Historical Lords & Ladies Band 43

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GESUCHT: EIN LORD ZUM HEIRATEN von CREE, ANN ELIZABETH
Chloe funkelt Brandt erbost an - auf gar keinen Fall wird sie ihm darlegen, warum sie ihre Gunst einem anderen Mann geschenkt hat. Schließlich ist er nicht ihr Gatte, ja nicht einmal ein Freund. Chloe will sich schon abwenden, da zieht er sie plötzlich stürmisch in seine Arme und raubt ihr einen feurigen Kuss. Sie ist verzückt - und verwirrt. Warum tut er das, obwohl er sie doch eigentlich verachtet?

EINE SKANDALÖSE AFFÄRE von CORNICK, NICOLA
Zum Dessert: Eine Lady! Splitterfasernackt, mit Obst und Puderzucker garniert, lässt sich Juliana auf einem Silbertablett in den Saal tragen. Die feine Londoner Gesellschaft ist in Aufruhr. Nur ein Gentleman ignoriert sie: Martin Davencourt, attraktiver Politiker mit tadellosem Ruf. Aber sie spürt die heiße Sehnsucht, die er hinter seiner kühlen Fassade verbirgt … und setzt alles daran, ihn zu verführen.


  • Erscheinungstag 09.05.2014
  • Bandnummer 0043
  • ISBN / Artikelnummer 9783733761158
  • Seitenanzahl 352
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Ann Elizabeth Cree, Nicola Cornick

HISTORICAL LORDS & LADIES BAND 43

ANN ELIZABETH CREE

Gesucht: Ein Lord zum Heiraten

Heirat aus Liebe? Niemals! Entschlossen macht Chloe sich auf die Suche nach einem ruhigen und leidenschaftslosen Ehegatten. Den verwegenen Viscount Salcombe schließt sie von vorneherein aus, obwohl er ihr Avancen macht. Nein, dieser heißblütige Mann kann nicht der Richtige sein – aber warum hat sie dann in seiner Nähe immer Schmetterlinge im Bauch?

NICOLA CORNICK

Eine skandalöse Affäre

Temperamentvoll, sinnlich und unkonventionell: Juliana fasziniert Martin auf den ersten Blick. Ihr frivoler Lebenswandel behagt ihm zwar nicht, dennoch kann er der betörenden Lady nicht widerstehen. Ihre Küsse sind so süß und verlockend, dass er sich schon bald nach mehr sehnt. Doch damit setzt er nicht nur sein Herz, sondern auch seine Karriere aufs Spiel …

1. KAPITEL

Chloe sah auf die Uhr auf dem Kaminsims und erschrak. Bereits vor fünf Minuten hätte sie sich bei den anderen im Salon einfinden sollen, aber sie war so in den Artikel über die Getreideknappheit in Europa vertieft gewesen, dass sie gar nicht auf die Zeit geachtet hatte. Eilig erhob sie sich.

„Weiß Justin, dass Sie heimlich seine Zeitschriften lesen?“

Errötend wirbelte sie herum. Brandt, Viscount Salcombe, stand mit einem amüsierten Lächeln auf den Lippen in der Tür. Chloe unterdrückte ein Stöhnen. Weshalb musste ausgerechnet er sie hier entdecken? „Ich … ich wollte nur etwas herausfinden.“

„Im Gentleman’s Magazine? Hatten Sie vor, eines der Themen heute Abend zur Sprache zu bringen?“

Da genau das ihre Absicht gewesen war, errötete sie heftig. „Wie lächerlich!“ Weshalb musste er sie ständig ärgern? Und ihr das Gefühl geben, ein dummes kleines Mädchen zu sein? „Ist es nicht Zeit, zu der Gesellschaft zu fahren?“, fragte sie spitz.

„Ja, deshalb hat Belle mich gebeten, Sie zu suchen. Leider versäumte sie, mir mitzuteilen, dass Sie im Arbeitszimmer sind und Justins Zeitschriften lesen.“

„Es ist nicht notwendig, das zu erwähnen.“ Wenn Belle oder ihr Gatte, der Duke of Westmore, sie nun fragen würden, weshalb sie sich plötzlich für Landwirtschaft interessierte?

„Nun gut, ich werde Ihr Geheimnis für mich behalten – unter einer Bedingung.“

„Welche?“, fragte sie misstrauisch.

„Sie willigen ein, heute Abend mit mir zu tanzen.“

„Na schön“, sagte sie ungnädig. Sie wusste, sie benahm sich kindisch. Aber sie schien nicht in der Lage zu sein, Brandt mit der kühlen Höflichkeit zu begegnen, die eine junge Dame einem Gentleman gegenüber an den Tag legen sollte, auch wenn sie ihn nicht mochte. Dass er in ihr offenbar eine Quelle der Belustigung sah, machte sie noch verdrossener.

Sie legte die Zeitschrift auf den Stapel auf dem Schreibtisch und hoffte inständig, dass Brandt sein Wort halten und sie nicht verraten würde. Belle oder Justin sollten nicht dahinterkommen, dass sie die Absicht hatte, Sir Preston zu heiraten.

Sie marschierte an Brandt vorbei in die Halle und warf ihm einen kühlen Blick zu. Ihre Laune besserte sich nicht, als sie sich in der Kutsche neben Belle setzte und feststellte, dass Brandt ihr gegenüber neben Justin Platz nahm. Seit Brandts Ankunft am Vortag war ihr der Aufenthalt in Falconcliff gründlich verdorben.

Bisher hatte sie eineinhalb idyllische Monate in Devon verbracht. Zum ersten Mal seit langer Zeit verspürte sie wieder ein Gefühl von Freiheit; ihr Vormund Arthur, der Earl of Ralston, und seine Pläne, sie an den Meistbietenden zu verheiraten, waren weit fort. In den ersten Wochen hatte sie sich von einer ernsthaften Grippeerkrankung erholen müssen. Die Seeluft und die ausgedehnten Spaziergänge hatten ebenso dazu beigetragen, dass sie wieder zu Kräften kam, wie ihre Freude, bei Belle, deren Gatten Justin und dem kleinen Julian zu sein, der nun fast sechs Monate alt war. Und sie hatte beschlossen, sich in Sir Preston Kentworth zu verlieben, von dem sie sicher war, dass er ihre Zuneigung zu erwidern begann.

Alles war perfekt gewesen. Bis gestern.

Sie warf Brandt, der sich ungezwungen mit Justin und Belle unterhielt, einen finsteren Blick zu. Er war Justins Cousin, und zwischen den beiden Männern bestand eine unverkennbare Ähnlichkeit. Sie waren annähernd gleich groß, breitschultrig und dunkelhaarig und besaßen beide eine durch nichts zu erschütternde Selbstsicherheit. Eigentlich galt Justin mit seiner kühlen Zurückhaltung als der besser aussehende Gentleman, doch Chloe wusste durch Klatschgeschichten in London, dass viele Frauen Brandt mit seinem entwaffnenden Charme gleichermaßen anziehend fanden.

Zweifellos würde er die hiesigen Damen ebenso bezaubern. Chloe hoffte allerdings, dass er nicht reihenweise gebrochene Herzen zurücklassen würde, denn es war kaum anzunehmen, dass er lange in einem so langweiligen kleinen Ort wie Weyham bleiben würde. Jedenfalls war sie ihm gegenüber immun. Sie fand ihn zwar gut aussehend, doch für ihren Geschmack war er zu groß. Sie zog Männer vor, die nicht auf sie herabsahen und ihr das Gefühl gaben, ihnen hilflos unterlegen zu sein. Das war noch ein Grund, der für Sir Preston sprach, denn mit ihm konnte sie Konversation machen, ohne ihren Hals recken zu müssen.

Chloe sah aus dem Kutschenfenster und stellte fest, dass sie die Gesellschaftsräume erreicht hatten. Das Haus war vor einem halben Jahrhundert erbaut worden, als Weyham ein recht beliebtes Seebad gewesen war. Heutzutage kamen nur noch wenige Besucher an die schönen Strände, die wöchentlichen Gesellschaften indes fanden nach wie vor großen Zuspruch. In der Eingangshalle gestattete Belle den Herren, voranzugehen. Sie blieb stehen und wandte sich an Chloe: „Ich weiß, dass du Brandt nicht sonderlich magst“, sagte sie leise, „aber versuch doch bitte, dir das nicht so deutlich anmerken zu lassen.“

„Es tut mir leid. War es wirklich so offensichtlich?“

„Ich fürchte, ja.“

„Oje.“ Chloe wusste, wie sehr Belle den Cousin mochte, der für Justin wie ein Bruder war. „Ich werde mich bemühen, zuvorkommender zu sein, das verspreche ich dir, und heute Abend sogar mit ihm tanzen.“

Belle schenkte ihr ein Lächeln.

„Ich weiß, dass du ein freundliches Wesen hast, und ich hoffe, du wirst es auch Brandt gegenüber zeigen. Er ist wirklich nicht so schlimm. Und er wird noch einige Zeit bei uns bleiben.“

Sie folgte Belle und beschloss, keinen Gedanken mehr an Brandt zu verschwenden. Mrs Heyburn, die Gattin des örtlichen Friedensrichters, gesellte sich zu ihnen. Chloe hörte der Konversation nur mit halbem Ohr zu, während sie sich im Saal umsah, in der Hoffnung, Sir Preston zu finden. Schließlich entdeckte sie ihn in einer Gruppe von Gentlemen.

Sie entschuldigte sich bei Belle und Mrs Heyburn und durchquerte den Saal, dann zögerte sie. Es würde schwierig sein, Sir Preston in Gegenwart seiner Freunde anzusprechen. Er war sehr zurückhaltend.

Bevor sie zu einem Entschluss gekommen war, was sie nun tun sollte, kam Lydia Sutton zu ihr. „Chloe! Weshalb hast du mir nicht erzählt, dass Lord Salcombe mitkommt!“

„Ich wusste es bis gestern Abend ebenfalls nicht. Er traf unerwartet ein“, erwiderte Chloe ohne große Begeisterung. Sie hatte keine Lust, über Brandt zu sprechen.

„Er ist so schneidig. Und ein Lebemann, nicht wahr?“ Lydia fächelte sich Luft zu. „Weißt du, ob er die Absicht hat, zu tanzen?“

„Das kann ich dir wirklich nicht sagen.“ Chloe bemerkte, dass Sir Preston den Ballsaal verließ. Sie hoffte, er würde sich nicht ins Kartenzimmer begeben. „In London hat er selten getanzt.“ Und er hatte sich keineswegs so skandalös verhalten, wie man ihm nachsagte.

Lydias Aufmerksamkeit wurde von etwas anderem gefesselt. „Da ist Emily. Also wirklich! Man sollte meinen, ihr würde auffallen, wie grauenhaft Zitronengelb zu ihrem Teint passt.“

Chloe folgte Lydias Blick. Emily Coltrane stand wie gewöhnlich mit finsterem Gesichtsausdruck in einer Ecke des Saales, als wolle sie jedermann davor warnen, sich ihr zu nähern. Lydia hatte recht, das gelbe Kleid betonte ihre fahle Haut und das stumpfe braune Haar höchst unvorteilhaft. Obwohl Emily sie aus einem unerfindlichen Grund nicht leiden konnte, tat Chloe das junge Mädchen unwillkürlich leid.

Lydia klappte ihren Fächer zusammen. „Da! Lord Salcombe tanzt mit Lady Haversham. Er ist ein ausgezeichneter Tänzer, findest du nicht?“

Chloe sah zur Tanzfläche, wo Brandt gerade Lady Marguerite Haversham die Hand reichte, der Gattin eines Nachbarn. Die beiden schienen sich über irgendetwas zu amüsieren, und Chloe wandte den Blick ab. Sie musste Lydia unbedingt entkommen, nicht nur um Sir Preston zu finden, sondern weil sie nicht den ganzen Abend über den Viscount sprechen wollte. „Lydia …“, begann sie, doch ehe sie den Satz beenden konnte, kam Gilbert Rushton zu ihnen geschlendert.

„Guten Abend, Lady Chloe, Lydia“, begrüßte er sie grinsend. „Ich habe gesehen, wie Sie beide die Leute beobachten, und mich gefragt, über wen Sie wohl sprechen.“

„Wir haben nur festgestellt, wie gut Lord Salcombe tanzt“, sagte Lydia.

Mr Rushton warf einen Blick auf die Tanzfläche. „In der Tat. Seine Anwesenheit ist eine Bereicherung für Weyham. Gerüchten zufolge hat er Waverly erworben.“

„Wie großartig!“, rief Lydia aus.

Chloe drehte sich der Magen um. „Das kann nicht sein!“, protestierte sie. Sir Preston war für den Moment völlig vergessen.

Mr Rushton hob eine Braue. „Weshalb nicht?“

„Weil …“ Weil sie sich nicht vorstellen konnte, wo er das Geld dafür herhaben sollte. Und darüber hinaus war er der letzte Mensch, den sie in dem alten Anwesen sehen wollte, in das sie sich auf den ersten Blick verliebt hatte: Es hatte sich trotz der überwucherten Gärten und bröckelnden Mauern eine solide Würde bewahrt. Die dort stehende vernachlässigte Kapelle mit ihrem winzigen ummauerten Garten war das Romantischste, was man sich vorstellen konnte. Es gab auch Gerüchte darüber, dass Geheimgänge auf dem Gelände existierten, die vom Haus zur Kapelle und sogar bis an die darunterliegende Küste führen sollten. Chloe war entzückt gewesen, als Arbeiter kurz nach ihrer Ankunft auf Falconcliff damit begonnen hatten, das Dach und die Wände zu reparieren. Die Identität des Käufers blieb unbekannt, obwohl im Dorf unzählige Vermutungen angestellt wurden, wer er sein könnte. „Ein solches Haus würde ihm gewiss überhaupt nicht gefallen. Sie irren sich sicher. Ich muss jetzt wirklich Belle suchen.“

„Du kommst doch morgen zu mir, nicht wahr?“, hielt Lydia sie auf. „Denk daran, wir wollen die Tänze für den Ball der Havershams üben. Mr Rushton wird ebenfalls da sein“, fügte sie hinzu und bedachte den jungen Mann mit einem strengen Blick.

„Allerdings. Indes muss ich nun meine Verabredung zum Kartenspiel einhalten.“ Mr Rushton verbeugte sich und schlenderte davon.

„Du kommst doch, nicht wahr, Chloe? Hast du Sir Preston nicht versprochen, ihm den Walzer beizubringen?“

„Oh ja.“ Wie hätte sie das vergessen sollen, wo sie so viel Zeit damit verbracht hatte, etwas über Landwirtschaft zu lesen, damit sie Sir Preston mit ihrem neu erworbenen Wissen beeindrucken konnte.

„Meinst du, Lord Salcombe würde sich uns anschließen?“

„Höchstwahrscheinlich nicht. Er findet einen solchen Zeitvertreib sicher zu langweilig.“

„Vielleicht könntest du ihn fragen. Ihr seid schließlich verwandt.“

„Wir sind allenfalls angeheiratete Verwandte.“ Auch wenn sie Belle als Schwester betrachtete, so war diese in Wahrheit doch nur ihre Schwägerin, weil sie in erster Ehe Chloes Halbbruder Lucien geheiratet hatte.

„Fragst du ihn trotzdem?“

„Vielleicht“, erwiderte Chloe unbestimmt. Ihr war ganz und gar nicht wohl bei der Vorstellung, dass Brandt sie mit seinen sarkastisch blitzenden Augen beobachtete, während sie versuchte, sich mit Sir Preston über Landwirtschaft zu unterhalten.

Sir Preston schien tatsächlich im Kartenzimmer zu sein – jedenfalls konnte sie ihn nirgends entdecken. Sie hörte ihren Namen, drehte sich um und sah Lady Kentworth, Sir Prestons Mutter, vor sich, das dicke Gesicht zu einem Lächeln verzogen. „Meine liebe Lady Chloe! Wie entzückend, Sie zu treffen. Haben Sie meinen Sohn gesehen? Nein? Dann ist er sicher im Kartenzimmer. Ich hoffe, er lässt sich wenigstens zu einem Tanz überreden. Vielleicht mit Ihnen?“ Sie gab Chloe keine Möglichkeit, darauf zu antworten, und plapperte mit ihrer lauten Stimme weiter, bis sie endlich erklärte, sie wolle eine Runde Karten spielen. Sie bestand darauf, dass Chloe Sir Preston unbedingt begrüßen müsse, und so kam es, dass Chloe Lady Kentworth ins Kartenzimmer begleitete.

Der Raum, den man für die Kartenspiele reserviert hatte, war klein und stickig. Es war Chloe peinlich, wie Lady Kentworth sie zwischen den eng beieinanderstehenden Tischen hindurchführte. Mehrere Anwesende sahen auf, als sie an ihnen vorbeikamen, unter anderem Lady Haversham, die ihr einen mitleidigen Blick zuwarf. Als sie bei Sir Preston stehen blieben, wäre Chloe am liebsten davongelaufen. Er saß mit zwei anderen Gentlemen am Tisch. Mr Blanton und – Brandt.

„Preston, mein Junge. Lady Chloe ist hier.“

Die Männer blickten hoch. Chloe spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg, als Brandt sie musterte. „Lady Chloe. Möchten Sie sich zu uns gesellen? Oder wollten Sie mich an unseren Tanz erinnern?“

Den Tanz? Den hatte sie vollkommen vergessen. „Ich wollte nur ein wenig zuschauen.“

„Vielleicht möchte Lady Chloe gerne eine Runde spielen. Sir Preston hat es ihr nämlich beigebracht, wissen Sie“, verkündete Lady Kentworth.

„Nein danke, ich muss wirklich gehen und …“

Sir Preston sah sie an. Ein Lächeln erhellte sein angenehmes, markantes Gesicht. „Ich würde mich freuen, wenn Sie sich zu uns gesellen.“

„Ich glaube nicht …“

Mr Blanton lächelte ebenfalls. „Kein Grund, schüchtern zu sein, Lady Chloe. Kentworth behauptet, Sie seien eine vielversprechende Schülerin.“

„Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen“, fügte Lady Kentworth hinzu. „Setzen Sie sich, Lady Chloe.“ Ihr Ton duldete keinen Widerspruch, und so nahm Chloe neben Brandt Platz. Lady Kentworth strahlte. „Sehr schön. Ich habe Sylvie Compton versprochen, eine Runde mit ihr zu spielen.“ Geschäftig eilte sie davon.

Chloe wusste nicht, wohin sie schauen sollte. „Ich möchte wirklich nicht spielen.“

„Haben Sie Angst, dass wir Sie vernichtend schlagen?“, fragte Brandt mit einem verschmitzten Funkeln in den Augen.

„Natürlich nicht“, erwiderte sie gereizt, doch dann fiel ihr ein, dass man sie ja für eine Anfängerin hielt. „Ich meine, ich rechne durchaus damit.“ Das klang keineswegs besser, und es war Brandt deutlich anzusehen, wie amüsiert er war.

„Dann spielen Sie eben Whist. Salcombe kann Ihr Partner sein“, schlug Mr Blanton vor. „So haben alle gleich gute Chancen.“

Brandt? Sie sah ihn kurz an. Er erwiderte ihren Blick mit ausdruckslosem Gesicht. Sie hob das Kinn. „Ich hatte eigentlich an Sir Preston gedacht.“

Sir Preston schaute erschrocken drein. „Äh, ich fühle mich natürlich geehrt, aber ich bin gewiss nicht der beste Partner für Sie. Salcombe hat mehr Erfahrung.“

Jetzt verstand sie. Sie dachten, sie würde so schlecht spielen, dass Brandt ihre fehlenden Kenntnisse wettmachen müsste. „Wir werden uns sicher gut schlagen.“

Sie hätte völlig blind sein müssen, um den Blick zu übersehen, den die drei Männer tauschten. „Äh, zweifellos“, sagte Sir Preston.

Sie konnte es ihnen kaum verübeln. Sie hatte keineswegs die Absicht gehabt, in Devon zu spielen, aber bei einer Gesellschaft vor einem Monat hatte Sir Preston bemerkt, wie sie bei einem Spiel zugesehen hatte, und angenommen, dass sie es nicht konnte. Er war zu ihr getreten und hatte ihr angeboten, es ihr beizubringen. Sie hatte es nicht übers Herz gebracht, seinen Eindruck von ihr zu korrigieren. Als sie damals sein offenes, freundliches Gesicht betrachtet hatte, während er ihr die Regeln erklärte, war sie zu dem Schluss gekommen, dass er genau der richtige Ehegatte für sie wäre. Ihr Glück wurde nur durch das Wissen getrübt, dass sie ihn betrog, denn es fiel ihr immer schwerer, Unkenntnis vorzutäuschen und den Drang, zu gewinnen, den sie so an sich hasste, zu beherrschen.

„Dann wäre das geregelt.“ Brandt nahm das Kartendeck zur Hand. „Whist?“

„Whist, bitte.“

Chloe hob ab, dann teilte Brandt die Karten aus, und das Spiel begann. Nach wenigen Zügen wurde ihr klar, dass die drei Männer, vor allem Brandt, nachsichtig mit ihr waren. Als er die Karte nicht ausspielte, von der sie annahm, dass er sie auf der Hand hatte, und sie einen Stich machen ließ, hatte sie es plötzlich satt, Unfähigkeit vorzutäuschen. Sobald sie wieder an der Reihe war, machte sie einen Stich und dann noch einen. Blanton rieb sich das Kinn und warf Brandt mit hochgezogenen Brauen einen Blick zu. Als sie den nächsten Stich ebenfalls bekam, konnte sie beinahe spüren, wie die Atmosphäre zu knistern begann. Die fiebrige Konzentration, die sie seit einer Ewigkeit nicht mehr verspürt hatte, ergriff Besitz von ihr, und sie vergaß alles, außer dem Wunsch, zu gewinnen. Sie würde Brandt beweisen, dass sie nicht das dumme kleine Mädchen war, für das er sie hielt.

Sie spielten drei Runden, und am Ende waren sie und Sir Preston Sieger. Chloe wandte sich zu Brandt und versuchte gar nicht erst, ihren Triumph zu verbergen. „Wir haben fünf Punkte.“

Schweigen. Die drei Männer starrten sie an. „In der Tat“, sagte Brandt schließlich. Chloe vermochte seinen Gesichtsausdruck nicht zu deuten.

„Hervorragend!“, rief jemand hinter ihr. „Noch nie hat jemand Brandt beim Whist besiegt.“ Erschrocken bemerkte Chloe, dass Lady Haversham und mehrere andere Leute sich um sie geschart hatten. Sie wäre am liebsten im Boden versunken, doch sie zwang sich, Sir Preston anzusehen.

„Großartig, Lady Chloe“, sagte Sir Preston verblüfft. „Ich hätte nie gedacht … nun jedenfalls nicht, als wir letztes Mal miteinander gespielt haben.“

„Eine weitere Runde, Salcombe?“, dröhnte Squire Heyburn. „Ein Spiel zwischen Ihnen und Lady Chloe. Ich werde mein Geld jedenfalls auf Lady Chloe setzen. Was haben Sie ihr außerdem beigebracht, Kentworth? Piquet?“

„Ich denke nicht …“, begann Chloe.

„Kommen Sie, Lady Chloe“, unterbrach Mr Blanton sie. „Nur ein Spiel. Solche Fähigkeiten sollte man nicht verkümmern lassen.“

„Obwohl ich immer wieder feststelle, dass Kartenspielen zum großen Teil Glückssache ist.“ Emily Coltrane musterte Chloe mit dem kühlen, missbilligenden Blick, mit dem sie sie stets ansah.

„Nun, es hängt davon ab, ob man weiß, wie man die Gelegenheit nutzt, die sich einem bietet“, sagte Brandt schleppend.

„Das weiß Lady Chloe auf jeden Fall“, dröhnte der Squire. „Kommen Sie, noch ein Spiel.“

Komm schon, Chloe, noch ein Spiel. Plötzlich war sie wieder in dem dunklen, feuchten Arbeitszimmer in Braddon Hall, und ihr Bruder Lucien lächelte charmant und bedrängte sie schmeichelnd, eine weitere Runde gegen einen seiner betrunkenen Freunde zu spielen. Sie konnte sich nicht weigern, denn dann würde sein strahlendes Lächeln verschwinden und dem höhnischen Grinsen weichen, das ihr Angst machte. Also musste sie so lange weiterspielen, bis er sie in ihr Schlafgemach schickte, wo sie in ihr Bett und in einen von Albträumen geplagten Schlaf fallen würde.

„Chloe?“ Marguerites besorgte Stimme riss sie aus ihrer Trance. Sie erhob sich, die Freude über ihren Sieg war verschwunden. Im Augenblick wollte sie nur noch fort. „Danke, nein. Jedenfalls nicht jetzt. Emily hat völlig recht. Ich habe einfach Glück gehabt.“

Brandt erhob sich ebenfalls. „Lady Chloe hat mir einen Tanz versprochen.“ Er reichte ihr seinen Arm.

Sie wusste kaum, was sie tat, als sie sich bei ihm einhakte. Marguerite nickte, obwohl sie noch immer besorgt aussah.

Chloe brachte ein Lächeln zustande. Brandt führte sie in den Ballsaal, wo gerade ein Ländler getanzt wurde. Er sah sie mit einem prüfenden Blick an.

„Wo haben Sie so gut Kartenspielen gelernt?“

Sie erschrak. „Bei Sir Preston.“

„Seine Fähigkeiten als Lehrer übersteigen anscheinend seine Fähigkeiten als Spieler.“

„Ich hatte heute Abend einfach Glück.“

„Natürlich.“

Sie hatte den Verdacht, dass er ihr kein Wort glaubte. „Ich … ich werde bestimmt haushoch verlieren, wenn ich das nächste Mal spiele.“

„Sie sind außergewöhnlich talentiert.“

„Wenn das so ist, dann ist es ein Talent, das ich lieber nicht hätte!“, platzte es aus ihr heraus. Als sie seinen erschrockenen Gesichtsausdruck bemerkte, hätte sie sich am liebsten auf die Zunge gebissen.

„Sie brauchen sich dessen nicht zu schämen“, sagte er schließlich. „Ich bezweifle, dass Sie die Absicht haben, Ihr Talent an den Spieltischen zu nutzen.“

Einen Augenblick lang war ihr übel. „Ganz sicher nicht“, erwiderte sie schwach.

Er starrte sie an. „Ich wollte Sie nicht aufregen.“

„Ich … das haben Sie nicht.“

„Sie sehen aus, als würden Sie gleich in Ohnmacht fallen. Vergessen Sie den Tanz. Sie sollten sich setzen.“

Bevor sie protestieren konnte, führte er sie in ein kleines Zimmer neben dem Ballsaal, in dem es verschiedene Sitzgelegenheiten gab. Er brachte sie zu einem Sessel und bestand darauf, dass sie Platz nahm. „Ich werde Belle zu Ihnen schicken und Ihnen eine Limonade holen.“

Wenige Minuten später kam Belle in den Raum geeilt. „Chloe, was ist los? Brandt sagt, du wärest im Ballsaal beinahe in Ohnmacht gefallen.“

„Er übertreibt.“

Belle setzte sich in den Sessel neben ihr und betrachtete sie besorgt. „Was ist passiert?“, fragte sie sanft.

„Nichts …“, begann Chloe, brach dann jedoch ab. „Oh, Belle, ich habe etwas ganz Schreckliches getan. Ich habe mit Sir Preston, Mr Blanton und Brandt Whist gespielt. Sir Preston war mein Partner und … und wir haben gewonnen.“

Belle schwieg einen Augenblick. „Was ist daran so schrecklich?“

„Ich habe die ganze Zeit so getan, als verstünde ich nichts vom Kartenspielen! Und niemand sollte herausfinden, dass das nicht stimmt! Ich hatte wirklich nicht vor, zu spielen, doch als Lady Kentworth darauf bestand, habe ich schließlich zugestimmt. Ich merkte sofort, dass sie mich schonten, und das machte mich wütend. Ich wollte ihnen beweisen, dass ich nicht so dumm bin, wie sie meinten … Was mir ja auch gelungen ist; ich habe es jedoch umgehend bereut. Alle waren verblüfft und bestanden darauf, dass ich weiterspiele, und ich wollte ihnen nur noch entkommen.“

Sie holte Luft. „Als wir wieder im Ballsaal waren, fragte Brandt mich, wo ich so gut Kartenspielen gelernt hätte. Ich konnte sehen, dass er mir nicht glaubte, als ich ihm erklärte, Sir Preston habe es mir beigebracht.“ Sie starrte Belle an. „Ich wollte heute Abend gewinnen, Belle, unbedingt. Genau wie früher. Und ich hasse mich dafür.“

„Es ist doch nicht so wie damals“, sagte Belle sanft. „Es gibt keinen Lucien mehr, der dich nötigt, weiterzuspielen.“ Sie nahm Chloes Hand. „Du warst erst dreizehn, eigentlich ein Kind. Lucien war ein schlechter Mensch, weil er dich für seine Zwecke benutzt hat.“

„Dennoch habe ich gespürt, dass das, was ich tat, falsch war. Ich hätte es Papa sagen sollen“, flüsterte Chloe.

„Lucien hat dir doch gedroht, dass es dir schlecht ergehen würde, wenn du etwas sagst. Wie hättest du dagegen ankommen sollen?“ Belle drückte Chloes Hand und sah hoch. „Brandt kommt mit deiner Limonade. Du musst all das hinter dir lassen – es ist Vergangenheit. Lucien ist tot. Er kann niemandem mehr wehtun.“

„Du hast recht, Belle.“ Außer dass sie nach dem heutigen Abend befürchten musste, dass die Vergangenheit sie einholen würde, obwohl sie sich solche Mühe gab, sie zu vergessen.

2. KAPITEL

Brandt stand am Fenster des Frühstückssalons. Er hatte seinen jüngsten Cousin auf dem Arm und fragte sich, worüber man sich mit einem fünf Monate alten Säugling unterhielt. Der kleine Marquis of Wroth gab einen glucksenden Laut von sich und schaute ihn unverwandt an. Würde er etwa anfangen zu weinen? Brandt räusperte sich. „Ich fürchte, deine Mama hat dich sehr unerfahrenen Händen überlassen. Ich hoffe, sie ist gleich wieder da.“

Plötzlich verzog der Kleine den Mund, und Brandt stellte zu seinem Erstaunen fest, dass sein winziger Cousin ihn anlächelte. Unwillkürlich lächelte er zurück und strich sanft über die weiche Wange des Jungen. Der kleine Julian gluckste erneut, hob seine pummelige Hand und hielt Brandts Finger fest. Unerwartet durchflutete Brandt ein Gefühl der Wärme, und plötzlich war ihm klar, weshalb Justin so völlig im Bann seines Sohnes stand. Natürlich hatte er Julian bei seiner Taufe gesehen, da er der Pate des Kindes war, aber damals hatte ihm das Glück seines Cousins das Gefühl gegeben, nicht dazuzugehören. Nun bedauerte Brandt, dass er so lange nicht mehr da gewesen war.

Er hörte Schritte und hob den Kopf. Da er Belle erwartete, erschrak er, als er stattdessen Chloe erblickte. Sie sah ihn ebenfalls erschrocken an. Dann bemerkte sie Julian auf seinem Arm, und ihre Augen weiteten sich erstaunt.

„Die Duchess bat mich, Kindermädchen zu spielen, solange sie sich mit Mrs Keith bespricht.“

„Ich verstehe.“ Chloes Gesichtsausdruck war beherrscht, wie stets, wenn sie in seiner Nähe war. Sie trug ein cremefarbenes Musselinkleid, und ihr rotbraunes Haar war am Hinterkopf zu einem Knoten gesteckt. Ein paar Löckchen umrahmten ihr Gesicht. Sie sah frisch und hübsch aus. Und vollkommen unberührbar. Er hatte keine Ahnung, wie es einem Mädchen, das so warm lächeln konnte, gelang, sich gleichzeitig jeden möglichen Verehrer vom Leibe zu halten. Er war sich sehr wohl darüber im Klaren, dass sie ihn nicht mochte, und er konnte es ihr bis zu einem gewissen Grad nicht verübeln. Dennoch verwirrte es ihn, dass sie auch die Annäherungsversuche anderer Gentlemen zurückwies.

Auch ihr Verhalten am vorherigen Abend am Kartentisch verwirrte ihn. Jeder Narr konnte sehen, dass sie keine Anfängerin war. Weshalb hatte sie dann so getan, als habe Kentworth ihr das Kartenspiel beigebracht?

Julian strampelte und streckte seine Ärmchen nach Chloe aus. „Ich glaube, er möchte zu Ihnen.“ Brandt warf einen zweifelnden Blick auf ihr Kleid. „Falls Sie ihn haben möchten.“

„Natürlich.“ Chloe trat zu ihm und nahm ihm das Kind ab. Der Junge kuschelte sich an sie, drehte das Köpfchen und lächelte Brandt zögernd an. Chloes Gesichtsausdruck wurde weich, als sie den Kleinen betrachtete. Dann blickte sie Brandt an. „Er mag Sie.“

„Das will ich hoffen, schließlich sind wir verwandt.“

„Ich glaube nicht, dass das der einzige Grund ist.“

„Und welchen Grund könnte es sonst dafür geben?“

„Ich …“ Sie wirkte verlegen. „Sie sind nett.“

„Ah. Ein Kompliment aus Ihrem Munde. Ich werde es hüten wie einen Schatz.“

Sie errötete heftig. „Sie brauchen nicht so sarkastisch zu sein.“ Ihr Gesichtsausdruck wurde wieder verschlossen.

Er verkniff sich einen Fluch. Er hatte keine Ahnung, weshalb er in ihrer Gegenwart so unbeholfen war.

Sie setzte sich an den Tisch. Sofort griff Julian nach einem Löffel. Als er ihm aus der Hand fiel, begann er zu weinen.

Brandt starrte den Jungen ratlos an. „Soll ich Belle holen gehen?“

„Nein. Heben Sie den Löffel auf.“ Chloe erhob sich, wiegte den Jungen sanft hin und her und sprach leise auf ihn ein.

Brandt holte den Löffel unter dem Stuhl hervor. Er hielt ihn Julian hin. Der Kleine hörte auf zu weinen, doch statt nach dem Löffel zu greifen, streckte er Brandt seine Ärmchen entgegen.

„Er möchte wieder zu Ihnen“, sagte Chloe. „Hier …“ Sie hielt ihm Julian hin.

Und wieder hielt Brandt das warme Bündel Mensch in den Armen, das ihn mit einem strahlenden Lächeln ansah. Er erwiderte das Lächeln und hatte das höchst seltsame Gefühl, dass er nie mehr derselbe sein würde.

Er warf Chloe einen Blick zu und stellte fest, dass sie ihn beobachtete. Und was noch erstaunlicher war, sie lächelte ihn tatsächlich an. Zum zweiten Mal innerhalb einer Minute wurde ihm beinahe schwindlig. „Er ist entzückend.“ Das schien ihm völlig unzureichend zu sein.

„Das finde ich auch.“ Sie lächelte dieses warme Lächeln, das er erst ein- oder zweimal an ihr gesehen hatte. Es ließ ihr Gesicht aufleuchten, sodass sie unglaublich schön aussah.

Brandt fühlte sich, als habe er einen Schlag in die Magengrube bekommen. Ihr Lächeln schwand, als sie seinen Gesichtsausdruck bemerkte. Julian begann zu strampeln und gab fröhliche, ungeduldige Laute von sich. Als Brandt sich von Chloes Anblick losriss, sah er, weshalb: Justin und Belle waren gerade hereingekommen.

Der Duke of Westmore blieb stehen. „Du scheinst ja erstaunlich gut mit unserem Sohn zurechtzukommen.“

„Glücklicherweise kam Chloe und rettete mich.“

„Er hatte es nicht nötig, gerettet zu werden“, sagte Chloe.

Überrascht, dass sie ihn verteidigte, warf er ihr einen Blick zu, doch ihr Gesicht zeigte wieder den üblichen verschlossenen Ausdruck. Julian kreischte und streckte seine Ärmchen nach seinem Vater aus. Lächelnd nahm Justin seinen Sohn und drückte einen Kuss auf seinen Scheitel. Dann sah er seine Gattin an. Sie lächelte ihm zu, und für einen kurzen Moment schienen die drei auf eine Weise verbunden zu sein, die den Rest der Welt ausschloss.

Ein merkwürdiges Gefühl durchzuckte Brandt wie ein kurzer, heftiger Blitz. Er begegnete Chloes Blick. Sie starrten einander an, und er meinte das gleiche Sehnen in ihren Augen wahrzunehmen, das er selber empfand. Dann sah sie weg.

Irgendetwas an dieser Verbindung zwischen ihnen beunruhigte ihn, und er wollte flüchten. „Da ihr meine Dienste als Kindermädchen nicht mehr benötigt, werde ich mich verabschieden und meinen Anwalt aufsuchen.“ Er lächelte Belle an. „Ich fürchte, du wirst hier öfter über mich stolpern, als dir lieb sein könnte.“

Sie erwiderte sein Lächeln. „Das bezweifle ich. Ich bin froh, dass du uns endlich besuchst. Ich hatte schon Angst, dass du für Julian ein Fremder bleibst.“

Brandt sah das Kind an, das ihm so plötzlich ans Herz gewachsen war. „Das brauchst du nicht mehr zu befürchten“, sagte er weich.

Als Chloe sich wieder an den Frühstückstisch setzte, überschlugen sich ihre Gedanken. Was war da gerade geschehen? Für einen kurzen Moment, als ihre Blicke sich trafen, hatte sie ganz genau gewusst, was Brandt dachte und was er fühlte. Sie hatte eine verletzliche Seite an ihm gesehen, die ihn rührend menschlich machte. Allerdings war sie bereits völlig aus dem Gleichgewicht geraten, als er Julian das zweite Mal auf den Arm genommen hatte. Der arrogante Viscount war plötzlich wie ausgewechselt gewesen.

„Chloe?“

Ihr wurde bewusst, dass sie den Toast auf ihrem Teller angestarrt hatte. „Ich … ich fürchte, ich war in Gedanken versunken, Belle.“

„Das sehe ich. Hat Brandt etwas gesagt, das dich beschäftigt?“

„Ausnahmsweise nicht. Er war nur besorgt, weil er Julian auf dem Arm hatte.“

Belle lachte. Sie goss sich Kaffee nach und warf Chloe einen Blick zu. „Das klingt, als hättet ihr euch endlich vertragen.“

„Niemals. Er ist mir zu arrogant.“ Chloe senkte den Blick.

„Das ist schade, denn ich glaube, er mag dich“, sagte Belle sanft.

Chloe lachte bitter. „Das bezweifle ich. Er neckt mich pausenlos, und es scheint ihn zu freuen, dass ich mich darüber ärgere.“

„Ich denke eher, er tut das, um deine Aufmerksamkeit zu erlangen. Sonst neigst du nämlich dazu, ihn zu schneiden.“

Chloes Wangen röteten sich. Es lag nicht in ihrer Natur, jemanden zu kränken, und sie hatte ihre Unhöflichkeit Brandt gegenüber damit entschuldigt, dass er wahrscheinlich ohnehin keine Gefühle habe, die sie verletzen könnte. „Ich nehme an, ich kann ihm einfach nicht verzeihen, wie er dich zu Anfang behandelt hat. Wie konnte er glauben, dass du irgendetwas mit Luciens Plan zu tun hattest, Justin zu vernichten.“

„Das ist Vergangenheit. Und du mochtest Justin zunächst auch nicht, doch jetzt scheinst du nichts mehr gegen ihn zu haben. Wenn überhaupt, dann war er derjenige, der die Absicht hatte, mich zu verletzen, während Brandt einzig seinen Cousin beschützen wollte. Genau wie du versucht hast, mich zu beschützen.“

„Ich weiß.“ Ihre Gefühle waren sicherlich unvernünftig. Als Justin nach England zurückgekehrt war, hatte er allen Grund gehabt, zu glauben, dass Belle Luciens Komplizin war. Lucien hatte geplant, Justins Vater zu zerstören, indem er Justin in einem Duell tötete. Stattdessen war Lucien verwundet und Justin auf den Kontinent verbannt worden. Justin war darauf versessen gewesen, sich zu rächen, und hatte sich zum Ziel gesetzt, Belle zu seiner Mätresse zu machen. Wenn überhaupt, hätte sie, Chloe, Justin verabscheuen müssen, doch wie konnte sie das, wenn er Belle und nun Julian so offensichtlich liebte? Außerdem hatte er sie so freundlich bei sich aufgenommen, obwohl er sie ebenso gut hätte hassen können, weil sie Luciens Halbschwester war.

„Es gibt einen weiteren Grund, weshalb ich hoffe, dass du Brandt mit der Zeit besser leiden kannst“, fuhr Belle fort. „Er wird unser Nachbar.“

Resigniert erkannte Chloe, dass Mr Rushton recht gehabt hatte. „Er hat also Waverly gekauft.“

„Woher weißt du es?“

„Mr Rushton sprach gestern Abend davon.“ Chloe biss sich auf die Lippe. „Weshalb hast du es mir nicht erzählt?“

„Er bat mich, nichts darüber verlauten zu lassen, da es Ungereimtheiten bei den Eigentumsrechten gab, die erst ausgeräumt werden mussten. Aber er wird den Kaufvertrag heute unterzeichnen.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, weshalb er das Anwesen haben will! Es ist alt und vernachlässigt. Weshalb kann er nicht in Salcombe House wohnen?“

„Er mag Salcombe House nicht“, sagte Belle freundlich.

„Und woher hat er das Geld, Waverly zu kaufen?“, platzte Chloe heraus und war zutiefst beschämt, als sie den leisen Vorwurf in Belles Gesichtsausdruck sah. „Oh, Belle, es tut mir leid. Ich hätte so etwas Unhöfliches nicht äußern dürfen. Schließlich geht es mich wirklich nichts an.“

„andere Leute werden zweifellos die gleiche Frage stellen. Er hat einen Großteil seiner Besitztümer, die nicht zum Fideikommiss gehörten, veräußert, um die Schulden seines Vaters zu bezahlen und die notwendigen Modernisierungen an seinem Besitz vornehmen zu lassen. Das übrige Geld hat er investiert, und ich nehme an, dass er Waverly von den Gewinnen kauft.“

„Er hat es anscheinend unbedingt haben wollen. Ich verstehe allerdings nicht, weshalb.“

Belle lächelte. „Ich nehme an, dass er sich auf den ersten Blick in das Haus verliebt hat. Genau wie du.“

Unschlüssig blieb Brandt vor dem hübschen Backsteinhaus der Suttons stehen. Warum hatte er die Einladung bloß angenommen? Er hatte nicht den Wunsch, an einer Veranstaltung teilzunehmen, bei der kichernde junge Mädchen und ihre Bewunderer die Schritte der neuesten Tänze übten. Genau die Art ländliche Unterhaltung, die er in einem rückständigen Dorf wie Weyham erwartete. Andererseits hatte er nie Gelegenheit gehabt, eine solche Tanzstunde zu besuchen. Die ständigen Krankheiten seiner Mutter und die strengen moralischen Grundsätze seines Vaters und dessen kalte Missachtung seiner Nachbarn hatten ihn nicht dazu ermutigt, mit dem Landadel der Umgebung Umgang zu pflegen. Und als Brandt nach dem Tod seiner Mutter endlich in der Gesellschaft verkehrte, hatte er sich den wüstesten Lebemännern angeschlossen. Erst als sein Vater tot in einem von Londons berüchtigtsten Bordellen aufgefunden wurde, war er zur Vernunft gekommen. Aber zu dem Zeitpunkt war er bereits zu desillusioniert gewesen, um sich an so einfachen Vergnügungen wie einem Nachmittag mit Tanzübungen erfreuen zu können.

„Haben Sie vor hineinzugehen, Salcombe?“

Brandt schrak auf, als Gilbert Rushtons Stimme hinter ihm erklang. Er drehte sich um. „Ich überlege noch.“

„Dazu ist es zu spät. Mrs Sutton beugt sich bereits aus dem Fenster. Es wäre unverzeihlich, wenn Sie jetzt wieder gehen würden.“ Er grinste Brandt an. „Machen Sie sich keine Sorgen, es dauert höchstens ein paar Stunden.“

Tatsächlich winkte ihnen Mrs Sutton aus einem der Fenster im ersten Stockwerk zu. Brandt folgte Rushton zur Tür. „Also hat Mrs Sutton Sie ebenfalls überredet?“

„Richtig. Als ich indes erfuhr, dass Lady Chloe ebenfalls hier sein wird, musste man mich nicht lange überreden.“

„Lady Chloe?“

„Ein verdammt hübsches Mädel, klug und obendrein eine Erbin. Manche Gentlemen mögen keine Mädchen, die ihnen beim Kartenspiel überlegen sind, ich schon. Mir gefällt es, wenn eine Frau Temperament und Köpfchen hat.“

Unerklärlicherweise ärgerte Brandt sich darüber.

Inzwischen hatten sie die Eingangstür erreicht. Rushton blickte ihn an. „Ich dringe doch nicht etwa in Ihr Revier ein?“

„Nein, ich habe kein Interesse an Lady Chloe, abgesehen davon, dass wir miteinander verwandt sind.“

„Dann haben Sie nichts dagegen, wenn ich die Bekanntschaft mit ihr vertiefe?“

Oh, er hatte auf jeden Fall etwas dagegen. Wie konnte er wollen, dass sie dem Charme eines Tunichtguts wie Gilbert Rushton erlag? „Nein, es sei denn, Sie tändeln mit ihr.“

„Meine Absichten sind vollkommen ehrenhaft.“

Das war nicht dazu angetan, Brandt zu beruhigen. Aber die Haushälterin hatte ihnen bereits geöffnet und führte sie in den sonnigen Salon, in dem sich bereits ein halbes Dutzend junger Leute um das Klavier versammelt hatte. Chloe saß auf einem kleinen Sofa neben Sir Preston. Sie sah erstaunt auf und wandte dann rasch den Blick ab.

Mrs Sutton begrüßte sie mit einem freundlichen Lächeln. „Guten Tag, Gilbert. Wie reizend, Sie zu sehen, Lord Salcombe. Wir finden es großartig, Sie in Zukunft bei uns zu haben. Wir hatten schon befürchtet, dass Waverly abgerissen würde und …“ Als sie seine Miene gewahrte, brach sie ab. „Oje! Ich fürchte, das hätte ich nicht …“

Brandt hatte seine Überraschung nicht ganz verbergen können. „Keine Sorge, Madam. Ich habe gerade heute die letzten Papiere unterzeichnet und brauche die Sache daher nicht länger geheim zu halten.“

Der ängstliche Ausdruck wich aus Mrs Suttons Zügen. „Das ist ja wunderbar!“

„Also stimmten die Gerüchte! Herzlichen Glückwunsch!“, sagte Rushton.

Die anderen kamen hinzu, um ihm ebenfalls zu gratulieren, außer Chloe, die zu Brandts Ärger mit verschlossenem Gesichtsausdruck im Hintergrund blieb.

Schließlich drehte Lydia sich zu Chloe um. „Siehst du! Ich wusste, dass Lord Salcombe kommen würde. Er versicherte mir, er würde es überhaupt nicht langweilig finden, wie du behauptet hast.“

„Ich verstehe“, sagte Chloe schwach.

Lydia lächelte strahlend. „Wollen wir anfangen? Harriet wird Klavier spielen. Zuerst tanzen wir einen Ländler, um Sir Preston zu zeigen, wie es geht. Dann kann er es selber versuchen.“

Sir Preston zupfte an seinem Krawattentuch.

„Meint ihr nicht, dass es zu verwirrend für ihn wird, wenn wir alle auf einmal tanzen?“, fragte Emily. „Ich denke, es wäre das Beste, wenn Lady Chloe und Lord Salcombe zuerst die Schritte vorführen. Sie haben wahrscheinlich die meiste Erfahrung.“

Chloe sah sie entsetzt an. „Was mich anbelangt, so trifft das nicht zu.“

„Das Gleiche gilt für mich“, sagte Brandt unwirsch und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ich würde mich freuen, Lady Chloes Partner zu sein“, sagte Rushton. Er lächelte sie in einer Weise an, die Brandt ärgerlich fand.

„Dann kann Lydia ja mit Lord Salcombe tanzen“, beschied Emily.

Lydia hatte sich über Emilys Einmischung geärgert, doch nun erhellte sich ihr Gesicht. „Das ist eine großartige Idee. Bei zwei Paaren ist es viel leichter zuzuschauen.“

„Da wir das geregelt haben, können wir ja jetzt anfangen“, sagte Tom Coltrane. Er stand mit Henry Ashton neben dem Pianoforte.

Sie nahmen ihre Plätze ein, und Harriet begann einen Ländler zu spielen. Brandt, der bei zahllosen Bällen in Anwesenheit der hochnäsigsten Mitglieder des ton getanzt hatte, wurde plötzlich von einer unerwarteten Befangenheit ergriffen, nur weil eine Handvoll junger Leute ihn beobachtete. Harriets abgehackte Spielweise und die Tatsache, dass sie gelegentlich Passagen wiederholte, wenn sie eine falsche Note gespielt hatte, machten es beinahe unmöglich, im Takt zu bleiben. Dass Rushton flüsternd mit Chloe flirtete, brachte Brandt noch mehr aus dem Konzept. Und als er Lydia losließ und versehentlich nach Rushtons Hand griff statt nach Chloes, wusste er nicht, ob er lachen oder fluchen sollte.

Die anderen begannen zu kichern. Chloe starrte ihn an. Sie biss sich auf die Lippe, dann begannen ihre Mundwinkel zu zucken. Sie blieb stehen, und Lydia stieß gegen sie. „Oje …“ Sie schlug die Hand vor den Mund und versuchte vergebens, nicht zu lachen.

Brandt grinste. Alle außer Lydia waren nun in Gelächter ausgebrochen. „Oh, hört auf!“, rief sie. „So komisch war es nun auch wieder nicht!“

„Doch!“ Tom hielt sich die Seiten. „Wird das in London etwa so gemacht? Ich hatte mir diese ton – Bälle immer ein wenig fade vorgestellt! Mir scheint, ich habe mich geirrt!“

Sogar Sir Preston lächelte. „Hätte von mir stammen können, die Demonstration.“

Lydia marschierte zum Pianoforte. „Harriet! Wieso hast du nicht geübt?“

Harriet sprang auf. „Ich hasse es, Tänze zu spielen, das habe ich dir doch gesagt!“ Sie sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen.

„Mach dir nichts draus, Harriet“, sagte Emily energisch. „Du kannst mit Tom tanzen, und ich werde dieses Mal spielen.“ Sie sah ihren Bruder, der sich immer noch die Augen auswischte, bedeutungsvoll an.

„Äh, ja.“ Tom reichte Harriet seinen Arm. Sie strahlte ihn an, als sie ihren Platz bei den anderen einnahmen.

Dieses Mal ging alles glatt. Als der Tanz vorbei war, erhob Emily sich. „Ich weiß, dass Sie ganz wunderbar spielen, Lady Chloe. Vielleicht könnten Sie sich nun ans Pianoforte setzen, und ich werde Sir Preston die richtigen Schritte zeigen.“

Brandt sah Chloe gerade rechtzeitig genug an, um den seltsamen Gesichtsausdruck zu bemerken, der über ihre Züge huschte. Sie warf Sir Preston einen Blick zu und erklärte schließlich: „Ich fürchte, mir geht es wie Harriet. Ich kann keine Tänze spielen.“

„Oh, das bezweifle ich“, erwiderte Emily. Das Lächeln, das sie Chloe schenkte, war unübersehbar falsch.

„Spiel für uns, Chloe!“, bat Lydia.

Chloe setzte sich an das Instrument, ohne ein Hehl daraus zu machen, dass sie nicht erbaut war. Emily nahm Sir Prestons Hand und ging mit ihm in ihrer sachlichen Art die Schritte durch. Als der Tanz anfing, wurde rasch deutlich, dass Emilys Unterweisung gut gewesen war; Sir Preston patzte nur ein einziges Mal.

Danach brachte die Haushälterin ein Tablett mit Erfrischungen. Trotz des fröhlichen Geplauders der anderen schien Chloe bedrückt und mit ihren Gedanken woanders zu sein. Obwohl Brandt sich vorgenommen hatte, sich von ihr fernzuhalten, hätte er sie gerne gefragt, was mit ihr los war. Doch bevor er sich von Lydia loseisen konnte, nahm Gilbert Rushton bereits den Platz neben Chloe auf dem Sofa ein.

„Wollen Sie Waverly zu Ihrem Zuhause machen, Lord Salcombe?“, fragte Lydia ihn.

„Das habe ich vor, Ms Sutton.“

„Sie werden bestimmt häufig in London sein.“

„Tatsächlich habe ich nicht die Absicht, viel Zeit in der Stadt zu verbringen. Ich werde mit Waverly genug beschäftigt sein.“

Aus irgendeinem Grund sah sie enttäuscht aus. Ms Coltrane erhob sich. „Wir könnten jetzt den Walzer üben. Doch den müssen Lord Salcombe und Lady Chloe uns vorführen.“

Brandt sah Chloe an und wartete auf die unvermeidliche Ablehnung. Sie begegnete seinem spöttischen Blick und hob das Kinn. „Es wäre mir eine Freude, wenn Lord Salcombe einverstanden ist.“

„Es wäre mir ebenfalls eine Freude, Lady Chloe. – Was hat Sie dazu gebracht, schließlich doch noch mit mir zu tanzen?“, murmelte er, als sie neben ihm stand.

„Wie Sich erinnern werden, haben Sie einen Tanz bei mir gut. Ich wollte einfach meine Schulden begleichen.“

Ms Coltrane begann zu spielen. Brandt legte Chloe den Arm um die Taille und ergriff ihre Hand. Chloe zögerte kurz, dann ließ sie sich von ihm führen. Er vergaß, dass er in einem kleinen Salon vor wenigen Zuschauern tanzte – er war sich nur bewusst, wie gut sich ihr schlanker Rücken anfühlte, spürte die sachte Berührung ihrer Finger, sah nur noch, wie sie zu ihm aufblickte, wie weich und einladend ihr Mund war. Bei der Vorstellung, wie er diese Lippen mit seinen verschloss, stockte ihm der Atem.

Er hörte, wie sie scharf Luft holte. Ihre Augen weiteten sich, als ob sie sein Verlangen erraten hätte. Die Musik endete, und er riss sich von ihrem Anblick los. Was zum Teufel machte er da? Er ließ seine Hände sinken und verbeugte sich leicht. „Danke für den Tanz, Lady Chloe.“

Sie knickste. „Danke, Lord Salcombe.“ Dann drehte sie sich zu Sir Preston um. „Möchten Sie es ebenfalls versuchen, Sir? Ich würde Ihnen die Schritte gerne zeigen. Ms Coltrane hat so großartig gespielt, sicher hätte sie nichts dagegen, es noch einmal zu tun.“

„Oh, selbstverständlich nicht“, versetzte Ms Coltrane mit einem kühlen Lächeln.

Dieses Mal spielte sie den Walzer, als handele es sich um ein Requiem. Brandt kam indes nicht dazu, zu überlegen, weshalb, weil Chloes Bemühungen, Sir Preston die Feinheiten des Walzers beizubringen, ihn ablenkten. Als er sah, wie sie Sir Prestons Hand an ihre Taille führte, wünschte er, dass er derjenige wäre, der Walzer üben müsste. Und als Sir Preston schließlich fehlerfrei tanzen konnte, lächelte Chloe ihn in einer Weise an, dass Brandt von Eifersucht gepackt wurde.

Mrs Sutton bestand darauf, zu spielen, damit alle tanzen konnten, bis Ms Coltrane verkündete, es sei Zeit für sie, aufzubrechen.

Die anderen folgten ihrem Beispiel, und die Gesellschaft löste sich auf. Als Brandt sich von Mrs Sutton verabschiedete, lächelte die Dame des Hauses ihn an. „Wir haben uns ja so gefreut, dass Sie heute bei uns waren! Ich hoffe, Sie werden bei Lady Havershams Sommerball ebenfalls zugegen sein?“

„Ja, ich werde kommen.“

Mrs Sutton strahlte. „Wie schön.“

Es gelang ihm schließlich, ihr zu entkommen, doch von Chloe war nichts mehr zu sehen.

In gedrückter Stimmung ging Chloe den Weg entlang. Sie fragte sich, ob sie diesen Nachmittag als Erfolg werten konnte oder nicht. Sie hatte zwar einige Zeit neben Sir Preston gesessen, aber nachdem Emily und Tom eingetroffen waren, hatte sich die Konversation um Pferderennen gedreht, ein Thema, über das Chloe nur wenig wusste. Brandts unerwartete Ankunft hatte ihr die Laune erst recht verdorben, und als Lydia geäußert hatte, dass er die Tanzstunde keineswegs langweilig fände, wäre Chloe am liebsten im Boden versunken.

Es war ihr aufgefallen, dass Emily aus einem unerfindlichen Grund entschlossen schien, sie von Sir Preston fernzuhalten. Wenigstens war es ihr zuletzt doch noch gelungen, Emilys Plan zu durchkreuzen und Sir Preston den Walzer zu zeigen. Seltsamerweise war es jedoch eine recht langweilige Angelegenheit gewesen, nachdem sie mit Brandt getanzt hatte. Brandt war natürlich ein erfahrener Tänzer, vermutlich war es deshalb interessanter mit ihm. Was allerdings nicht dieses merkwürdige Kribbeln erklärte, als Brandt seine Hand auf ihre Taille gelegt hatte. Und weshalb sie überhaupt nichts empfunden hatte, als Sir Preston dasselbe tat. Oder weshalb ihr Herzschlag bei dem Blick in Brandts Augen am Ende des Tanzes außer Takt geraten war.

Sie hatte lediglich aus dem Grund eingewilligt, mit ihm Walzer zu tanzen, weil sie es ihm am Abend zuvor versprochen hatte. Und weil er sie mit diesem wissenden Blick angesehen hatte, als ob er nur darauf wartete, dass sie ablehnte. Sie hatte ihn eines Besseren belehren wollen.

Was blödsinnig war. Genauso wie an ihn zu denken, obwohl sie eigentlich an Sir Preston denken sollte. Er war ein verlässlicher, vertrauenswürdiger Mann – und genau so einen wollte sie heiraten. Einen Mann, bei dem sie sich wohlfühlen würde. Einen Mann, der sie nicht behandelte, als ob sie unfähig wäre, eigenständig zu denken. Nicht so wie ihr Vater. Oder Lucien. Oder wie Arthur es tat. Und ein kühler, selbstsicherer, arroganter Mann wie Brandt es gewiss ebenfalls tun würde.

Jemand rief ihren Namen, und Chloe drehte sich um. Emily kam hinter ihr her geeilt. Chloe unterdrückte ein Stöhnen. Emily war der letzte Mensch, den sie in diesem Augenblick sehen wollte.

Sie holte Chloe ein. „Sie haben wirklich gut mit Lord Salcombe Walzer getanzt. Wie nett von Ihnen, Sir Preston die Schritte zu zeigen, obwohl ich bezweifle, dass er von Ihren Fachkenntnissen ebenso profitiert, wie sich seine Fachkenntnisse im Kartenspiel für Sie ausgezahlt haben.“

„Ich hatte einfach Glück.“

„Ich glaube nicht, dass es nur Glück war. Sie haben beachtliches Talent. Jeder konnte sehen, dass Sie das Spiel in der Hand hatten. Ich nehme an, es war sehr demütigend für den armen Sir Preston.“

„Sir Preston hat hervorragend gespielt. Ich würde mich jederzeit freuen, ihn zum Partner zu haben.“

Emily lachte auf. „Wie vehement Sie ihn verteidigen. Man könnte beinahe meinen, Sie hegten ein tendre für ihn.“

Offenbar wollte sie damit andeuten, dass keine Frau, die ihre fünf Sinne beisammenhatte, dergleichen in Betracht ziehen würde. „Ich kann mir vorstellen, dass eine Menge Frauen ein tendre für Sir Preston entwickeln könnten“, erwiderte Chloe.

„Also ist es wahr! Ich hätte gedacht, dass Sie einen Mann wie Lord Salcombe vorziehen würden.“

„Ich habe nicht behauptet, dass ich ein tendre für Sir Preston hege.“ Chloes Wangen röteten sich. „Und ich weiß nicht, wie Sie auf die Idee kommen, dass ich Lord Salcombe vorzöge.“

„Er ist kultivierter und weltgewandter, und ich nehme an, dass er nicht nur an sein Land und seine Pferde denkt. Man muss schließlich etwas mit demjenigen gemeinsam haben, dem man seine Zuneigung schenkt, und soweit ich sehe, haben Sie kein Interesse an Landwirtschaft und Pferden.“

„Natürlich bin ich daran interessiert.“ Chloe ärgerte sich immer mehr über Emilys impertinente Fragen.

Das Mädchen lächelte überheblich. „Armer Sir Preston. Hat er einen Verdacht? Nein, natürlich nicht. Dazu ist er zu begriffsstutzig.“

Chloe hätte sie am liebsten geohrfeigt. „Ich hege kein tendre für irgendjemanden. Ich mag Sir Preston, weil er nett ist.“ Gott sei Dank hatten sie den Abzweig nach Falconcliff erreicht. „Ich muss hier entlang. Ich hoffe, Sie werden derartige Spekulationen niemandem sonst gegenüber erwähnen.“

„Oh, mit keinem Wort“, äußerte Emily munter. „Auf Wiedersehen, Lady Chloe.“ Sie ging mit hoch erhobenem Kopf davon.

Chloe starrte ihr hinterher. Lieber Himmel! Wenn Emily nun doch redete? Sie würde vor Scham sterben, wenn man glaubte, sie hätte es auf Sir Preston abgesehen.

Vor allem Brandt. Sie konnte sich seine Erheiterung vorstellen. Nein, sie wollte nicht, dass jemand davon erfuhr, bevor sie nicht mit Sir Preston verlobt war.

Falls es überhaupt dazu kommen würde.

Chloes Laune wurde noch schlechter, als sie ihr Schlafgemach betrat und auf dem Ankleidetisch einen Brief von Arthur fand. Normalerweise schrieb er, um sie dafür zu tadeln, dass sie ihr ganzes Nadelgeld ausgegeben hatte.

Sie ging zum Fenster, erbrach das Siegel und faltete den Brief auseinander. „Oh nein“, flüsterte sie.

Der Marquis of Denbigh und seine Schwester, Lady Barbara, waren so überaus freundlich, uns zu ihrer Hausgesellschaft nach Denbigh Hall einzuladen. Ich werde zehn Tage nach Lady Havershams Ball in Falconcliff eintreffen, und am nächsten Morgen werden wir zeitig nach Denbigh Hall aufbrechen.

Nicht Lord Denbigh, der sie mit seinem massigen Körper, den hervorquellenden Augen und den feuchten Händen an einen großen Frosch erinnerte! Sie war ihm in der vergangenen Saison vorgestellt worden und hatte ihn nicht gemocht, weil er sie an Luciens Bekannte erinnerte. Sie war erstaunt gewesen, als Denbighs verwitwete Schwester, die weltgewandte Lady Barbara Grant, sie ins Theater einlud, bei Gesellschaften ihre Nähe suchte und sie zu Ausfahrten in ihrem modischen Landauer mitnahm. Lord Denbigh war fast jedes Mal dabei gewesen. Chloe hatte versucht, ihm aus dem Weg zu gehen, denn die Art, wie er sie betrachtete, beunruhigte sie. Doch eines Abends, als ihre Mutter und sie bei Lady Barbara zum Dinner eingeladen waren, hatte Lady Barbara Denbigh und sie in dem kleinen Garten hinter ihrem Stadthaus allein gelassen. Plötzlich war er über sie hergefallen und hatte sie mit seinem feuchten, dicken Mund geküsst. Ihr war übel geworden, aber erst als sie anfing, zu würgen, hatte er von ihr abgelassen.

Am darauffolgenden Tag hatte Chloe angefangen zu fiebern, und der ganze Körper hatte ihr wehgetan. Nach mehreren Wochen war sie genesen, jedoch immer noch so geschwächt, dass der Arzt einen Aufenthalt an der Küste empfohlen hatte. Die Einladung nach Falconcliff war ihr wie ein Geschenk des Himmels erschienen. Chloe hatte sich gefreut, Belle wiederzusehen, und sie war erleichtert gewesen, London und Lord Denbigh zu entkommen. Jedenfalls hatte sie das geglaubt.

Was sollte sie nun tun? Allein der Gedanke, Lord Denbigh erneut zu begegnen, machte ihr Angst. Würde Sir Preston ihr doch nur einen Antrag machen! Wenn sie mit ihm verlobt wäre, brauchte sie sicher nicht mehr zu der Hausgesellschaft nach Denbigh Hall fahren. Sie könnte bis zur Hochzeit in Falconcliff bleiben, und danach würde sie für immer hier in Devon leben.

Mit dem Brief in der Hand wandte Chloe sich vom Fenster ab und setzte sich auf das Bett. Sir Preston war nett und aufmerksam, aber was Frauen anging, besaß er kein besonderes Geschick. Er erinnerte sie an Charles Hampton, Serenas Verlobten. Serena war ihre beste Freundin und hatte ihr geschrieben, sie habe ihren Charles dazu zwingen müssen, ihre Erwartungen zu erfüllen.

Wie hatte sie das nur bewerkstelligt? Chloe erhob sich und durchsuchte die kleine Holzkiste, in der sie ihre Korrespondenz aufbewahrte, bis sie Serenas Brief gefunden hatte.

Ich muss zugeben, ich war gezwungen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Wahrscheinlich bist du über meine Unverfrorenheit schockiert, ich weiß doch, wie anständig du bist! Bei der Gesellschaft gestern Abend bat ich ihn unter dem Vorwand, mir sei zu heiß im Saal, mich in den Garten zu begleiten. Ich lotste ihn zu einer Bank, die schön abgelegen war, und wir setzten uns. Nach kurzer Zeit erklärte ich ihm, mir sei kalt, und rückte ganz nah an ihn heran. Dann lächelte ich und sah ihm tief in die Augen. Es war dreist von mir, ich weiß, aber endlich küsste er mich, und danach fühlte er sich verpflichtet, mir einen Antrag zu machen, den ich sittsam angenommen habe.

Die Sache mit dem Küssen verursachte Chloe leichte Übelkeit, doch wenn sie Sir Preston heiraten wollte, dann musste sie Küsse zulassen. Vielleicht gewöhnte man sich ja mit der Zeit daran.

Bei Belle war das jedenfalls so, der verträumte Ausdruck in ihren Augen, wenn Justin sie auf eine bestimmte Art anblickte, ließ darauf schließen. Indes fand Chloe das Verlangen der beiden nacheinander nicht abstoßend. Im Gegensatz zu dem Ekel, den sie bei Denbigh empfunden hatte. Oder bei Luciens Bekannten.

Konnte sie es irgendwie erzwingen, dass Sir Preston um ihre Hand anhielt? Sie erschauerte bei dem Gedanken daran, aber sie sah keine andere Möglichkeit, Arthurs Ansinnen zu vereiteln.

Arthur würde in weniger als zwei Wochen eintreffen. Bis dahin musste sie sich etwas einfallen lassen.

3. KAPITEL

Brandt betrachtete das Kind, das auf seinem Knie saß, und fragte sich, wie es dazu gekommen war, dass man ihm wieder ein Menschlein, das nicht einmal ein Jahr alt war, in den Arm gedrückt hatte. Dieses Mal war es Lady Emma Peyton, die jüngste Tochter von Lord und Lady Haversham. Sie sah ihn mit ihren großen blauen Augen unverwandt an, und als er sie zögernd anlächelte, verzog sie ihr Mündchen, das wie eine Rosenknospe aussah, zu einem unwiderstehlichen Lächeln. In wenigen Jahren würde sie zweifellos jeden Mann, der sie zu Gesicht bekam, bezaubern. Bei ihm war ihr das bereits gelungen.

„Also werden wir das Picknick in Waverly zwei Tage nach dem Ball veranstalten“, sagte Marguerite. Sie saß ihm gegenüber auf einem der Sofas in ihrem Salon.

Brandt riss sich von Lady Emmas Anblick los. „Solange es nicht regnet. Im Empfangszimmer liegt immer noch fingerdick der Gipsstaub.“

„In diesem Fall werden wir das Picknick einfach hierher verlegen.“

Emma strampelte auf seinem Arm, und Brandt begann sie zu schaukeln. Sie lachte entzückt auf.

„Ich glaube, es wird Zeit für dich, eigene Kinder zu bekommen“, schmunzelte Marguerite.

„Warum? Ich kann doch den Onkel für deine und Belles Kinder spielen.“

„Das ist nicht dasselbe, wie eigene Kinder zu haben. Was meinst du, Giles? Ich glaube, er wäre ein großartiger Vater.“

„Zweifellos.“ Giles, der am Kamin stand, wandte sich grinsend zu Brandt. „Sei lieber vorsichtig. Wenn sie solche Dinge sagt, könnte es dir passieren, dass du im Handumdrehen eine ganze Schar von Rangen am Hals hast.“

„Dazu braucht er erst einmal eine Gattin“, gab Marguerite zu bedenken. Sie sah Brandt an. „Gibt es denn keine Frau, für die du dich interessierst? Eine respektable, meine ich.“

„Ich fürchte, alle respektablen, interessanten Frauen sind entweder verheiratet oder …“, er betrachtete Emma, „… viel zu jung.“

Marguerite verdrehte die Augen. „Wirklich, Brandt, kannst du nicht mal einen Augenblick ernst sein?“ Sie erhob sich, um ihre Tochter zu nehmen. „Waverly braucht Kinder, also musst du eine Frau finden, die zu dir passt und die dir gefällt.“

„Ich kann mir im Augenblick keine Gattin leisten.“

„Dann musst du dir eine Erbin suchen“, meinte Giles.

Marguerite starrte ihren Gatten an, als habe er gerade eine brillante Idee gehabt. „Natürlich. Chloe. Sie wäre perfekt. Sie liebt Kinder, und sie liebt Waverly. Du könntest keine finden, die besser zu dir passt!“

War Marguerite verrückt geworden? „Ich glaube, sie würde eher einem von uns den Kopf abschlagen, als sich von mir zum Altar führen lassen.“

Giles grinste amüsiert. „Weshalb eigentlich nicht? Ich bin sicher, du würdest dich keine Minute langweilen.“

„Nein. Ich müsste höchstens befürchten, dass ich mit einem Dolch an der Kehle aufwache.“

„Vielleicht wäre sie nicht mehr böse auf dich, wenn du aufhören würdest, sie zu ärgern“, erklärte Marguerite. „Ich muss Emma zu ihrer Kinderfrau zurückbringen und mich vergewissern, dass die Zimmer hergerichtet sind. Unsere ersten Gäste werden heute eintreffen. Sosehr ich mich auf den Ball freue, ich bin erleichtert, wenn er übermorgen vorbei ist.“ Marguerite ging zur Tür und drehte sich um. „Wenn du Chloe nicht in Betracht ziehst, werde ich eine andere Kandidatin für dich finden müssen“, drohte sie Brandt und ging hinaus.

Brandt ritt den Weg entlang, der über die Klippen nach Waverly führte. Unter ihm lag der Strand und dahinter die funkelnde See, doch er schenkte der Landschaft keine Beachtung. Stattdessen ging ihm der Gedanke an Kinder nicht aus dem Kopf. Seine Kinder. In Waverly.

Er musste verrückt sein. Gewiss hatten Julian und Emma ihn nicht so sehr bezaubern können, dass er plötzlich eigenen Nachwuchs haben wollte. Wenn er je über Kinder nachgedacht hatte, dann waren sie stets gesichtslos gewesen.

Nun waren sie das nicht mehr. Sie hatten rundliche Wangen und pummelige Händchen. Und ihr Lächeln rührte sein Herz. Obwohl er spürte, dass Waverly das Richtige für ihn war, schien dort irgendetwas zu fehlen, als ob es noch etwas gäbe, das er sich wünschte. Jetzt wusste er, was es war. Dasselbe, was Justin und Giles hatten: warmherzige, liebevolle Familien.

Nicht so wie seine eigene Familie, mit einer Mutter, die niemals lächelte, und dem kalten, strengen Vater, der bei den kleinsten Verstößen zornig wurde. Brandt konnte sich kaum an eine Zeit erinnern, in der seine Mutter nicht krank gewesen war, und obwohl sie nie die Stimme erhoben und nie vor anderen geweint hatte, stand für ihn fest, dass sie furchtbar unglücklich gewesen sein musste. Und sein Vater hatte sich ihm gegenüber nie wie ein Vater verhalten. Nur in Justins Familie war ihm Wärme zuteil geworden.

Er war oft bei den Westmores gewesen. Die Duchess hatte ihm die gleiche Liebe und Herzlichkeit entgegengebracht wie ihrem eigenen Sohn. Sie hatte ihm stets zugehört, wenn er etwas auf dem Herzen hatte, und war sich nicht zu schade gewesen, sich auf den Boden zu hocken und mit ihnen zu spielen. Der Duke war zwar zurückhaltender, aber genauso freundlich gewesen.

Brandt hatte Justin beneidet. Er tat es noch immer.

Doch selbst wenn er eine Gattin haben wollte, er konnte sich keine leisten. Es war ihm zwar gelungen, einen Teil des Vermögens zu retten, das sein Vater vergeudet hatte, aber die Ausgaben für all die Reparaturen und Verbesserungen auf dem Grundbesitz, die sein Vater vorzunehmen versäumt hatte, waren immens hoch gewesen. Einen Teil hatte er für ein gewagtes Unternehmen aufs Spiel gesetzt, das gegenwärtig erfolglos zu sein schien. Aber immerhin besaß er Waverly, das Anwesen, das er haben wollte, seit er es zum ersten Mal gesehen hatte.

Er wollte nicht des Geldes wegen heiraten oder eine Vernunftehe eingehen. Oder für den Erben sorgen, den seine Großtante Lady Farrows in keinem Brief unerwähnt ließ. Er würde keinen Nachwuchs in die Welt setzen, es sei denn, er heiratete eine Frau, die Kinder ebenso anbetete, wie Marguerite oder Belle es taten.

Eine Frau wie Chloe.

Er verwünschte Marguerite, weil sie ihm diesen Gedanken in den Kopf gesetzt hatte. Chloe passte nicht zu ihm. Sie war zu unschuldig, zu gut.

Brandt erreichte die baufälligen Stallungen, saß ab und übergab sein Pferd einem Stallburschen. Statt sich zum Haus zu begeben, schlug er den Weg ein, der zur Küste führte. Am Rand der Klippen blieb er stehen. Plötzlich bemerkte er auf den flachen Felsen im Watt zwei Kinder und eine Frau, die er ohne Schwierigkeiten erkannte: Es waren Lord Will Haversham und seine Schwester Lady Caroline – und Lady Chloe.

Er fluchte leise. Seiner Berechnung nach musste die Flut bald kommen. Er hoffte, Chloe war so vernünftig, die Felsen vorher zu verlassen. Rasch eilte er zu den unebenen Steinstufen, die zum Strand hinunterführten.

„Guck mal, Chloe!“, rief William. Chloe hob ihre Röcke an und lief vorsichtig über die Felsen. Als sie den Tümpel erreicht hatte, vor dem der Junge kniete, ging sie neben ihm in die Hocke. „Was hast du entdeckt?“

„Einen Seestern! Ist er nicht großartig?“

„Das ist er“, bestätigte Chloe und lächelte. Mit seinen sechs Jahren war William begeisterungsfähig, lebhaft und voller Tatendrang. Sie hatte ihn ebenso gern wie seine ernsthaftere ältere Schwester Caroline und natürlich die kleine Emma. Lydia konnte nicht verstehen, weshalb sie so langweilige Dinge tat, wie die Kinder zu einem Picknick mitzunehmen oder Tümpel bei Ebbe zu erforschen oder auf Ponys zum Fischbach in der Nähe des Dorfes zu reiten. Lydia hatte Spielkameraden gehabt und war unter Geschwistern aufgewachsen. Beides hatte sie, Chloe, schmerzlich vermisst, und mit Lucien war es schlimmer gewesen, als wenn sie gar keinen Bruder gehabt hätte. Mit Will und Caroline konnte sie all jene Dinge erleben, nach denen sie sich als Kind so gesehnt hatte.

„Chloe!“ Caroline stand neben ihr. „Ich glaube, wir sollten umkehren. Die Flut kommt langsam herein.“

„Du hast recht. Komm, Will, lass uns aufbrechen.“

„Ich möchte noch bleiben. Nur ein bisschen.“

„Nein, William“, sagte Caroline. „Wir müssen an den Strand zurück. Wir wollen doch nicht auf den Felsen gefangen sein.“

„Das werden wir schon nicht. Guck mal, da ist ein Krebs!“

„William!“

„Wenn die Flut kommt, können wir den unterirdischen Gang nehmen. Der mündet im Garten von Waverly.“

Caroline erschauerte. „Bitte nicht. Da drin ist es finster und nass und glitschig, und es stinkt nach Fisch.“

„Und ich hasse dunkle, kalte Orte“, fügte Chloe hinzu. Will hatte ihr den Höhleneingang einmal gezeigt. Darin hallte das Meeresrauschen auf so Furcht einflößende Weise wider, dass ihr allein bei der Erinnerung fröstelte. Trotz Wills Versicherung, dass der Gang vom Meer weg die Klippe hinaufführte, befielen sie entsetzliche Visionen, vom steigenden Wasser gefangen zu sein. Außerdem hatte sie nicht den Wunsch, im Garten von Waverly zu landen. Zumindest jetzt nicht mehr. „Wir können die Aprikosentörtchen essen.“

Das zeigte die gewünschte Wirkung. Will stand auf und kletterte erstaunlich schnell über die Felsen in Richtung Strand. Auf dem letzten blieb er stehen. „Der Erste, der beim Picknickkorb ist, kriegt drei Törtchen!“ Er sprang hinunter und rannte über den Sand.

Mit einem Aufjauchzen folgte Caroline ihrem Bruder, und auch Chloe setzte sich eilends in Bewegung.

Es war gar nicht so leicht, auf Sand zu laufen, und schon nach ein paar Metern hielt sie außer Atem an. Sie sah zu William hinüber und erstarrte. Was in aller Welt machte Brandt hier?

Er stand neben Will und Caroline und beobachtete sie.

Chloe wurde plötzlich bewusst, wie verblichen, nass und beschmutzt ihr Kleid aussehen musste. Ihr Haar hatte sich aus den Nadeln gelöst, und ihre bloßen Füße waren voller Sand. Wahrscheinlich sah sie wie ein zu groß geratenes Straßenkind aus. Sie setzte ihren Hut auf, der an den Bändern auf ihrem Rücken gebaumelt hatte.

William rannte auf sie zu. „Guck mal, Chloe! Onkel Brandt ist hier! Ich habe ihm erzählt, dass es Aprikosentörtchen gibt und dass er eines abbekommt!“ Der Junge ergriff ihre Hand und zog sie mit sich.

Brandt sah sie unverwandt an und sagte nichts. Dann schien er aufzuschrecken. „Nur, wenn genug davon da sind.“

„Ganz bestimmt“, erwiderte sie und fühlte sich noch unbehaglicher.

Sie nahmen alle Platz. Chloe öffnete den Picknickkorb und verteilte die ersten Törtchen. Sie passte auf, dass ihre Finger Brandts starke, schlanke Hand nicht streiften, als er ihr das Gebäck abnahm.

Sie setzte sich auf die Fersen, dankbar, dass Brandt neben Will saß und der Picknickkorb als Barriere zwischen ihnen diente. Wenigstens brauchte sie sich keine Gedanken über die Konversation zu machen, denn Will plapperte zwischen zwei Bissen begeistert über Seesterne, Tümpel und Meerestiere. Chloes Name wurde für ihren Geschmack viel zu oft erwähnt. Mehr als einmal stellte sie fest, dass Brandt sie betrachtete, was ihre Beklommenheit verstärkte.

„Und Chloe macht es nichts aus, wenn ihre Röcke nass werden! Sie läuft sogar ohne Schuhe herum! Zeig es ihm, Chloe!“

Chloe fuhr zusammen. „Das möchte ich lieber nicht tun.“

„Warum denn nicht?“

Autor

Ann Elizabeth Cree
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Nicola Cornick
<p>Nicola Cornick liebt viele Dinge: Ihr Cottage und ihren Garten, ihre zwei kleinen Katzen, ihren Ehemann und das Schreiben. Schon während ihres Studiums hat Geschichte sie interessiert, weshalb sie sich auch in ihren Romanen historischen Themen widmet. Wenn Nicola gerade nicht an einer neuen Buchidee arbeitet, genießt sie es, durch...
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