Historical Herzensbrecher Band 7

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FASZINIEREND WIE DER KUSS DES HERZOGS von AMANDA MCCABE
Was geschieht in der Villa auf Sizilien? Angeblich sollen hier Räuber nach einem Schatz suchen. Clios Neugierde ist größer, als es sich für eine englische Lady geziemt! Sie beschließt, den Gerüchten auf den Grund zu gehen - und läuft dabei Edward Radcliffe, dem Duke of Averton, in die Arme. Er fasziniert sie schon lange, doch sie traut ihm nicht. Als er sie heiß küsst, fragt sie sich, ob sie ihr Herz einem Helden oder einem Schurken geschenkt hat …

HERZ IST TRUMPF! von MIRANDA JARRETT
Warum nur hat der Duke of Guilford darauf gewettet, dass er Amariah Penny verführen kann? Er hat sich in sie verliebt! Dass sie einen Spielsalon betreibt, um mit dem Gewinn Bedürftigen zu helfen, macht sie noch bewundernswerter! Doch sie weist seine Eroberungsversuche kühl zurück. Bis sie eines Nachts in Gefahr gerät und er sie auf starken Armen in Sicherheit trägt …


  • Erscheinungstag 13.03.2020
  • Bandnummer 7
  • ISBN / Artikelnummer 9783733749453
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Amanda McCabe, Miranda Jarrett

HISTORICAL HERZENSBRECHER BAND 7

PROLOG

Auf Zehenspitzen schlich Clio Chase durch einen schmalen Korridor im Akropolis House, dem labyrinthischen Londoner Domizil des Duke of Averton, und spähte über ihre Schulter. Niemand folgte ihr. Wahrscheinlich wurde ihre Abwesenheit gar nicht bemerkt, weil in dem Saal, wo der griechische Maskenball stattfand, ein so dichtes Gedränge herrschte.

Perfekt.

In diesem Flur, fern von der Musik und dem Stimmengewirr, war es fast so still wie in einer Gruft. Nur wenige Gaslampen erhellten mit ihrem flackernden Licht die dunkel getäfelten Wände und die golden gerahmten Gemälde.

Clio blieb stehen und schlüpfte aus ihren grünen Tanzschuhen. In Strümpfen eilte sie zum Ende des Korridors, wo eine gewundene Treppe nach oben führte. Sie raffte die Röcke ihres grüngoldenen Medusa-Kostüms und stieg hinauf. An diesem Abend hatte der Duke sich nur vage über den Standort der Statue geäußert. So geheimnistuerisch wie Seine Gnaden waren die Dienstboten nicht, und sie hatte einem Lakaien entlockt, wo sich Artemis befand, die Alabastergöttin.

Am Treppenabsatz erreichte sie eine Galerie, die fast die ganze Breite des Hauses einnahm. Die Fenster gingen zum vorderen Garten und zur Straße hinaus. Um verspätete Gäste einzulassen, stand das Portal immer noch offen.

Obwohl es in der Galerie mehr Lampen als im Flur gab, brannten die meisten nicht. Zweifellos würden sie erst nach dem Souper aufflammen, um die grandiose Enthüllung der Statue zu illuminieren. Jetzt fiel nur schwaches Licht auf vereinzelte Kunstgegenstände.

Während Clio durch die Galerie wanderte, hielt sie den Atem an und ließ ihren Blick immer wieder von einer Seite zur anderen schweifen. Ihr Vater und seine Freunde waren passionierte Sammler und liebten es, ihre Schätze zu zeigen. Inmitten kostbarer Altertümer war sie aufgewachsen. Aber was sie jetzt betrachtete, stellte ein Raritätenkabinett dar, wie sie es nie zuvor gesehen hatte.

Beinahe glich die Galerie einem Lager, vollgestopft mit Kunstwerken. Steinerne Jünglinge starrten sie mit leeren Augen an. Zwischen Bronzekriegern und Marmorgöttern standen Kisten voller goldener etruskischer Juwelen, Skarabäengemmen aus Lapislazuli und Parfümfläschchen. Zahlreiche Regale waren mit Vasen, Amphoren und anderen Gefäßen gefüllt. Und alles bildete ein seltsames Durcheinander – nur um die Eitelkeit eines einzigen Mannes und seine Sammelleidenschaft zu befriedigen? Oder stimmte es, was er behauptet hatte? Hortete er diese Gegenstände, weil es mit seiner Arbeit für die Antiquities Society zusammenhing?

Als Clio den Kopf schüttelte, bebten die Satinschlangen auf ihrer Krone. An ihn durfte sie jetzt nicht denken, denn sie musste eine Aufgabe erledigen.

Am Ende der Galerie, in einem Lichtkreis aus Kerzenschein, erhob sich ein Gegenstand, von einem schwarzen Seidentuch verhüllt. Nur ein kleiner Teil des korallenroten Marmorsockels war zu sehen. Vorsichtig ging Clio darauf zu. Jeden Moment erwartete sie, in eine Falle zu geraten – einen Wächter zu alarmieren. Aber alles blieb still, und sie hörte nichts außer dem Wind, der vor den Fenstern in den Bäumen rauschte. Ermutigt hob sie das Tuch und schaute darunter.

„Oh“, seufzte sie. Tatsächlich, die Alabastergöttin – Artemis in all ihrem Glanz …

Die Statue war nicht groß. Von den meisten Figuren in der Galerie wurde sie überragt. Doch sie sah so schön und anmutig aus, dass Clio verstand, warum sie so viel Aufsehen erregte, warum die Damen „Artemis“-Frisuren und „Artemis“-Sandalen trugen.

Und warum der Duke sie versteckte.

Aus Alabaster gemeißelt, weiß wie frisch gefallener Schnee, hob sie ihren Bogen, auf dem ein Pfeil lag. Die gefältelte Tunika floss über die Konturen ihres schlanken Körpers, als würde ein Windstoß den Stoff bewegen, und reichte bis zur Mitte kraftvoller Beine, die den Anschein erweckten, die Göttin würde jeden Augenblick dahinstürmen. In dieser Saison kopierten alle Damen die mit Bändern verschnürten Sandalen. Daran haftete immer noch ein bisschen Blattgold, ebenso am Band, das Artemis’ lockiges Haar aus der Stirn hielt, verziert mit einem Halbmond, der die Göttin des Mondes kennzeichnete. Ihr Blick richtete sich auf die Beute.

Fasziniert starrte Clio die Statue an und stellte sich den Tempel von Delos vor, wo die Göttin einst residiert hatte und von ihren Bewunderern verehrt worden war. „Wie schön du bist“, flüsterte sie. „Und so traurig.“

Was das betraf, ähnelte ihr der Duke.

Mit einer Geste stummen Mitgefühls berührte sie Artemis’ Fuß. Da bemerkte sie, dass der Marmorsockel auf einem dicken Holzblock stand. Durch seine Mitte zog sich ein dünner Riss. Sie beugte sich vor, um festzustellen, ob der Riss versehentlich oder mit Absicht entstanden war.

„Ah, Miss Chase, Sie haben meinen Schatz entdeckt“, erklang eine leise Stimme.

Verwirrt drehte sie sich um und sah den Duke in der Galerie stehen, nur wenige Schritte entfernt.

Sogar im schwachen Licht leuchteten seine Augen. Freundlich – vielleicht täuschend freundlich lächelte er sie an und schüttelte das Leopardenfell seines Dionysoskostüms von den Schultern. Lautlos kam er näher, als wäre er selber eine Raubkatze.

„Schön ist sie, nicht wahr?“, fragte er, immer noch leise. „Ich wusste, Sie würden sich zu ihr hingezogen fühlen. So wie ich. In ihrem Mysterium und ihrer Einsamkeit ist sie – unwiderstehlich.“

Clio wich zu der Göttin zurück. Ja, auch sie hatte Artemis unwiderstehlich gefunden. So sehr, dass ihre Wachsamkeit nachgelassen, dass sie die Ankunft des Dukes nicht bemerkt hatte. Während er sich näherte, griff sie hinter sich. Ihre Finger berührten einen kalten Fuß der Statue. Dann glitt ihre Hand hinab, und sie fand den Riss im hölzernen Podest. Sie drückte ihre Finger hinein, als könnte Artemis sie vor Averton schützen, vor der seltsamen inneren Unrast, die sie in seiner Gegenwart stets empfand.

Auch jetzt … Langsam und unausweichlich kam er näher, wie ein Jaguar im Dschungel. Dabei ließ er sie nicht aus den Augen, und sie gewann den Eindruck, er würde alle Geheimnisse ihres Herzens erkennen.

Er behinderte ihre Arbeit, die Mission der „Liliendiebin“. Und doch waren sie miteinander verbunden, von unsichtbaren, unzerreißbaren Fesseln.

Trotz ihres Unbehagens würde sie ihm nicht die Genugtuung gönnen und davonlaufen. Noch nicht.

Schließlich blieb er an ihrer Seite stehen, und sie hielt den Atem an. Er berührte den Saum von Artemis’ Tunika, die Finger mit den kostbaren Ringen nur wenige Zentimeter vom Ärmel ihres grünen Seidenkostüms entfernt. Verwirrt spürte sie die Wärme seiner Haut, seinen durchdringenden Blick. Die Spannung zwischen ihnen wuchs, bis Clio fürchtete, sie müsste schreien.

„Natürlich werde ich Ihnen nicht erlauben, sie zu stehlen“, sagte er sanft und unerbittlich zugleich.

„Oh?“ Sie versuchte zu lachen. „Glauben Sie, ich könnte die Statue unter meinen Röcken verstecken und hinausschmuggeln? An all Ihren Wachtposten vorbei?“

Sein Blick schweifte über ihr grünes Gewand. „Was immer Sie tun, nichts würde mich überraschen.“

„Zumindest würde ich ihr ein schöneres Heim bieten als dies hier. Aber ich bin nicht so dumm, um ein solches Wagnis einzugehen.“

„Heute Nacht nicht.“

„Da haben Sie recht.“

Seine Hand wanderte von Artemis’ Tunika zu ihrem gefältelten Ärmel. Obwohl er ihre Haut nicht berührte, fühlte Clio eine Liebkosung. Von einem seltsamen Bann erfasst, trat sie näher zu ihm.

„Was Sie planen, weiß ich, Clio Chase“, erklärte er mit der samtigen Stimme eines Liebhabers. „Und das gestatte ich Ihnen nicht, zu Ihrem eigenen Wohl.“

„Zu meinem Wohl?“ Bestürzt zuckte sie zurück vor der Lockung seiner Nähe, seiner tiefen Stimme. „Oh nein, Euer Gnaden. Was Sie auch tun mögen, es dient nur Ihrem Interesse.“

„Nun, es gibt Dinge, die Sie nicht wissen“, entgegnete er und umfasste ihren Arm.

„Über Sie?“

„Über mich – und was hier geschieht. Mit der Alabastergöttin.“

„Oh, ich fürchte, ich weiß mehr, als es mir gefällt!“, stieß sie hervor. „Über Ihre Habgier, Ihre …“

„Clio!“, unterbrach er sie und zog sie näher zu sich heran.

Zu ihrem eigenen Entsetzen wünschte sie, er würde sie umarmen.

„Warum hören Sie nie auf mich?“ Wie dunkle Smaragde glühten seine Augen.

„Weil Sie nie mit mir reden“, flüsterte sie. „Nicht wirklich.“

„Wie kann ich mit jemandem sprechen, der mir misstraut?“ Seine Fingerspitzen gruben sich leicht in ihren Arm. „Oh Clio, was tun Sie mir an?“ Seine Lippen berührten ihre – ein betörender Kuss, wie eine duftende Sommerbrise. In diesem Kuss kostete sie ihren eigenen Zorn, ihre eigene verzweifelte Sehnsucht.

Und plötzlich war das alles zu viel – der Kuss, Avertons Nähe, ihre heftigen Emotionen. Irgendwie musste sie diesem Wirrwarr entrinnen. Und so ergriff sie die Alabastergöttin, um sie zwischen den Duke und sich selbst zu stoßen, eine Barriere – um ihn daran zu erinnern, wer und was sie wirklich waren.

Stattdessen stieß Artemis’ harter Ellbogen gegen seinen Kopf. Zusammen mit der Statue fiel er zu Boden.

Erschrocken sah sie die blutende Wunde an seiner Stirn, die geschlossenen Augen. „Edward!“, rief sie, kniete neben ihm nieder und tastete nach seinem Handgelenk. Erleichtert spürte sie seinen Puls. Sie hatte ihn nicht getötet.

Noch nicht.

„Bleiben Sie hier“, wisperte sie, „ich hole Hilfe!“

Und dann eilte sie davon, vorbei an all den Antiquitäten und den Schatten, nicht sicher, wohin – oder wovor sie flüchtete.

Den grünen Seidenstreifen in der Hand des Dukes hatte sie nicht bemerkt.

1. KAPITEL

Provinz Enna, Sizilien, sechs Monate später

Oh Grab, oh Brautgemach und oh du Haus aus Stein, das ewig mich umschließen soll, in das ich wandre zu den meinen allen, die schon Persephone bei sich empfing. Die Letzte bin ich, die Unseligste …‘“

Clio Chase richtete ihr Fernrohr in die Ruine des Amphitheaters, wo ihre Schwester Thalia die Zeilen aus „Antigone“ deklamierte.

Obwohl die zerbröckelte Bühne weit entfernt von dem Felsenhang lag, wo sie saß, sah sie Thalias goldenes Haar im Morgensonnenlicht glänzen und hörte die Worte von Sophokles’ Prinzessin, die zu ihrem Tod geleitet wurde. Dieser ewige Kampf von Leben und Tod, Schönheit und Schicksal schien diesem hellen Tag, diesem Land anzugehören. Im alten Sizilien hatten zahlreiche Eroberer die felsigen Berge und staubigen Ebenen erkundet. Und keiner hatte es wirklich beherrscht. Denn es war das Eigentum der Götter – viel älter, als in der griechischen und der römischen Kultur bekannt.

Clio lenkte ihr Fernglas, das sie dem Schiffskapitän auf der Fahrt von Neapel nach Sizilien abgekauft hatte, an ihrer Schwester vorbei zu der Landschaft hinter der Bühne. In London könnte sich kein Theaterdirektor eine so grandiose Szenerie ausmalen, dachte sie. Unter dem blauen Himmel reihten sich Berge wie neblige Meereswogen aneinander, grün und braun und violett, bis zum schneebedeckten Gipfel des Ätna, zwischen Wolken halb verborgen.

In der Ferne, kaum sichtbar, schimmerte das silbrige Wasser des Sees Pergusa, wo Persephone von Hades in sein unterirdisches Reich entführt worden war. Blumenwiesen erstreckten sich zwischen Olivenhainen, Zitronen- und Orangengärten und bestätigten die Ankunft des Frühlings.

Enna, das Bindeglied der Trinacria, der drei Provinzen – ein heiliger Ort, die Heimat Demeters und ihrer Tochter …

Und jetzt besuchten Mitglieder der Familie Chase diese herrliche Gegend. Mit ihrem Vater und zwei ihrer Schwestern, Thalia und Terpsichore, war Clio hierhergereist. Calliope, die älteste Schwester, genoss währenddessen ihre Flitterwochen. Schon vor langer Zeit hatte Sir Walter Chase, ein begeisterter Wissenschaftler, von den archäologischen Wundern gehört, die in Enna auf ihre Entdeckung warteten. Seine Freundin Lady Rushworth war ihm gefolgt. Doch sie interessierte sich vor allem für die erlesenen Zirkel der in der Stadt Santa Lucia, hoch oben in den pittoresken Bergen, lebenden Engländer. Dort hoffte sie die geistige Anregung zu finden, die sie auf den oberflächlichen Partys in Neapel vermisst hatte.

Die Stirn gerunzelt, senkte Clio das Fernglas und dachte an Santa Lucia. Gewiss, eine schöne Stadt mit der barocken Kirche, den alten Palazzi und der mittelalterlichen Burg … Aber dort gewann sie immer wieder – von den sizilianischen Dienstboten abgesehen – den Eindruck, sie hätte England gar nicht verlassen. So wie in London ging sie auf Partys bei Lady Rushworth, der Viscountess Riverton oder den Elliotts.

Doch sie wollte nicht an England denken. Was dort geschehen war, was sie zurückgelassen hatte … Sie schlang die Arme um ihre angezogenen Knie. Wie ein schützendes Zelt schien das alte Arbeitskleid aus braunem Musselin ihren Körper zu umgeben. Die warme Brise, vom Duft der Pinien und den bereits welkenden Blüten der Mandelbäume erfüllt, zerzauste ihr locker hochgestecktes kastanienrotes Haar.

Hierher gehörte sie, an dieses einsame Fleckchen Erde, nicht nach Santa Lucia oder London, schon gar nicht ins Schloss des Duke of Averton mit den gewundenen dunklen Korridoren, wo an allen Ecken Gefahren und Geheimnisse lauerten. Wie die unglücklichen Schatten im Reich des Hades …

Averton. Würde sie jemals einen Tag erleben, an dem ihre Gedanken nicht zu diesem verwirrenden Mann schweiften? An dem sie sich nicht an seine Berührung erinnerte, an den bezwingenden Blick seiner grüngoldenen Augen, den Klang seiner Stimme, als er ihren Namen geflüstert hatte? Clio …

Nun ist er Hunderte von Meilen entfernt, sagte sie sich. Wahrscheinlich werde ich ihn nie wiedersehen. Trotzdem blieb er irgendwie mit ihr verbunden, der berühmte Duke, der voller Habsucht seine antiken Kunstwerke sammelte – so wie er sie betrachtet hatte, als wäre sie eine griechische Vase oder Statue, die er besitzen wollte.

Nun, er besaß immer noch die Alabastergöttin, die wunderbare, aus Delos entwendete Figur der Artemis, die er in seinem Schloss versteckte. Mir wird er das nicht antun. Das werde ich verhindern – und wenn ich mich für den Rest meiner Tage in der sizilianischen Wildnis verbergen muss. Der Duke gehörte der Vergangenheit an. Ebenso wie die Liliendiebin …

Auch sie hatte ihre Geheimnisse gehütet. Für ein paar glorreiche Monate war sie die berüchtigte Liliendiebin gewesen.

Sie stand auf und streckte sich im Sonnenschein. Welch ein Glück, allein zu sein, von niemandem beobachtet oder verurteilt, einfach nur Clio, keine der „Chase-Musen“! Jetzt, nach Calliopes Hochzeit, erwarteten alle Leute, sie würde als Nächste vor den Traualtar treten und ihren gesellschaftlichen Platz in der exklusiven Gelehrtenwelt ihrer Familie einnehmen.

Bisher hatte sie keinen Mann kennengelernt, den sie so lieben könnte wie Calliope ihren Earl. Vielleicht war sie nicht für ein solches Leben geschaffen, sondern vielmehr für die Arbeit in der erst kürzlich entdeckten griechisch-römischen Ausgrabungsstätte. Ein Großteil lag immer noch unter der Erde. Aber ihr Vater und seine Freunde erforschten eifrig, was bereits freigelegt war – das Theater, den Marktplatz, verfallene Mauern kleiner Häuser, eine Villa mit fast intaktem Mosaikboden im Atrium, einen kleinen Tempel ohne Dach, vermutlich der Demeter geweiht.

Durch das Fernglas sah Clio ihren Vater über den Mosaikboden wandern, während ihre vierzehnjährige Schwester Terpsichore – Cory – die Fliesenszenen mit den Meergöttern und Meerjungfrauen skizzierte. Von einem großen Strohhut vor der Sonne geschützt, inspizierte Lady Rushworth ein paar Tonscherben. Wie emsige Ameisen eilten andere Freunde sowie Diener umher.

Clio klappte das Fernglas zusammen, verstaute es in ihrem Tornister und stieg die steilen, in den Felsenhang gehauenen Steinstufen hinab. An der Stelle, wo sie sich gabelten und eine Treppe nach Santa Lucia führte, blieb sie stehen und betrachtete die zerbröckelnden Zinnen des alten Schlossturms. Wieder einmal fühlte sie sich an das Yorkshire-Schloss des Dukes erinnert, das zu seiner ausgefallenen Erscheinung passte. In ihrer Fantasie tauchten seine langen rotgoldenen Haare auf, die starken Hände, die ihre so fest umfasst, die leuchtend grünen Augen, die ihren Blick gefesselt hatten.

Unbewusst bewegte sie ihre Handgelenke. Wie leicht hätte er einer der Kreuzritter sein können, der Erbauer dieses Turms … Dann hätte er zwischen den Zinnen gestanden und sein erobertes Land begutachtet. Hinter ihm hätte sein Banner im Wind geflattert. Dank seines Geldes, seines erlauchten Titels und seiner Attraktivität würde er stets alles gewinnen, was er sich wünschte. Die Welt gehörte ihm.

Aber sie nicht. Niemals.

Clio wandte sich von der alten Burg ab und stieg die andere Treppe hinauf, die sich um den Hügel herumzog. Nach einer Weile führten die Stufen bergab, zu einer Wiese voller weißem Klee. Nur das Summen der Bienen durchbrach die tiefe Stille, und von den Bergen drang das Bimmeln der Ziegenglöckchen zu ihr herüber.

Auch auf dieser Wiese würden die Tiere reiche Nahrung finden, und die Einheimischen könnten wilden Fenchel und Oregano sammeln. Trotzdem sah Clio keine einzige Menschenseele, wann immer sie hierherkam. Rosa, die Köchin im gemieteten Haus, hatte ihr erklärt, dies sei ein heiliger Ort, wo einst ein Demeter-Altar gestanden habe. Das schienen Weizenähren, in den Stamm eines Weißdornbaums geritzt, zu bestätigen, ebenso Früchte und Blumen – Opfergaben, die oft darunterlagen.

In der Nähe hatte Clio mysteriöse Gruben gefunden. Offenbar wiesen sie auf frühere illegale Ausgrabungen hin. Hatte irgendjemand nach Spuren von Persephone und Hades gesucht, ihrem düsteren Gemahl?

Wie auch immer, weder diese beiden noch Demeter störten Clio, wenn sie sich hier aufhielt. Vielleicht wussten sie, dass sie zu ihnen gehörte und ihre Arbeit tat, um sie alle ins Leben zurückzuholen. Sie setzte ihren Weg fort und erreichte ihr Refugium, die Ruine eines kleinen Bauernhauses, vor langer Zeit zerstört. Nur niedrige braune Mauerreste waren übrig geblieben. Sie wickelte ihre Werkzeuge aus einem Wachstuch, ergriff einen kleinen Spaten und begann zu arbeiten. Dabei vergaß sie die Außenwelt, sogar den Duke of Averton, zumindest für einige Zeit.

All die Leidenschaft, die früher ihrer Rolle als Liliendiebin gegolten hatte, widmete sie jetzt dieser Ruine.

2. KAPITEL

Sind Sie zufrieden, Euer Gnaden?“, fragte der Makler mit zitternder Stimme. „Zweifellos ist das der schönste Palazzo von Santa Lucia, mit einer fabelhaften Aussicht. Zudem liegt er in der Nähe der Kirche und des Hauptplatzes. Auch eine Jagdhütte in den Bergen gehört dazu. Anderen Mietern überlässt die Baronin ihre Möbel nur widerstrebend. Aber für Sie, Euer Gnaden, macht sie nur zu gern eine Ausnahme.“

Fühlt sie sich geehrt, wenn das Hinterteil eines englischen Aristokraten ihre Sessel und Sofas beglückt? Edward Radcliffe, Duke of Averton, begutachtete amüsiert die abblätternde Vergoldung und die abgewetzte aprikosenfarbene Polsterung einiger Stühle, die Seidentapete in derselben Farbe und die Putten des schadhaften Stucks an der Decke des Salons.

Der Palazzo bedurfte einer gründlichen Reinigung. Auf dem zerkratzten Marmorboden lag eine dünne Staubschicht, an den reich geschnitzten Rahmen alter Porträts hingen Spinnweben. Missbilligend starrten die sizilianischen Vorfahren der Baronin auf Edward herab. Doch das störte ihn nicht sonderlich. Er kehrte ihnen den Rücken, trat an eines der hohen, schmalen Fenster mit den fadenscheinigen goldenen Satinvorhängen und betrachtete den fernen Ätna und dann das Amphitheater.

Perfekt. Ohne seinen Blick abzuwenden, fragte Edward: „Wo wohnt die Familie Chase?“

„Ah, die Familie mit den Töchtern!“, erwiderte der Makler. „Am anderen Ende des Marktplatzes, bei der Kathedrale. Abends sieht man sie oft spazieren gehen.“

Also nicht weit von hier entfernt. Als Edward die Augen schloss, glaubte er sie an seiner Seite zu spüren – seine mutwillige Muse. „Gut, ich miete den Palazzo“, verkündete er und blinzelte ins sizilianische Sonnenlicht.

Am nächsten Morgen entfernten die Dienstboten des Dukes die deprimierende Ahnengalerie der Baronin und die schlimmsten vergoldeten Möbel und ersetzten sie durch erlesene Antiquitäten aus der Averton-Sammlung. In sorgsam entstaubten Ecken standen Marmorstatuen und anmutige Amphoren.

Edwards Schlafzimmer ging zum Hof und der Straße dahinter hinaus. Im größeren Schlafgemach, offensichtlich von der Baronin benutzt, hingen Bettvorhänge von einem gigantischen Familienwappen herab. Aber er bevorzugte diesen kleineren Raum mit den weißgoldenen Möbeln auf einem abgewetzten blaurot gemusterten Teppich. Von hier aus konnte er die Ereignisse auf den Straßen der Stadt im Auge behalten. Und das Haus der Familie Chase.

„Alles in bester Ordnung“, murmelte er und beobachtete, wie die Lakaien die letzten der aus London nach Sizilien verschifften Antiquitäten in den Palazzo trugen. Die berühmte Alabastergöttin wurde neben dem Kamin im Schlafzimmer postiert und erweckte den Eindruck, sie würde mit ihrem Pfeil auf die Porzellanschäfer und – schäferinnen zielen, die das Sims zierten. Durch ihren hölzernen Sockel zog sich ein Riss – seit dem verhinderten Diebstahl etwas breiter.

Langsam strich Edward mit einer Fingerspitze über diese einzige Spur, die ihn an jene Nacht in der Galerie seines Londoner Hauses erinnerte. Schon oft hatte er Artemis’ kühle Leidenschaft mit Clios Wesen verglichen. Die Göttin des Mondes und der Jagd – niemals gestattete sie einem Sterblichen, ihr den Weg zu versperren, stets nahm sie sich, was sie wollte, was sie für ihr Recht hielt. Vor keiner Gefahr schreckte sie zurück.

Aber Artemis war unsterblich, das Lieblingskind des allmächtigen Zeus, der sie immer und überall beschützte. Und Clio war, trotz ihrer Kühnheit, nur allzu menschlich. Eines Tages würde sie in ihrem Leichtsinn zu weit gehen und ein schlimmes Unheil erleiden. Welch ein törichtes Mädchen …

Edward wandte sich von Artemis ab und betrachtete sich in einem Spiegel, der beinahe vom Boden bis zur Decke reichte. Was für einen seltsamen Anblick er bot, von vergoldeten Schnörkeln umrahmt … Das schulterlange rötlichblonde Haar war im Nacken zusammengebunden. Manchmal deutete sein Kammerdiener diskret an, es müsse geschnitten werden, wie es der Mode entsprach. Zu seinem Gehrock aus feiner schwarzer Wolle trug er ein weißes Krawattentuch, in dem eine Nadel mit einem Gemmenkopf der Medusa steckte. Seine stark ausgeprägten hohen Wangenknochen und das markante Kinn wiesen auf das Wikingererbe der Radcliffes hin.

Ja, er sah wie ein echter Radcliffe aus, der Erbe eines uralten Herzogtums. Aber seine schmale Nase wurde von einem schlecht verheilten Bruch entstellt, das Resultat einer Auseinandersetzung vor vielen Jahren, mit dem Mann, der jetzt Clios Schwager war.

Und die weiße Narbe an der Stirn war ein Geschenk der Muse selber, hervorgerufen von Artemis’ steinernem Ellbogen. Gedankenverloren berührte er das Wundmal – und spürte wieder das Feuer ihres Kusses.

Schon so lange begehrte er Clio Chase – ganz egal, was sie tat oder was er tat. Doch sie durfte seine Arbeit in Santa Lucia nicht behindern.

Er zog den Gehrock aus und warf ihn aufs Fußende des Betts. Dann krempelte er die Hemdsärmel hoch, wobei die Rubin- und Smaragdringe an seinen Fingern funkelten. Seine Unterarme, muskulös und von der Sonne gebräunt, bezeugten seine jahrelange Arbeit in Ausgrabungsstätten unter der südlichen Sonne. Diese Spuren einer Tätigkeit, die nicht zu einem Herzog passte, pflegte er unter gerüschten Manschetten zu verbergen. Was der berühmte, einsiedlerische „Duke der Habgier“ plante, durfte niemand erfahren. Auf dem Toilettentisch stand eine Kassette, die er jetzt aufsperrte. Sie enthielt Briefe und Papiere, Beutel mit Münzen. Unter dem falschen Boden befand sich ein Geheimfach, das Edward jetzt öffnete, um zwei Gegenstände herauszunehmen. Eine winzige Silberschale, leicht verbeult, der Verzierung zufolge griechischer Herkunft, die wahrscheinlich aus dem zweiten Jahrhundert vor Christi stammte. Zwischen einem Muster aus Ahornblättern und Bucheckern rankte sich ein griechischer Satz: „Dies gehört den Göttern“. Eine Warnung und ein Versprechen. Der zweite Gegenstand war ein grüngoldener Seidenstreifen, mit funkelnden grünen Glasperlen besetzt.

Sorgsam legte er die Seide neben die Schale. Diese beiden Dinge symbolisierten, was ihn nach Sizilien geführt hatte – wieder einmal an Clios Seite, obwohl er diese Sehnsucht so entschlossen bekämpfte.

Aber wenn es um ihn und Clio Chase ging, schien das Schicksal immer wieder andere Entscheidungen zu treffen.

3. KAPITEL

Ah, noch eine Einladung von Lady Riverton!“, verkündete Clios Vater am Frühstückstisch und schwenkte die geprägte Karte durch die Luft, bevor er sie zur restlichen Post legte.

„Schon wieder?“ Während Clio ihren Toast mit Butter bestrich, hörte sie kaum zu, in Gedanken bereits bei ihrem Bauernhaus und ihren Plänen für diesen Tag. Wie so oft am Morgen sah es als, als würde es regnen. Der Himmel war grau, und sie musste ihre Ausgrabungen vom Vortag abdecken, bevor sie sich mit Wasser füllen würden. „Erst letzte Woche waren wir in ihrem Palazzo, nicht wahr?“

„Diesmal ist es anders“, entgegnete Sir Walter. „Auf der Karte werden Amateurtheaterszenen erwähnt. Und Lady Riverton bietet ihren Gästen stets ein ausgezeichnetes Buffet an. Diese köstlichen Hummertörtchen auf der letzten Party …“

Lachend schüttelte Clio den Kopf. „Denkst du nur noch an deinen Magen, Vater? Aber wenn du willst, gehen wir hin.“

„Vielleicht darf ich bei den Theaterszenen mitwirken.“ Thalia schenkte sich noch etwas heiße Schokolade ein. „Wie gern würde ich meinen ‚Antigone‘-Text vor einem Publikum erproben! Ich bin mir nicht sicher, ob ich die einzelnen Wörter richtig betone. Im Amphitheater klingt das alles sehr gut. Allerdings fürchte ich, in einem geschlossenen Raum wäre es zu dramatisch.“

„Hast du jemanden für die Rolle des Hämon gefunden?“, fragte Clio.

„Nein, die Sizilianer sprechen zu schlecht Englisch, und den Engländern fehlt die nötige Leidenschaft. Keine Ahnung, was ich tun soll … Wäre eine Vorstellung auf Griechisch besser? Das scheint hier jeder zu beherrschen.“

„Sicher kann Lady Riverton dir helfen, Liebes“, meinte Sir Walter. „In dieser Gegend scheint sie jeden zu kennen.“

„Und sie macht sich furchtbar wichtig“, ergänzte Thalia. „Überall mischt sie sich ein. Niemals würde ich ihr erlauben, meinen Bühnenauftritt zu inszenieren. Aber ich werde sie besuchen und fragen, ob ich auf ihrer Party auftreten kann. Begleitest du mich, Clio?“

Besorgt schaute Clio aus dem Fenster. Der Himmel hatte sich inzwischen noch verdunkelt. „Ja, wenn du heute Nachmittag hingehst“, antwortete sie und trank hastig ihre Teetasse leer. „Am Vormittag muss ich etwas erledigen. Entschuldigst du mich, Vater?“

Sir Walter las eine weitere Einladung und nickte geistesabwesend.

Während Clio aus dem Frühstücksraum eilte, hörte sie ihre Schwester Cory quengeln: „Darf ich auch auf Lady Rivertons Party gehen? Bitte! Seit wir hier angekommen sind, war ich auf keiner einzigen Party. Ich bin fast fünfzehn.“

„Erst im Oktober“, betonte Thalia, „und du hast noch nicht debütiert. Sei froh! Da du keine gesellschaftlichen Pflichten erfüllen musst, kannst du machen, was du willst.“

An der Haustür vertauschte Clio ihre Schuhe mit festen Stiefeln. Dann ging sie an der Kathedrale vorbei zum Hauptplatz, wo die Händler gerade ihre Marktstände öffneten. Aus den geöffneten Türen der Bäckerei und der Konditorei wehten verlockende Düfte. Lachende, schwatzende Dienstmädchen holten Wasser am Brunnen. Das wuchtige geschnitzte Kirchentor war geschlossen, solange die Morgenmesse stattfand.

Noch war die Luft kühl. Doch es würde nicht lange dauern, bis sie sich erwärmte und die Gerüche des Markts intensivierte – nach salzigem Fisch, würzigen Kräutern, süßem Kuchen. Die Stadt würde zum gewohnten Leben erwachen, englische Touristen würden die Tempel besichtigen. Hier kümmerte man sich nicht um die Weltpolitik. König Ferdinand, der Sizilien regierte, lebte mit seiner jungen Gemahlin im fernen Neapel. Und der Zusammenbruch des sizilianischen Feudalsystems nach dem Rückzug der britischen Truppen spielte in Santa Lucia keine große Rolle. Noch nicht. Vorerst ging das Leben seinen üblichen Gang.

Marie, die Bäckersfrau, beugte sich aus dem Fenster und reichte Clio ein frisches Brötchen. „Heute sollten Sie daheimbleiben, Signorina. Bald wird es regnen.“

Lächelnd bedankte sich Clio. „Das geht nicht, ich habe zu tun.“

Wenig später eilte sie an Lady Rivertons stattlichem Palazzo vorbei. Die Fensterläden waren noch geschlossen. In absehbarer Zeit würden sie sich öffnen, und die Hausherrin würde alles beobachten, was in der Stadt geschah.

Clio besuchte die Partys der jungen Witwe nur notgedrungen, weil sie sich lieber ihren Studien widmete, statt höfliche Konversation zu machen oder dem Klavierspiel unbegabter Mädchen zu lauschen. Aber einige Gäste interessierten sich für Altertümer, und so kam es manchmal zu interessanten Diskussionen.

Am Stadtrand erhob sich der Palazzo der Baronin Picini. Bei der Ankunft der Familie Chase in Santa Lucia hatte er leer gestanden, denn die Besitzerin hielt sich in Neapel auf, am Hof der neuen Königin. Aber an diesem Tag war das Hoftor geöffnet, und Clio beobachtete zahlreiche Dienstboten, die Truhen und Möbel ins Haus schleppten.

Noch mehr Gäste für Lady Riverton, dachte sie. Wer mochte in dem muffigen alten Gemäuer wohnen? Doch sie hatte etwas Besseres zu tun, als ihre Neugier zu stillen, und so folgte sie dem steilen Pfad ins Tal hinunter.

Während die ersten Regentropfen herabfielen, erreichte sie die Ruine des Bauernhauses. Das Kellergeschoss roch nach feuchter Erde, als sie hinabstieg. Hier hatte sie Tonkrüge und – amphoren ausgegraben. In diesen Gefäßen waren vor all den Jahrhunderten Wein und Öl verwahrt worden. Clio schüttelte eine geteerte Plane aus, spannte sie über die Kelleröffnung und band sie an Mauervorsprüngen fest.

Nun würden sich ihre Ausgrabungsschächte nicht mit Regenwasser füllen. Allzu viel hatte sie bisher nicht gefunden, nur die Krüge und die Amphoren, einen kleinen Terrakotta-Altar und einen verbeulten Kelch. Doch sie hoffte, Münzen zu entdecken, edle Gefäße, Geschirr, vielleicht sogar Schmuckstücke. Solche Schätze wollte sie ihrem Vater und seinen Freunden zeigen und ihnen beweisen, sie hätte ihre Zeit keineswegs in einer unbedeutenden Ruine verschwendet.

Jetzt begann es stärker zu regnen. Clio setzte sich auf eine Decke aus Segeltuch und lauschte den Tropfen, die über ihrem Kopf auf die Teerplane prasselten. Ein seltsam tröstliches Geräusch, dachte sie und malte sich aus, wie die Felder und Obstgärten bewässert wurden. Gewiss hatten die Menschen, die in alter Zeit hier lebten, der gütigen Demeter, der Göttin des Erdsegens, für Regengüsse mit Opfergaben gedankt und auf eine reiche Ernte gehofft.

Seit der Kindheit stellte sie sich das Leben in jener fernen Vergangenheit vor. In ihrer Familie hatte sie der Geschichte des klassischen Altertums kaum entrinnen können. Ihr Großvater hatte eine weltweit anerkannte Abhandlung über Archäologie geschrieben, der Vater diese wissenschaftlichen Neigungen geerbt. Und ihre Mutter war die Tochter eines französischen Comtes gewesen, der eine berühmte hellenistische Silbersammlung besessen hatte. Die Eltern nannten ihre Töchter nach den Musen. Immer wieder hörten die Mädchen all die Geschichten über alte Götter, Schlachten und Liebespaare.

Für Clio war das Altertum so real wie das alltägliche Leben in den Londoner Straßen – sogar noch vitaler und wahrhaftiger. Jene Geschichten nahm sie viel ernster als ihre Schwestern, was sie des Öfteren in Schwierigkeiten brachte – bis die Liliendiebin ein schreckliches Ende fand.

„Wie konntest du nur?“, hatte Calliope entsetzt gefragt, als sich herausstellte, dass Clio die Liliendiebin war.

Eindringlich hatte sie beteuert, jene Taten nur begangen zu haben, um kostbare Altertümer vor unrechtmäßigen Besitzern zu retten. Gemeinsam mit ihrem Freund Marco, der diese Kunstwerke nach Italien zurückgebracht hatte …

Niemals hatte sie ihre Schwester verletzen wollen. Von ganzem Herzen liebte sie ihre temperamentvolle, exzentrische Familie. Doch sie fühlte sich oft allein, sogar inmitten ihrer Angehörigen.

Nach Cals Hochzeit hatte sie sich mit der Schwester versöhnt. Und jetzt, in Sizilien, erholte sie sich allmählich von jenen beklemmenden Ereignissen.

Natürlich konnte sie nicht alles vergessen. Nachts, wenn sie ins Bett sank, von ihrer Arbeit erschöpft, wurde sie von qualvollen Träumen heimgesucht, spürte wieder die Lippen des Dukes of Averton auf ihren, seinen warmen Atem, der ihre Haut streifte, bis sie ihn mit aller Kraft von sich stieß, seinen Blick, der in die Tiefen ihrer Seele zu dringen schien …

Über ihrem Kopf krachte ein Donnerschlag, so laut wie ein Kanonenschuss, und Clio zuckte verwirrt zusammen. In Erinnerungen versunken, hatte sie beinahe vergessen, wo sie sich befand.

Sie schaute zur Teerplane hinauf, die sie vor dem heftigen Regen schützte, und wartete, bis sich das Donnergrollen entfernte. Dann setzte sie ihre Brille auf, ergriff den kleinen Spaten und begann in ihrer neuesten Ausgrabung zu arbeiten, nahe den Resten der steinernen Treppe, die einst zum Erdgeschoss des Hauses hinaufgeführt hatte.

Nach einer Weile bemerkte sie etwas Seltsames, eine kleine Grube, die ihr zuvor nicht aufgefallen war. Hatte jemand anderer an dieser Stelle gegraben? Sie schob ihre Brille zum Haaransatz hinauf und beugte sich hinab, um ihre Entdeckung genauer zu betrachten. Und da hörte sie ein Geräusch, das ihr den Atem nahm.

Hufschläge.

Sofort beschleunigte sich Clios Puls. Über ihren Rücken rann ein Schauer. So war ihr nicht mehr zumute gewesen, seit die Liliendiebin zu existieren aufgehört hatte.

Wenn sie in ihrer Ausgrabungsstätte arbeitete, kam normalerweise niemand hierher. Zu abgeschieden lag das alte Bauerngehöft, und die Touristen fanden es unbedeutend. Natürlich war sie vor Banditen und Dieben gewarnt worden. Doch sie hatte noch nie einen gesehen.

Sorgsam legte sie den Spaten beiseite und tastete unter ihre Röcke. Oberhalb eines Stiefels war eine Scheide befestigt, aus der sie ihren Dolch zog – keine kunstvoll verzierte Antiquität, sondern ein scharf geschliffenes, robustes Messer. Das hatte ihr der Ehemann der sizilianischen Köchin gegeben, die für die Familie Chase arbeitete. Die beiden meinten, auf ihren einsamen Wanderungen würde sie eine Waffe brauchen. Anfangs waren die Dienstboten entsetzt gewesen, weil Clio sich ganz allein in die Berge wagte. Sizilianische Mädchen aus gehobenen Kreisen wurden noch strenger bewacht als Engländerinnen. Aber Clio hatte auf ihrer Absicht bestanden, und so resignierte das Ehepaar.

Sie wusste, wie man einen Dolch benutzte. Hoffentlich würde sie ihre Fähigkeiten nicht beweisen müssen.

Die Hufschläge näherten sich. Vermutlich würde ein Tourist an der Ruine des Bauernhauses vorbeireiten, auf dem Weg zu bedeutsameren Sehenswürdigkeiten. Trotzdem – sie musste vorsichtig sein. Lautlos schlich sie einige der Steinstufen hinauf, stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte durch eine Ritze am Rand der Teerplane.

Inzwischen regnete es nicht mehr. Auf den Blumen und den Blättern der Bäume glitzerten Wassertropfen. Der Himmel war immer noch grau, aber zwischen den Wolken schimmerten ein paar milchige Sonnenstrahlen. Das Pferd sprengte auf der alten, von Unkraut überwucherten Straße hinter dem Bauernhaus heran.

Den Dolch in einer Hand, schob Clio die Plane ein wenig zur Seite. „Oh Gott“, flüsterte sie. War sie auf dem Kellerboden eingeschlafen? Wurde sie von einem Albtraum gepeinigt?

Ein glänzender Rappe – vielleicht ähnlich einem der Tiere, die Hades’ Streitwagen gezogen hatten, als er mit der unglücklichen Persephone in die Unterwelt gefahren war – galoppierte auf die Ruine zu. Und im Sattel saß der Mann, der viele Hundert Meilen entfernt sein müsste. Zumindest hatte sie das gehofft. Averton. Das lange goldene Wikingerhaar flatterte hinter ihm her, zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. In seinem schwarzen Reitanzug schien er mit dem Hengst zu verschmelzen.

Wie ein Zentaur. Oder wie der gebieterische Hades, ein gefährlicher, attraktiver Lord, der sich nahm, was er wollte, ohne Rücksicht auf die Folgen.

Am Rand der Ausgrabung zügelte er sein Pferd, und Clio sah sein markantes Gesicht, während er sich umschaute.

Heller Zorn stieg in ihr auf. Wie konnte er es wagen, hier zu erscheinen – nach allem, was in England geschehen war?

Sie zerrte die Teerplane beiseite, eilte die restlichen alten Stufen hinauf, den Dolch in der Hand.

„Was machen Sie hier?“, rief sie. „Hier befinden Sie sich auf privatem Grund und Boden. Und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sofort verschwinden würden!“

Ausdruckslos erwiderte er ihren Blick. Nur selten änderte sich seine kühle Miene, zeigte höchstens arrogante Verachtung. Nur ein paar Mal hatte sie eine wilde, furchterregende Leidenschaft in seinem Gesicht gelesen.

Jetzt hob er die Brauen, nur ein wenig, und sie sah eine weiße Narbe auf seiner Stirn.

„Oh, schützen Sie seit Neuestem privates Eigentum, Clio Chase?“, fragte er spöttisch. „Wie faszinierend …“

„Was wollen Sie?“ Clio umklammerte den Griff des Dolchs noch fester und bekämpfte vehement den Impuls, die Flucht zu ergreifen.

„Nun, ich möchte mit Ihnen sprechen“, erklärte er in sanftem Ton. „Das ist alles, ich schwöre es.“

„Also gut, reden Sie.“

Rastlos scharrte der Rappen mit den Hufen, und Avertons schwarz behandschuhte Finger umfassten die Zügel etwas fester. „Wenn ich absteige – werden Sie mich mit dieser beängstigenden Waffe erstechen?“

Ein paar Sekunden lang starrte sie ihn an und spürte die beklemmende Spannung, die in der Luft lag. Nur ganz selten begegnete sie einem Menschen, der einen genauso starken Willen besaß wie sie selber. Aber wie sie aufgrund früherer Begegnungen wusste, war der Duke ein ebenbürtiger Widersacher. Unerbittlich würde er ihr folgen, wenn sie davonrannte.

Und so nickte sie. „Einverstanden. Aber bleiben Sie, wo Sie sind. Halten Sie sich fern von meinem Haus.“

Ihr Haus?“, fragte er sarkastisch. Dann schwang er sich aus dem Sattel und hielt sein Pferd, das im Klee zu grasen begann, am Zügel fest. „Darf ich hier stehen bleiben?“

Wieder nickte sie. „Was wollen Sie mit mir besprechen? Offenbar ist es wichtig, nachdem Sie den weiten Weg auf sich genommen haben.“

„Oh ja.“ Zu ihrer Verblüffung verstummte er und musterte sie, als hätte er sie noch nie im Leben gesehen – als wäre sie ein sonderbares Geschöpf, ein Einhorn oder ein Phönix.

„Hat jemand Ihre kostbare Alabastergöttin gestohlen, Sir? Ich war es nicht. Das gelobe ich. Seit Wochen halte ich mich in Sizilien auf. Oder vielleicht war es …“

„Clio“, unterbrach er sie, leise und herrisch zugleich, „ich kam hierher, weil Sie in Gefahr schweben.“

4. KAPITEL

Was Clio da hörte, konnte sie kaum fassen. War es vielleicht doch ein Traum? Gewiss, jede Minute, die sie mit Averton verbracht hatte, war bizarr gewesen. Aber diese Begegnung …

„Sagten Sie soeben, ich sei in Gefahr?“, fragte sie und forschte in seinem Gesicht nach Anzeichen, die auf einen Scherz oder eine raffinierte List hinweisen würden.

Doch sie sah nichts dergleichen. Seine ausdrucklose Miene änderte sich nicht. Nur in seinem Kinn zuckte ein winziger Muskel.

Krampfhaft rang sie nach Atem. Das Gewitter hatte eine schwüle, stickige Atmosphäre hinterlassen. Aus dem grauen Himmel schienen unsichtbare Schnüre herabzufallen, die sie an den Duke fesselten – als würden missgünstige Götter die Sterblichen in einen unheilvollen Bann ziehen …

Clio schüttelte den Kopf und verdrängte das düstere Fantasiebild. Sicher lag es nur an diesem Ort, mit dem sich so viele Mythen verbanden – und an der Gegenwart Avertons, den sie hier am allerwenigsten erwartet hatte. Wie üblich spürte sie seine verwirrende Ausstrahlung. Darauf war sie nicht vorbereitet gewesen.

Als wäre sie jemals auf seine Nähe vorbereitet … Wann immer sie ihn sah, wirkte er auf sie wie ein elementares Naturereignis – schön, bedrohlich, überwältigend.

Sie trat einen Schritt zurück. „Außer Ihnen sehe ich hier keine Gefahr. Also hätten Sie sich die Mühe dieser Warnung sparen können.“

Fast schmerzlich verzog er die Lippen, was er sofort hinter einem spöttischen Lächeln verbarg. „Habe ich Ihnen in Yorkshire nicht versichert, ich würde Sie niemals gefährden? Ich schickte Sie und Ihren Freund – Marco, nicht wahr? – ohne ein allzu böses Wort davon, obwohl Sie mich bestehlen wollten. Glauben Sie mir, Clio, ich bin der Letzte, den Sie fürchten müssen.“

Voller Unbehagen erinnerte sie sich an jene Nacht im Acropolis House. „Tatsächlich?“

„Oh ja. Wenn Sie es erlauben, möchte ich Ihr Freund sein.“

„Mein Freund?“ Beinahe wäre sie in freudloses Gelächter ausgebrochen. „Deshalb sind Sie hier? Um mir Ihre Freundschaft anzubieten? Und eine rätselhafte Warnung vor irgendwelchen Gefahren? In Wirklichkeit wollen Sie sicher feststellen, was mein Vater in seiner alten griechischen Villa gefunden hat – und was Sie Ihrer berühmten Sammlung hinzufügen könnten, die Sie vor aller Welt verstecken.“

„Clio!“ Endlich verlor er seine Selbstkontrolle, ließ die Zügel fallen und ballte die Hände.

Bei diesem Anblick wurde sie von einer seltsamen Genugtuung erfüllt.

„Noch nie kannte ich eine so halsstarrige Frau wie Sie“, seufzte er. „Warum hören Sie nicht auf mich? Nur ein einziges Mal in Ihrem Leben?“

„Soll ich etwa nach der Pfeife des erlauchten Dukes tanzen, wie so viele Leute? Tut mir leid, Euer Gnaden, ich bin zu beschäftigt, um noch länger mit Ihnen zu diskutieren.“ Sie wollte an ihm vorbeieilen, ohne zu wissen, wohin. Nur weg von ihm … Vor diesen atemberaubenden magischen Fesseln musste sie fliehen.

Aber er packte ihre Handgelenke. Verstört ließ sie den Dolch fallen, der vor Avertons Füßen landete. Er achtete nicht darauf, sah nur sie.

Während sie seinen Blick erwiderte, fand sie die sonderbaren Fesseln immer unausweichlicher. Sie konnte kaum atmen, versuchte sich von seinem Griff zu befreien. Dabei berührten ihre Finger seine warme Haut unter der Manschette eines Hemdsärmels, und sie spürte seinen Puls, das Rauschen seines Lebensbluts, und seine Herzschläge schienen mit ihren zu verschmelzen.

„Verraten Sir mir, was Sie bezwecken“, flüsterte sie. „Warum sind Sie zu mir gekommen?“

„Werden Sie auf mich hören?“, fragte er heiser. „Ausnahmsweise?“

„Nun, das hängt davon ab, was Sie zu sagen haben.“

„Natürlich.“ Er lachte und ließ ihre Handgelenke los. „Immer stellen Sie Bedingungen, dauernd versuchen Sie Ihren Willen durchzusetzen.“

„Was das betrifft, sind die Musen genauso verwöhnt wie Herzöge.“ Unwillkürlich hob sie eine Hand, berührte die weiße Narbe auf seiner Stirn und merkte, wie er sich anspannte.

War auch er in diesen eigenartigen Bann geraten? Sie strich über seine Schläfe, die schiefe Nase, die Cameron de Vere gebrochen hatte. An ihrem Finger blieb eine seiner losen Haarsträhnen hängen, die dem Band im Nacken entronnen waren. Ihre Hand glitt zu seinen Lippen hinab, und sie spürte seinen Atem. So nahe …

„Clio“, stöhnte er, umfing ihre Taille und presste sie an sich.

Obwohl sie fast so groß war wie er, fühlte sie sich in seinen starken Armen klein und zerbrechlich. Und dann umschlang sie seinen Nacken, nahm ihn ebenso gefangen wie er sie.

Ihre Lippen fanden sich. An diesem Kuss war nichts scheu oder zaudernd. Heiße Leidenschaft vereinte Clio mit Averton, das verzweifelte Bedürfnis, sich zwischen den Schatten der Unterwelt zu verlieren, zwischen nebelhaften Illusionen, obwohl sie wusste, es würde nichts Gutes dabei herauskommen.

Trotzdem vermochte sie sich nicht loszureißen. Die Finger in sein Haar geschoben, schmiegte sie sich noch fester an ihn, genoss die Liebkosung seiner Hände, die ihren Rücken streichelten.

„Clio!“ Plötzlich umfasste er ihre Schultern und schob sie von sich. „Was tue ich, Clio? Ich kam nicht hierher, um …“

Da brach der Bann, so wie die unsichtbaren Fesseln zerrissen. Immer noch betört von seinem Geschmack und seinem Geruch, taumelte sie zurück.

Abrupt wandte sie den Blick von ihm ab. Mit bebenden Fingern berührte sie ihren Mund. Jetzt musste sie endlich flüchten. „Nein, Averton, Sie sind gekommen, um mich zu warnen. Gut, das habe ich verstanden.“ Sie hob ihren Dolch auf. Dabei fiel die Brille zu Boden, die sie nach oben ins Haar gestreift hatte. Ohne es zu bemerken stürmte sie zu dem schmalen Pfad, dem kein Pferd folgen konnte. „Närrin!“, wisperte sie atemlos. „Elende Närrin!“

„Verdammt!“, fluchte Edward wütend.

So war es nicht geplant gewesen. Ganz behutsam hatte er Clio auf seine Anwesenheit in Sizilien hinweisen und ihr versichern wollen, er würde ihr keinesfalls schaden. Danach hätte er ihr seine Absichten erklärt, zumindest teilweise. Er hatte nicht erwartet, sie heute hier draußen anzutreffen. Jeden anderen Altertumsforscher hätte der Regen an einer so mühsamen Arbeit gehindert.

Nun, er hätte es wissen müssen. Ein bisschen Donner würde Clio Chase nicht entmutigen. Er hatte geplant, die Ausgrabung zu erforschen, während sich niemand anderer hier aufhielt, und Informationen über seinen Gegner zu sammeln.

Und dann hatte sie ihm gegenübergestanden – voller Zorn, einen Dolch in der Hand, ein wildes Funkeln in den frühlingsgrünen Augen. „Sie!“, hatte sie gerufen, als wäre ein Dämon vor ihr aufgetaucht. Sein Entschluss, sich von ihr fernzuhalten, hatte sich in nichts aufgelöst, verdrängt von jener leidenschaftlichen Sehnsucht, die ihn erfasste, wann immer er Clio sah. Genauso wenig, wie er zu atmen aufhören konnte, vermochte er ihr zu widerstehen. Er hatte sich so lange wie möglich beherrscht. Doch als sie an ihm vorbeilaufen, seine Warnung ignorieren wollte, da war es um ihn geschehen. Er hatte sie einfach festhalten müssen.

Wütend schlug er mit der Faust gegen einen Baumstamm, spürte die Holzsplitter nicht, die durch seinen Handschuh drangen, nahm nichts wahr außer Clios Parfüm, den Duft weißer Lilien, der immer noch an seiner Haut haftete.

Warum – warum nur hatte er sie geküsst? Warum hatte sie den Kuss erwidert? Dass sie ihn mit der Alabastergöttin bewusstlos geschlagen hatte, war ihm viel verständlicher erschienen. Er hatte es verdient. Aber diesmal war er nur um ihre Sicherheit besorgt gewesen, und er hatte ihr klarmachen wollen, sie dürfe ihm nicht im Weg stehen.

Nein, das war nicht alles, was er erstrebte. Er wünschte, sie würde in seinen Armen liegen, seinem Verlangen mit gleicher Glut begegnen, ihre Beine um seine Hüften schlingen und seinen Namen stöhnen, den Kopf mit den herrlichen kastanienroten Locken in den Nacken werfen.

Aber die Küsse würden nichts ändern.

Edward ging zu seinem Pferd. Als er die Zügel ergriff, sah er Clios Brille am Boden liegen. Die Gläser glänzten im Sonnenschein. Die junge Dame musste sie bei ihrer überstürzten Flucht verloren haben. Vorsichtig hob er sie auf und hielt sie ins Licht. Die Linsen waren stark, allerdings nicht übermäßig. Nur geringfügig vergrößerten sie die Ritzen in den Kalksteinwänden.

Also brauchte sie die Brille für ihre archäologische Arbeit, war aber ohne dieses Hilfsmittel nicht sehbehindert. Vielleicht diente es ihr auch als eine Art Schutz, hinter dem sie sich versteckte.

Sorgsam verstaute er die Brille in einer Innentasche seines Reitjacketts und schwang sich in den Sattel.

Bald würde Clio die Brille wieder brauchen. Sehr bald.

5. KAPITEL

„… doch auf tat flugs sich weite Erde in der nysischen Flur, und es stürmet heraus Poydegmon, mit den unsterblichen Rossen, der Sohn des erhabenen Kronos. Raubend die Sträubende aber entführt auf goldenem Wagen er sie …“

Stöhnend schloss Clio das Buch und legte es beiseite. Vielleicht war dieser Teil der „Homerischen Hymnen“, die Geschichte von Hades und Persephone, keine geeignete Lektüre nach diesem Vormittag.

Sie strich über ihre schmerzende Stirn. Auf gar nichts konnte sie sich konzentrieren, nicht einmal auf eine Modezeitschrift.

Immer wieder kehrten ihre Gedanken zu dem alten Bauernhaus zurück, zu der Begegnung mit Averton. So unversehens, als wäre er auf einem „unsterblichen Ross“ aus dem Innern der Erde aufgetaucht …

Sie war zurückgekehrt, um ihre Brille zu suchen. Hinter einem Felsbrocken verborgen, hatte sie zu der Ruine gespäht, um sich zu vergewissern, dass der Duke davongeritten war. Glücklicherweise sah sie ihn nirgendwo – keine Spur von ihm. Hatte sie sich seine Ankunft nur eingebildet, die Umarmung, den Kuss? War sie überarbeitet und erschöpft? Hatte ihr die Fantasie deshalb einen Streich gespielt?

Aber als sie sich dem Bauernhaus näherte, entdeckte sie Hufabdrücke in der feuchten Erde. Und sie suchte vergeblich nach ihrer Brille. Hastig hatte sie die Teerplane und die Werkzeuge weggeräumt und war nach Hause zurückgekehrt, um sich ihren Studien zu widmen. Zumindest hatte sie das erhofft.

Was war nur in sie gefahren? Averton zu berühren, zu küssen, zu wünschen, die Umarmung möge niemals enden, obwohl ihre Vernunft ihr so dringend empfahl, ihm aus dem Weg zu gehen? Dem Mann, den man einen verwerflichen Wüstling nannte, der nur seinen eigenen Willen gelten ließ und seine elitäre Position schamlos ausnutzte? Und der, noch schlimmer, all die kostbaren Altertümer hortete und sie vor den Augen anderer verbarg?

Trotzdem hatte sie ihn geküsst und noch viel mehr ersehnt.

Ihr Kopf sank auf die polierte Schreibtischplatte. Könnte sie diese Insel doch verlassen, die sie so sehr liebte, die bis zu diesem Tag ein Refugium gewesen war … Gewiss, sie könnte nach England zurückkehren und sehen, wie es ihren jüngeren Schwestern in Chase Lodge ging …

Nein. Die Chase-Musen waren keine Feiglinge. Wenn ich auch nicht die Kühnheit Thalias besitze, die in eiskalten Seen schwimmt und die höchsten Berge erklimmt, oder die Anmut Calliopes – ich bin stark und muss mich behaupten, dachte Clio. Sogar in Avertons Anwesenheit. Wer würde die Geheimnisse des alten Bauernhauses ergründen, wenn sie abreiste?

Wahrscheinlich der Duke. An diesem Morgen hatte er sich sichtlich für ihre Ausgrabungsstätte interessiert, bevor sie aus dem Keller geeilt war. Und sie durfte ihm nicht erlauben, die Ruine zu erforschen.

Sie stand vom Schreibtisch auf, trat ans Fenster und straffte die schmerzenden Schultern. Seufzend betrachtete sie den kleinen Garten an der Straße, die um die Kirche herum zum Marktplatz führte. Um diese Tageszeit, am frühen Nachmittag, war es still in Santa Lucia, die Geschäfte hatten während der Siesta geschlossen. Außer ihrem Vater, Lady Rushworth und Cory, die im Schatten des Mandelbaums saßen und lasen, ließ sich niemand blicken.

Nur ein paar Sekunden lang überlegte Clio, ob auch sie sich ausruhen, unter die Brokatdecke auf der Chaiselongue in ihrem Zimmer kriechen und den Duke im Schlaf vergessen sollte … Nein, es war unmöglich. Zweifellos würde er in fiebrigen Träumen erscheinen, so wie immer.

Doch sie konnte auch nicht mehr studieren. Dafür war sie zu rastlos, zu zerstreut.

Als es an der Tür klopfte, drehte sie sich um. „Herein!“, rief sie, dankbar für die Ablenkung.

Thalia betrat die Bibliothek. Inzwischen hatte sie ihre klassische Antigone-Robe und den Schleier mit einem stilvollen rosaweiß gepunkteten Musselinkleid und einem blauen Spenzer vertauscht. Unter ihrem Arm steckte ein Strohhut mit rosa Bändern. Mit ihren hochgesteckten, von einem rosa Band umwundenen Locken, den großen blauen Augen und dem hellen Teint glich sie einer perfekten Porzellanschäferin.

Von ihrer hübschen, unschuldigen Fassade ließen sich viele Männer täuschen – und entdeckten bestürzt eine kämpferische Seele. Immer wieder erklärte Thalia, sie sei zu beschäftigt, um zu heiraten, und Clio glaubte ihr. Wo würde die Schwester einen Mann finden, der zu ihr passte – machtvoll und erfinderisch wie Zeus, schön wie Apollo, stark wie Herkules?

„Arbeitest du?“, fragte Thalia und eilte zum Schreibtisch. Neugierig blätterte sie in einigen Papieren und inspizierte die Bücher.

„Das habe ich versucht“, antwortete Clio, ans Fensterbrett gelehnt. „Aber aus irgendwelchen Gründen kann ich mich nicht konzentrieren.“

„Ich auch nicht. Vermutlich liegt es an der Hitze. Rosa sagt, der Sommer beginnt. Bald wird die Sonne alles verbrennen.“

„Hoffentlich nicht! Vorher muss ich meine Nachforschungen im Keller des Bauernhauses beenden.“

„Und ich möchte in meinem Drama auftreten. Wenn es zu heiß ist, will niemand auf den Steinbänken des Amphitheaters sitzen.“

„Niemand außer all deinen jungen Bewunderern in Santa Lucia! Die würden dir stundenlang zuschauen. Natürlich sind sie alle unsterblich in dich verliebt.“

Verächtlich winkte Thalia ab und legte das Buch, in dem sie ein paar Zeilen gelesen hatte, auf den Schreibtisch zurück. „Eine Stadt voller Engländer und Italiener! Und mit keinem einzigen Mann kann man interessante Gespräche führen. Die sitzen nur da und starren mich an – wie lauter Idioten.“

„Und sie schicken dir Blumen und bringen dir Ständchen unter deinem Fenster“, warf Clio lächelnd ein.

„Für diesen Unsinn habe ich keine Zeit.“

„Eines Tages wirst du dir Zeit dafür nehmen müssen. So wie wir alle.“

„Was meinst du?“

„Nachdem Calliope geheiratet hat, erwartet man, dass wir beide die Nächsten sind.“

Entschlossen schüttelte Thalia den Kopf. „Unserem Vater ist es gleichgültig, ob wir heiraten oder nicht. Mit seiner Villa und den Mosaiken hat er genug zu tun. Also wird er sich nicht um solche belanglosen Dinge kümmern.“

Clio schaute wieder in den Garten hinab, wo ihr Vater und Lady Rushworth einträchtig beieinandersaßen. Als Ihre Ladyschaft ihm eine Stelle in ihrem Buch zeigte, ergriff er ihre behandschuhte Hand und hauchte einen Kuss darauf. Da errötete sie, eine Witwe mit zwei erwachsenen Söhnen und Enkelkindern.

Seit dem Tod der Mutter hatte Clio ihren Vater nicht mehr so glücklich gesehen. „Vielleicht wird das nächste Mitglied der Familie Chase, das vor den Traualtar tritt, keine Muse sein.“

Thalia trat an ihre Seite und beobachtete die Szene unter dem Mandelbaum. „Meinst du … Vater wird Lady Rushworth heiraten?“

„Möglicherweise.“

„Aber sie sind nur befreundet!“

„Falls sie dennoch heiraten, will Vater in der ersten Zeit bestimmt nicht zu viele Musen am Hals haben. Und da du die Schönste von uns allen bist, wirst du als Nächste heiraten.“

Die Stirn gerunzelt, wandte Thalia sich vom Fenster ab. „Ich? Wie ein Bonbon sehe ich aus – und du gleichst einer Göttin. Zweifellos wirst du das Herz eines interessanten, starken, klugen Mannes gewinnen und …“ Ihre Stimme erstarb, und sie senkte den Kopf.

Besorgt musterte Clio ihre Schwester, die nur selten bedrückt wirkte und meistens vor Selbstvertrauen strotzte. „Stimmt etwas nicht, Liebes?“, fragte sie und ergriff Thalias Hand. „Ist etwas geschehen?“

Thalia hob das Kinn. Obwohl sie lächelte, erschien ein seltsamer Glanz in ihren hellblauen Augen. „Natürlich nicht, Clio. Was könnte denn passieren? Ich will nur nichts von einer Heirat hören.“

„Niemals würde Vater dich zu irgendetwas zwingen …“

„Keine Bange, eines Tages werde ich heiraten – wenn ich jemanden treffe, der so gut zu mir passt wir Cameron zu Calliope.“ Besänftigend drückte Thalia die Hand ihrer Schwester und schlenderte zum Schreibtisch zurück, wo sie einen Brief ergriff. „Wie ich sehe, hast du heute eine Nachricht von ihr erhalten.“

„Ja, ich dachte, nach dem Dinner könnten wir alle ihre Neuigkeiten lesen.“

„Was meinst du, wo die beiden jetzt sind? Auf Capri? In der Toskana? In Venedig?“

„Eher auf der Rückreise nach England. Hoffentlich erwarten sie uns, wenn wir selber heimkehren.“

„Mit einem kleinen Chase-de Vere unter Calliopes Herzen …“ Thalia legte den Brief auf den Tisch zurück. „Vermisst du sie?“

„Ja, gewiss.“ Clio entsann sich, wie sie mit Cal am Ufer eines Flusses in Yorkshire gesessen und die Schwester sie beschworen hatte, ihr in Zukunft alles zu erzählen. Sie hatte versprochen, keine Geheimnisse mehr zu hüten und die Aktivitäten der Liliendiebin aufzugeben. „Niemals waren wir alle so lange voneinander getrennt. Fehlt sie dir auch?“

„Sogar sehr. Aber ich dachte, für dich wäre es noch schlimmer, weil ihr euch immer so nahegestanden habt.“

„Ja. Ich habe jedoch immer noch dich. Und dabei wird es bleiben, wenn wir Altjungfernmusen werden.“

Darüber musste Thalia lachen, und die Melancholie, unter der sie zu leiden schien, verflog. „Was für formidable alte Tanten werden Cals Kinder beglücken! Ich unterrichte sie in Musik und Literatur und bringe ihnen bei, wie man mit Pfeil und Bogen schießt. Von dir lernen sie schwimmen und wie man in einer Tonscherbe die Geschichte einer ganzen Ära liest.“

Auch Clio lachte. „Und wie man miserabel näht?“

„Das auch. Aber da das erste Kind noch gar nicht auf der Welt ist, müssen wir uns vorerst nicht damit befassen … Oh!“

„Was ist los?“

„Beinahe hätte ich vergessen, warum ich zu dir gekommen bin. Ich möchte Lady Riverton besuchen, und du hast versprochen, mich zu begleiten.“

Unbehaglich biss Clio auf die Lippe. Die verwitwete Lady Riverton war die selbst ernannte gesellschaftliche Anführerin der englischen Gemeinde von Santa Lucia, die sich – wie die Chases – leidenschaftlich für das Altertum interessierte. Viscount Riverton hatte eine bemerkenswerte Sammlung klassischer Altertümer besessen, insbesondere griechische Münzen. Während seine Witwe behauptete, seine Forschungsarbeit fortzusetzen, schien sie sich nur für Partys, Klatschgeschichten und Hüte zu interessieren. Weil sie so viele Hüte ihr Eigen nannte, dachte Clio manchmal, ein vielköpfiger Zerberus müsste ihre Tür bewachen, der all die Hüte auf einmal tragen könnte.

Aber sie musste ihr Wort halten. „Gut, ich ziehe mich nur rasch um“, erklärte sie und zeigte auf ihr altes braunes Musselinkleid mit dem staubigen Saum.

„Setz einfach nur einen eleganten Hut auf“, riet ihr Thalia. „Alles andere wird sie gar nicht bemerken.“ Lächelnd stülpte sie Clio ihren eigenen Hut auf den Kopf, zupfte an den rosa Bändern und sang: „Oh, là, là! Sind die Chase-Schwestern nicht schrecklich à la mode? Braun und rosa, Clio, der letzte Schrei in Paris … Wo ist eigentlich deine Brille?“

6. KAPITEL

Lady Rivertons Palazzo war der großartigste in der Stadt, wenn er auch nicht an einer so spektakulären Stelle emporragte wie das weitläufige Domizil der Baronin Picini. Vor ihrem Einzug hatte die Witwe das Gebäude streichen und mit neuem Stuck versehen lassen. Strahlend weiß schimmerte es in der Sonne. Clio und Thalia betraten den Garten durch ein blank poliertes schwarzes Schmiedeeisentor und hörten den restaurierten Brunnen plätschern.

„Allzu lange werden wir nicht hierbleiben“, bemerkte Clio. Ihre Schwester hatte den Türklopfer betätigt, und sie warteten, bis man sie einlassen würde.

„Natürlich nicht“, stimmte Thalia zu und glättete ihre rosa Glacéhandschuhe. „Nicht einmal eine Stunde würden wir ertragen, ohne zu schreien.“

Der Butler öffnete ihnen. Wie immer, wenn Clio Ihre Ladyschaft besuchte, glaubte sie, nach England zurückzukehren.

Im Gegensatz zum gemieteten, mit komfortablen, aber etwas schäbigen Möbeln eingerichteten Haus der Chases war der Palazzo mit exquisiten Möbeln aus glänzendem dunklem Holz ausgestattet. Zwischen Sesseln, Sofas und Hockern, mit blauweiß gestreiftem Satin bezogen, prangten verschiedene Stücke aus Lady Rivertons Sammlung – Vasen, antike Truhen, Fragmente von Statuen und Vitrinen, in denen die antiken Münzen ihres verstorbenen Gatten ausgestellt waren.

Die Hausherrin saß in einem Sessel, der einem Thron glich, hinter einem mit Porzellan und Silber gedeckten Teetisch. Darauf standen Platten mit winzigen Sandwiches und glasierten Kuchen. Das zierliche Spitzenhäubchen auf ihrem hellbraunen Haar passte zum Fichu, das den Ausschnitt des lindgrünen Musselinkleids schmückte. An ihren Ohren baumelten antike Gemmen.

In einer anderen Lebensphase wäre Clio versucht gewesen, diese Gemmen zu „befreien“. Aber sie hatte Calliope ihr Wort gegeben. Und so sagte sie nur, nachdem sie Ihre Ladyschaft begrüßt hatte: „Was für zauberhafte Ohrringe …“

Lady Riverton lachte perlend und spielte mit einer der Gemmen. „Die hat mir mein lieber verblichener Gemahl geschenkt. Er besaß einen ausgezeichneten Geschmack. Wie nett, dass Sie mir beim Tee Gesellschaft leisten, Miss Clio und Miss Thalia! In letzter Zeit sehen wir Sie nur selten, weil Sie ständig mit Ihrem Vater die Umgebung erforschen.“

Höflich nickte Clio den anderen Gästen zu – Lady Elliott, deren Ehemann zusammen mit ihrem Vater in der alten Villa gearbeitet hatte, und ihren Töchtern sowie Mrs. Darby und deren Tochter. Dann nahm sie ebenso wie Thalia Platz. Lady Rivertons ständiger Begleiter Ronald Frobisher – ihr cicisbeo, wie Thalia ihn nannte – saß nicht an ihrer Seite, und das war höchst ungewöhnlich.

„In Sizilien gibt es viel zu sehen“, erwiderte Clio und ergriff die Teetasse, die Lady Riverton ihr reichte, „und viel zu tun.“

„Oh, das weiß ich.“ Ihre Ladyschaft lachte wieder. „Immerhin gehörte Viscount Riverton zu den ersten Sammlern, die das Potenzial dieser Gegend erkannten. Als er mit Nelson hierherkam, war das hier nur ein unbedeutendes Tal. Nun bin ich froh, dass seine Arbeit auf so wundervolle Weise fortgesetzt wird. Aber junge Damen sollten auch an ihr Amüsement denken.“

„Ja, allerdings!“, rief Miss Darby. „Dauernd sage ich zu Mama …“

Hastig berührte Mrs. Darby den Arm ihrer Tochter, um einen drohenden Wortschwall zu unterbinden. „Und wir sind Ihnen sehr dankbar, weil Sie für solche … Amüsements sorgen, Lady Riverton.“

„Nun, ich lade sehr gern Gäste ein. Mein Mann pflegte zu betonen, meine Partys seien überaus elegant. Hoffentlich erscheinen Sie alle auf meiner nächsten Soiree. Da werden einige Theaterszenen aufgeführt – von Amateuren. Sie haben doch alle Ihre Einladungen erhalten?“

„Oh ja, Lady Riverton.“ Clio nippte an ihrem Tee. „Und wir kommen sehr gern.“

„Es war so freundlich von Ihnen, uns einzuladen“, ergänzte Thalia. „Das vermisse ich am allermeisten, wenn ich nicht in London bin – das Theater.“

„Genauso geht es mir auch, Miss Thalia“, betonte die Hausherrin. „Bei der Soiree werden einige Gäste ihr Talent beweisen. Die Manning-Smythes haben sich bereit erklärt, eine Szene aus Shakespeares ‚Romeo und Julia‘ aufzuführen. Sehr passend, wo sie doch gerade ihre Flitterwochen erleben. Und Miss Darby wird Ophelias Wahnsinnsszene spielen.“

„Da wir in Sizilien sind …“, begann Clio. „Sollten wir nicht auch die Literatur des klassischen Altertums einbeziehen? Damals haben sich Ovid und Aischylos hier aufgehalten.“

„Die Griechen und Römer sind so blutrünstig“, murmelte Lady Riverton.

Im Gegensatz zu Shakespeare, dachte Clio ironisch.

„Aber so aufregend!“ Lady Elliott nahm sich ein Sandwich. „Studieren Sie nicht gerade eine Rolle aus einem Sophokles-Drama ein, Miss Thalia?“

„In der Tat, die Antigone. Jeden Tag probe ich im Amphitheater und genieße die wunderbare Akustik. Und in diesem Stück fließt kein einziger Blutstropfen.“

„Weil nicht auf der Bühne gestorben wird“, warf Mrs. Darby ein. „Trotzdem äußerst dramatisch.“

„Also kein Blut?“, fragte Lady Riverton. „Wie interessant! Vielleicht beehren Sie uns an meinem kleinen Theaterabend mit einem Monolog, Miss Thalia?“

„Wenn Sie glauben, das würde den Gästen gefallen …“, erwiderte Thalia lächelnd.

Nachdem der Zweck des Besuchs erreicht war, plauderte sie mit der Gastgeberin über die neueste Hutmode – Federn oder Früchte? –, und Clio wandte sich zu Mrs. Darby. Auf einer Tour ins „Tal der Tempel“ bei Agrigento hatten sie sich angefreundet, sahen sich aber nur selten, weil Mr. Darby sich nicht mehr an den Ausgrabungsarbeiten beteiligte und stattdessen einen Roman über die Zerstörung jener alten griechischen Stadt während der Punischen Kriege schrieb.

„Wie kommt Mr. Darby mit seinem Buch voran?“, erkundigte sich Clio.

„Recht gut.“ Seine Frau lachte leise. „Jeden Morgen zieht er sich nach dem Frühstück in die Bibliothek zurück und taucht den ganzen Tag nicht mehr auf. Also muss er irgendetwas zustande bringen.“

„Und was tun Sie während seiner schriftstellerischen Aktivitäten?“

„Ich mache Besuche und nehme an Exkursionen teil. Für die arme Susan ist das furchtbar langweilig.“ Mrs. Darby warf einen Blick auf ihre Tochter, die verträumt an einem Stück Kuchen knabberte. „Deshalb überlegen wir, ob wir eine Jacht mieten sollen, die uns zu einigen Inseln bringen könnte, zum Beispiel zu den phönizischen Ausgrabungen auf Motya. Würden Sie uns begleiten?“

So verlockend es auch wäre, dem Duke of Averton zu entrinnen, der sicher sehr lange in Sizilien bleiben würde – Clio durfte ihre Arbeit nicht vernachlässigen. Noch nicht. „Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mrs. Darby. Aber im Augenblick habe ich leider keine Zeit.“

„Ja, wir haben gehört, wie eifrig Sie in einer abgeschiedenen Ruine arbeiten, während Ihr Vater die Villa erforscht.“

„In diesem alten Bauernhaus finde ich Gebrauchsgegenstände aus dem täglichen Leben, und das bereitet mir große Freude.“

„Gewiss, aber ich würde mich um Susan sorgen, wenn sie sich Tag für Tag an einem so abgelegenen Ort aufhielte. Außerdem liegt ein Fluch auf der Ruine.“

Über Clios Rücken rann ein Schauer. „Ein Fluch, Mrs. Darby? Verfasst Ihr Mann einen Gruselroman?“

Lächelnd schüttelte Mrs. Darby den Kopf. „An so einen Unsinn glaube ich nicht. Ich hörte nur zufällig Ihre Köchin mit ihrer Tochter reden, unserem Hausmädchen. Anscheinend wissen die beiden nicht, dass ich die italienische Sprache beherrsche. Die Mutter erklärte, dass sie Ihre Tapferkeit bewundert, Miss Clio, weil der Fluch Ihnen keine Angst einjagt.“

Aus unerklärlichen Gründen fröstelte Clio. Aber sie lächelte trotz ihres Unbehagens. „Amüsant … Und wie kam es zu diesem Fluch?“

Miss Darby zuckte die Achseln. „In diesem Bauernhaus geschah irgendetwas Schreckliches, bevor es zerstört wurde – etwas, das die Götter erzürnte. Dem Fluch zufolge wird jeder Nichtswürdige, der den Grund und Boden zu entweihen wagt, grausam bestraft. Deshalb blieb das Anwesen in all den Jahren zumeist unberührt.“

„Vielleicht gibt es für den Fluch eine zeitliche Begrenzung“, wandte Clio ein. „Denn ich bin immer noch hier.“

„Oder Sie werden für würdig befunden. Oh Miss Clio, ist Sizilien nicht faszinierend?“

„Oh ja“, bestätigte Clio. Wenigstens wusste sie jetzt, warum es ihr nicht gelang, Hilfskräfte anzuheuern. Wie erfreulich wäre es, könnte der alte Fluch auch Averton fernhalten …

Die Tür öffnete sich, und der Butler meldete: „Mylady, der Conte di Fabrizzi.“

Klirrend landete Clios Teetasse auf der Untertasse. Nein! Gab es zwei Fabrizzis in Italien? Ja, das musste es sein. An einem einzigen Tag würde sie nicht zwei unangenehme Begegnungen verkraften. Bevor sie zur Tür schaute, bemühte sie sich um eine ausdruckslose Miene.

Zu ihrem Leidwesen gab es keine zwei Fabrizzis. Nur den einen, den sie kannte – Marco, ein Mitstreiter der Liliendiebin, voller Sorge um das verlorene Erbe seiner Heimat. Und da stand er. Höflich zog er die mit feiner Spitze verhüllte Hand der errötenden, kichernden Hausherrin an die Lippen.

In England hatte sich der Aristokrat aus einer alten Florentiner Familie als Zigeuner verkleidet, das lange schwarze Haar mit einem roten Tuch bedeckt. Jetzt war sein Haar kurz geschnitten. Zu einem maßgeschneiderten flaschengrünen Gehrock trug er Wildlederbreeches und eine golden gestreifte Seidenweste.

Die Hände im Schoß gefaltet, beobachtete Clio die Szene. Diesmal war sie nicht so heftig erschrocken wie beim Wiedersehen mit dem Duke. Niemals würde Marco ihre Geheimnisse verraten, das wusste sie. Aber seine Ankunft in Lady Rivertons Salon beeinträchtigte ihre Pläne. Was machte er hier? Was hoffte er in Sizilien zu gewinnen?

Versuchte er die Liliendiebin zu neuem Leben zu erwecken?

„Heiliger Himmel“, murmelte Mrs. Darby, „was für ein schöner Mann.“

Kichernd hielt ihre Tochter einen Fächer vors Gesicht.

„Zweifellos.“ Clio wandte sich zu ihrer Schwester. In Thalias Augen erschien ein beängstigender nachdenklicher Ausdruck. Wollte sie Marco für eine Rolle in ihrem Theaterstück engagieren?

Lady Riverton stand auf, ergriff seinen Arm und führte ihn zu Clios kleiner Gruppe. „Darf ich den Damen den Conte di Fabrizzi vorstellen? Er kam eigens aus Florenz hierher, um unsere kleine englische Gemeinde zu zieren. So gut war er mit meinem lieben Lord Riverton befreundet.“

„Niemals würde er mir verzeihen, wenn ich seiner schönen Witwe nicht die Ehre erwiese.“ Marco schenkte ihr ein charmantes Lächeln, das ihre hübschen Wangen noch rosiger färbte. „Leider kann ich nur ein paar Tage in Santa Lucia bleiben, weil ich in Palermo dringende Geschäfte erledigen muss.“

„Oh nein!“, rief sie. „So wichtig können Ihre Geschäfte gar nicht sein. Und Santa Lucia ist in diesem Frühling wirklich unterhaltsam. Das werden meine Freundinnen bekräftigen. Lady Elliott und die Misses Elliott, Mrs. Darby und Miss Darby, die Misses Chase, Clio und Thalia. Sicher haben Sie von den beiden schon gehört – die berühmten Chase-Musen. Bitte, meine Damen, helfen Sie mir, den Conte zu einem längeren Aufenthalt in unserer schönen Stadt zu überreden.“

„Natürlich!“, betonte Lady Elliott. „Wenn Sie mit Lord Riverton befreundet waren, müssen Sie Altertümer lieben, Conte. Und hier werden Sie sehr viele finden.“

Lady Riverton drängte Marco, in dem Sessel an ihrer Seite Platz zu nehmen, reichte ihm eine Tasse Tee und bot ihm Sandwiches an.

„Ganz recht“, antwortete er, „die Geschichte des Altertums gehört zu den großen Passionen meines Lebens.“

Als Miss Darby wieder hinter ihrem Fächer kicherte, warf die Mutter ihr einen strengen Blick zu.

„Dann müssen Sie hierbleiben und unsere Ehemänner kennenlernen“, entschied Lady Elliott. „Auch Mr. Frobisher und die Manning-Smythes. Die meisten Engländer arbeiten in der Ausgrabungsstätte einer alten griechischen Stadt und haben schon viele exquisite Gegenstände gefunden. Nun erwarten wir weitere Entdeckungen, und Ihr fachmännisches Urteil wäre uns hochwillkommen, Conte.“

„Vor allem ein kostenfreier Mitarbeiter“, flüsterte Thalia ihrer Schwester zu.

„Das klingt sehr … interessant.“ Marco schenkte der Gastgeberin noch ein Lächeln, das die Grübchen in seinen Wagen betonte und sogar Mrs. Darby einen Seufzer entlockte.

„Genießen Sie Theateraufführungen, Conte?“

„Wann immer ich eine Gelegenheit finde.“ Auch ihr lächelte er zu. Aber als er dem forschenden Blick ihrer klaren blauen Augen begegnete, bekundete seine Miene leichte Verwirrung.

Wenn sie ihm eine Rolle in ihrer Antigone-Szene zugedacht hat, kann ich ihn nicht retten, entschied Clio. Wer immer in Thalias Fänge geriet, war verloren.

Aber sie fragte sich noch immer, was ihn nach Sizilien geführt hatte. Marco und der Duke an ein und demselben Ort? Wie eigenartig …

Nun drehte sich die Konversation um die gesellschaftlichen Ereignisse von Santa Lucia und die Kunstwerke, die man bisher in der alten griechischen Stadt ausgegraben hatte. Clio nippte an einer Tasse mit frischem Tee. Über den bemalten Porzellanrand hinweg musterte sie Marco, und sie wechselten nur einen einzigen bedeutsamen Blick, der ein späteres Gespräch ankündigte. Ansonsten ließen sie sich nicht anmerken, dass sie einander schon länger kannten. Vielleicht hatte Thalia recht, wenn sie ihm ein gewisses schauspielerisches Talent zutraute.

Auch Clio verließ sich auf eine solche Begabung. Während sie als Liliendiebin agiert hatte, war die Kunst der Täuschung zu ihrer zweiten Natur geworden. Aber an diesem Nachmittag fiel es ihr schwer, lässig zu plaudern, und vom erzwungenen Lächeln schmerzten ihre Wagen.

Eine halbe Stunde später dankten Clio und Thalia der Gastgeberin und verabschiedeten sich. In diesem Moment erschien der Butler mit einer Nachricht auf einem Silbertablett. Lady Riverton überflog sie und brach in triumphierendes Gelächter aus.

Neugierig hielt Clio inne, während sie ihre Handschuhe anzog. Was mochte in Santa Lucia so aufregend sein? Hier glich ein Tag dem anderen.

„Oh, Conte di Fabrizzi, jetzt müssen Sie einfach zu meiner theatralischen Soiree erscheinen!“ Sorgsam faltete sie den Brief zusammen. „Welch eine Freude – ein italienischer Conte und ein englischer Duke, zwei attraktive junge Aristokraten werden meinen Salon beehren!“

„Was, ein Duke?“, rief Lady Elliott. „Dass sich so vornehme Persönlichkeiten in der Nachbarschaft aufhalten, wusste ich gar nicht.“

Autor

Miranda Jarrett
Hinter dem Pseudonym Miranda Jarrett verbirgt sich die Autorin Susan Holloway Scott. Ihr erstes Buch als Miranda Jarret war ein historischer Liebesroman, der in der Zeit der amerikanischen Revolution angesiedelt war und 1992 unter dem Titel "Steal the Stars" veröffentlicht wurde. Seither hat Miranda Jarrett mehr als dreißig Liebesroman-Bestseller geschrieben,...
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