Historical Lords & Ladies Band 48

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EMMA - ENDLICH VOM GLÜCK UMARMT von DEVON, GEORGINA
Mit seinem unwiderstehlichen Charme betört er die Damen - und jetzt streckt Frauenheld Charles Hawthorne seine Finger nach ihrer Schwester Amy aus! Das muss Emma um jeden Preis verhindern. Um die Ehre ihrer Familie zu retten, scheut sie kein Risiko. Mutig stellt sie sich dem berüchtigten Lebemann in den Weg, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen - und sehnt sich dabei im Geheimen nach seinen heißen Küssen

SÜßE HERZENSBRECHERIN von DICKSON, HELEN
Ein Schuss streckt Lord William vom Pferd! Glücklicherweise kommt in diesem Moment die ebenso hübsche wie engagierte Cassandra vorbeigeritten und bringt ihn ins Spital. Fortan kann der Lord nur noch an seine süße Retterin denken. Beim nächsten Ball bittet er Cassandra um einen Tanz - nicht ahnend, welch aufregendes Abenteuer zwischen Liebe und Gefahr für sie beide beginnen wird, noch bevor die Nacht vorüber ist ...


  • Erscheinungstag 06.03.2015
  • Bandnummer 0048
  • ISBN / Artikelnummer 9783733761257
  • Seitenanzahl 352
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Georgina Devon, Helen Dickson

HISTORICAL LORDS & LADIES BAND 48

GEORGINA DEVON

Emma – Endlich vom Glück umarmt

Alle Frauen in London liegen Charles Hawthorne zu Füßen … Alle Frauen? Nein: Ausgerechnet die bezaubernde Emma zeigt sich widerborstig! Charles ist verblüfft – und fasziniert wie nie zuvor. So sehr, dass er nur noch daran denken kann, wie es wäre, wenn Emma ihren Widerstand aufgeben und sich endlich in seine Arme werfen würde …

HELEN DICKSON

Süße Herzensbrecherin

Errötend wendet sich Cassandra von Lord William Lampard ab. Nach einem Unfall liegt er vor ihr im Krankenhausbett und der Anblick seines entblößten, muskulösen Oberkörpers raubt ihr den Atem. Wie gerne würde sie sich ihm hingeben. Doch Cassandra muss dieses Gefühl mit aller Macht unterdrücken – denn sonst würde sie einen Skandal heraufbeschwören!

1. KAPITEL

Interessiert blickte sich Miss Emma Stockton in Lady Jerseys Ballsaal um, in dem sich die Gäste drängten. Viele tanzten, noch mehr unterhielten sich. Jeder, der im ton eine Rolle spielte, war anwesend. Es war eine illustre Gesellschaft.

Amy, ihre jüngere Schwester, die neben ihr stand, sagte lebhaft: „Schau, Emma, da ist Miss Julia. Kann ich zu ihr gehen? Sie ist mit ihrer Mutter hier.“

Mit einem Blick in die angegebene Richtung antwortete sie: „Ja, Amy, nur vergiss nicht, wenn ein Herr dich zum Tanz bittet, darfst du ihm nicht mehr als zwei Tänze gewähren, und die nicht hintereinander. Und auf keinen Fall Walzer.“

Amy zog einen Schmollmund, nickte jedoch im Fortgehen.

Bekümmert sah Emma ihr nach. Mittlerweile hatte sie den Eindruck, als könnten sie nicht ein einziges Mal ausgehen, ohne dass ihre Schwester die gesellschaftlichen Regeln des ton missachtete.

Die Luft im Saal war erstickend. Seufzend wedelte Emma mit dem zierlichen Fächer aus Elfenbein und lavendelblauer Seide, der einst ihrer Mutter gehört hatte. Sie beschloss, eine Erfrischung zu sich zu nehmen, und schlenderte ein wenig weiter in den Saal hinein. Plötzlich entdeckte sie ihn – den Ehrenwerten Charles Hawthorne. Obwohl ihrer Ansicht nach nichts Ehrenwertes an ihm war.

Er bewegte sich mit einer nur wenigen Männern eigenen eleganten Geschmeidigkeit. Seine dunkelblauen Augen zeigten meistens einen maliziösen Ausdruck. Er hatte pechschwarzes, glänzendes Haar, das er kurz geschnitten trug, was seine maskuline Ausstrahlung betonte. Der hervorragend sitzende Abendfrack betonte seine breiten Schultern. Er war der Traum jeder jungen Dame.

Ein Jammer nur, dass er ein Frauenheld der schlimmsten Sorte war. Und noch schlimmer, er stellte Amy derart nach, dass deren Ruf garantiert ruiniert sein würde, ehe noch ein passender junger Mann um sie anhalten konnte – was unbedingt notwendig war, denn ihrer beider Bruder, ebenso wie ihr Vater, verspielten das wenige, was vom Familienvermögen noch vorhanden war, und verkauften, ständig von Gläubigern verfolgt, ein Stück Land nach dem anderen. Gewiss wäre die Lage anders, hätte sie, Emma, ihr Verlöbnis mit Lord George Hawthorne, dem älteren Bruder Charles Hawthornes, nicht gelöst.

Während sie ihn noch betrachtete, wandte Charles Hawthorne sich um, als habe er ihre Aufmerksamkeit gespürt, und sah ihr ins Gesicht. Emma rann ein leichter Schauer über den Rücken – düstere Vorahnung, sagte sie sich, nichts sonst.

Als sie sah, dass er auf sie zukam, verharrte sie eisern, wenn sie auch lieber die Flucht ergriffen hätte, um der Faszination zu entgehen, die er auf sie ausübte. Emma besaß jedoch eine innere Stärke, die sie zu verharren und sich ihm entgegenzustellen zwang. Sie wollte die Gelegenheit nutzen, dem Mann endlich deutlich zu sagen, dass er sich ihrer Schwester nicht mehr nähern möge. Ehe sie sich völlig gefasst hatte, stand er schon vor ihr.

„Miss Stockton“, murmelte er gedehnt, während er sich elegant vor ihr verbeugte. „Welch eine Freude, Sie hier zu sehen.“

Sie verzog das Gesicht, doch es gelang ihr, hoheitsvoll den Kopf zu neigen. Ihr wurde die Kehle eng – ob wegen seiner Anziehungskraft oder aus Abneigung, war ihr nicht klar –, und sie brachte es nicht über sich, mehr zu entgegnen als nur ein kühles „Mr Hawthorne“.

Als könne er ihre Abneigung verstehen, verzog er spöttisch lächelnd den schönen Mund. „Ich hoffe, Miss Amy ist auch hier?“

Röte stieg ihr vom Hals bis in die von Sommersprossen übersäten Wangen und verriet so ihren Ärger. Emma verwünschte ihren hellen Teint. „Amy ist hier, unter meinem Schutz. Ich wünsche nicht, dass Sie sich ihr nähern.“

Sein Lächeln wurde berechnend. „Natürlich nicht, das dachte ich mir.“

„Sie würden wohl nicht erwägen, die Gesellschaft zu verlassen?“ Im selben Moment bereute sie die Worte. Sie ließen sie schwach erscheinen, so, als traute sie sich nicht zu, ihre Schwester zu zügeln.

„Ich könnte, aber ich will nicht – noch nicht. Später vielleicht. Es gibt Etablissements, in denen meine Gegenwart höher geschätzt wird.“

Vor Entrüstung verschlug es ihr fast die Sprache. „Ein Gentleman würde solche Andeutungen in Gegenwart einer Dame nicht machen.“

„Ganz sicher halten Sie mich nicht für einen Gentleman.“

„Nein, gewiss nicht.“

„Dann verstehen wir uns ja.“

Sie setzte zu einer schneidenden Antwort an, doch in dem Moment gesellte sich Lady Jersey zu ihnen. „Hier sind Sie also, Charles.“ Sie schenkte Emma ein huldvolles Lächeln. „Und Sie, Miss Stockton. Ich freue mich, dass Sie kommen konnten. Ihre Schwester sah ich drüben bei Julia Thornton.“

„Mylady, ich danke Ihnen für die Einladung.“ Emma knickste höflich vor der Dame, die eine der Patronessen von Almack’s war, dem begehrtesten Heiratsmarkt des ton.

Mit Lady Jersey wollte es sich niemand verderben.

Den Dank mit einer sprechenden Geste abwehrend, bat Lady Jersey: „Wenn Sie uns bitte entschuldigen wollen, Miss Stockton? Ich muss etwas mit Mr Hawthorne erörtern.“

Emma zog sich mit einem gezwungen freundlichen Lächeln zurück. Sie hoffte, die Dame würde Charles Hawthorne nicht nur den Zutritt zu Almack’s verwehren, sondern ihn auf der Stelle hinauswerfen. Das wäre besser für Amy, die noch viel zu jung und leichtfertig war, um gegen ihre Wünsche bezüglich dieses elenden Mannes anzukämpfen. Doch ein Blick auf Lady Jerseys heitere Miene belehrte sie, dass sie enttäuscht werden würde. Auch diese Dame, die nicht mehr ganz jung war, schien von dem unwiderstehlichen Charme des Mannes entzückt.

Emma schnaubte angewidert.

Charles ließ sich von Lady Jersey fortziehen, doch hatte er Emma lange genug im Auge behalten, um ihre Reaktion noch zu sehen. Beinahe hätte er gelacht.

„Nun, Charles Hawthorne“, fuhr Lady Jersey fort, „ich hörte, Ihre Geschäfte machten Sie zu einem reichen Mann. Wie lange führen Sie sie nun schon? Ein Jahr? Zwei?“

„Zwei, Mylady, nur sollten Sie das Thema eigentlich nicht ansprechen. Handel ist so unfein.“

Sie schürzte die Lippen, doch ihre Augen lachten. „Wenn ich ein so prüdes Ding wäre wie die kleine Stockton, würde ich es vermutlich Ihnen gegenüber nicht erwähnen – deren jüngerer Schwester stellen Sie im Übrigen sehr unverfroren nach! Wie ich zugeben muss, ermutigt die Kleine Sie allerdings schamlos. Um auf Ihre Einkommensquelle zurückzukommen: Ich kenne die Welt und habe inzwischen gelernt, dass man manchmal, um zu überleben, Dinge tun muss, die der Gesellschaft inakzeptabel erscheinen.“

„Ah, also hat die Erfahrung auch ihre Vorzüge und Freuden.“ Der Blick, den er ihr schenkte, sprach Bände.

Was nur selten jemandem gelang, gelang ihm, er brachte sie zum Erröten. „Sie sind ein loser Vogel, Charles Hawthorne. Aber schrecklich charmant.“ Sie versetzte ihm einen leichten Schlag mit ihrem geschlossenen Fächer. „Ich bringe es einfach nicht über mich, Ihnen unsere Räume zu verschließen – trotz Ihrer unüblichen Methoden, Ihr Nest zu polstern. Aber nehmen Sie sich in Acht, manche Leute sähen Sie nur zu gern draußen vor der Tür. Leute, die nicht bereit sind, die anrüchige Aura des Handels, die Sie umgibt, nur um des guten Namens Ihrer Familie und Ihrer persönlichen Attraktivität willen zu übersehen. Wären Sie eine Frau, wäre ihr Schicksal schon besiegelt.“

„Welch ein Glück für alle Beteiligten, dass ich ein Mann bin“, murmelte er.

Sie schlug ihn abermals mit dem Fächer.

Sich tief verneigend, fuhr er fort: „Aber Sie sind nicht engstirnig, und ich danke Ihnen, dass Sie mir die Stange halten. Wie langweilig wäre das Leben ohne meine Mittwochsbesuche bei Almack’s.“

Lachend entgegnete sie: „Sehen Sie sich vor, mein hübscher junger Mann, dass Ihr Sarkasmus nicht Ihre süßen Worte übertönt.“

„Werde ich“, versprach er, ebenso amüsiert wie sie. „Möchten Sie tanzen? Man spielt gerade einen Walzer.“

Anerkennend blinzelte sie ihn an. „Vielleicht. Es würde mein Ansehen als Frau heben.“

Er hörte den unterschwelligen Zynismus in ihren Worten. „Ihr Ansehen hat das nicht nötig, Lady Jersey. Meines dagegen sehr.“

„Hübsch gesagt.“ Königlich herablassend neigte sie den Kopf. „Ich denke, ich werde Sie nach Kräften unterstützen“, fügte sie hinzu, legte ihre Fingerspitzen auf seinen dargebotenen Arm und ließ sich aufs Parkett führen. Mehrere Leute wandten sich nach ihnen um, einige lächelten billigend, doch er bemerkte, dass Emma Stockton nicht dazugehörte. Wenn schon. Er war nicht auf der Welt, um ihr zu gefallen. Eigentlich war es eher umgekehrt. Sie bereitete ihm immer wieder größtes Vergnügen, wenn sie gereizt wie ein Stier auf sein Benehmen ihrer Schwester gegenüber reagierte. Da alle anderen Frauen ihn anhimmelten, empfand er Emmas Missbilligung nachgerade wie einen frischen Windhauch. Während er Lady Jersey anlächelte, war er in Gedanken bei einer gewissen rotblonden jungen Dame.

Ebendiese Dame staunte gerade über sein Geschick, mit der Weiblichkeit umzugehen. Ohne sichtbare Mühe bezauberte er eine der wichtigsten Frauen der Londoner Gesellschaft. Wie konnte man erwarten, dass die unerfahrene Amy einem Mann widerstand, der eine Frau von Lady Jerseys Alter und Erfahrung um den Finger wickeln konnte?

Als er Lady Jersey zum Tanz führte, wäre Emma beinahe der Mund offen stehen geblieben. Er war wirklich unverfroren. Wenn die Gerüchte stimmten – und Emma hatte feststellen müssen, dass in fast jedem Gerücht ein Körnchen Wahrheit steckte –, ging er mit seinem Geld ebenso sorglos um wie mit Frauen.

Unfähig, den Blick abzuwenden, beobachtete sie das Paar. Was sie auch von dem Mann halten mochte, sie musste sich eingestehen, dass er unwiderstehlich aussah. Ihr entschlüpfte ein Seufzer. Für jemanden wie sie oder ihre Schwester war er nicht bestimmt.

Emma zwang ihre Aufmerksamkeit in eine andere Richtung. Glättend strich sie über ihr lavendelblaues Abendkleid aus schwerer Seide, das sie nach dem Tod ihrer Mutter vor einigen Jahren erworben hatte, weil der schlicht-elegante Schnitt ihrer Halbtrauer angemessen war. Zwar entsprach es nicht der aktuellen Mode, doch glücklicherweise passte der dezente Farbton zu ihrem Teint und dem rotblonden Haar. Mehr Zugeständnisse machte sie allerdings nicht an ihr Aussehen. Bisher hatte sie auch nur einen Heiratsantrag bekommen, die Verlobung jedoch gelöst, als ihr Bräutigam ganz offen mit einer anderen Frau ein Verhältnis begann. Natürlich hielten viele Männer eine Mätresse aus, nur gingen sie üblicherweise diskreter vor als ihr damaliger Verlobter.

Insgeheim hatte Emma längst beschlossen, eine Stellung als Gouvernante anzutreten, sobald Amy respektabel verheiratet war. An Erziehung mangelte es ihr nicht, und sie würde für ihren Lebensunterhalt selbst sorgen müssen, denn bis dahin hatten Vater und Bruder bestimmt den letzten Penny im Glücksspiel verschleudert.

Sie sah sich nach Amy um, und als sie sie inmitten einer Gruppe junger Leute entdeckte, die sich alle außerordentlich zu amüsieren schienen, beschloss sie, sich endlich eine Erfrischung zu gönnen.

Während sie sich ein Glas Punsch einschenkte, hörte sie, dass der Walzer endete. Ohne dass es ihr wirklich bewusst war, hielt sie im Ballsaal nach Charles Hawthorne Ausschau. Gerade verneigte er sich vor Lady Jersey und küsste ihr, die lachend zu ihm aufblickte, die Hand. Dann gesellte er sich der Gruppe um Amy zu. Das junge Mädchen empfing ihn sogleich mit einem strahlenden Lächeln. Amy mit ihren vollen roten Lippen, den blitzenden blauen Augen und den goldenen Locken schien im warmen Glanz der vielen Kerzen förmlich zu glühen. Hawthorne nahm ihre ihm dargebotene Hand und hob sie an seinen Mund.

Einen winzigen Moment hatte Emma die Illusion, als spürte sie den Druck seiner Lippen auf ihrer eigenen Haut, dann schüttelte sie das irritierende Gefühl ab und näherte sich dem Paar. Schließlich übte sie die Pflicht einer Anstandsdame aus. Doch leider musste sie machtlos zusehen, wie die beiden zur Tanzfläche schritten. Wütend biss sie sich auf die Lippe. Nun konnte sie nur noch abwarten – und ein Dankgebet sprechen, dass es zumindest kein Walzer war, der für eine junge Dame in ihrer ersten Saison als zu gewagt galt.

Ungeduldig klopfte sie mit der Fußspitze den Boden, während sie darauf wartete, ihre Schwester wieder in Empfang zu nehmen. Als die Musik dann verstummte, schritt das Paar jedoch zu einer der hohen Fenstertüren, die ins Freie führten. Wenn das nicht typisch Amy war! Oder auch Mr Hawthorne! Wut flammte in Emma auf, weil ihre Vorschriften immer wieder von den beiden missachtet wurden. Sie würde das Paar nicht rechtzeitig einholen können, es würde viel länger als schicklich dort draußen allein sein. Wer weiß, ob sie es überhaupt fand, denn soweit sie sich erinnerte, war Lady Jerseys wunderschöner Garten sehr weitläufig.

Charles geleitete das kleine Biest hinaus in die kühle Nachtluft. Mit glänzenden Augen schaute Amy durch dichte lange Wimpern zu ihm auf, während ihr Lächeln ein Grübchen in ihre Wange zauberte. Natürlich hätte er ablehnen sollen, sie ohne Anstandsdame zu begleiten, doch Amy Stockton machte ihn neugierig. So erfahren er auch war – und er war außerordentlich erfahren –, gelang es ihr doch immer wieder, ihn mit ihrer ungebändigten Art zu amüsieren. Oft genug überschritt sie die feine Linie zwischen Schicklichkeit und Ungehörigkeit, ohne sich anscheinend etwas aus den Konsequenzen zu machen.

Dann war da noch Emma Stockton. Es erheiterte ihn ungemein, Amys ältere Schwester vor Zorn schäumen zu sehen, wenn sie vergeblich versuchte, diesem Küken die Flügel zu stutzen.

Er führte Amy zu einer hübsch verschnörkelten Bank noch nah genug beim Ballsaal, dass das Licht aus den Fenstern sie beleuchtete. An der steinernen Balustrade dahinter rankten sich Damaszenerrosen empor und verströmten ihren Duft in die warme Sommernacht.

„Was kann ich für Sie tun, Miss Amy? Anscheinend etwas sehr Geheimes, sonst hätten wir uns nicht hierherbegeben müssen.“

Sie lächelte spitzbübisch. „Also … Sie sind ein Lebemann, und Sie missachten doch ständig die Konventionen …“

Während er nickte, fragte er sich, wohin das führen sollte und ob er sich nicht besser höflich zurückziehen sollte, ehe diese Eskapade ausartete. Nicht einmal er würde ein Mädchen kompromittieren, das gerade aus dem Schulzimmer entlassen war.

„Das stimmt natürlich, aber es heißt nicht, dass ich Ihr Schoßhündchen bin, das hüpft, wenn Sie pfeifen.“

Sie setzte sich und klopfte mit der Hand einladend neben sich auf die Bank, doch er schüttelte den Kopf und stützte einen elegant beschuhten Fuß gegen den Sockel der Balustrade. „Nein danke, besser nicht.“

Schmollend sagte sie: „Aber Sie müssen näher kommen, sonst können Sie mich nicht verstehen.“

„Ihre Kühnheit erstaunt mich, Miss Amy. Wissen Sie nicht, dass wohlerzogene junge Damen Männern meines Rufes fernbleiben sollten?“

„Ach, pah! Als ob ich mich darum scherte! Ich bin nach London gekommen, um mich zu amüsieren.“

„Und einen passenden Gatten zu finden.“

„Sie kämen dafür hervorragend infrage.“

Er schüttelte den Kopf, während er sich fragte, auf was er sich hier eingelassen hatte. „Ich denke nicht daran, zu heiraten, und schon gar nicht ein so junges Mädchen wie Sie.“

„Sie sind nicht sehr galant!“

„Ich bin nur offen und ehrlich.“

„Und warum folgen Sie jedem meiner Winke?“

Einen Moment überlegte er. „Aus reinem Vergnügen. Wissen Sie, so wie Sie bin ich ebenfalls sehr verzogen und daran gewöhnt, dass alles nach meiner Nase geht.“

„Sehen Sie!“, rief sie triumphierend. „Darum weiß ich auch, dass Sie für das, was ich vorhabe, genau der Richtige sind!“

Er hob fragend eine Braue.

„Es ist nämlich so!“, rief sie aufgeregt. „Heute Nacht gibt es ein Maskenfest, und ich möchte unbedingt hin.“

„Dann gehen Sie doch.“

„Seien Sie nicht dumm. Ich brauche eine Begleitung.“

„Bitten Sie Ihre Schwester.“

„Um was?“, sagte Emma Stockton.

So eisig war ihre Stimme, dass Charles sofort beschloss, zu sehen, wie weit er die junge Dame reizen konnte. Diesen Zeitvertreib genoss er stets nur zu sehr.

Er wandte sich zu ihr um und musterte sie, während sie herankam. Die Stirn düster umwölkt, blieb sie kaum einen Fuß vor ihnen stehen. Zornig presste sie ihren sonst so vollen blassrosa Mund zu einem schmalen Strich zusammen. Charles war entzückt. Immer wieder wunderte er sich darüber, wie er auf sie reagierte. Sie war weder üppig noch eine ausgesprochene Schönheit, aber sie war auffallend, fand er, und aus irgendeinem ihm unbekannten Grund – den er auch gar nicht erforschen wollte – verlangte es ihn immer wieder danach, sie zu reizen und zu provozieren.

„Ihre entzückende Schwester hat Pläne für den späteren Abend, und ich empfahl ihr, sich an Sie zu wenden.“ Er sprach bewusst leise und gelangweilt, denn das würde sie irritieren. Zumindest war es bisher immer so gewesen.

Emma wandte sich an ihre Schwester: „Amy?“

Die Jüngere warf ihr einen wütenden Blick zu, dann sah sie Charles flehend an. „Wirklich, Emma, es ist belanglos. Mr Hawthorne macht aus einer Mücke einen Elefanten.“

Beinah hätte Charles staunend den Kopf geschüttelt. Stattdessen lachte er. Er konnte einfach nicht anders. Dieses Mädchen war ein kleines Biest, und die Frau, die sie in Zaum halten sollte, war überfordert. Fast musste man Emma Stockton bedauern.

„Was ist so amüsant, Mr Hawthorne?“, fragte Emma mit gifttriefender Stimme. „Meiner Ansicht nach ist diese Situation an der Grenze des Schicklichen. Aber ich nehme an, das wissen Sie durchaus und tun trotzdem, was Ihnen gefällt. Das muss ein Familienmerkmal sein.“

Ihr Sarkasmus, der ins Schwarze traf, ernüchterte ihn. „Wären Ihre Worte ein Degen, Miss Stockton, hätten Sie gerade einen ordentlichen Treffer gelandet.“

„Ich weiß.“

„Ach, hackt doch nicht so aufeinander herum“, warf Amy ein. „Ihr verderbt mir den Abend. Eigentlich sollte ich mich vergnügen, aber wenn man euch hört, ist es nur schrecklich.“

Charles konnte den Blick einfach nicht von Emma abwenden. Sie war nahe daran, die Fassung zu verlieren. Ihre Wangen färbten sich dunkel, und ihre grauen Augen schienen zu glühen. Plötzlich machte es ihm keinen Spaß mehr, sie zu provozieren.

Während er sich leicht verneigte, sagte er: „Ich habe noch etwas vor, meine Damen. Genießen Sie den restlichen Abend.“

Ohne sich noch einmal umzusehen, ging er davon, froh, Emma Stocktons Ausbruch nicht mehr sehen zu müssen. Selbst er, der diese langweilige Saison dadurch aufzulockern suchte, dass er Miss Stockton reizte und in Zorn brachte, wollte nicht dabei sein, wenn der Vulkan ausbrach.

Dass Charles Hawthorne sich entfernte, löste in Emma unwillkürlich das Gefühl eines Verlustes aus, alle Wärme schien aus ihrem Körper geflohen, nur die kalte Wut auf ihn und ihre Schwester blieb zurück.

„Amy, du weißt, du solltest nicht mit einem Mann wie Hawthorne allein bleiben. Denk an deinen Ruf!“, sagte sie scharf.

Trotzig hielt Amy dem Blick ihrer Schwester stand. „Was war schon dabei? Die Türen zum Saal sind offen, und …“, sie machte eine umfassende Geste über den Garten hin, „… überall auf den Wegen hier draußen spazieren Leute. Es wäre schon nichts passiert.“

Emma überlegte, ob sie selbst je so hartnäckig auf ihren Zielen beharrt hatte, ohne die Folgen zu bedenken. Sie meinte, nein. Immer schon hatte sie sich für die liebe Familie verantwortlich gefühlt und ihrer Mutter stützend zur Seite gestanden. Bei der Erinnerung daran verblasste ihr Ärger.

Sanft sagte sie: „Amy, darum geht es nicht. Es gehört sich einfach nicht. Junge Mädchen verlassen nicht ohne Begleitung mit Männern wie Charles Hawthorne den Saal.“

„Wir wären beinahe Schwager und Schwägerin geworden. Das ändert es doch sicher.“

Vorwurfsvoll entgegnete Emma: „Als wenn du es nicht besser wüsstest! Natürlich, wenn ich Lord Hawthorne geheiratet hätte, sähe es anders aus. Außerdem verzeiht die Gesellschaft einem Mann vieles, was sie einer Frau nie verzeihen würde. Das darfst du nie vergessen.“

„Pah!“

Amy versuchte, ihrer Schwester zu entwischen, doch Emma hielt sie rasch am Arm fest. „Was genau hattest du mit Charles Hawthorne zu besprechen?“

Amy warf den Kopf in den Nacken und versuchte gleichzeitig, sich loszureißen. „Gar nichts.“

Langsam verlor Emma die Geduld. Zwar ließ sie ihre Schwester los, sagte aber mahnend: „Amy!“

„Also gut! Heute Nacht gibt es ein Maskenfest. Mr Hawthorne sollte mich begleiten, denn du tätest es sowieso nicht.“

Emma keuchte entsetzt auf. „Wie unverfroren bist du nur! Du willst dich wegen ein paar vergnüglicher Stunden ruinieren?“

„Nein, wieso denn? Ich würde eine Maske tragen. Niemand würde mich erkennen.“

„Und wird er dich begleiten?“

Amy wandte sich halb ab und schaute ihre Schwester lauernd aus dem Augenwinkel an. „Und wenn?“

„Reiz mich nicht, Amy! Dazu bin ich nicht in der Stimmung.“ Und das entsprach der Wahrheit. Inzwischen fühlte sie sich versucht, Amy bei Wasser und Brot in ihrem Zimmer einzusperren; nur war Amy kein Kind mehr, obwohl sie sich nicht anders verhielt. Charles Hawthorne übrigens hätte sie am liebsten das verpasst, was ihr Bruder Bertram als schallende Backpfeife bezeichnen würde.

„Für Vergnügungen bist du nie in der Stimmung, Emma. Da liegt das Problem.“ Als sie deren wütenden Blick sah, fügte sie hinzu: „Schon gut! Nein, er hat abgelehnt. Eigentlich staune ich darüber. Sonst ist er kein Spaßverderber.“

Insgeheim seufzte Emma, weil Amy so naiv war. „Er mag ein Leichtfuß sein, aber er ist kein Dummkopf. Wenn man dich nämlich erkennen würde, hieße es, er habe dich ruiniert, und dann könnte man auf den Gedanken kommen, dass er dich heiraten muss – was er ganz bestimmt nicht im Sinn hat!“

Röte breitete sich auf Amys Gesicht aus. „Das hat er allerdings klar genug gemacht.“ Angelegentlich glättete sie den Stoff ihres weißen Musselinkleides. Emmas Blick ausweichend sagte sie: „Aber Männer ändern ihre Meinung … wenn sie etwas besonders heftig begehren.“

„Nein, da irrst du dich gewaltig!“, stieß Emma ärgerlich hervor, als sie diese fatale Fehleinschätzung hörte, die so viele ihres Geschlechts hegten.

„Wie kannst du das wissen? Übrigens bin ich dieses Gespräch leid! Und da er mich nicht zu dem Kostümfest begleitet, kannst du ja völlig zufrieden sein!“

Emma sah das anders, doch sie wusste, es war sinnlos, mit Amy zu streiten. Wenn die Schwester ihren Dickkopf aufsetzte und rücksichtslos ihre Ziele verfolgte, blieb einem nichts übrig, als ihr Steine in den Weg zu legen, denn ihr Predigten zu halten führte nur dazu, dass sie noch störrischer an ihren Plänen festhielt.

2. KAPITEL

Emma stieg als Erste aus der Mietdroschke, die sie sich bei Bedarf leisteten. Sie wohnten in einem vornehmen, jedoch etwas abgelegenen Teil Londons, von wo aus man schon wegen des leichten Schuhwerks unmöglich zu Fuß zu Veranstaltungen gehen konnte, selbst wenn man auf dem Lande aufgewachsen und an lange Spaziergänge gewöhnt war.

„Sag, Emma, welche Verabredungen haben wir morgen?“, fragte Amy, während sie ihr folgte.

Nachdem sie den Kutscher bezahlt hatte, schritt Emma zur Haustür und zog den Schlüssel aus ihrem Retikül. „Morgen Nachmittag sind wir zu Hause, und da die Abendgesellschaft der Prinzessin Lieven verschoben wurde, haben wir auch am Abend nichts vor.“

„Der Nachmittag ist frei“, murmelte Amy, in einem Tonfall, der unzufrieden und gleichzeitig erregt klang, und Letzteres hatte Emma zu fürchten gelernt. Ohne mehr erfahren zu müssen, wusste sie, ihre Schwester hatte etwas vor oder plante zumindest etwas, das einzig und allein ihr selbst gefiel.

„Warum fragst du?“, erkundigte sich Emma möglichst unschuldig.

„Ach, nur so.“ Zwar winkte Amy abwehrend mit der Hand, doch in ihren blauen Augen funkelte es mutwillig.

Emma schob den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. Kein Lakai erwartete sie. Emma fand es nicht richtig, den alten Butler bis spät in die Nacht auf ihr Kommen warten zu lassen. Er hatte schon genügend andere Aufgaben im Haushalt übernommen, weil sie sich nicht genügend Personal leisten konnten, und von der Haushälterin verlangte sie es ebenso wenig, da die inzwischen auch als Kammerzofe einzuspringen pflegte.

Gedankenvoll schaute Emma ihrer Schwester nach, die flink die Stufen emporhüpfte, voll unterdrückter Energie und Tatendrang. Amy genoss ihre erste Saison außerordentlich.

Emma wünschte, ihre eigene wäre so unbeschwert gewesen. Aber sie war damals schon zwanzig gewesen. Ihr Debüt war aufgeschoben worden, weil sie ihre Mutter gepflegt hatte, und darauf folgte nach deren Tod das Trauerjahr. Als sie dann schließlich nach London gekommen war, hatte sie gewusst, dass sie vor allem anderen eine vorzügliche Heirat ins Auge fassen musste.

Der einzige Mann, der den Rang und den Reichtum hatte, ihrer Familie helfen zu können, war Charles Hawthornes älterer Bruder Lord George Hawthorne. Als er um ihre Hand anhielt, wussten sie beide, dass sie eine Vernunftehe eingingen. Dann jedoch begegnete er einer anderen Frau, mit der er sich so offen und eindeutig einließ, dass Emma nicht anders konnte, als das Verlöbnis zu lösen. Zwar war ihr Herz nicht gebrochen, da von Liebe nie die Rede gewesen war, doch sie fühlte sich zutiefst gedemütigt. Außerdem mochte sie niemandem, der sein Glück gefunden hatte, im Wege stehen. Was sie bei dieser Angelegenheit am meisten bedauerte, war, dass nun Amy das Los zugefallen war, reich heiraten zu müssen. Emma fand, ihre Schwester hätte Besseres verdient.

Eine einzelne Kerze in einem Messinghalter erleuchtete den Vorraum, nichts sonst schmückte das karge Foyer des gemieteten Hauses. Das eigene Silber hatten ihr Vater und ihr Bruder längst für ihre Spielschulden versetzt.

Ein paar Sekunden starrte sie in die flackernde Flamme, dann nahm sie sich zusammen. Was nutzte es, über verschüttete Milch zu jammern? Man konnte nur hoffen, dass Amy eine gute Partie machen würde. Wenn der Mann reich genug war, auch die Schulden von Vater und Bruder zu begleichen, umso besser.

Auf Charles Hawthorne traf das nicht zu, so verheerend gut er auch aussah, und trotz seines teuflischen Charmes, den selbst Emma für fast unwiderstehlich hielt.

Sie musste dankbar sein, dass er sich geweigert hatte, Amy zu dem Maskenfest zu begleiten. Emma wusste zu gut, wie schwer es war, ihre Schwester permanent zu überwachen. Wenn der kleine Tollkopf ihr nicht entwischen sollte, müsste sie schon vor Amys Zimmertür wachen oder sie am Bett festbinden. Der Gedanke zauberte dann doch ein Lächeln auf ihr Gesicht.

Allerdings wird unvermeidlich irgendeine andere Unannehmlichkeit auf mich warten, dachte Emma. Denn Charles Hawthorne würde sein draufgängerisches Verhalten, was Amy betraf, gewiss nicht ändern. Er würde sie rücksichtslos kompromittieren, und Amy würde ganz naiv mitmachen.

Dafür stand jedoch viel zu viel auf dem Spiel. Ich darf Charles Hawthorne nicht gewähren lassen, muss ihn mit allen Mitteln aufhalten, schwor sich Emma. Nicht nur Amys persönliches Glück hing davon ab, dass sie sich gut verheiratete, sondern das Wohlergehen der ganzen Familie Stockton. Wenn sie ernstlich geglaubt hätte, ihre Schwester liebte Mr Hawthorne, würde sie sich sofort bei ihrem Vater für die beiden verwendet haben. Sie kannte die Jüngere jedoch gut genug, um zu wissen, dass sie die Aufmerksamkeit des notorischen Lebemannes nur deshalb so genoss, weil alle Frauen der Gesellschaft ihn für unerreichbar hielten. Nein, Amy liebte Charles Hawthorne nicht, und er sie auch nicht. Deshalb hatte Emma keine Skrupel, diese Verbindung im Keim zu ersticken.

Nur was konnte sie tun?

Sie fuhr aus ihren Gedanken auf, als sie hörte, wie eine Tür geöffnet wurde. Wer war zu dieser Stunde noch wach? Auf dem bloßen Dielenboden hallten Schritte.

„Wer ist da?“

„Nur dein Bruder!“

Nun sah sie Bertrams hohe, hagere Gestalt, vom Kerzenlicht aus dem Zimmer hinter ihm scharf umrissen, in der Tür stehen. „Wo seid ihr gewesen? Ihr solltet so spät nicht unbegleitet unterwegs sein.“

Sein Tadel machte sie wütend. „Wir haben Lady Jerseys Ball besucht und kamen in einer Mietdroschke zurück, da wir keine eigene besitzen – aus Gründen, die dir sehr wohl bekannt sind. Und ich bin alt genug, um als Anstandsdame für Amy zu fungieren.“ Ihr Ärger wechselte jedoch zu Betroffenheit, als ihr einfiel, welche Auswirkungen Bertrams Anwesenheit haben könnte. „Was machst du überhaupt hier?“

Seine braunen Augen wichen den ihren aus, wie immer, wenn er log. Emma wusste nur zu gut, was ihn nach London trieb, nur würde sie nichts daran ändern können.

„Ich soll auf dich und Amy aufpassen. Vater kamen Gerüchte über Amy und Charles Hawthorne zu Ohren, und nach dieser Geschichte mit dir und dessen Bruder hielt Vater es für besser, mich herzuschicken. Schützende brüderliche Anwesenheit, du weißt schon. Übrigens ist der Bursche in unserer Familie nicht willkommen. Ein Frauenheld und Lebemann erster Güte! Wirklich nicht das, was wir für Amy wünschen.“

„Aber reich!“, sagte Emma mit vor Sarkasmus triefender Stimme. „Und das wäre doch sehr erwünscht.“

Selten nur verspürte Emma Bitterkeit wegen des Leichtsinns, den Bruder und Vater am Spieltisch walten ließen. Da ihr die Hände gebunden waren, versuchte sie einfach, die Schäden, die daraus entstanden, zu beseitigen. Ihre Mutter hätte es so gewollt.

Als Emma einmal mit Bertram wegen seiner Spielschulden gestritten hatte, weil der Familie dadurch so viele Einschränkungen erwuchsen, hatte ihre Mutter gemeint, manches bleibe um des lieben Friedens willen besser ungesagt und harte Worte änderten nichts, sondern machten nur das Zusammenleben zur Pein. Diesen Rat hatte Emma bis heute befolgt, wenn es ihr auch zeitweise sehr schwerfiel, ihren Zorn zu bezähmen.

Sie schloss die Augen kurz und zwang sich zur Ruhe.

„Deine Zunge ist heute Abend recht scharf, Schwester.“

„Ich bin müde und außerdem überrascht, dich hier zu sehen“, erklärte sie, nachdem sie einmal tief eingeatmet hatte. „Da du keine Nachricht schicktest, ist nichts vorbereitet.“

„Mrs Murphy hat schon alles geregelt.“

„Wann kamst du an?“

„Vor einer Stunde, als ihr noch aus wart.“

„Also hast du sie geweckt?“

„Sicher.“ Er zuckte die Achseln. „Dafür hat man schließlich Bedienstete.“

„Aber nicht mehr viele. Wir mussten sogar schon einmal das Haus wechseln, und uns stehen nun weniger Räume zur Verfügung.“

„Noch dazu recht armselige.“

„Und woran liegt das wohl, lieber Bruder?“, fragte sie aufgebracht.

Zumindest errötete er schamvoll. „Mama kam immer irgendwie zurecht.“

Schuldbewusst dachte Emma daran, wie wunderbar ihre Mutter gewesen war. Sie hatte den Lebensstil der Familie aufrechterhalten, als ob sie immer noch ein beträchtliches Einkommen zur Verfügung hätte, obwohl der Besitz der Familie von mehreren Gütern schließlich auf nur ein Landgut, den Stammsitz der Stocktons, zusammengeschrumpft war. Bei jedem neuen Missgeschick pflegte sie lächelnd zu sagen: „Euer Papa ist eben impulsiv, aber er ist ein so liebevoller, großzügiger Mann.“ Das Gleiche sagte sie über Bertram, was auf ihn sogar in gewissem Maße zutraf. Dann schulterte sie lächelnd auch die nächste Bürde.

Nur die Erinnerung an ihre Mutter, die Gatten und Sohn trotz allem sehr geliebt hatte, brachte Emma dazu, durchzuhalten und nach Möglichkeit den Gläubigern stets einen Schritt voraus zu sein.

Nach Mamas Tod war jedoch alles nur schlimmer geworden. Vater und Sohn spielten völlig bedenkenlos.

„Mama hatte noch mehr Mittel zur Verfügung als ich“, antwortete Emma scharf.

„Wenn George Hawthorne sich dir gegenüber nicht so ehrlos verhalten hätte, wären wir nicht in dieser Lage. Du hättest auf der Heirat bestehen müssen“, jammerte Bertram anklagend.

Emma liebte ihren Bruder trotz seiner Fehler, doch nun sah sie ihn an und fragte sich, wo der muntere Junge geblieben war, der sie Fischen gelehrt und so manch verrücktes Abenteuer mit ihr durchgemacht hatte. Wann war er zu dem schwachen Mann geworden, der stets anderen die Schuld an seiner Situation gab? Bedauern stieg in ihr auf.

„Darüber diskutierten wir schon einmal, Bertram. Ich tat, was meiner Ansicht nach richtig war.“ Sie wollte diese fruchtlose Debatte nicht weiter fortführen. „Ich bin müde, ich gehe zu Bett.“

Noch während er den Mund zu einer Entgegnung öffnete, wandte sie sich ab und stieg hinauf zu ihrem Zimmer. Sie wollte nichts mehr hören. Der Tag morgen würde lang werden, wenn sie Amy die ganze Zeit am Rockzipfel hängen musste, dazu kam die Sorge wegen Bertrams Spielleidenschaft.

Emma saß über ihrer dritten Tasse Schokolade – beinahe der einzige Luxus, den sie sich noch gönnte –, als Gordon den Frühstücksraum betrat. Sie lächelte dem alten Mann zu, der seit vielen Jahren schon im Dienst der Stocktons stand, zuerst als Lakai, später als ihr Butler.

„Ja, Gordon?“

„Miss Stockton, Sie baten uns, ein Auge auf Miss Amy zu haben.“

Sorgfältig setzte Emma die Tasse ab und verschränkte die Hände im Schoß. Offensichtlich würde ihr das Folgende nicht gefallen. „Ja?“ Ihre Stimme blieb ruhig, obwohl sie am liebsten laut aufgeschrien hätte.

„Nun, sie hat gerade eines der Küchenmädchen auf eine Besorgung geschickt.“

„Und wissen Sie, worum es geht?“

Der Butler schüttelte sein graues Haupt. „Nein, Miss.“

„Wo ist Amy jetzt?“

„Sie ging wohl zurück in ihr Zimmer.“

„Sicher wieder ins Bett, denn es ist ja noch früh, bedenkt man, wann wir gestern heimkamen.“

Emma stand auf und fegte ein paar Brösel von ihrem schlichten schwarzen Kreppkleid, das sie nach dem Tod ihrer Mutter gekauft hatte. Es schmeichelte ihr zwar nicht, doch war es noch zu gut, um abgelegt zu werden.

„Danke, Gordon.“ Sie hatte schon den kleinen Vorraum durchquert und stieg die Treppe hinauf, blieb aber auf halbem Wege stehen. „Ist mein Bruder daheim?“

„Ja, Miss, ich glaube, er schläft noch.“ Er räusperte sich, ein Geräusch, das er unbewusst machte, wenn er sich verpflichtet fühlte, etwas anzusprechen, das ihm nicht leichtfiel.

Freundlich fragte Emma deshalb: „War mein Bruder bis in den Morgen aus?“

„Ja, Miss“, murmelte Gordon.

Sie war nicht überrascht, sondern hatte sogar erwartet, dass Bertram gestern Nacht noch einmal fortgehen würde.

„Nochmals danke, Gordon.“ Irgendwie gelang es ihr, ihm ein kleines Lächeln zu schenken. Dann erklomm sie die restlichen Stufen, langsam, aber hoch aufgerichtet, obwohl sie sich fühlte, als lastete das Gewicht der ganzen Welt auf ihr. Was sie gerade erfahren hatte, wunderte sie nicht. Bruder wie Schwester verhielten sich, genau wie es von ihnen zu erwarten war, nur was stets daraus folgte, machte ihr das Leben nur noch komplizierter.

Als sie damals Mama versprach, für die Familie einzustehen, hatte sie nicht geglaubt, dass es so schwierig werden würde.

Emma klopfte an Amys Tür und trat, ohne auf Antwort zu warten, ein. Ihre Schwester saß aufrecht im Bett; ihre Wangen waren rosig angehaucht, und ihre Augen funkelten. Zweifellos führte sie etwas im Schilde.

„Guten Morgen, Emma.“ Amy war ganz Unschuld.

„Guten Morgen, Amy. Ich hörte, du warst schon unten in der Küche.“

Das junge Mädchen errötete. „Ich habe mir einen Happen zu essen geholt.“

„Amy, lass doch diese Winkelzüge. Ich weiß, dass du dem Küchenmädchen einen Brief zu besorgen gabst, wahrscheinlich für Charles Hawthorne. Was du ihm auch geschrieben hast, lass dir gesagt sein, man tut so etwas nicht.“

Starrsinn zeigte sich auf Amys Miene. „Du tust, als könnte der Mann mir alle Chancen verderben. Wirklich, du sorgst dich viel zu sehr.“

„Und du sorgst dich nicht genug!“, stieß Emma verärgert hervor.

„Pah! Warum schiltst du mich, wenn du sowieso schon alles weißt? Ich staune nur, dass du ihm nicht gleich in einem weiteren Brief befohlen hast, meine Nachricht nicht zu beachten.“

„Also hast du ihm geschrieben.“

„Du wusstest es nicht?“ Amy fuhr auf.

Emma zuckte mit den Schultern. „Ich hatte es vermutet, und gerade hast du es mir bestätigt. Danke. Und jetzt werde ich ihm eine Mitteilung schicken.“

„Aber, Emma!“ Amy äffte den Tonfall ihrer Schwester nach. „So etwas tut man nicht!“

„Daran hättest du denken sollen, ehe du mich in diese Lage brachtest.“ Emma versuchte gar nicht erst, ihrer Stimme die Schärfe zu nehmen. „Amy, es reicht mir! Wenn du dich nicht benimmst, werde ich Vater schreiben müssen, dass er dich heimbeordern soll.“

Inzwischen war Amy aus dem Bett gestiegen und warf sich ihren wollenen Morgenmantel über, denn es war noch recht kühl, besonders, seit Emma, um Kohlen zu sparen, kein Feuer brennen ließ. „Er wird ablehnen. Du weißt, ich soll der Familie das Goldene Kalb zuführen“, sagte Amy ein wenig bitter.

Betroffen hielt Emma ihre Antwort zurück. Schließlich waren sie beide nicht glücklich über ihre Lage, in der sie völlig schuldlos steckten. Amy wollte einfach nur ihre erste und wohl auch letzte Saison genießen. Allzu bald schon würde sie verheiratet sein, geopfert auf dem Altar des Glücksspiels.

„Du bist zu jung für all dies“, murmelte sie betrübt. „Ich würde dir das gern ersparen, aber es geht nicht. Sicher hast du recht, Vater würde dich nicht heimholen.“ Sie ging zur Tür, wo sie sich noch einmal umwandte. „Ich sage Mrs Murphy, dass du auf bist.“

Emma fühlte sich schrecklich. Nicht nur, weil Amy ihr leidtat, sondern auch, weil nun auch noch die unangenehme Aufgabe vor ihr lag, einen Bittbrief an Charles Hawthorne zu schreiben. Es war wirklich zu vertrackt!

Zurück in ihrem Zimmer setzte sie sich an den schäbigen Schreibtisch, nahm einen Briefbogen aus der Schublade und begann zu schreiben, doch erst nach mehreren Anläufen fand sie eine zufriedenstellende Formulierung. Nachdem sie die Tinte mit Sand abgelöscht hatte, rollte sie das Blatt zusammen. David sollte es zustellen, ihr treuer Hausdiener. Er würde nicht tratschen, das wusste sie. War diese Sache erst erledigt, konnte sie ihren Haushaltspflichten nachkommen und sich die wöchentliche Abrechnung vornehmen.

Am Nachmittag dieses Tages saß Emma im hinteren Salon, der noch von der Sonne erhellt wurde, und stopfte gerade einen Seidenstrumpf, als Gordon eintrat und leise hüstelte.

„Ja?“ Sie schaute lächelnd von ihrer Arbeit auf.

„Draußen ist Mr Hawthorne. Er möchte Miss Amy zu einer Ausfahrt abholen.“

Freudige Erregung schoss Emma prickelnd bis in die Fingerspitzen. Unwillig ob dieser Schwäche presste sie die Lippen zusammen. Der Mann bedeutet doch nur Ärger.

„Als ob er meinen Brief nicht bekommen hätte!“, murmelte sie. „Schicken Sie ihn fort, Gordon.“ Den verräterischen Stich der Enttäuschung ignorierte sie. Hawthorne bedeutete ihr nichts, und ihre naive Schwester war nur ein Zeitvertreib für ihn.

„Ja, Miss“, sagte Gordon ausdruckslos, doch das Funkeln in seinen Augen sagte Emma, dass er die Aufgabe nicht ungern übernahm.

Während sich die Tür hinter ihm schloss, hörte Emma Amys Stimme aus dem Vorraum. Sofort war ihr klar, dass das freche Ding mit Charles Hawthorne auf und davon sein würde, wenn sie nicht eingriff. In der nächsten Sekunde war sie draußen in der kleinen Diele. „Amy!“ Energisch steuerte sie auf das Paar los. „Und Sie!“, wandte sie sich wütend an Hawthorne.

Obwohl er einen lässigen Stil bevorzugte, war seine Kleidung doch makellos. Der dunkelblaue Gehrock schmiegte sich wie angegossen um seine breiten Schultern, seine Stiefel glänzten, dass man sich darin spiegeln konnte, und die rehbraunen, eng anliegenden Pantalons lenkten den Blick auf seine muskulösen Oberschenkel, die Emma ins Auge stachen, sosehr sie auch dagegen anging.

Er hob eine Augenbraue und sagte boshaft: „Miss Stockton, wie nett von Ihnen, uns Adieu sagen zu wollen.“

Emma blieb stehen und zwang sich, ihre Schwester anzusehen. „Du wirst nicht ausfahren, Amy.“

Amy warf den Kopf so heftig in den Nacken, dass die blonden Locken unter dem schicken Strohhütchen tanzten. Störrisch entgegnete sie: „Doch! Es ist nichts dagegen einzuwenden, mit einem Herrn im offenen Wagen die Rotten Row entlangzufahren. Gleich ist es fünf, ganz London wird dort sein.“ Mit einem listigen Seitenblick auf Charles fuhr sie fort: „Und für mein Ansehen bei den anderen Herren wird es Wunder wirken, wenn sie mich in Mr Hawthornes Begleitung sehen. Selbst du musst zugeben, dass er tonangebend ist.“

Einen Moment fragte Emma sich, warum sie sich Gedanken machen sollte, wenn Amy so versessen darauf war, ihren Ruf zu riskieren.

Charles Hawthorne lächelte ironisch. „Sosehr es mich schmerzt, arrogant zu erscheinen, muss ich doch Ihrer Schwester recht geben. Man betrachtet mich allgemein als modisches Vorbild und eifert mir nach.“

Verächtlich schnaubte Emma, errötete sofort ob dieser Ungehörigkeit, hielt aber tapfer Hawthornes amüsiertem Blick stand.

„Es ist ebenfalls richtig, dass man Sie noch nie der Bescheidenheit bezichtigen konnte.“

Er verneigte sich spöttisch.

„So gut sie Ihnen auch anstehen würde“, beendete Emma den Satz, ehe sie sich an ihre Schwester wandte. „Du hast recht, Amy, im offenen Wagen ist es erlaubt. Und da das Wetter so schön ist, werde ich dich begleiten.“

Missmutig verzog Amy den Mund, ehe ihr eine Entgegnung einfiel. „Aber, Emma, wo willst du denn sitzen? Mr Hawthorne fährt eine Karriole; für mehr als zwei ist kein Platz.“

Emma stutzte kurz, dann ließ sie all ihre Würde fahren. „Ich werde schon zwischen euch beide passen.“

„Aber es wird schrecklich eng werden! Wirklich, Emma, warum musst du so sein!“

Ohne darauf einzugehen, erklärte Emma, dass sie nur rasch Hut und Pelisse holen werde. Sie eilte die Treppe hinauf in ihr Zimmer, kleidete sich in aller Hast zum Ausgehen an und drückte sich ohne Rücksicht auf ihre Frisur den Hut aufs Haar. Gordon würde das Paar hoffentlich aufhalten, bis sie wieder zurück war. Außer Atem erschien sie schließlich wieder in der Diele, wo sie die beiden Gott sei Dank immer noch vorfand.

Amy setzte gleich wieder da an, wo sie aufgehört hatte. „Ach, Emma, wir werden so gedrängt sitzen! Ich wäre nicht erstaunt, wenn Mr Hawthorne gar nicht ordentlich kutschieren könnte. Das wäre zu arg, denn er gilt als hervorragender Fahrer.“

Immer noch lächelnd sagte Charles: „Danke für das Kompliment, Miss Amy, ich werde alles tun, damit Sie nicht an meinen Fähigkeiten zweifeln müssen.“

Emma warf ihm einen scharfen Blick zu; sie fragte sich, ob er das zweideutig meinte. Seine Miene drückte nichts als Freundlichkeit aus. Missdeutete sie vielleicht seine Worte, weil ihre eigenen Gedanken ständig darum kreisten, dass er Amy verführen wollte?

„Brechen wir auf?“, sagte sie leichthin.

Amys gereiztes Schnauben ignorierte sie und wünschte nur, sie könnte das erregende Kribbeln, das Charles’ Nähe in ihr auslöste, ebenso ignorieren. Sie wollte nichts mit dem Mann zu tun haben, doch leider sagte ihr Körper etwas anderes. Entschlossen, sich zusammenzunehmen, straffte sie die Schultern und schritt zur Tür hinaus, die Gordon ihnen aufhielt.

Draußen stand jedoch keine Karriole, sondern eine prächtige, viersitzige Barouche, deren Verdeck wegen des guten Wetters herabgelassen war. Auf den Türen prangte das Wappen der Hawthornes. Emma konnte kaum ihren Drang bezwingen, diesen grässlichen Menschen wütend anzufahren, der sie in dem Glauben gelassen hatte, er sei mit seinem Sportgefährt gekommen.

Würdevoll ließ sie sich von dem livrierten Diener den Schlag öffnen und in den Wagen helfen, wo sie sich in Fahrtrichtung niederließ und, indem sie auf das samtbezogene Polster neben sich klopfte, Amy bedeutete, sich dorthin zu setzen.

Charles Hawthorne nahm den Platz ihnen gegenüber ein und wies den Kutscher an, loszufahren.

Plötzlich trafen sich Emmas und Charles’ Blicke, und sofort bereute sie, an der Ausfahrt teilzunehmen. In Gegenwart dieses Mannes verlor sie ständig ihr inneres Gleichgewicht.

„Einen Penny für Ihre Gedanken?“

Seine tiefe Stimme schien alle ihre Sinne zu berühren. Fand Emma auch seine Moral und seine Lebensführung äußerst beklagenswert, so hatte der Mann doch etwas an sich, das unziemliche Wünsche in ihr weckte.

„Ach, Mr Hawthorne“, sagte Amy, „ich denke daran, wie angenehm unsere Spazierfahrt durch den Park werden wird.“

„Das hoffe ich.“ In seiner Stimme klang Ironie mit.

Emma war dankbar, dass Amy geantwortet hatte. Dummerweise hatte sie selbst sich von seiner Frage angesprochen gefühlt, doch das war wohl ein Irrtum. Ein dummer Irrtum.

Gegen ihren Willen lauschte sie dem leichten Geplänkel ihrer Begleiter, bis die Kutsche in den Hyde Park einbog und sich auf der Rotten Row in die lange Reihe der Wagen und Reiter einordnete. Jeder, der etwas darstellte, und mancher, der nichts darstellte, drängte sich dort während der Saison. Hier gesehen zu werden war absolut fashionable, und Emma musste sich ehrlich eingestehen, dass es Amy nicht schaden würde.

Amy zeigte strahlend lächelnd ihre weißen Zähne und winkte immer wieder einem Bekannten grüßend zu. Sosehr es Emma widerstrebt hatte, sie mit Hawthorne ausfahren zu lassen, freute sie sich nun doch, ihre Schwester so glücklich zu sehen. Bestimmt würde sie bald einen Antrag erhalten.

Charles Hawthorne saß Emma unmittelbar gegenüber, sodass hier und da durch das Schwanken des Wagens sein Knie an das ihre streifte, was sehr beunruhigende Gefühle in ihr auslöste.

Als sie ihm unauffällig einen Blick zuwarf, sah sie, dass er amüsiert lächelte, und fragte sich, ob diese vertrauliche Berührung von ihm beabsichtigt war, entschied aber sofort dagegen. Nein, er war an Amy interessiert, nicht an ihr.

Er konnte unter all den Damen des ton wählen und würde ihr gewiss keinen zweiten Blick schenken, wenn er nicht – aus Gründen, die, wie Emma überzeugt war, unmöglich ehrenhaft sein konnten – Amy nachstellte.

„Ein Penny für Ihre Gedanken, Miss Stockton.“

Als er ihren Namen nannte, wallte es heiß in ihr auf, und sie fragte sich, ob er sie nicht doch schon mit seiner ersten Frage angesprochen hatte. Sofort verwarf sie den Gedanken. Trotzdem – diese ganze Situation war irritierend.

„Ich wundere mich, warum alle Welt in London sein will, wenn es doch um diese Jahreszeit auf dem Land am schönsten ist.“ Emma betrachtete sehnsüchtig das Grün der Bäume und des Rasens. „Manchmal vermisse ich das Landleben wirklich sehr.“

„Ach! Wie interessant“, murmelte er, ihr tief in die Augen schauend, „ich glaubte, Sie genießen London.“

Unüberlegt erwiderte sie seinen Blick. „Wie kämen Sie zu dieser Vorstellung, Mr Hawthorne? Sie wissen nichts über mich.“

„Ein wenig schon.“

„Als da wäre?“

Er blickte kurz zu Amy, dann zuckte er die Achseln. „Dass dies nicht Ihre erste Saison ist. Dass Sie vor drei Jahren noch in Trauer waren und danach London zum ersten Mal aufsuchten. Dass der Landsitz Ihrer Familie in Yorkshire liegt.“

Während sie ihn anhörte, dachte sie, dass er all das von seinem Bruder erfahren haben musste, mit dem sie vor zwei Jahren für ganze drei Monate verlobt gewesen war.

„Wie gut Sie informiert sind! Ich hätte angenommen, ich wäre zu langweilig, um das Interesse eines Mannes Ihrer Art zu erregen.“ Kaum hatte sie den Satz ausgesprochen, bereute sie es schon. Als Beleidigung gedacht, klang er doch, als angelte sie nach einem Kompliment. Wie brachte dieser Mann – ohne nur eine schätzenswerte Eigenschaft, die ihn ihr hätte empfehlen können – es zustande, dass sie sich in seiner Gegenwart so verstörend lebendig fühlte?

„Sie haben keine sehr hohe Meinung von mir.“

„Wie wahr.“

„Wie kannst du nur so unhöflich sein, Emma?“ Amy klang empört. „Hätte ich das gesagt, würdest du mir mit Stubenarrest drohen.“

Dankbar nahm Emma die Unterbrechung des Gesprächs hin, das auf Enthüllungen zuzusteuern drohte, und wandte sich lächelnd ihrer Schwester zu. „Vor ein paar Jahren vielleicht noch. Mittlerweile bist du zu alt für solche Maßnahmen.“

„Und dafür danke ich Gott. Zu oft habe ich in den letzten Wochen dieses Funkeln in deinen Augen gesehen, das immer erscheint, wenn du mich maßregeln willst.“

Mit Amy zu plänkeln sorgte dafür, dass Emma sich des Mannes, der ihr gegenübersaß, nicht mehr so verstörend bewusst war. Seine Gegenwart machte ihr mehr zu schaffen, als ihr lieb war.

Charles Hawthorne winkte dem Kutscher, langsamer zu fahren, bis sie mit einer lebhaften dunkelhaarigen, braunäugigen Dame auf gleicher Höhe waren, die ein prächtiges Pferd ritt und im Sattel saß, als ob sie dort geboren wäre.

Harriette Wilson, die berühmte Kurtisane, lächelte Charles Hawthorne an.

Erschrocken verkrampfte Emma die Hände im Schoß. Der Mann benahm sich ungehörig, er bewies ihr und ihrer Schwester gegenüber einen außerordentlichen Mangel an Respekt! Wütend starrte sie ihn an.

„Harriette“, sprach er die Frau an, wobei seine angenehme Stimme den Namen wie eine Liebkosung klingen ließ, „wie geht es Ihnen? Gut sehen Sie aus!“

Die Frau erwiderte das Lächeln. „Charles, Sie Teufel, mir geht es hervorragend.“ Herausfordernd sah sie ihn an. „Wollen Sie mich nicht vorstellen?“

Nun lächelte er breit. „Sonst hätte ich nicht angehalten.“ Er wandte sich mit einem beschwörenden Blick an Emma, sein Gesicht ernster, als sie es je an ihm gesehen hatte. „Miss Stockton, Miss Amy. Darf ich Ihnen eine Freundin vorstellen? Miss Wilson.“

Emma nickte. Gute Manieren und die angeborene Veranlagung, niemanden bewusst verletzen zu wollen, veranlassten sie, freundlich zu grüßen, anstatt sich abzuwenden und die Vorgestellte zu ignorieren. „Sehr erfreut, Miss Wilson.“

Ungehörig laut und voller Staunen fragte Amy: „Miss Wilson? Die Miss Wilson …“

Emma schnitt Amys erregten Kommentar barsch ab. „Es ist gut, Amy. Ich glaube, Miss Wilson legt keinen Wert darauf, ihren Namen durch den ganzen Park schallen zu hören.“

Die Reiterin lachte, was ihr reizendes Gesicht noch hübscher machte. Kein Wunder, dass die Männer sie für unwiderstehlich hielten!

„So laut war ich gar nicht!“, sagte Amy entrüstet, doch Emmas tadelnder Blick brachte sie zum Schweigen.

„Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen“, sagte Miss Wilson förmlich. Ihre angespannte Haltung löste sich. Offensichtlich hatte sie damit gerechnet, brüskiert zu werden. Unversehens fühlte Emma Mitleid mit dieser Frau, die zwar viel mehr Freiheiten genoss als die sogenannten anständigen Frauen, aber auch Verachtung und finanzielle Unsicherheit ertragen musste. Als Emma das klar wurde, lächelte sie der Kurtisane zaghaft zu; sie hätte es nicht über sich gebracht, sie zu schneiden. Bedauerlich war nur, dass auch Amy die Bekanntschaft dieser berühmten Kokotte machte. Der Ruf der Schwester würde wahrscheinlich dadurch ebenso leiden wie durch die Aufmerksamkeiten, die Charles Hawthorne ihr zuteil werden ließ. Die Schuld an dieser Situation lag einzig und allein bei ihm, und das würde sie ihm bei nächster Gelegenheit zu verstehen geben.

3. KAPITEL

Etwa eine Stunde später bog die Barouche durchs Tor des Hyde Park und auf die Straße hinaus. Emma kochte immer noch innerlich.

„Haben Sie die Ausfahrt genossen, Miss Amy?“, fragte Charles Hawthorne. Seine Augen funkelten wissend.

Das Mädchen strahlte förmlich und lachte entzückt. „Außerordentlich. Und Sie sind ein solcher Schuft! Uns Harriette Wilson vorzustellen! Obwohl – ich muss zugeben, Frauen, die solcherart ihren Lebensunterhalt bestreiten, faszinieren mich.“

Emma stöhnte empört auf. „Amy, bitte, es reicht! Eine Dame erwähnt Frauen wie Miss Wilson nicht.“

„Pah! Damen dürfen nichts, was interessant ist.“

Zwar musste Emma ihr insgeheim zustimmen, trotzdem durfte Amy sich in diese Faszination nicht hineinsteigern. „Mir scheint, du tust so einige interessante Dinge.“

„Sarkasmus?“, murmelte Mr Hawthorne. „Damit erreichen Sie nichts.“

Emma sah ihn ausdruckslos an. Im Moment und besonders in Amys Beisein wollte sie ihm lieber nicht sagen, wie sie über sein Verhalten dachte.

Als der Wagen vor ihrem Haus hielt, sprang Charles Hawthorne hinaus und half Amy beim Aussteigen. Sie kicherte. „Danke, werter Herr.“ Kokett ließ sie sich die Stufen zur Haustür hinaufführen.

„Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite.“ Er legte seine Hand auf ihre behandschuhten Finger, die auf seinem Unterarm ruhten, und neigte sich zu ihr. Was er sagte, konnte Emma nicht verstehen, da sie hinter den beiden ging, aber zweifellos flirtete er ganz unverschämt. Sie spürte, wie ihr die Brust eng wurde, einmal vor Zorn, zum anderen wegen einer Empfindung, die sie nicht näher untersuchen mochte.

An der Tür sagte sie würdevoll: „Amy, ich möchte bitte kurz unter vier Augen mit Mr Hawthorne sprechen.“

„Um ihn zu schelten?“

„Bitte, Amy!“

„Das tut sie besonders gern“, rief das Mädchen Hawthorne zu. „Lassen Sie sich nichts gefallen!“

„Keine Angst, Miss Amy, ich kann mich verteidigen.“ Er hob ihre behandschuhte Hand an die Lippen.

Die freudige Röte, die Amy in die Wange stieg, ließ sie umso hübscher aussehen. „Sie wissen immer genau, was Sie tun müssen.“

Emma musste sehr an sich halten, um nicht zwischen die beiden zu treten und sie zu trennen.

Nachdem Amy im Haus verschwunden war, wandte Emma sich kampflustig an den Mann, der sie, eine Braue ironisch gehoben, herausfordernd ansah.

„Wie können Sie derart mit ihr flirten? Ihr die Hand zu küssen! Ein Mädchen in Amys Alter kann nicht damit umgehen, sparen Sie sich das für eine reifere Dame. Es ist schlimm genug, dass Amy Ihnen gestattet, ihr so ungehörig nachzustellen, obwohl Sie nicht daran denken, um sie anzuhalten!“

Seine blauen Augen wurden ganz dunkel, sodass man unmöglich darin lesen konnte. „Wäre es denn zulässig, dass ich ihr nachstelle, wenn ich um sie anzuhalten gedächte?“

Mit dieser Antwort hatte sie nicht gerechnet. Verblüfft riss sie die Augen auf. „Haben Sie das vor?“

Grinsend antwortete er: „Nein, aber Sie legen so viel Nachdruck darauf, dass mein Interesse aus diesem Grunde nicht statthaft ist.“

„Sie verdrehen meine Worte absichtlich!“ Durch einen tiefen Atemzug versuchte sie, ihr pochendes Herz zu beruhigen. „Sie sind ein grässlicher Mensch!“

„Ich gebe mir Mühe.“

Natürlich brachte die sardonische Bemerkung sie abermals in Rage. „Und immer mit Erfolg! Wie konnten Sie wagen, uns mit Harriette Wilson bekannt zu machen!“

„Sie sagen nicht, mit dieser Frau? Sie überraschen mich.“

Beschämt errötete sie. „Auch wenn Männer hinter vorgehaltener Hand über sie tuscheln, ist sie doch ein Mensch, und wenn sie auf diese Art ihren Lebensunterhalt bestreiten muss, werfe ich ihr das nicht vor.“

„Sehen Sie, ich auch nicht.“ Er begegnete ihrem Blick sehr ernsthaft. „Ich respektiere Miss Wilson, weil sie sich als Frau in einer Männerwelt erfolgreich zu bewegen weiß. Ich werde mich nicht den Heuchlern hinzugesellen und sie schneiden, wenn sie mir begegnet – gleich, in wessen Begleitung ich gerade bin.“

Ungewollt keimte in Emma Respekt auf. Kein anderer Mann ihrer Bekanntschaft wäre so kühn gewesen, den Konventionen zu trotzen.

„Also ging es Ihnen nicht darum, mich zu reizen oder Amys Ansehen zu schädigen?“

„Nein, ich hielt einzig aus den zuvor genannten Gründen an.“

Emma betrachtete ihn forschend. Seine Gedanken waren ihr verschlossen, doch das spöttische Lächeln, das er so perfekt beherrschte, war aus seiner Miene gewichen. Ihr Ärger kühlte ein wenig ab, gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass sie zu dicht bei ihm stand. Der Tag schien Emma plötzlich unerklärlich heiß zu sein. Sie trat einen Schritt zurück, verfehlte die Stufe und strauchelte. Blitzschnell griff Hawthorne nach ihrem Arm, damit sie nicht stürzte. Durch den Stoff ihrer Kleidung schienen seine Finger sie zu verbrennen. Ihr rann ein Schauer über den Rücken, erst eiskalt, dann glühend heiß.

Unwillig ob ihrer Schwäche sagte sie barsch: „Sie können mich jetzt loslassen.“

„Soll ich Sie die Treppe hinunterfallen lassen?“

Rasch setzte sie einen Fuß auf die untere Stufe und sagte hochmütig: „Dank Ihrer Hilfe stehe ich wieder sicher.“

„Gern geschehen.“ Er ließ ihren Arm los.

Emma spürte, wie ihre Wangen vor Verlegenheit glühten. Es hatte keinen Grund gegeben, ihn so unhöflich anzufahren, auch wenn seine Berührung irritierende Empfindungen in ihr auslöste. Ihre Mutter wäre über diesen Ton entsetzt gewesen. „Ich danke Ihnen“, murmelte sie.

Er schaute ihr in die Augen, dann ließ er seinen Blick über ihre erhitzten Wangen zu ihren Lippen wandern. Unwillig bemerkte sie, dass ihr noch wärmer wurde. Der Himmel helfe ihr, wenn er noch weiter ging. Was war sie doch für ein dummes Ding!

„Einen guten Tag, Miss Stockton.“ Er machte auf dem Absatz seiner spiegelblanken Hessenstiefel kehrt und schritt zu seiner Kutsche, deren Tür er eigenhändig öffnete. Dann sprang er mit lässiger Eleganz hinein und sah sich nicht mehr nach Emma um, als das Gespann anzog.

Emma ihrerseits schaute ihm hinterher. Der Mann war unerträglich. Ja, unerträglich! Eine andere Einstellung zu ihm durfte sie sich gar nicht erlauben. Sich in ihn zu verlieben würde ihr genauso schlecht bekommen wie Amy. Sogar noch schlechter.

Während der Fahrt zum Stadtpalais seines Bruders, wo die Barouche wieder abgestellt werden sollte, starrte Charles nachdenklich vor sich hin. Seine Finger, die auf Emmas Arm gelegen hatten, fühlten sich an wie von feurigen Funken getroffen, und in seiner Nase haftete der Duft nach Reseda. Verflixt, wenn er auf eine spröde Jungfer wie Emma Stockton derart reagierte, hatte er wohl zu lange keine Frau gehabt.

Die Ausfahrt war amüsant gewesen, genau wie er erwartet hatte, als er beschloss, Emmas kategorische Nachricht zu missachten. Kaum etwas fand er amüsanter, als sie zu provozieren. Zu seiner Beunruhigung reagierte er jedoch nicht nur auf ihre verbalen Ausfälle, sondern auch auf ihre körperliche Gegenwart.

Die Kutsche kam vor dem Haus seines Bruders zum Stehen, und Charles schüttelte heftig den Kopf, wie um die lästigen Gedanken loszuwerden. Während er ausstieg und die Stufen zum Portal erklomm, fiel ihm ein, dass er auf keinen Fall die Damen Stockton vor seiner Schwester Julia erwähnen durfte. Zu oft hatte er sich deswegen mit ihr schon gestritten. Sie war eine energische Frau, die mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg hielt, und sie missbilligte seine Tändelei mit Amy.

Einen Moment überlegte Charles, ob er seine Geschwister besuchen sollte, entschied dann jedoch, er würde seinem Bruder schriftlich für das Ausborgen der Kutsche danken. Ihm war nicht danach, seine Schwester in Gesellschaft ihres Gatten zu sehen; zu sehr hatte er sich gegen diese Verbindung gesträubt. Adam Glenfinning erinnerte ihn nämlich zu stark daran, wie er, Charles, selbst vor nicht allzu langer Zeit noch gewesen war.

Er bat den Butler, der ihm geöffnet hatte, sein Pferd vorführen zu lassen, und blieb wartend vor dem Portal stehen. Besorgt betrachtete er den Himmel, der sich zusehends verdüsterte. Nicht lange jedoch, und ein Knecht kam mit einem prächtigen braunen Wallach am Zügel von den Ställen her. Charles warf dem Mann eine Münze zu, stieg in den Sattel und erreichte sein Heim gerade, als es heftig zu regnen begann. Eilig brachte er sein Ross im Stall unter und rannte dann mit großen Schritten durch die Hintertür ins Haus, wo er sich sogleich in sein Arbeitszimmer begab, das er gleichzeitig als Kontor seines Handelsgeschäfts nutzte. Er hatte noch Buchführung zu erledigen, eine Pflicht, die er anfangs als langweilig betrachtet hatte, die ihn jedoch inzwischen mit tiefer Befriedigung erfüllte.

Als er sich an seinen Schreibtisch setzte, erschien für einen Augenblick Emma Stockton vor seinen Augen, wie sie auf den Stufen ihres Hauses gestanden hatte. Unter ihrem unmodischen Strohhut war das rötliche Haar in Locken hervorgequollen, mit ihren grauen Augen, die herausfordernd und doch verletzlich blickten, hatte sie ihn angeblitzt, und beides brachte ihn stärker aus der Fassung, als er sich eingestehen mochte. Selbst die unregelmäßig auf ihrer Nase verteilten Sommersprossen fand er entzückend.

Er schüttelte den Kopf, um das Bild zu verscheuchen. Um in Gedanken übermäßig lang bei einer Frau zu verweilen, war er nicht der Mann, vor allem, wenn sie seinen Ansprüchen an Schönheit nicht genügte. Sie war zu mager und zu groß, ganz zu schweigen von allem, was ihn sonst noch an ihr irritierte.

Unwillig wandte er sich seinen Büchern zu.

4. KAPITEL

Amy zupfte an Emmas Paisley-Schal. „Willst du dir nicht ein paar neue Sachen kaufen? Dies hier ist alles so unmodern.“

Emma setzte ihren Weg zu einem kleinen Sofa im Ballsaal der Prinzessin Lieven fort und zog den Schal fester um die Schultern. Sie wollte nicht zeigen, dass sie sich schmerzlich getroffen fühlte. Warum sie keine neuen Kleider hatte, wusste Amy sehr wohl, übte jetzt jedoch kleinliche Rache, weil Emma Mr Hawthornes Angebot, sie auf den Ball zu begleiten, abgeschlagen hatte.

Der Mann war aber auch zu dreist. Da er kein Familienmitglied war, hätte seine Begleitung sämtliche Lästerzungen in Bewegung gesetzt, besonders nach der gestrigen Episode im Hyde Park.

An dem Platz angekommen, sank Emma schwer auf den Sitz – unelegant, aber das war ihr gleichgültig –, während Amy sich, sorgsam die Röcke ihres rosa Musselinkleides ausbreitend, anmutig neben ihr niederließ. „Du antwortest nicht!“, sagte sie herausfordernd.

Emma schluckte eine scharfe Antwort hinunter, doch ihren Tonfall konnte sie nicht ganz so beherrschen. „Du weißt es, Amy, also dämpfe deinen Missmut über unabänderliche Dinge.“

Schmollend rückte Amy von ihr ab. Zuerst war Emma versucht, aus Zuneigung zu der Schwester nachzugeben. Doch sie war gerade nicht versöhnlich gestimmt, sondern erschöpft und bekümmert.

Amy stand abrupt auf. „Ich werde nach Julia Thornton Ausschau halten.“ Erhobenen Hauptes schritt sie davon.

Da Julia in Begleitung ihrer Mutter und sicherlich von einem Schwarm junger Leute umringt war, hielt Emma es nicht für nötig, Amy zurückzuhalten. Kaum jedoch wandte sie ihre Aufmerksamkeit den eintreffenden Gästen zu, als sie Charles Hawthorne entdeckte, der sich gerade über die Hand der Gastgeberin beugte. Emma rieselte es kalt den Rücken hinab. Abfällig sagte sie sich, es müsse Zugluft im Saal herrschen. Andere Gründe für das sonderbare Gefühl, das sie erfasste, schloss sie entschieden aus.

Dass er nun auf sie zusteuerte, war übrigens nicht verwunderlich. Wahrscheinlich nahm er an, Amy werde jeden Moment zurückkommen.

Emma konnte ihn einfach nicht aus den Augen lassen. Nie zuvor war ihr ein Mann mit einer so sinnlichen Aura begegnet. Alles an ihm signalisierte den Verführer. Das schwarze Haar mit der Strähne, die ihm immer wieder in die Stirn fiel und ihm das Flair eines Piraten gab – zumindest stellte Emma sich so einen Piraten vor –, seine breiten Schultern in dem fantastisch sitzenden Abendfrack, die langen muskulösen Beine in den eng anliegenden Kniehosen. Er war einfach vollkommen.

„Was erfreut Sie denn so?“ Ein verstohlenes Lächeln auf den scharfgeschnittenen, aber schönen Zügen, stand er vor ihr.

Aufschreckend fragte sie sich, wo ihr Verstand geblieben war. Sie grüßte ihn mit einem knappen Nicken. „Mr Hawthorne.“

Er vollführte eine grandiose Verbeugung. „Miss Stockton“, murmelte er spöttisch.

Misstrauisch beäugte sie ihn. „Was bringt Sie her? Meine Schwester ist nicht bei mir.“

„Das sehe ich.“

„Dann sollten Sie wieder gehen.“ Emma spürte, wie ihr Temperament schon wieder mit ihr durchgehen wollte, was die Hitze, die ihr ins Gesicht gestiegen war, noch verstärkte.

„Ach, ich dachte, ich verweile ein wenig bei Ihnen.“ Er deutet auf den freien Platz neben ihr.

Ihr stockte fast der Atem, doch sie zwang sich zu einem gleichgültigen Tonfall. „Sie würden sich nur langweilen, Sir.“

„Das glaube ich nicht.“

Ohne zu fragen, setzte er sich neben sie. Sein Schenkel streifte sie leicht, sodass sie sich, seiner Gegenwart erschreckend gewahr, unangenehm beklommen fühlte. Steif wollte sie sich erheben, doch er legte ihr die Hand auf den Arm und hielt sie zurück, während er murmelte: „Wollen Sie den Klatschmäulern Stoff geben?“

Ein rascher Blick zeigte ihr, dass viele Augenpaare auf sie gerichtet waren. „Wie können Sie mich in diese Lage bringen! Dass Sie Amy dem aussetzen, ist schon schlimm genug! Wie schändlich von Ihnen, auch mich zum Gespött zu machen.“

„Wie kommen Sie auf den Gedanken?“ Fragend hob er eine Augenbraue.

„Habe ich nicht recht?“

Eine ganze Weile schwieg er, während er sie unverwandt ansah. „Ich denke, nein.“

Das Herz klopfte Emma im Halse, und ein warmes Glühen breitete sich bis in alle ihre Glieder aus. „Nun, ich meine doch. Ich wies Sie letztens in Ihre Schranken, und da Sie nicht der Mann sind, das hinzunehmen, wollen Sie sich nun auf meine Kosten amüsieren. Lassen Sie das bitte!“

„Tanzen Sie mit mir, dann werde ich anschließend gehen.“

„Auf keinen Fall.“ Besonders, da sie eben bemerkte, dass das Orchester zu einem Walzer aufspielte.

Schulterzuckend sagte er: „Nun, dann frage ich eben Miss Amy.“

Die Ankündigung ließ Emma erbleichen. Sie wusste, ihre närrische Schwester würde ihr zum Trotz mit ihm tanzen, und auch, weil sie damit den Neid all der albernen jungen Dinger weckte, für die ein Walzer mit Charles Hawthorne der höchste Traum war.

Emma wusste, sie war geschlagen. „Gewiss scherzen Sie. Ihr Interesse gilt meiner Schwester.“

Einen Moment schien es ihr, als huschte ein undefinierbarer Ausdruck über sein Gesicht. Nein, sie musste sich geirrt haben. Charles Hawthorne war, wie stets, ganz der arrogante, selbstbewusste Spötter.

„Sind Sie sich dessen sicher?“

„Ich bin nicht dumm.“ Oder vielleicht doch, da sie sich diesen Tanz so sehr wünschte. „Jedenfalls zwingen Sie mich, mit Ihnen zu tanzen.“

Er reichte ihr seine Rechte, und sie legte ihre Hand hinein, die Augen niedergeschlagen, damit er nicht darin lesen konnte. Stolz erhobenen Hauptes ließ sie sich von ihm zur Tanzfläche führen, wo sie sich ihm zuwandte und ihn ansah. Seine dunkel überschatteten Wangen gaben ihm ein verwegenes Aussehen. Als wenn er nicht auch so schon attraktiv genug wäre! Nur vage nahm sie die anderen Tänzer wahr, und die Musik tönte wie von ferne an ihr Ohr. Es war, als wäre sie mit ihm allein im Raum.

Er hatte sie mit dem rechten Arm fest umfangen, hielt aber den korrekten Abstand von einem Fuß ein; jedes winzige Stückchen näher würde als skandalös gelten.

Ihr Verstand nahm den Abstand wahr, doch ihre Sinne behaupteten, Charles presse sie an seine Brust, sodass sie glaubte, seinen Herzschlag körperlich zu spüren. Dann legte er ihr leicht die Hand um die Taille und machte die ersten Tanzschritte. Es schien ihr, als verschmölze sie mit ihm, und sie ergab sich seiner Führung, als wäre dies nicht ihr erster gemeinsamer Walzer. Das Blut pochte ihr in den Ohren.

„Ist Ihnen nicht wohl?“

Seine tiefe Stimme war wie ein Band, das sie an ihn fesselte. Kaum dass er sie berührte, schien ihre Abneigung gegen ihn sich in Luft aufzulösen. Kein Wunder, dass Amy wegen dieses Mannes einen Skandal riskierte. Dabei konnte Emma sie nicht einmal tadeln, da sie selbst, die die Ältere war, sich nun mit ihm in einem Tanz wiegte, der nachahmte, was zwischen Liebenden im Dunkeln vor sich ging.

Emma schüttelte den Kopf. „Nun, mir ist so wohl, wie einem sein kann, wenn einem ein Tanz aufgezwungen wird.“

„Und Sie wollten wirklich nicht?“ Er sah sie an, als könne er tief in ihr hämmerndes Herz blicken.

„Sie ließen mir keine Wahl.“

Er schwang sie so ungestüm herum, dass ihr der Atem wegblieb. Hätte er nicht ihre Taille so fest umfasst, wäre sie ins Straucheln gekommen.

„Sie lügen.“

„Nein. Immerhin drohten Sie, andernfalls Amy aufzufordern.“

„Aber Sie hatten die Wahl.“

„Was denn für eine!“

„Aber jedenfalls konnten Sie wählen“, sagte er in einem abschließenden Ton, der Widerspruch ausschloss.

Trotz wallte in ihr auf. „Zwischen zwei Übeln zu wählen ist keine Wahl. Das lehrte mich die Erfahrung.“

Er presste die Lippen zusammen und schien antworten zu wollen, doch in dem Moment ertönte der Schlussakkord. Sie trat von ihm zurück und versuchte, ihm ihre Hand zu entziehen, doch er ließ nicht los.

„Bitte!“, sagte sie. Vergebens.

Grimmig lächelnd hob er ihre Finger an den Mund. Selbst durch den Handschuh hindurch spürte sie den zugleich festen und zarten Druck. Ein Feuerstrahl schien ihr bis in den Arm zu fahren und machte ihre Entschlossenheit zunichte.

Endlich ließ er sie los und verneigte sich. „Miss Stockton, ich danke für diesen sehr lehrreichen Tanz.“

Autor

Georgina Devon
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Helen Dickson
Helen Dickson lebt seit ihrer Geburt in South Yorkshire, England, und ist seit über 30 Jahren glücklich verheiratet. Ihre Krankenschwesterausbildung unterbrach sie, um eine Familie zu gründen.
Nach der Geburt ihres zweiten Sohnes begann Helen Liebesromane zu schreiben und hatte auch sehr schnell ihren ersten Erfolg.
Sie bevorzugt zwar persönlich sehr die...
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