, dass sie ihren Hafen samt aller ein- und auslaufenden Schiffe sorgfältig überwachen.“

„Ihren Hafen? Ha! Wie mir scheint, steht die ganze verfluchte Stadt im Wasser. Überall wimmelt es von Booten. Wahrhaftig, so etwas habe ich noch nie gesehen. All diese Kanäle! Und all der Schmutz, der in ihnen schwimmt. Kein Wunder, dass man mich eindringlich davor gewarnt hat, hier Wasser zu trinken.“ Richard warf einen Blick auf sein Glas, das mit Rotwein aus dem Veneto gefüllt war. Eigentlich mochte er Wein nicht besonders, dennoch nahm er jetzt einen tiefen Schluck. Dieser heimische Rote schmeckte ihm erstaunlich gut. „Ich bin nur froh, dass uns jetzt niemand mehr für Rum-Schmuggler hält.“

„Jawohl, Euer Gnaden.“

„Jawohl“, wiederholte er und nickte, ehe er einen langen Seufzer ausstieß. Die Prüfungen dieses Tages waren noch längst nicht vorbei. Zwar war er die Zöllner los, doch jetzt galt es, ein anderes Problem zu lösen. Das fiel ihm besonders schwer, weil er nur äußerst ungern einen Fehler eingestand. Aber es musste sein. „Schicken Sie Miss Wood zu mir“, befahl er seinem Sekretär.

„Das wird nicht möglich sein, Euer Gnaden.“ Potter zögerte. „Wie es scheint, hat sie das Haus verlassen.“

„Unsinn! Natürlich ist sie hier. Wo sollte sie auch sonst sein?“

„Das weiß ich nicht. Aber“, der Sekretär zog einen versiegelten Brief aus der Tasche und reichte ihn dem Duke, „Miss Wood hat eine Nachricht für Sie hiergelassen.“

„Merkwürdig“, murmelte Aston, während er das Siegel brach. „Es sieht ihr gar nicht ähnlich, einfach fortzulaufen. Sie war immer eine sehr verantwortungsbewusste Person.“

„Ich nehme an, dass sie bald zurückkommt, Euer Gnaden. Ihr gesamtes Gepäck ist noch hier. Also hat sie sich nicht heimlich aus dem Staub gemacht.“

„Welch ein Segen“, spottete Aston, strich die Seite glatt und begann zu lesen. Die Schrift der Gouvernante war genau so, wie er sie in Erinnerung hatte: klein und sehr ordentlich. Wenn die Auseinandersetzung in der vergangenen Nacht Miss Wood aufgeregt hatte, so verrieten die fein geschwungenen Buchstaben und die gleichmäßigen Zeilen ihrer Nachricht das jedenfalls nicht.

„Was zum Teufel soll das! Hier, Potter“, er hielt dem Sekretär das Schreiben hin, „lesen Sie und verraten Sie mir, was dieses Frauenzimmer vorhat.“

„Wie es aussieht, hat Miss Wood gekündigt“, stellte Potter fest, als er die wenigen Zeilen überflogen hatte. „Fristlos gekündigt, Euer Gnaden.“

Das hatte er schon selbst begriffen. Aber er wollte es einfach nicht glauben. „Unmöglich!“, verkündete er. „Ich werde es nicht zulassen.“

„Ich fürchte, Sie können es ihr nicht verbieten. Wenn Miss Wood nicht mehr für Sie arbeiten möchte, Euer Gnaden, hat sie das Recht zu gehen. Wie sie ganz richtig schreibt, benötigen Lady Mary und Lady Diana keine Gouvernante mehr. Ihre Aufgabe ist somit …“

„Ich weiß selbst, was sie schreibt! Verflucht!“ Aston warf den Brief auf den Tisch. Gestern, als er erfahren hatte, dass seine Töchter verheiratet waren, hatte er den Wunsch verspürt, Miss Wood für immer zu verbannen. Sie sollte es bloß nicht wagen, ihm je wieder unter die Augen zu treten! Oh, wie zornig er gewesen war! Doch dann hatte er die Briefe der Mädchen gelesen, und plötzlich war ihm alles in einem anderen Licht erschienen. Die Gouvernante stellte im Moment die zuverlässigste Verbindung zu Mary und Diana dar.

Vielleicht die einzige Verbindung …

Er betrachtete Miss Woods Unterschrift. Lange starrte er darauf, ohne wirklich etwas zu sehen.

Ihm fiel ein, wie sehr sie sich bemüht hatte, ihm die Neuigkeiten so schonend wie möglich beizubringen. Wie sie versucht hatte, ihm unnötigen Kummer zu ersparen. Himmel, nachdem er gelesen hatte, was seine Töchter schrieben, wusste er, dass Miss Wood getan hatte, was das Beste für die Mädchen war. Sie war immer eine loyale Angestellte gewesen, klug, verantwortungsvoll und mitfühlend. Wie lange hatte sie in seinem Dienst gestanden? Zehn Jahre? Genau wusste er es nicht. Es kam ihm vor, als sei sie immer da gewesen, als habe sie sich von Anfang an still und mustergültig um alles gekümmert, was Mary und Diana betraf. Sie hatte für die Kinder gesorgt, als seien es ihre eigenen. Mehr hatte er wahrhaftig nicht von ihr erwarten können. Tatsächlich war sie ihm eine große Hilfe gewesen. Aber hatte er ihr das jemals gesagt?

Er konnte sich nicht daran erinnern.

„Miss Wood ist noch jung, Euer Gnaden“, ließ sich jetzt Potter vernehmen. Er besaß das Talent, etwas Offensichtliches auszusprechen, als sei es eine neue Erkenntnis. „Sie wird eine andere Stellung finden. Wahrscheinlich ist sie deshalb unterwegs. Sie …“

„Ich weiß selbst, wie jung sie ist“, fiel Aston ihm ungeduldig ins Wort. Nur allzu deutlich sah er Miss Wood vor sich, wie sie in der letzten Nacht nur mit einem Nachthemd bekleidet vor seiner Tür gestanden hatte. Wie hätte er ihr offen über die Schultern fallendes Haar, ihre samtene Haut und ihre vor Aufregung funkelnden Augen vergessen können? Nie zuvor war sie ihm so jung und begehrenswert erschienen. Und das verwirrte ihn. „Ich brauche auch niemanden, der mir etwas über ihre Zukunftspläne erzählt!“

„Selbstverständlich nicht, Euer Gnaden.“

„Miss Woods Zukunftspläne, ha!“ Richard wandte sich dem Fenster zu. Er fühlte sich elend. Erst hatte er völlig unerwartet seine Töchter verloren. Und jetzt wollte auch die Gouvernante fortgehen. Nein, er war nicht bereit für einen weiteren Abschied für immer. „Ich begreife nicht, was Sie zu dieser Kündigung bewogen hat. Glaubt sie etwa, ich wolle sie loswerden? Als könnte ich sie in einem fremden Land einfach vor die Tür setzen wie eine Dirne, der man keine Achtung entgegenbringt!“

„Euer Gnaden.“

Beim Klang der weiblichen Stimme fuhr er herum. Miss Wood persönlich stand, die behandschuhten Hände ineinander verschlungen, neben Potter. Sie machte einen völlig ausgeglichenen Eindruck.

„Ich wollte Sie nicht erschrecken. Verzeihen Sie, Euer Gnaden. Signora della Battista erwähnte, dass Sie mich sprechen wollten. Deshalb bin ich sogleich hergekommen.“

Er nickte. Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben wusste er nicht, was er sagen sollte. Hatte sie seine Worte gehört? Diese unglückselige Bemerkung über Dirnen, die man vor die Tür setzt?

Dann fand er die Sprache wieder. „Potter, lassen Sie uns allein!“

Der Sekretär verbeugte sich, verließ den Raum und schloss die Tür. Miss Wood stand so still wie eine Statue. Ihre unerschütterliche Ruhe begann Richard zu verwirren.

„Bitte, setzen Sie sich“, meinte er schließlich mit einer einladenden Geste.

Ihre Röcke schwangen, als sie auf den nächsten Stuhl zuschritt und Platz nahm. „Danke, Euer Gnaden.“

Ihm war nie zuvor aufgefallen, wie anmutig ihre Bewegungen waren. Nun, vor ihrer Begegnung in der vergangenen Nacht hatte er auch nicht bemerkt, wie seidig ihre Haut schimmerte und wie schön ihr Haar war …

Jane, die nicht ahnte, woran er dachte, entdeckte ihr Kündigungsschreiben auf dem Tisch, seufzte kurz auf und schaute den Duke dann erwartungsvoll an. „Sie wollen sicher die Einzelheiten mit mir klären, Euer Gnaden. Also, ich könnte das Haus noch heute verlassen, wenn Sie es wünschen.“

„Das wünsche ich ganz und gar nicht! Wahrscheinlich haben Sie missverstanden, was Sie gehört haben, als Sie ins Zimmer kamen.“

Sie blickte ihn aus großen Augen an. „Als ich eintrat, standen Sie am Fenster und sagten gar nichts.“

„Gut, gut“, murmelte er, wobei er sich nicht sicher war, ob er ihr glauben konnte. Hatte er sich entschuldigt, obwohl das gar nicht nötig gewesen wäre? So oder so, er hatte sich in eine unangenehme Situation gebracht. Verflucht! Er räusperte sich. „Ich beabsichtige jedenfalls nicht, Sie hinauszuwerfen, Miss Wood. Nicht in einem fremden Land! Es wäre ungerecht. Und ich möchte nicht, dass man mir vorwirft, ich würde mein Personal schlecht behandeln.“

„Sie sind sehr … gütig.“ Jane lächelte.

Aber gerade dieses Lächeln verriet, wie unsicher sie sich fühlte. Es rührte Richard. Es rührte ihn ebenso wie die Löckchen, die unter ihrer Haube hervorschauten. Ob es die feuchte Luft in der Lagunenstadt war, die bewirkte, dass ihr Haar sich kräuselte? Und wieso interessierte ihn das überhaupt? Früher hatte er Miss Woods Aussehen keinerlei Beachtung geschenkt.

„Ich bin nicht gütig“, widersprach er. „Es ist meine Pflicht, für meine Bediensteten zu sorgen.“

„Oh, Sie sind gütig. Und ich danke Ihnen dafür. Aber Sie werden verstehen, dass ich nicht als Gouvernante in Ihrem Haushalt leben kann, nun da es keine Kinder mehr gibt, die meine Fürsorge brauchen. Es wäre nicht recht zu bleiben.“

„Ich sage: Sie bleiben!“ Entschlossen griff er nach ihrem Brief und zerriss ihn. „Wir vergessen einfach, dass Sie gekündigt haben. Sie erhalten den gleichen Lohn wie bisher. Potter soll sich darum kümmern.“

„Wofür wollen Sie mich bezahlen, Euer Gnaden? Ehe Sie hier eintrafen, habe ich getan, was Sie im letzten Jahr mit mir vereinbart haben. Sie hatten dieses Haus angemietet, also habe ich hier gewohnt. In ein paar Wochen hätte ich das Schiff genommen, mit dem auch Ihre Töchter nach England hätten zurückkehren sollen. Solange ich nichts von Ihnen hörte, hielt ich es für richtig, mich an die ursprünglichen Abmachungen zu halten. Doch jetzt sind Sie hier und wissen, dass Ihre Töchter keine Gouvernante mehr benötigen. Mir steht kein Lohn für eine Aufgabe zu, die ich nicht erfüllen kann. Es wäre ungehörig zu bleiben.“

Während sie sprach, hatten sich ihre Wangen gerötet. Richard fragte sich, ob sie genau wie er an die Ereignisse der letzten Nacht dachte. Dieses Treffen hatte bewirkt, dass er sie mit anderen Augen betrachtete. Erging es ihr ebenso? Hatte sie ihn, der bisher immer nur ihr Arbeitgeber gewesen war, nun auch als Mann wahrgenommen? Hatte sie deshalb das Wort ‚ungehörig‘ gebraucht?

„Seit vielen Jahren zählen Sie zu meinem Personal, Miss Wood.“ Erinnerungen stürzten auf ihn ein. Wie oft hatte er sie getroffen, wenn er seine Töchter sehen wollte. Sie hatte mit ihnen gespielt, hatte mir ihnen gelernt, hatte sie beschützt. Sie hatte mehr Zeit mit Mary und Diana verbracht als Anne. Er selbst hatte mehr Zeit mir ihr verbracht als mit Anne. Sie konnte sich jetzt nicht einfach fortstehlen! „Ich habe Sie immer geschätzt. Und für meine Töchter gehören Sie sozusagen zur Familie.“

Tränen traten ihr in die Augen, aber Jane wollte auf keinen Fall weinen.

Aston, der die nicht vergossenen Tränen sehr wohl sah, dachte: Gut, sie wird nicht gehen, solange sie an die Mädchen denkt.

Er bemühte sich, seiner Stimme einen weicheren, weniger befehlsgewohnten Ton zu verleihen. „Bitte, Miss Wood, bleiben Sie noch ein paar Wochen. Niemand wird etwas Schlechtes daran finden.“

Doch statt gleich zuzustimmen – wie Richard es erwartet hatte –, schüttelte sie den Kopf. „Verzeihen Sie, Euer Gnaden, da bin ich anderer Meinung. Eine Gouvernante muss ganz besonders sorgfältig darauf achten, dass nichts ihren Ruf in Gefahr bringt.“

„Unter meinem Dach ist einer Frau noch nie etwas angetan worden“, erklärte Aston stolz. „Das würde ich jedem unmissverständlich klarmachen, der etwas anderes zu behaupten wagt. Vertrauen Sie auf mein Wort, Miss Wood.“

„Danke, Euer Gnaden.“ Sie erhob sich.

Sofort sprang auch er auf. Kurz wanderte sein Blick zu dem zerrissenen Brief, der vor ihnen auf dem Tisch lag.

„Leider muss ich Ihr großzügiges Angebot ablehnen. Wenn ich mit mir selbst im Reinen sein will, bleibt mir keine andere Wahl. Ich kann kein Geld von Ihnen annehmen, wenn ich nichts dafür geleistet habe.“

„Nichts geleistet?“ Er war überrascht. Warum war sie so starrsinnig? Tatsächlich war sie die Erste, die ihm eine solche Abfuhr erteilte. Was wollte sie denn noch von ihm? Hatte er ihr nicht genug geboten? Es war einfach nicht zu begreifen!

Er wandte sich zum Fenster, sodass sie sein Gesicht nicht erkennen konnte. „Um meiner Töchter willen bitte ich Sie zu bleiben.“

Sie schwieg.

Ungeduldig öffnete und schloss er die Hände. „Ich warte auf eine Antwort, Miss Wood. So viel Höflichkeit kann ich wirklich erwarten.“

Nichts.

Zorn flammte in ihm auf, und er fuhr herum, um ihr die Leviten zu lesen.

Doch Miss Wood hatte das Zimmer bereits verlassen.

Hastig legte Jane ihre letzten noch nicht eingepackten Besitztümer in einen der beiden Reisekoffer. Sie wollte so schnell wie möglich fort aus der Ca’ Battista. Sicher, sie hatte die Annehmlichkeiten, die diese Unterkunft bot, sehr geschätzt. Noch mehr war sie von der Gastfreundschaft der Signora beeindruckt gewesen. Doch nun, da der Duke hier wohnte, war es an der Zeit zu gehen. So sehr er auch darauf drängte, dass sie blieb, sie musste weg.

Ach, warum war das Leben so kompliziert?

Jane seufzte tief und starrte auf den zusammengerollten Strumpf, den sie in der Hand hielt, ohne es wirklich zu merken. Sie hatte vergessen, womit sie beschäftigt gewesen war. In Gedanken war sie wieder in England. Als der Duke of Aston ihr damals mitgeteilt hatte, dass sie mit seinen Töchtern eine Reise nach Frankreich und Italien unternehmen sollte, hatte sie ihr Glück kaum fassen können. Bis dahin hatte sie nie zu hoffen gewagt, einmal all die Gemälde, Statuen und Bauwerke zu sehen, über die sie in Büchern schon so viel gelesen hatte. Bildungsreisen waren im Allgemeinen ein Privileg von jungen Herren und ihren Hauslehrern. Gouvernanten und ihre Schützlinge blieben daheim in England, wo die jungen Damen alles lernen konnten, was sie später als Ehefrauen und Hausherrinnen brauchten.

Sie hätte schreien mögen vor Glück und hatte doch nicht einmal geahnt, wie wundervoll die Reise sich tatsächlich gestalten würde. Vor allem hatte sie sich nicht vorstellen können, wie sehr ihre Erlebnisse sie verändern würden.

Anfangs war ihr auch gar nicht aufgefallen, welche Verwandlungen mit ihr vorgingen. Es waren Kleinigkeiten gewesen, die zunächst keine große Wirkung zu haben schienen. Im Laufe der Monate jedoch war sie zu einem anderen Menschen geworden. Sicher, wenn sie in den Spiegel schaute, stellte sie keine großen Unterschiede zu früher fest. Ihr rundes Gesicht war vielleicht ein wenig schmaler geworden. Aber noch immer entsprach es nicht dem gängigen Schönheitsideal. Auch trug sie noch dieselben Kleider wie in England, nur dass sie sie ein wenig enger hatte machen müssen, weil sie abgenommen hatte. Ihr Haar verbarg sie unter einer einfachen Haube, wie sie es schon als junges Mädchen getan hatte. Sie benutzte weder Parfüm noch Rouge, und sie trug keinen Schmuck. Das alles war wie immer.

Und doch war sie nicht mehr dieselbe Frau, die im letzten Jahr Aston Hall verlassen hatte. Lag es daran, dass sie mit einem Mal viel mehr Verantwortung hatte tragen müssen? Oder lag der Grund darin, dass sie Erfahrungen gemacht hatte, die einer Gouvernante im Allgemeinen fehlten? Während sie einerseits ihrer Arbeit nachging und sich um die Bildung und das Wohlergehen der Mädchen kümmerte, hatte sie andererseits ihre ureigensten Interessen verfolgen können. Sie hatte Kunstwerke gesehen, von denen sie früher nur hatte träumen können, und solche, die Empörung in ihr ausgelöst hatten, weil eine ungehemmte Sinnlichkeit von ihnen ausging. Griechische und römische Statuen, Gemälde von nackten Nymphen und heidnischen Satyrn, Darstellungen von christlichen Heiligen in frommer Ekstase …

Jane ließ sich auf einen Stuhl sinken. Vielleicht hatten auch die erstaunlichen Liebesbegegnungen der Mädchen dazu beigetragen, sie zu verändern. Beide, Mary und Diana, hatten sich Hals über Kopf verliebt und waren nicht ohne Hindernisse ins eheliche Glück geschlittert.

So etwas zu erleben mochte sich durchaus auf das Lebensgefühl und das Verhalten einer Frau auswirken, die als alte Jungfer galt. Vielleicht war sie dadurch weicher und weiblicher geworden, empfänglicher für die Anziehungskraft gewisser Gentlemen.

Ja, so musste es wohl sein.

Geistesabwesend erhob Jane sich und legte den Strumpf in den Koffer.

Nie zuvor hatte sie dem anderen Geschlecht so viel Interesse entgegengebracht wie in den letzten Wochen. Auch war sie früher nur sehr selten von Männern auf diese gewisse Weise behandelt worden. Jedenfalls hatte kein Gentleman ihr jemals Beachtung geschenkt, bis sie Signor di Rossi kennenlernte. Als Italiener neigte er wahrscheinlich von Natur aus dazu, seine Gefühle offener zu zeigen, als ein Engländer es tun würde. Trotzdem hatten seine Worte sie zutiefst verwirrt. Himmel, er hatte sie nicht nur cara mia genannt, er wollte sich auch heimlich mit ihr treffen!

Signor di Rossis Verhalten war ihr ein Rätsel. Er konnte sie doch unmöglich für eine leichtfertige Frau halten! Bisher hatte er sie stets mit der größten Achtung behandelt. Aber was veranlasste ihn, ihr ein heimliches Stelldichein vorzuschlagen? Er musste doch wissen, dass sie schon fast dreißig und eine sehr vernünftige Person war.

Vernünftig? War sie das wirklich? Warum hatte sie dann den Duke in der letzten Nacht in einem gänzlich neuen Licht gesehen? In all den Jahren, in denen sie seine Töchter betreut hatte, war er für sie nie etwas anderes als der Vater ihrer Schützlinge und ihr Arbeitgeber gewesen. Sie hatte ihn von fern bewundert, denn er besaß viele bewunderungswürdige Eigenschaften. Allerdings hatte keine davon etwas mit seiner männlichen Ausstrahlung zu tun gehabt.

Und nun war plötzlich alles ganz anders. In dem Moment, da Aston ihr die Tür geöffnet und sie mit den Briefen vor ihm gestanden hatte, war er plötzlich nicht mehr der gesellschaftlich so weit über ihr stehende Duke gewesen. Völlig unerwartet hatte er sich in einen verschlafenen, kaum bekleideten und sehr anziehenden Mann verwandelt.

Sie war sich seiner Nähe, seines nackten männlichen Körpers unter dem Leinennachthemd nur allzu bewusst gewesen. Seine breiten Schultern, die schmalen Hüften, die muskulösen Schenkel und die Härchen, die seine Brust bedeckten, selbst die Bartstoppeln – das alles hatte sie an die römischen Statuen erinnert, die sie gesehen hatte. Nur, dass diese Statuen nicht nach frischer Wäsche, Seife und Mann dufteten.

Wie sie sich erschrocken eingestanden hatte, verspürte sie den Wunsch, ihm das zerzauste Haar zu glätten. Und dann hatte sie bemerkt, dass er sie mit einem Ausdruck anschaute, den sie nie zuvor in seinen Augen gesehen hatte: Interesse, Bewunderung … Verlangen. Zutiefst verwirrt hatte sie den Blick gesenkt und festgestellt, dass Astons nackte Füße ihre eigenen nackten Zehen fast berührten. Es war dieser Anblick gewesen, der sie bis ins Innerste aufgewühlt hatte.

In Erinnerung daran barg Jane das Gesicht in den Händen.

Zum Glück hatte der Duke in jenem Moment zu sprechen begonnen. Das war zuerst hilfreich gewesen, weil sie sich auf seine Worte konzentrieren musste. Allerdings hatte ihr Herz schon bald immer schneller geschlagen, weil die Gefühle, die Astons Stimme verriet, sie so stark berührten. Die Liebe zu seinen Töchtern, die Enttäuschung über ihr Verhalten, die Sorge um sie … Irgendwann hatte sie die Situation nicht mehr ertragen können. Sie war geflohen.

So wie sie auch vorhin geflohen war, statt das Gespräch mit ihm zu Ende zu führen.

Jane stöhnte auf. Hoffentlich ahnte er nichts von all dem, was in der Nacht in ihr vorgegangen war. Er war ein attraktiver Mann auf dem Zenit seines Lebens. Sie hatte gesehen, dass er sie begehrte. Und wenn er auch nur vermutete, dass sie sich ebenfalls von ihm angezogen fühlen könnte, dann glaubte er vielleicht … Oh Gott, dann glaubte er womöglich, sie nähme an, dass er ihr ihren Lohn für ganz bestimmte Dienste weiterzahlen würde.

Nein, das durfte sie nicht einmal denken!

Sie musste die Ca’ Battista so schnell wie möglich verlassen. Sie musste weit fort von diesem Mann, der ihre körperlichen Gelüste geweckt hatte. Wenn sie erst bei der schottischen Witwe lebte, würde sie in Sicherheit sein. Sie würde sich nie mehr in Versuchung führen lassen, sondern sich untadelig benehmen. Auch Signor di Rossi durfte sie nicht mehr besuchen. Sie würde keinen Wein mehr trinken, auch wenn sie sich je kaum mehr als ein Glas erlaubte, und sich keine Gemälde und Statuen mehr anschauen, die womöglich ihre sündige Fantasie entflammten. Sie würde ein Vorbild an englischer Tugendhaftigkeit sein.

Sie würde sich einsam fühlen und leiden. Aber es gab keinen anderen Weg.

In diesem Moment klopfte es an der Tür. Wahrscheinlich kam einer der Dienstboten, um ihr Gepäck nach unten zu tragen.

„Uno momento, por favore“, rief sie, „einen Augenblick noch!“

Sie holte ihren Mantel und warf dabei noch einen letzten Blick in das Zimmer, das für Lady Mary bestimmt gewesen war. Der Ausblick aus dem Fenster auf den Canal Grande würde ihr fehlen. Er war unvergleichlich schön, wenn die Sonne schien und der blaue Himmel sich im Wasser spiegelte. Nie würde sie ihn vergessen.

„Miss Wood?“

Sie fuhr herum.

Autor

Miranda Jarrett
Hinter dem Pseudonym Miranda Jarrett verbirgt sich die Autorin Susan Holloway Scott. Ihr erstes Buch als Miranda Jarret war ein historischer Liebesroman, der in der Zeit der amerikanischen Revolution angesiedelt war und 1992 unter dem Titel "Steal the Stars" veröffentlicht wurde. Seither hat Miranda Jarrett mehr als dreißig Liebesroman-Bestseller geschrieben,...
Mehr erfahren